17

Wie ein tollwütiger Hund, den man in einen zu kleinen Käfig gesperrt hatte, lief Eric Cardell im Saal auf und ab. Mabel dachte, es fehle ihm nur noch der Schaum vor dem Mund, um das Bild zu vervollständigen, sie konnte sehr gut nachvollziehen, wie angespannt Erics Nerven waren.

„Und was sollen wir jetzt machen?“ Er stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. Betreten erwiderten die Frauen und Männer der Gruppe seinen Blick, einige sahen auch nach unten oder nestelten nervös an ihren Taschentüchern. „In einer Woche ist die Aufführung! Ich wiederhole – in einer Woche! Das sind genau noch sieben Tage und sechs Stunden. Zuerst Sarah und jetzt Michael … wir müssen die Sache wohl abblasen.“

„Vielleicht will jemand die Aufführung sabotieren?“ Die Frage kam von einer Frau mittleren Alters mit kurzen, dunklen Locken.

„Sabotage?“ Wie ein wütender Tiger fuhr Eric auf die Frau zu. „Wer, in aller Welt, sollte Interesse daran haben, unseren Auftritt zu verhindern, Nina?“

„Ich meine ja nur …“ Sichtlich nervös sah Nina sich um. „Erst verschwindet Sarah spurlos und jetzt dieser Unfall … Beide Hauptdarsteller … Es sieht ganz so aus, als hätte jemand was gegen uns.“

„Das ist Unsinn!“ Aufgeregt sprang Jennifer Crown auf. „Sarah war unzuverlässig, sie hatte einfach keinen Bock mehr, sich mit uns abzugeben und auf dem Land zu versauern. Das kommt davon, wenn man einer hergelaufenen Fremden mehr zutraut als den Leuten, die man seit Jahren kennt.“ Sie warf Eric einen vielsagenden Blick zu. „Und Michael hat einfach Pech gehabt. Wahrscheinlich ist ein Kaninchen oder ein Dachs über die Straße gelaufen, und als Michael dem Tier ausweichen wollte, geriet er ins Schleudern.“

Ein junger Mann, offenbar ein Freund von Michael, nickte zustimmend.

„Davon geht auch die Polizei aus. Das hat mir zumindest Michaels Vater gesagt, ich traf ihn gestern im Krankenhaus, als ich Michael besuchen wollte. Ich durfte ihn aber nicht sehen.“

„Stimmt, mich haben sie auch nicht zu ihm gelassen“, rief Jennifer zornig. „Michaels Mutter meinte sogar, ich solle verschwinden und mich nie wieder in Michaels Nähe blicken lassen. Als hätte ich Schuld!“

Neben der Wut über Clara Hamptons Verhalten zeigte sich auch Traurigkeit in Jennifers Augen. Mabel dachte, bei aller Oberflächlichkeit, die sie an den Tag legte, liebt sie Michael wahrscheinlich wirklich. Für Jennifer musste es wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, als Michael seine Zuneigung plötzlich auf Sarah Miller übertragen hatte, auch wenn Sarah seine Aufmerksamkeiten zurückwies. Jennifer wusste ganz bestimmt nicht, dass ihre vermeintliche Nebenbuhlerin Frauen bevorzugte, denn Rachel und Sarah hatten ihre Beziehung geheim gehalten.

„Es tut mir sehr leid, was dir geschehen ist, Mabel“, wechselte Eric das Thema und riss Mabel aus den Überlegungen. „Wenn ich gewusst hätte, dass Wilmington auf dich losgeht, noch dazu mit einer Waffe, hätte ich dich nie gebeten, zu Rachel zu fahren.“

Mabel nickte langsam. Natürlich, Eric ging davon aus, sie hätte Wilmington aufgesucht, um die Kostüme zu holen, die Rachel noch bei sich hatte. Mabel ließ ihn in dem Glauben. Zu der heutigen Probe war Rachel nicht erschienen, und Mabel war in großer Sorge um das Mädchen. Wahrscheinlich machte Wilmington seiner Tochter die Hölle heiß, schlug sie vielleicht auch wieder, und daran war sie, Mabel, schuld. Sie hatte Wilmington nicht nur ins Gesicht geschleudert, dass sie glaubte, er habe Sarah ermordet, sondern ihm auch gesagt, seine Tochter wäre lesbisch. Mabel stöhne leise. Sie musste so schnell wie möglich mit Rachel sprechen! Mabel zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf Eric zu lenken, der, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, noch immer ruhelos auf und ab ging.

„Was machen wir jetzt?“ Er sah in die Runde. „Woher bekommen wir jetzt so schnell einen neuen Charles?“

Tim, Michaels Freund, der ihn im Hospital besuchen wollte, erhob sich zögernd.

„Ich habe Michael regelmäßig abgehört“, sagte er leise. „Daher kenne ich fast den ganzen Text. Wenn ich mich reinhänge, dann könnte ich es bis zum nächsten Samstag schaffen.“

„Du?“, riefen Jennifer und Eric wie aus einem Mund. Erics Blick glitt über Tims Gestalt, und einige andere begannen zu flüstern. „Nun ja … vom Typ her bist du Charles nicht gerade ähnlich …“

Mabel musste Eric recht geben. Prinz Charles, der spätere König Charles II., war ein großer Mann mit breiten Schultern gewesen. Michael mit einer Größe von etwa einem Meter neunzig war diesem Bild sehr nahe gekommen, während Tim gute zwanzig Zentimeter kleiner und von schmalem Körperbau war. Eric sah in die Runde.

„Hat jemand einen anderen Vorschlag? Traut sich sonst jemand zu, binnen einer Woche die Rolle zu lernen?“ Niemand meldete sich, die Männer sahen betreten zu Boden. Eric seufzte. „Nun gut, Tim, dann versuch dein Glück. Ich verlange, dass du jeden Tag übst, ist das klar?“

Der Anflug eines Lächelns flog über Tims Gesicht, er sagte jedoch ernst: „Ich werde mein Bestes geben und dich nicht enttäuschen, Eric. Schließlich mache ich das in erster Linie für Michael.“

Eric wandte sich an Mabel und sagte: „Michaels Kostüm muss unverzüglich geändert werden. Mabel, schaffst du das in den nächsten Tagen?“

Mabel, froh, wieder etwas zu tun zu haben, nickte.

„Selbstverständlich, ich werde nachher gleich die Maße nehmen.“

Die restliche Zeit der Probe verging damit, dass Tim seine erste Szene probte, in der Charles in den Keller der Lerricks gebracht wurde und seine Wunden versorgt wurden. Tim gab sich große Mühe, konnte Michael Hampton aber nicht ersetzen. Nun, dachte Mabel, es ist die erste Probe, und lieber einen nicht ganz so guten Prinzen, als dass die ganze Aufführung ins Wasser fällt. Ninas Bemerkung, jemand könne es auf das Ensemble abgesehen haben, ging Mabel nicht mehr aus dem Kopf. Ebenso wie Eric stellte sie sich die Frage, warum jemand das tun sollte. Das Stück war seit Jahren fester Bestandteil der Festwoche und bildete ihren krönenden Abschluss zu Ehren von Mary Lerrick, der großes Unrecht zugefügt worden war. Zu vermuten, jemand könnte dies sabotieren, womöglich weil er – oder sie – nicht an Marys Unschuld glaubte, war doch sehr an den Haaren herbeigezogen. Der Bürgerkrieg lag über dreihundertfünfzig Jahre zurück, und die Schande, die die Bürger von Lower Barton einst begangen hatten, war längst vergessen. Im Gegenteil – wie Victor richtig sagte, wurde aus der damaligen Schuld inzwischen Profit geschlagen, denn die Festwoche bescherte dem sonst eher beschaulichen und ruhigen Ort eine Vielzahl von Touristen, die ihr gutes Geld hier ließen.

Oder jemand hatte es direkt auf Michael und Sarah abgesehen, schoss es Mabel durch den Kopf. Jemand, der glaubte, Sarah würde Michael Gefühle erwidern und deswegen furchtbar wütend war. Eifersucht war schon immer ein starkes Motiv für einen Mord gewesen, neben Geld wahrscheinlich das stärkste. Mabels Blick glitt unwillkürlich zu Jennifer Crown, die jetzt die Szene betrat und zum ersten Mal auf Prinz Charles traf, und sie schüttelte unmerklich den Kopf. Obwohl Jennifer ihr nicht sehr sympathisch war – für eine kaltblütige Mörderin hielt Mabel sie nicht. Nicht nur, weil es Jennifer an der nötigen Kraft fehlte – der Anschlag auf Michael ergab überhaupt keinen Sinn. Jetzt, da ihre Nebenbuhlerin verschwunden war, hatte Jennifer doch wieder freie Bahn bei Michael – warum sollte sie versuchen, auch ihn zu töten? Mabel erinnerte sich an den letzten Sonntag, als sie die beiden in der Talland Bay gesehen hatte. Da hatten sie einen glücklichen, verliebten Eindruck gemacht. Mabel war überzeugt, dass beide Fälle zusammenhingen, es wäre sonst ein zu großer Zufall, an den sie nicht glauben konnte. Nein, Jennifer konnte sie aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen …

Mabel zuckte zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Sollen wir gleich die Maße nehmen?“, fragte Tim.

Mabel hatte nicht bemerkt, dass die Probe beendet war und die Teilnehmer aufbrachen. Sie bemühte sich um ein zwangloses Lächeln.

„Gern, ich habe mein Maßband in der Tasche. Wo ist Michaels Kostüm? Ich werde versuchen, es zu kürzen und enger zu machen.“

„Bei ihm zu Hause“, antwortete Tim, und ein Schatten fiel über sein Gesicht. „Ich werde es nachher holen und es dir noch heute nach Higher Barton bringen.“

„Äh …“ Mabel lächelte verlegen. „Ich wohne jetzt im Three Feathers.“

Eine Augenbraue Tims hob sich erstaunt.

„Warum denn das? Ich dachte, du und Lady Tremaine seid miteinander verwandt.“

„Es sind persönliche Gründe“, antwortete Mabel kühl und suchte in ihrer Tasche nach Maßband und Schreibutensilien. Tim zuckte die Schultern und hob sie Arme, damit Mabel Maß nehmen konnte. Nach ein paar Minuten sagte sie: „Du und Michael, ihr wart am Freitag nach der Probe zusammen im Pub?“

Tim nickte. „Freitags gehen wir immer was trinken, wobei man bei Michael eigentlich kaum von Trinken reden kann. Er trinkt nie, wenn er noch fahren muss. Wenn er auch sonst manchmal etwas … übermütig ist, vom Alkohol lässt er die Finger, nachdem er vor zwei Jahren in eine Routinekontrolle geraten ist und, neben einer hohen Strafe, für drei Monate seinen Lappen abgegeben musste.“ Tim schüttelte wie zur Bestätigung seiner nächsten Worte den Kopf. „Nein, Michael war ganz sicher nicht betrunken. Irgendetwas muss ihn ins Schleudern gebracht haben.“

„Die Polizei wird das Motorrad sicherlich kriminaltechnisch untersuchen, nicht wahr? Ob an den Bremsen herum geschraubt wurde oder so etwas in der Art.“

Tim runzelte die Stirn. „Du denkst doch nicht, dass der Unfall kein Unfall war? Mabel, du siehst zu viele Krimis im Fernsehen!“

Mabel verzichtete auf eine Antwort. Obwohl Tim Michaels bester Freund war und sie seinen Worten glaubte, durfte sie sich mit ihren Verdächtigungen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Darum zuckte sie nur mit den Schultern.

„Ich dachte nur“, antwortete sie vage. „Tatsächlich sieht man in Krimis doch immer wieder, wie nach Unfällen mit ungeklärter Ursache die Fahrzeuge untersucht werden. Es könnte sich ja auch um ein technisches Versagen handeln.“

„Gleichgültig, was zu dem Unfall geführt hat – ich hoffe, Michael wacht bald wieder aus dem Koma auf.“ Tims Mundwinkel zuckten, und Mabel befürchtete, er würde gleich anfangen zu weinen, doch schnell hatte er sich wieder im Griff. „Mein Kumpel ist stark, der schafft das ganz bestimmt“, sagte er zuversichtlich, und Mabel hoffte, Tim würde recht behalten.

Zusammen mit Tim und Eric verließ sie den Gemeindesaal. Als sie auf die Straße trat, kam Victor Daniels auf Mabel zu.

„Mabel, ich wusste, dass ich Sie heute hier treffe.“ Victor griff Mabels Arm und zog sie von Tim und Eric weg, damit die beiden ihr Gespräch nicht mit anhören konnten. Er senkte die Stimme und flüsterte: „Ich dachte mir, wir könnten morgen nach Truro zu Trengove fahren.“

„Trengove?“ Mabel überlegte, dann fiel es ihr wieder ein. Durch Michaels Unfall hatte sie den Anwalt, mit dem Sarah Miller möglicherweise in Kontakt gestanden hatte, völlig vergessen. „Müssen Sie morgen nicht in der Praxis sein?“

„Ich kann den Vormittag über schließen“, antwortete Victor. „Montags ist ohnehin nie viel los. Also, ich hole Sie um acht Uhr ab, ja?“

Mabel schüttelte seine Hand ab und trat einen Schritt zurück.

„Tut mir leid, Victor, aber morgen habe ich schon etwas vor.“

„Dann am Dienstag? Ich halte es für wichtig, so schnell wie möglich mit dem Anwalt zu sprechen.“

„Wir werden sehen“, antwortete Mabel ausweichend, dann platzte es regelrecht aus ihr heraus: „Was haben Sie mit Michael Hamptons Unfall zu tun?“

Victor zuckte zurück, seine Augen weiteten sich.

„Ich? Was sollte ich mit dem Unfall zu tun haben? Wie kommen Sie auf eine solche Schnapsidee? Sie haben doch nicht etwa getrunken, Mabel?“ Bei seinem letzten Satz hatte sich Victor wieder im Griff, und unterschwelliger Spott begleitete seine Worte.

„Nun, Sie leugnen, Michael zu kennen, ich weiß aber genau, dass Sie mit ihm gestritten haben“, sagte Mabel kühl. „Ich habe Ihnen vertraut, Victor Daniels, habe Ihnen von der Toten auf Higher Barton erzählt und geglaubt, Sie würden mir helfen, das Verbrechen aufzuklären, wenn die Polizei es schon nicht tut. Und dann lügen Sie mich an. Vielleicht sollte ich der Polizei sagen, dass Sie auf Michael Hampton nicht gut zu sprechen sind, was meinen Sie?“

Victors Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er zischte: „Sie glauben also wirklich, ich hätte meine Hände bei Michaels Unfall im Spiel? Mabel, Mabel, Sie sind wirklich verrückt. Machen Sie doch künftig, was Sie wollen. Gehen Sie meinetwegen zur Polizei, ich bin überzeugt, Warden wird Ihnen auch in diesem Fall kein Wort glauben.“

Verärgert drehte er sich um und stapfte ohne ein weiteres Wort davon. Mabel presste eine Hand auf ihr pochendes Herz und lehnte sich gegen die Hauswand. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub. Victor hatte nun nicht mehr geleugnet, Michael zu kennen, allerdings keine Erklärung gegeben, warum er mit dem jungen Mann in Streit geraten war. Und warum er sie, Mabel, angelogen hatte. Alles in Mabel weigerte sich zu glauben, Victor könnte Michaels Motorrad manipuliert oder ihn sonst wie zu Fall gebracht haben, dennoch blieb eine große Enttäuschung. Sie hatte den einzigen Verbündeten verloren, den sie in Lower Barton zu finden geglaubt hatte.

Deprimiert betrat Mabel wenig später das Foyer des Hotels. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen sah sie Rachel Wilmington an einem der Tische der Lobby sitzen. Vor ihr stand eine Cola, von der sie aber nicht getrunken hatte, denn das Glas war voll. Als Rachel Mabel sah, stand sie auf und kam auf Mabel zu.

„Ich wollte dir dein Handy bringen und mich für meinen Vater entschuldigen“, kam sie gleich zur Sache. „Es tut mir so leid, dass er auf dich geschossen hat.“

Erst Victor und jetzt Rachel … Mabel verlangte es nach etwas Stärkerem als einer Limonade, darum bestellte sie an der kleinen Bar einen Cognac. Mit dem Glas in der Hand gingen sie und Rachel zum Tisch zurück und setzten sich.

„Du warst heute nicht bei der Probe“, sagte Mabel, ohne auf Rachels Worte einzugehen. „Tim wird den Prinzen spielen.“

„Tim?“ Der Anflug eines Lächelns huschte über Rachels Lippen. „Der ist doch viel zu klein.“

„Ich werde Michaels Kostüm ändern müssen.“ Mabel griff nach Rachels Hand und drückte sie. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Und ich fühle mich schuldig, weil …“

Rachel schüttelte den Kopf, und ihre Stimme klang bitter, als sie Mabel unterbrach: „Dazu besteht kein Grund. Mein Vater wurde gestern verhaftet, und da wir kein Geld für eine Kaution haben, wird er wohl bis zur Verhandlung im Gefängnis bleiben. Sie haben ihn nach Exeter gebracht, dieses Mal geht es ihm wirklich an den Kragen.“

„Das tut mir leid“, sagte Mabel und meinte ihre Worte ehrlich. „Es muss schwer für dich sein.“

„Es ist schrecklich!“, rief Rachel so laut, dass sich zwei andere Gäste interessiert zu ihr umdrehten. Sofort senkte sie ihre Stimme. „Ich weiß gar nicht, was ich meinen Geschwistern sagen soll, obwohl wir jetzt nicht mehr täglich vor seinen Wutausbrüchen zittern müssen. So gesehen ist seine Verhaftung eine Erleichterung, trotzdem … Versteh mich nicht falsch, Mabel, ich liebe meinen Vater. Er ist trotz allem kein schlechter Mensch. Der Tod meiner Mutter, und seit er arbeitslos ist … das alles hat ihn irgendwie aus der Bahn geworfen. Ich bin sicher, er wollte dich nicht verletzten, wollte nur, dass du gehst.“

„Das glaube ich jetzt auch“, erwiderte Mabel aufrichtig. „Meine Reaktion, gleich zur Polizei zu fahren, war vielleicht etwas übereilt, ich hatte aber wirklich Angst und war überzeugt, dass er ...“ Mabel zögerte, wusste nicht, ob sie fortfahren sollte, Rachel nahm ihr das Wort aus dem Mund.

„Du hast ihm vorgeworfen, Sarah getötet zu haben.“ Mit einem traurigen Blick sah sie Mabel an. „Sarah ist nicht tot, sie musste nur für ein Weilchen weg und wird bald wiederkommen.“

Über die Hoffnung, die in Rachels Worten mitschwang, zerriss es Mabel beinahe das Herz. Sie wollte Rachel nicht von der Toten erzählen. Noch nicht … nicht, bis sie nicht konkrete Beweise hatte, darum sagte sie leise: „Nun, es hätte durchaus sein können, dass dein Vater auf Sarah nicht gut zu sprechen war. Du wolltest doch mit ihr fortgehen, nicht wahr?“

Rachel zuckte zusammen, nervös knetete sie ihre Finger.

„Woher weißt du das?“

„Ich kann eins und eins zusammenzählen.“ Eindringlich sah Mabel dem Mädchen in die Augen. „Rachel, ich weiß, dass du Sarah liebst. Du brauchst darüber nicht erschrocken zu sein, denn das ist heutzutage nichts Verwerfliches. Es tut mir nur leid, dass ich es deinem Vater gesagt habe, aber ich dachte wirklich, er hat …“

„Sarah umgebracht?“ Rachels Stimme klang schrill, mit einem Anflug von Hysterie darin. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass sich Haarsträhnen aus ihrem ohnehin unordentlich gebundenen Pferdeschwanz lösten. „Selbst wenn Sarah nicht mehr leben sollte, was Unsinn ist, dann wäre mein Vater zu so etwas nicht in der Lage. Ich sagte bereits, ist er kein böser Mensch, manchmal tut er mir sogar leid. Ich hoffe, er wird nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Wenn er wieder zu Hause ist, werde ich mich um ihn kümmern.“

Mabel seufzte, denn sie drang zu dem Mädchen nicht durch. Obwohl Wilmington seine Tochter nicht nur körperlich misshandelte – die seelische Misshandlung, ihr die Schuld am Tod der Mutter zu geben, wog in ihren Augen noch schwerer als Schläge –, hielt Rachel fest zu ihrem Vater.

„Du und Sarah …“, Mabel ließ das Mädchen nicht aus den Augen, „ihr wolltet doch fortgehen, nicht wahr?“

Rachel nickte und sagte leise: „Sarah wollte nach London und drängte mich, sie zu begleiten. Dauernd sprach sie davon und wie schön wir es uns dort machen würden. Sie wollte mir alles zeigen, denn ich war noch nie in London.“

„Wovon wolltet ihr leben?“, fragte Mabel.

„Sarah meinte immer, ich solle mir keine Sorgen machen. Sarah träumt davon, ein Star zu sein, die Schauspielerei ist ihr Leben. Obwohl ich sie bewundere und weiß, wie gut sie ist, ist mir klar, dass es Tausende von talentierten und hübschen Schauspielerinnen gibt. Darum habe ich sie immer wieder gefragt, womit wir Geld verdienen sollen, bis sie den Durchbruch schafft. Ich habe ja nichts gelernt, kann nicht einmal mit Computern umgehen, denn dafür war in unserem Haus nie Geld da. Ich könnte höchstens als Kellnerin irgendwo arbeiten, was aber nicht gerade gut bezahlt ist.“

„Was hatte Sarah vor?“ Mabel wartete gespannt auf Rachels Antwort, doch das Mädchen zuckte mit den Schultern.

„Sie wollte es mir nicht verraten. ›Noch nicht, meine Liebe‹, sagte sie. ›Lass dich überraschen! Bald werden wir in Geld schwimmen und uns alles kaufen können, was wir wollen‹.“ Bekümmert sah Rachel Mabel an. „Vielleicht war Sarah in ein krummes Geschäft verwickelt, irgendetwas Illegales?“

„Das könnte sein“, murmelte Mabel. „Vielleicht war sie aus diesem Grund nach Lower Barton gekommen? Hat sie nie erwähnt, warum sie Bristol verlassen hat?“

„Nein, Sarah sprach nicht über ihre Vergangenheit“, antwortete Rachel. „Wenn ich sie danach fragte, auch nach ihren Eltern und so, dann wurde sie richtig wütend und meinte, das ginge niemanden etwas an, selbst mich nicht. Sie lebte hier und jetzt, wollte mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Da es furchtbar ist, mit Sarah zu streiten, habe ich dann nie wieder gefragt.“

In Mabels Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sarah Miller hoffte also auf eine größere Geldsumme, nach Rachels Aussage sogar auf sehr viel Geld. Da Sarah keiner geregelten Arbeit nachging, konnte es sich nur um etwas Kriminelles handeln. Vielleicht stand sie deshalb auch mit einem Anwalt in Kontakt? Lower Barton war, ebenso wie die ganze Umgebung, ein ruhiger, beschaulicher Ort. Hier gab es nichts zu holen. Oh, doch, dachte Mabel plötzlich. In Higher Barton gab es zahlreiche Wertgegenstände. War Sarah etwa ins Herrenhaus eingedrungen, um Abigail auszurauben? Warum aber in ihrem historischen Kostüm? Und, hatte man sie auf frischer Tat ertappt? Aber deshalb zu morden? Das Mädchen war nicht kräftig gewesen, jeder hätte sie festhalten und die Polizei rufen können.

„Was denkst du?“, fragte Rachel, der Mabels Versunkenheit nicht entgangen war.

„Ich überlege, was Sarah geplant haben könnte“, antwortete Mabel offen. „Du kanntest sie gut. Kannst du dir vorstellen, dass sie jemanden bestehlen wollte, um so an Geld zu kommen?“

Entschieden schüttelte Rachel den Kopf.

„Sarah war keine Diebin! Da fällt mir ein, einmal erwähnte sie in einem Nebensatz, dass sie etwas wüsste, was manchen Leuten ganz schön sauer aufstoßen könnte. Als ich nachhakte, lachte sie aber nur und wechselte das Thema.“

Erpressung, schoss es Mabel nun durch den Kopf, und das Objekt dieser Erpressung musste sich hier in Lower Barton befinden. Was jedoch konnte Sarah, die nie zuvor in Cornwall gewesen war, erfahren haben, das sich lohnte, jemanden zu erpressen? Wenn ihre Theorie stimmte, dann war der Mensch, der von Sarah erpresst worden war, auch ihr Mörder. Warum aber auf Higher Barton? Abigail konnte damit doch nichts zu tun haben. Sie hatte stets ein tadelloses Leben geführt. Jetzt unterhielt sie zwar eine sexuelle Beziehung zu ihrem jungen Chauffeur, aber selbst wenn Sarah darüber Bescheid wusste – eine ältere Frau und ein jugendlicher Liebhaber stellten heutzutage keinen Skandal mehr dar. Wenn die Sache ans Licht käme, würde es zwar Gerede geben, dies würde aber ebenso schnell wieder verebben. Außerdem, wieso sollte Sarah in Bristol etwas über Abigails Liebesleben erfahren haben und noch dazu denken, sie würde reich, wenn sie Lady Tremaine damit erpresste? Es ergab alles keinen Sinn. Und überhaupt – Abigail würde niemanden umbringen! Mabel weigerte sich, diese Überlegung noch eine Sekunde länger in Betracht zu ziehen.

Sie trank ihren Cognac aus, an dem sie bisher nur genippt hatte.

„Rachel, mach dir keine Sorgen um deinen Vater, ich bin sicher, er wird mit einer Verwarnung oder einer Bewährungsstrafe davonkommen, schließlich ist ja niemandem etwas passiert.“

Das Mädchen seufzte erleichtert.

„Vielleicht ist ihm die Untersuchungshaft ja eine Lehre, und das Gewehr musste er auch abgeben, denn er hat keinen Waffenschein.“

„Wenn Sarah zurückkäme…“ Mabel suchte nach den richtigen Worten, es tat ihr weh, falsche Hoffnungen in Rachel zu wecken, „also, würdest du dann immer noch mit ihr nach London gehen?“

Rachel zögerte mit der Antwort, schließlich sagte sie leise: „Ich weiß es nicht. Sie hat mich sehr verletzt, als sie einfach wegging, ohne mir zu sagen, wohin und was sie vorhat, und dass sie nicht ans Telefon geht oder auf meinen Brief antwortet. Dennoch …“

„… liebst du sie“, vollendete Mabel den Satz, und Rachel nickte.

„Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Aus Jungs habe ich mir nie viel gemacht. Als mich zum ersten Mal einer küsste, fand ich das eklig. Und so richtig wollte auch nie einer mit mir zusammen sein.“ Sie lächelte traurig. „Du brauchst mich nur anzusehen, dann weißt du warum. Außerdem will ohnehin niemand mit einem Mädchen gehen, das seine Mutter auf dem Gewissen und einen Alkoholiker zum Vater hat. Als Sarah dann kam … plötzlich war alles anders. Die Sonne schien viel strahlender, der Himmel war blauer, und selbst wenn es regnete, fand ich den Tag wunderschön.“

„Das ist Liebe“, stellte Mabel fest, und tiefes Mitleid durchflutete sie, denn Rachels Augen leuchteten in einem Glanz, den Mabel bei ihr nie zuvor gesehen hatte. Fast wünschte Mabel, in der Bibliothek einem Trugbild erlegen zu sein, dass Sarah Miller noch am Leben war, und alle, die sie für verrückt hielten, recht hätten. Leider war die Realität jedoch eine andere, aber Mabel brachte es nicht übers Herz, Rachel die Wahrheit zu sagen.