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Nach einer halben Stunde strammen Fußmarsches erreichte Mabel den kleinen Ort, dessen Zentrum sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hatte. Weißgekalkte ein- oder zweistöckige Steinhäuser scharrten sich um den Marktplatz mit der mittelalterlichen Markthalle, einem Pub, zwei Teestuben und kleinen Geschäfte, die alles für den täglichen Bedarf aber auch Souvenirs für Touristen anboten. Alle Geschäfte kamen ohne großflächige Schaufenster aus, wirkten dadurch wie aus einer vergangenen Zeit und ließen einen fast vergessen, dass man sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befand. Lower Barton hatte sich seinen ursprünglichen Charakter bewahrt, wenngleich in den letzten Jahren immer mehr Touristen hierherkamen. Der Ort lag nur wenige Meilen vom Meer entfernt, war aber nicht so überlaufen und teuer wie Polperro oder East Looe, in denen sich ein Hotel und ein Bed and Breakfast an das andere reihte. Mabel bemerkte, dass sich die Bäckerei und der Metzger immer noch in denselben Häusern befanden wie vor vierzig Jahren. Außerhalb des Ortskerns waren allerdings Neubaugebiete mit Reihenhäusern, die einander wie ein Ei dem anderen glichen, und hinter der Kirche ein großer, moderner Supermarkt mit einem weitläufigen Parkplatz entstanden. Direkt daneben befand sich ein vierstöckiger Neubau aus Stahl und Glas, der trotz der anderen Neubauten in dem historischen Gesamtbild störend wirkte. In dem modernen Gebäude fand Mabel die örtliche Polizeistation.

Der Polizist sah auf, als Mabel eintrat und an die Glasscheibe klopfte, die die Büroräume vom Eingangsbereich trennte. Es war einer der beiden Officer, die am Morgen auf Higher Barton gewesen waren, und seinem Blick war anzusehen, dass er über Mabels Erscheinen wenig erfreut war.

„Was wünschen Sie, Miss … äh …?“

„Clarence, mein Name, Sir. Ich würde gerne mit Inspektor Warden sprechen, wenn er im Haus ist.“

Der Mann zögerte, griff dann aber doch zum Telefonhörer und sagte ein paar Worte, die Mabel nicht verstehen konnte. Dann legte er auf, nickte ihr zu und betätigte den elektronischen Türöffner, damit Mabel eintreten konnte. Sie folgte ihm durch das Büro zu einer Tür, die er nach kurzem Klopfen öffnete.

„Miss Clarence, Chefinspektor.“

Warden saß hinter einem riesigen Schreibtisch voller Papiere und sah Mabel unwillig an.

„Was führt Sie zu mir, Miss?“

Seine Stimme war wie seine Körperhaltung ablehnend, und Mabel konnte sich vorstellen, dass er sich fragte, was die verrückte Alte wohl hier wollte. Sie ließ sich aber nicht beirren, nahm den Stofffetzen aus ihrer Tasche und legte ihn auf Wardens Schreibtisch.

„Bitte, Sir, ein Beweisstück.“

Er runzelte die Stirn und blaffte: „Was soll das sein? Ein Fetzen Stoff? Wir sind hier keine Lumpensammler.“

Mabel atmete tief durch und zählte innerlich bis zehn, bevor sie ruhig, aber eindringlich sagte: „Es handelt sich um ein Stück aus dem Kleid, das die tote Frau trug. Ich fand es heute Morgen an der Terrassentür. Als der Täter die Leiche hinausschaffte, muss sich ihr Rock an der Tür verfangen haben. Dabei ist das Stück herausgerissen.“

Warden schloss für einen Moment die Augen. Grundsätzlich war er ein höflicher Mensch und hatte in seinem Berufsleben so manches Mal mit schrägen Typen zu tun, diese Frau jedoch ging ihm gewaltig auf die Nerven. Mühsam beherrscht sagte er: „Sie beharren also weiterhin darauf, auf Higher Barton eine Tote gesehen zu haben? Auch wenn alles dagegen spricht?“

„Bei allem Respekt, Sir, aber ich hatte Sie gebeten, die Bibliothek nach eventuellen Spuren zu untersuchen, was Sie allerdings ablehnten. Zu Unrecht, wie Sie sehen, denn dann hätten Sie den Stofffetzen selbst gefunden. Ich bin überzeugt, im Garten müssen Fußspuren vorhanden sein, denn durch den Regen der letzten Nacht ist das Erdreich aufgewühlt. Ich denke, der Täter hat die Leiche irgendwo im Garten versteckt oder inzwischen vergraben, darum …“

„Es ist genug, Miss Clarence“, unterbrach Warden ihren Redefluss mit erhobener Hand. „Lady Tremaine ist eine der angesehensten Persönlichkeiten der Gegend, ihren verstorbenen Gatten kannte ich gut, darum ist es infam anzunehmen, dass sie etwas mit einem Tötungsdelikt zu tun haben könnte.“

„Das habe ich auch nie behauptet“, brauste Mabel nun auf, denn ihre Geduld neigte sich dem Ende zu. „Nichts liegt mir ferner, als anzunehmen, meine Cousine könnte in den Fall verwickelt sein. Vielleicht wissen Sie, dass gestern Abend anlässlich von Lady Tremaines Geburtstag auf Higher Barton ein Fest mit rund drei Dutzend Gästen gefeiert wurde. Da müsste doch festzustellen sein, ob die Tote unter den Gästen gewesen war, und man sollte alle Anwesende einer Befragung unterziehen. Hilfreich wäre es auch, Fingerabdrücke von jedem Gast zu nehmen und diese mit den Abdrücken in der Bibliothek zu vergleichen.“

„Sagen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit zu machen habe.“ Warden stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Seine Haltung signalisierte, dass er das Gespräch für beendet erachtete. „Meine liebe Miss Clarence, es ist eine Tatsache, dass heute Morgen keine tote Person auf Higher Barton zu finden war. Wahrscheinlich haben Sie zu viele Kriminalromane gelesen oder Miss-Marple-Filme gesehen. Nein, lassen Sie mich aussprechen“, sagte er laut, als Mabel ihn unterbrechen wollte, „und lassen Sie mich raten: Ihr Lieblingsfilm ist bestimmt Sechzehn Uhr fünfzig ab Paddington, in dem eine alte Frau … äh … ich meine, eine ältere Dame einen Mord beobachtet, von der Leiche fehlt jedoch jede Spur. Meine Liebe, Sie sind aber nicht Margaret Rutherford und ich nicht Charles Tingwell. So, und jetzt gehen Sie nach Higher Barton zurück, nehmen von mir aus ein Beruhigungsmittel, ruhen sich aus und lassen mich meine Arbeit tun, von der es mehr als genug gibt.“ Er klopfte zur Bestätigung seiner Worte auf einen Aktenstapel, der direkt neben dem Computerbildschirm lag. „Zum Glück sind keine Mordfälle dabei, und dabei wird es auch bleiben. In Lower Barton geschieht nie etwas Aufregendes, und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt.“

„Keinesfalls lasse ich es auf mir sitzen, dass Sie denken, ich hätte Halluzinationen“, gab Mabel zurück. „Bei allem Respekt, Chefinspektor, aber ich sehe mich nun dazu gezwungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.“

Um Wardens Lippen spielte ein ironisches Lächeln. „Also hatte ich recht, dass Sie Miss Marple lieben. Gut, präsentieren Sie mir eine Leiche und ich versichere Ihnen, ich werde den gesamten Polizeiapparat Cornwalls einschalten. Solange das aber nicht der Fall ist, und ich wage zu bezweifeln, dass dies jemals der Fall sein sollte, halten Sie sich von mir fern und belästigen mich bitte nicht weiter.“

Grimmig presste Mabel die Lippen aufeinander. Jedes weitere Wort war bei diesem ignoranten Menschen Zeitverschwendung. Sie schnappte den Stofffetzen, stopfte ihn wieder in die Hosentasche und verließ das Büro. Im Vorraum schenkte sie dem Officer nur ein knappes Nicken und erst, als sie auf die Straße trat, entfuhr ihr laut und verärgert: „So ein unverschämter Kerl!“

Im selben Moment prallte sie gegen einen Körper, taumelte nach hinten und konnte sich gerade noch vor einem Sturz retten, indem sie sich mit der Hand an der Hauswand abstützte. Dabei schürfte sie sich schmerzhaft den Handballen auf.

„Sind Sie verrückt? Wer ist denn hier unverschämt? Sie sind in mich reingelaufen!“

„Sie?“ Mabel erkannte den Fremden der vergangenen Nacht sofort wieder. Im Tageslicht konnte sie ihn näher betrachten. Er war etwas älter als Mabel, mit weißen Haaren, die auf dem Oberkopf gänzlich fehlten, sich aber hinten bis auf den Kragen einer senfgelben abgeschabten Cordjacke mit Lederflicken an den Ellbogen kräuselten, und hellgrauen Augen, die sie ärgerlich anstarrten. Auch er erkannte sie jetzt.

„Sie schon wieder!“, stöhnte er. „Erst rette ich Sie aus einer unangenehmen Situation, dann beschimpfen Sie mich auf offener Straße.“

„Ich habe Sie doch gar nicht gemeint“, machte Mabel den Versuch, die Sache aufzuklären, aber der Mann hörte ihr gar nicht zu. Er bückte sich nach dem Pappkarton, der ihm bei dem Zusammenstoß aus den Händen gefallen war und öffnete den Deckel.

„Hoffentlich ist Joey nichts geschehen.“

„Joey?“ Mabel beugte sich vor, um in den Karton zu spähen und sah einen braunen Panzer. „Eine Schildkröte?“

Der Mann nahm das Tier auf die Hand und plötzlich wurde sein Gesichtsausdruck weich, richtiggehend liebevoll.

„Gutes Tier, es ist alles in Ordnung“, murmelte er. Und zu Mabel gewandt: „Ich hab’ sie gerade gesund gepflegt, es wäre fatal gewesen, wenn sie sich ihr gebrochenes Bein wieder verletzt hätte.“

„Es tut mir aufrichtig leid.“

„Papperlapapp! Passen Sie das nächste Mal besser auf, wohin Sie treten.“ Er sah sie streng an. „Da Sie hier fremd sind, gebe ich Ihnen einen guten Rat: In der High Street gibt es einen Optiker, vielleicht sollten Sie den mal aufsuchen. Sie brauchen offenbar eine Brille.“

Vor Empörung schnappte Mabel nach Luft, aber bevor sie etwas sagen konnte, hatte der Mann die Schildkröte wieder eingepackt und ging mit schnellen Schritten davon.

„Ich reise noch heute ab“, sagte Mabel zu sich selbst, während sie sich auf den Rückweg nach Higher Barton machte. Zuerst musste sie aber sehen, wie sie zu ihrem Wagen kam und dieser zu einer Tankstelle. Dann würde sie noch heute zurück nach London fahren! Was ging es sie an, dass im Haus ihrer Cousine eine Frau ermordet worden und deren Leiche spurlos verschwunden war?

„Da sind Sie ja endlich!“, rief Emma Penrose, als Mabel die Halle betrat. „Mylady erwartet Sie ungeduldig im kleinen Speisezimmer, und das Essen ist beinahe kalt.“

Mit Schreck sah Mabel auf die Uhr, die bereits halb zwei anzeigte, und erinnerte sich, dass Abigail sie um ein Uhr zum Lunch gebeten hatte.

„Richten Sie Lady Abigail bitte aus, ich käme sofort. Ich möchte mich nur noch kurz frisch machen.“

Mabel eilte in ihr Zimmer, wusch sich die Hände und richtete ihr Haar. Zu gerne hätte sie ihre Kleidung gewechselt, dazu musste sie aber erst zu ihrem Wagen kommen, wo sich noch immer ihr Koffer befand. Hoffentlich. Weit waren sie und der unfreundliche Mann nicht gefahren, so beschloss Mabel, gleich nach dem Lunch ihr Auto zu suchen. Abigail besaß sicher einen Wagen, vielleicht würde sie ihr mit einem Kanister Benzin aushelfen.

Zehn Minuten später betrat Mabel das kleine Speisezimmer im Erdgeschoss, in dem bereits früher die Familie gegessen hatte, wenn sie unter sich waren. Abigail saß am Tisch und nippte an einem Glas Weißwein. Vorwurfsvoll sah sie Mabel an, bevor sie jedoch etwas sagen konnte, nahm Mabel die Hände ihrer Cousine und drückte sie fest.

„Bisher kam ich noch nicht dazu, dir meinen allerherzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag auszusprechen, liebe Abigail, und mich für die Einladung zu bedanken.“

Über Abigails Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns.

„Nun bist du ja da, auch wenn dein Ankommen etwas … nun, sagen wir dramatisch war. Wo warst du eigentlich die ganze Nacht, und warum hast du nicht angerufen, dass du dich verspätest?“

In kurzen Worten erklärte Mabel ihr Missgeschick und fügte hinzu: „Dein Geschenk ist noch im Wagen. Vielleicht könnte mich nachher jemand zu meinem Auto begleiten und einen Kanister Benzin mitnehmen? Die Sache ist mir sehr peinlich, ich bin nie zuvor liegengeblieben.“

„Mein Chauffeur wird sich darum kümmern“, sagte Abigail und drückte auf den Klingelknopf unter der Tischplatte. Eine Minute später trat die Haushälterin ein. „Bitte sagen Sie Justin, dass ich ihn zu sprechen wünsche. Sie können jetzt auftragen, Emma.“

Mrs Penrose tat wie geheißen, und als die beiden Frauen die wohlschmeckende Lauchcremesuppe löffelten, klopfte es und ein junger Mann in Jeans und T-Shirt trat ein.

„Mylady, Sie wollten mich sprechen?“

„Ach Justin, danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Das ist meine Cousine, Miss Clarence. Sie hatte heute Nacht eine Autopanne. Besorgen Sie doch einen Reservekanister mit Benzin und fahren Sie mit George raus, um den Wagen zu holen. Mabel, sagst du ihm bitte, wo du dein Auto stehen gelassen hast?“

Mabel versuchte, sich so genau wie möglich an die Stelle zu erinnern, beschrieb ihr Auto und nannte das Kennzeichen. Der junge Mann lächelte freundlich, und Mabel kam nicht umhin zu bemerken, dass er mit seinen blonden Haaren, dem braungebrannten Teint und seinen hellblauen Augen umwerfend gut aussah. Unwillkürlich fragte sie sich, warum ein so junger und attraktiver Mann als Chauffeur arbeitete. Als Model würde er wahrscheinlich auch gute Chancen haben.

„Keine Sorge, Miss, wir werden ihr Auto schon finden. In einer Stunde ist der Wagen auf Higher Barton.“ Er warf Abigail einen Blick von der Seite zu, dabei bemerkte Mabel ein kurzes spöttisches Zwinkern in seinen Augen. „Haben Sie sonst noch Wünsche, Mylady?“

Täuschte Mabel sich, oder zog eine leichte Röte über Abigails perfekt geschminkte Wangen, als sie antwortete: „Im Moment nicht, Justin. Heute benötige ich Ihre Dienste nicht mehr. Wenn der Wagen meiner Cousine in der Garage ist, können Sie sich den Rest des Tages frei nehmen.“

Der Chauffeur verließ das Zimmer und Mabel konnte sich nicht verkneifen zu sagen: „Chauffeure habe ich mir immer älter und irgendwie seriöser vorgestellt. Grauhaarig und in Uniform. Dieser Justin scheint noch sehr jung zu sein und sieht mehr aus wie ein Surfer oder ein Model für Herrenunterwäsche.“

Abigail rührte in der Suppe.

„Ach, man muss mit der Zeit gehen. Er ist Ende zwanzig und sehr zuverlässig. Ich fahre nämlich schon länger nicht mehr selbst. Wenn es regnet und dunkel ist, habe ich Probleme mit dem Sehen. Ja, ja, das liebe Alter.“

Mabel betrachtete ihre Cousine genauer. Die Jahre waren auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen, wie eine Sechzigjährige wirkte sie auf den ersten Blick aber nicht. Mabel vermutete, dass das Skalpell eines Chirurgen sowie regelmäßige Botox-Spritzen an ihrer beinahe faltenfreien Gesichtshaut nicht unbeteiligt waren. Auf Abigails Handrücken, die mit kleinen, braunen Flecken übersät waren, zeigte sich ihr Alter allerdings deutlich.

Emma servierte als zweiten Gang Roastbeef und Mabel merkte, wie hungrig sie war, schließlich hatte sie nicht gefrühstückt. Sie beschloss, Abigail von dem Stoffstück und ihrem Besuch bei Inspektor Warden nichts zu erzählen. Der Rest der Mahlzeit verlief schweigend. Erst als beide Frauen mit dem Dessert ihr Essen beendet hatten, erhob sich Abigail und sagte: „Lass uns den Kaffee in meinem Boudoir trinken, Mabel. Dort ist es gemütlicher und ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“

Mabel, die eigentlich gleich nach dem Essen zurück nach London hatte fahren wollen, beschloss, sich erst anzuhören, was ihre Cousine zu sagen hatte. Außerdem musste sie warten, bis der Chauffeur ihr Auto brachte, und schließlich hatte sie den weiten Weg nach Cornwall gemacht, um sich mit Abigail auszusöhnen.

Mit den ausgesuchten viktorianischen Möbeln war Abigails Boudoir geschmackvoll und nicht überladen eingerichtet, und im Kamin brannte ein gemütliches Feuer, obwohl es draußen nicht kalt war. Mabels Blick fiel auf einen runden Tisch mit geschwungenen Beinen, auf denen einige gerahmte Fotografien standen. Alle zeigten Arthur Tremaine, Abigails verstorbenen Mann. Es waren ältere Aufnahmen dabei – Arthur in Uniform der britischen Armee oder hoch zu Ross, aber auch welche, die kurz vor seinem Tod aufgenommen schienen, denn sein einst volles Haar war grau und schütter und zwei tiefe Falten hatten sich von der Nase hinunter zum Kinn eingegraben.

Abigail bemerkte Mabels Blicke. Sie trat neben ihre Cousine und legte eine Hand auf ihren Unterarm.

„Es macht dir doch nichts aus, Mabel? Ich meine, wir können auch in ein anderes Zimmer gehen, wenn es dir lieber ist.“

Schnell schüttelte Mabel den Kopf.

„Es ist so lange her, Abigail. Manchmal erscheint es mir, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.“ Ernst sah sie Abigail in die Augen und sagte leise: „Ich weiß, es wäre längst an der Zeit gewesen zu sagen, dass ich dir und Arthur verziehen habe. Du hast mich mit deiner Einladung beschämt, denn ich konnte bisher nicht über meinen Schatten springen, den ersten Schritt zu tun, um die Vergangenheit hinter uns zu lassen.“

Abigails nahm Mabel in ihre Arme, und für einen Moment war es, als wären sie wieder jung. Als es klopfte und Emma Penrose mit einem Tablett in den Händen eintrat, fuhren die beiden Frauen hastig auseinander. Verlegen sahen sie sich an und widmeten sich dann dem Kaffee, ließen die kleinen runden Kuchenstücke jedoch unberührt.

„Ich hoffe, du wirst eine Weile auf Higher Barton bleiben“, nahm Abigail das Gespräch wieder auf, als Emma gegangen war. „Wir haben so viele Jahre nachzuholen.“

Mabel zögerte, dann sagte sie: „Eigentlich wollte ich heute wieder nach Hause fahren. Die Sache mit der Toten hat mich doch sehr mitgenommen.“

„Ach Mabel, deine Nerven haben dir einen Streich gespielt.“ Abigail lächelte verständnisvoll. „Kein Wunder, nachdem du bei dem Unwetter die Nacht im Auto verbringen musstest. Nein, Cousine, du bist endlich gekommen, so schnell lasse ich dich nicht wieder fort.“

„Abigail, ich versichere dir, ich habe mir die Leiche nicht eingebildet!“, beharrte Mabel. „Als Krankenschwester habe ich gelernt, auch in Stresssituationen einen kühlen Kopf zu behalten. Selbst wenn ich früher sechsunddreißig Stunden Dienst hatte, waren mein Verstand und mein Wahrnehmungsvermögen stets ungetrübt. Sag, Abigail, war unter den gestrigen Gästen eine junge Frau, auf die die Beschreibung passen würde? Sehr hübsch, ungefähr ein Meter siebzig groß, schlank, blonde Haare? Sie trug ein altmodisches Kleid, das wie ein Kostüm aus einem vergangenen Jahrhundert wirkte.“

Abigail legte den Kaffeelöffel so heftig aus der Hand, dass er auf der Untertasse klirrte.

„Nein, es waren überhaupt keine jüngeren Gäste auf Higher Barton. Wir waren alles ältere Leute. Die jüngsten waren der Pfarrer mit seiner Gattin, die aber auch schon die Vierzig überschritten haben. Aber jetzt lass doch die Geschichte, ich habe dir etwas anderes zu sagen.“

Mabel nickte, denn sie spürte, im Augenblick würde Abigail ihr ohnehin nicht glauben. So lehnte sie sich zurück und hörte zu, was Abigail zu sagen hatte.

„Ich weiß, liebe Mabel, mein Verhalten damals war unentschuldbar. Nun sind jedoch vierzig Jahre vergangen, eine Zeit, in der wir beide unsere eigenen Wege gegangen sind. Jetzt ist Arthur tot, und du weißt, dass unsere Ehe zwar glücklich, aber nicht mit eigenen Kindern gesegnet war. Arthur hat immer die Möglichkeit einer Adoption abgelehnt, er war stets der Meinung – übrigens eine Meinung, die ich teile – dass die alte Tradition unserer Familie gewahrt bleiben muss. Da er selbst ein Einzelkind war und seine zwei Cousins ebenfalls kinderlos starben, wird mit meinem Tod der Name Tremaine erlöschen. Nicht nur das, sondern es gibt auch niemanden, in dessen Hände ich Higher Barton vertrauensvoll legen kann.“

Sie machte eine Pause, und in Mabel regte sich ein schrecklicher Verdacht.

„Du bist doch nicht etwa krank, Abigail? Dein Tod liegt doch hoffentlich noch in weiter Ferne.“

Abigail lächelte beruhigend und schüttelte den Kopf.

„Ach Mabel, in unserem Alter können wir die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass uns nicht mehr viele Jahre bleiben werden. Ich kann dich jedoch beruhigen: Nein, ich bin nicht krank, jedenfalls nicht so, dass ein baldiger Tod absehbar wäre. Trotzdem bin ich dabei, meine Hinterlassenschaft zu regeln, und ich möchte, dass du Higher Barton bekommst, wenn ich für immer die Augen schließe.“

Mabel brauchte einige Zeit, um den Sinn dieser Aussage zu begreifen. Dann sagte sie hastig: „Auf keinen Fall, Abigail! Was habe ich mit dem Haus zu tun?“

„Du bist meine einzige noch lebende Verwandte. Ich möchte nicht, dass Higher Barton in fremde Hände gerät. Blut ist eben doch dicker als Wasser.“

„Ich bin zwei Jahre älter als du“, gab Mabel zu bedenken. „Die Wahrscheinlichkeit, vor dir zu gehen, ist damit groß. Ich verstehe nicht, wie du ausgerechnet auf diesen Gedanken kommst. Außerdem habe ich nie geheiratet oder Kinder bekommen, somit wäre es nur eine Frage der Zeit, bis erneut niemand aus der Familie mehr vorhanden ist, selbst wenn ich dich überleben sollte.“ Mabel runzelte die Stirn. „Du könntest das Haus dem National Trust vermachen. Somit würde Higher Barton der Nachwelt in seiner ursprünglichen Art erhalten bleiben.“

„An den National Trust habe ich auch schon gedacht, scheue vor dem Schritt jedoch zurück, solange es noch jemanden aus unsere Familie gibt. Higher Barton ist seit über fünfhundert Jahren im Besitz der Tremaines. Wenn das Haus eines Tages dir gehört, dann kannst du damit machen, was du willst. Die Verantwortung liegt dann nicht mehr bei mir.“ Abigail lächelte, und Mabel erkannte in ihren Gesichtszügen etwas von ihrer frühen Leichtlebigkeit und dem Hang, die Verantwortung gerne auf andere abzuschieben. Abigail fuhr leise fort: „Arthur hat das Haus geliebt, auch er würde wollen, dass es in der Familie bleibt. Genau genommen hast du sogar einen gewissen Anspruch darauf. Wenn du Arthur geheiratet hättest, würde es heute ohnehin dir gehören.“

Entschieden schüttelte Mabel den Kopf.

„Das werde ich auf keinen Fall annehmen, Abigail. Du wirst noch lange leben, wahrscheinlich länger als ich selbst. Außerdem habe ich mein Leben in London, mit dem ich sehr zufrieden bin. Lass uns das Gespräch also ganz schnell wieder vergessen.“

„Zu spät!“ Abigail lächelte verschmitzt und sah dabei um Jahre jünger aus. „Gestern Vormittag, anlässlich meines Geburtstages, kam mein Anwalt und Notar nach Higher Barton, und ich habe mein Testament aufgesetzt. Wenn ich einmal sterbe, dann wird Higher Barton mit allem Inventar und der gesamte, nicht unerhebliche Landbesitz dir gehören, Mabel Clarence.“