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Für das Dinner am Mittwochabend hatte Emma Penrose im großen Speisesaal den Tisch mit bestem Porzellan und geschliffenen Kristallgläsern festlich gedeckt. Dieser lichtdurchflutete und elegant eingerichtete Raum im ersten Stockwerk wurde nur benutzt, wenn Gäste auf Higher Barton erwartet wurden, Mabel und Abigail speisten sonst im kleinen, im Erdgeschoss gelegenen Esszimmer, wo auch das Frühstück serviert wurde. Als Mabel kurz vor dem Eintreffen der Gäste hinunterging, zählte sie zehn Gedecke. Die Mitte der Tafel war mit frischen Efeuranken und gelben Rosenknospen geschmückt, die in flachen Wasserschalen schwammen und einen betörenden Duft verströmten. Mabel trug ein dunkelgraues, schmal geschnittenes Kleid mit hellen Paspelierungen am Ausschnitt und an den Manschetten, dazu hatte sie sich eine Perlenkette – ein Erbstück ihrer Großmutter – umgelegt. Es war ihr bestes Kleid, ursprünglich hatte sie vorgehabt, es bei Abigails Geburtstagsfeier zu tragen. Da sie diese verpasst hatte, kam es wenigstens heute Abend zum Einsatz. Ihr graues Haar hatte sie frisch gewaschen, auf das Auflegen von Make-up jedoch verzichtet.

Pünktlich um sieben Uhr trafen die Gäste ein. Emma Penrose hatte ein Mädchen aus dem Ort engagiert, das ihr in der Küche zur Hand ging, und die Haushälterin kredenzte jedem Gast ein Glas Sherry, während Abigail die Ankömmlinge begrüßte und Mabel vorstellte.

„Mrs Polgreen, Mr Polgreen, wie schön, dass Sie kommen konnten“, sagte sie zu einem Ehepaar mittleren Alters und fügte erklärend hinzu: „Mr Polgreen ist mein Hausarzt, seine Praxis befindet sich in Lower Barton.“

„Sie sehen bezaubernd aus, Mylady“, sagte der Arzt und zu Mabel gewandt: „Glücklicherweise sehen wir uns nur selten, da Ihre Cousine sich bester Gesundheit erfreut.“

Bei diesen Worten fiel Mabel ein Stein vom Herzen, denn sie zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt der Worte des Arztes. Immer noch hatte Mabel befürchtet, Abigail litte an einer unheilbaren Krankheit, da sie ihr Testament verfasst hatte und nach wie vor darauf beharrte, Mabel solle sie beerben.

Als Nächstes stellte ihr Abigail einen äußert gut aussehenden Herrn mit schlohweißem, aber noch vollem Haar, blauen Augen und einem gebräunten Gesicht vor, das die Falten nicht alt machten, sondern dem Mann ein interessantes Aussehen gaben.

„Mein lieber Sir Trevor, schön, Sie auf Higher Barton begrüßen zu dürfen. Darf ich Ihnen meine liebe Cousine Mabel Clarence aus London vorstellen? Leider hat sie meine Geburtstagfeier verpasst.“ Zu Mabel gewandt fuhr Abigail fort: „Sir Trevor Cavendish, ein Nachbar und einstiger Schulfreund von Arthur.“

Sir Cavendish deutete eine Verbeugung in Richtung Mabel an und sagte, er freue sich, ihre Bekanntschaft zu machen. Mabel bemerkte jedoch, wie er seine Aufmerksamkeit sogleich wieder Abigail zuwandte, und unvermittelt dachte sie, dass die beiden ein schönes Paar wären. Sir Cavendish musste etwa in ihrem Alter sein, und da er ohne Begleitung erschienen war, vermutete Mabel, er war entweder geschieden oder verwitwet.

Als weitere Gäste nahmen Thomas Wyatt, der Pfarrer von Lower Barton, und seine Frau Elisabeth Platz sowie ein Ehepaar mit dem Namen Hampton. Mabel stutzte bei dem Namen und dachte an Michael. Den Namen Hampton gab es allerdings häufig, und Mr Hampton hatte so gar keine Ähnlichkeit mit Michael. Der Mann war untersetzt und kurzatmig, wirkte mit seinem hellen, schütteren Haar und ausgeprägten Tränensäcken älter, als er war, während seine Frau eine strahlende Schönheit war, die jedoch mit dem Älterwerden ein Problem zu haben schien – sie war für den Anlass viel zu elegant gekleidet und ihr Make-up hätte eher in eine Nachtbar als zu einem Dinner auf Higher Barton gepasst.

Mit gerunzelter Stirn sah Abigail auf die auf dem Kaminsims stehende goldene Uhr im Rokoko-Stil. Es war inzwischen Viertel vor acht Uhr, und Mabel bemerkte, dass ein Gast noch fehlte.

„Ich denke, wir sollten anfangen“, sagte Abigail und ging zu ihrem Platz. „Es wäre schade, wenn die Suppe kalt würde. Wir alle wissen ja, dass unser guter Daniels wohl mal wieder aufgehalten worden ist. Wahrscheinlich kalbt eine Kuh, und er muss dem Tier beistehen.“

Mabels Herz tat einen Sprung. Sie hatte von Victor Daniels Einladung nichts gewusst. Damit war sie nicht die Einzige, denn Mrs Polgreen, die Frau des Arztes, bemerkte spitz: „Ich wusste nicht, liebe Abigail, dass Sie immer noch Umgang mit diesem alten Griesgram pflegen.“

Abigail erwiderte mit einem Lächeln: „Er betreut meine Pferde, liebe Laura. Wenn Daniels auch sonst ein wenig unterhaltsamer Gesellschafter ist, in der Gegend gibt es keinen besseren Tierarzt. Außerdem wären wir ohne ihn eine ungerade Anzahl, und das bringt bekanntlich Unglück.“

Überrascht warf Mabel ihrer Cousine einen Blick zu. Sie hatte nicht gewusst, dass Abigail abergläubisch war, doch ihre Cousine zwinkerte ihr kurz zu, und Mabel verstand, dass deren Aussage nur ein Scherz war.

Während sie die Karotten-Orangen-Suppe löffelten, die Mabel ganz ausgezeichnet schmeckte, drehte sich das Tischgespräch um das Wetter. Mrs Wyatt gab ihrer Hoffnung Ausdruck, am Tage des Basars würde es trocken, aber nicht zu heiß sein.

„Neben Limonade, Tee und Kaffee schenken wir selbstgemachten Apfelwein und Holunderbeerlikör aus“, erklärte sie Mabel. „Dazu bräuchten wir eigentlich eine Ausschankgenehmigung, da es jedoch für einen guten Zweck ist, drücken die Beamten ein Auge zu.“

„Das liegt in erster Linie daran, dass mein Schwager bei der zuständigen Behörde arbeitet“, warf der Pfarrer ein. „Haben Sie sich bereits überlegt, welchen Stand sie betreuen möchten, Miss Clarence?“

„Ähm … nein …“ Mabel sah unsicher von einem zum anderen. „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich eigentlich gar nichts über den Basar.“

„Oh, meine liebe Abigail, Sie haben Ihre Cousine in Arbeit eingespannt, ohne ihr zu sagen, was sie erwartet?“ Sir Trevor Cavendish, der rechts neben Abigail saß, bedachte sie mit einem belustigten Blick.

„Ich habe die Listen dabei“, sagte Elisabeth Wyatt. „Am besten setzen wir uns nach dem Essen zusammen und besprechen die Details.“

Mabel blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen, wobei sie alles andere als Lust hatte, den Basar zu organisieren. Immer wieder ging ihr Blick zur Tür, Victor Daniels schien jedoch nicht mehr zu kommen.

Mrs Penrose und das Mädchen servierten gerade den Nachtisch – saftige rote Erdbeeren mit Clotted Cream – als Laura Polgreen plötzlich sagte: „Haben Sie das von Sarah gehört, Lady Abigail? Wie konnte Sarah einfach ohne ein Wort verschwinden, nach all dem, was man für sie getan hat.“

Mabel fiel der Löffel aus der Hand und schlug klirrend auf den Teller, was ihr einen tadelnden Blick von Abigail bescherte.

„Sarah?“, sagte sie schnell. „Sie kennen Sarah Miller?“

Die Arztfrau sah Mabel verwundert an.

„Sarah Miller?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich spreche von Sarah Shaw vom Hotel Three Feathers.“ Zu den anderen Gästen gewandt fuhr sie fort: „Sie ist mit Sack und Pack einfach auf und davon. Man sagt, sie wäre mit einem Hotelgast durchgebrannt, einem Ausländer, Niederländer oder Belgier. Wie konnte sie John das nur antun, der arme Mann ist am Boden zerstört.“

In den folgenden Minuten erfuhr Mabel, dass Sarah Shaw Tänzerin in einer zweifelhafter Londoner Bar gewesen war, dort Alkohol und Drogen konsumiert hatte und erst durch die Heirat mit dem Hotelbesitzer John Shaw diesem Sumpf entkommen war.

„Nun, man kann es Sarah nicht verübeln, dass sie sich einen jüngeren Mann suchte“, sagte Sir Cavendish. „Immerhin ist John über zwanzig Jahre älter und könnte ihr Vater sein.“

„Ach, das ist doch normal“, bemerkte Elisabeth Wyatt. „Es ist sogar gut, wenn Männer älter als Frauen sind. Ich finde diese neumodischen Marotten, wenn sich ältere Frauen einen jungen Liebhaber zulegen, einfach nur wider…“ Mabel vermutete, sie wollte „widerlich“ sagen, doch Mrs Wyatt besann sich im letzten Moment, „… wider die Natur. Da gibt es doch diese Hollywood-Schauspielerin, die kürzlich einen dreißig Jahre jüngeren Mann heiratete. Nun, wir alle wissen, was der Mann von ihr will. Ihr geliftetes Gesicht wird es sicher nicht sein.“

Beifall heischend sah Elisabeth Wyatt in die Runde, und Mabel tauschte einen flüchtigen Blick mit Abigail. Deren Wangen hatten sich gerötet, und sie enthielt sich eines Kommentars. Mabel hatte das Bedürfnis, ihrer Cousine zur Seite springen zu müssen, wenngleich keiner der Gäste von deren Beziehung zu dem Chauffeur wissen konnte.

„Es könnte doch auch Liebe sein“, sagte Mabel. „Ich denke, Liebe ist unabhängig vom Alter. Wenn es normal sein soll, dass ein älterer Herr eine junge Frau liebt – warum sollte es andersherum nicht ebenso sein?“

„Gut gesprochen.“ Mr Hampton, der sich bisher an der Diskussion nicht beteiligt hatte, klopfte mit dem Stiel seines Löffels auf den Tisch. „Das sehe ich ebenso, wobei ich zugeben muss, ich hätte wahrscheinlich ein Problem, wenn unser Sohn mit einer deutlich älteren Frau nach Hause käme und sie uns als künftige Schwiegertochter vorstellen würde.“

„Michael und eine ältere Frau?“ Clara Hampton kicherte. „Mein lieber Richard, darüber brauchen wir uns gewiss keine Sorgen zu machen, denn die Mädchen liegen Michael zu Füßen. Er hat die freie Auswahl unter allen jungen Damen der Gegend.“

Mabels Herz klopfte vor Aufregung, als sie fragte: „Michael Hampton ist Ihr Sohn?“, fragte sie. „Ich meine den Michael, der in dem Stück anlässlich des Festes den Prinzen spielt.“

„Ja, das ist unser Sohn!“ Clara Hampton nickte stolz. „Er spielt die Rolle nun schon das dritte Jahr, und wir können von Glück sagen, dass er wieder Jennifer Crown zur Partnerin hat – zumindest ist sie von hier. Ein paar Wochen musste er sich mit so einer Hergelaufenen abgeben! Darüber hat Michael jeden Abend, wenn er von der Probe kam, geschimpft. Nun, das Thema hat sich ja glücklicherweise erledigt.“

„Das ist verständlich“, sagte Mabel in kühlem Ton, um ihre Aufregung zu verbergen. „Immerhin sind Ihr Sohn und Jennifer ein Paar.“

„Jennifer Crown!“ Clara Hampton zog verächtlich die Mundwinkel nach unten, ihr Blick war beinahe angewidert, als sie fortfuhr: „Da müssen Sie sich irren, Miss. Die beiden spielen zwar zusammen, aber unser Sohn und diese kleine Schlampe …“

„Clara, ich bitte dich!“, unterbrach ihr Mann, während die Pfarrersfrau entsetzt die Augen aufriss. „Miss Crown mag zwar nicht aus den besten Kreisen stammen, dennoch sollten wir sie nicht beleidigen.“

„Ich beleidige niemanden, ich sage nur die Wahrheit.“ Clara Hampton sah in die Runde. „Jeder in Lower Barton weiß, wie leicht Jennifer zu haben ist und dass sie nur am Geld ihrer jeweiligen Liebhaber interessiert ist. Sie soll nur versuchen, sich an unseren Michael ranzumachen, dann bekommt es die junge Dame“, sie sprach das Wort voller Verachtung aus, „mit mir zu tun.“

„Und was hielten Sie von Sarah Miller?“ Mabel sah Clara Hampton herausfordernd an. „Ich hörte, Ihr Sohn zeigte Interesse an der jungen Schauspielerin.“

„Mabel!“ Abigails strenger Blick traf Mabel. „Wir sollten jetzt über den Basar sprechen, nicht wahr?“

„Da haben Sie recht, Mylady.“ Der Pfarrer seufzte erleichtert. „Es ist nicht sonderlich nett, über Leute zu sprechen, die nicht anwesend sind.“

Abigail erhob sich. „Whisky und Cognac werden im Rauchzimmer serviert, meine Herren.“ Sie sah zu den Damen. „Den Kaffee nehmen wir am besten im Salon ein.“

Mabel verbiss sich ein Grinsen. Offenbar hielt Abigail an der verstaubten Tradition, dass sich die Gäste nach dem Dinner trennten, damit die Herren unter sich sein konnten, fest, obwohl dies seit Mitte des letzten Jahrhunderts nicht mehr üblich war. Sie hatten gerade das Speisezimmer verlassen, als Victor Daniels die Halle betrat. Er trug dunkelgrüne Kniebundhosen, ein kariertes Hemd und seine obligatorische senfgelbe Cordjacke, die Gummistiefel über und über mit Schmutz bedeckt. Als er Abigail sah, neigte er kurz den Kopf.

„’Tschuldigung, Lady Abigail, die Sau wollte sich mit dem Werfen einfach nicht beeilen.“

Abigail zog pikiert eine Augenbraue in die Höhe und erwiderte beherrscht: „Wie schön, dass Sie noch gekommen sind, Doktor. Wir sind mit dem Essen bereits fertig, meine Haushälterin kann Ihnen aber gerne eine Portion aufwärmen.“

„Ist nicht nötig.“ Victor winkte ab. „Hab’ auf der Farm schon ’ne Schüssel Eintopf bekommen.“ Er sah Mabel an. „Kann ich Sie kurz sprechen?“ Mit einem Seitenblick auf Abigail fügte er leise hinzu: „Unter vier Augen.“

Abigail runzelte zwar die Stirn, Mabel nickte aber und folgte dem Tierarzt vor die Tür.

„Sie hätten sich umziehen sollen.“ Mabel kräuselte die Nase, da Victor stark nach Schweinestall roch. „Mir ist es gleichgültig, aber meine Cousine schien etwas pikiert zu sein.“

„Kann mir vorstellen, dass Lady Abigail über meinen Aufzug nicht sehr erfreut ist.“ Er grinste. „Ich geh’ auch gleich wieder, möchte den illustren Kreis nicht stören. Wollte Ihnen nur sagen, dass der Anwalt verreist ist. Wir können erst nächste Woche mit ihm sprechen.“

„Danke, das weiß ich bereits“, sagte Mabel und fügte auf seinen erstaunten Blick hinzu: „Ich habe in der Kanzlei angerufen und um einen Termin gebeten.“

„Ach? Woher hatten Sie die Nummer?“

„Telefonbuch.“ Mabel verschränkte die Arme vor der Brust. „Nachdem Sie die Visitenkarte eingesteckt hatten, blieb mir nichts anderes übrig.“

„Sie haben sich noch an seinen Namen erinnert?“

„Ich bin nicht senil.“ Mabels Lippen wurden schmal, als sie leise sagte: „Was hatten Sie eigentlich gestern mit Michael Hampton zu besprechen?“

„Michael, wer?“ Mabel wusste nicht, ob Victor wirklich nicht wusste, von wem sie sprach, oder ob er ein guter Schauspieler war.

„Michael Hampton“, wiederholte sie langsam den Namen. „Der junge Mann, der Prinz Charles spielt und frühere Partner von Sarah Miller.“

Täuschte Mabel sich oder flackerten Victors Lider für einen Augenblick? Seine Stimme war jedoch völlig ruhig, als er sagte: „Ich habe keine Ahnung, von wem Sie sprechen, Mabel. Ich bin dem Mann nie begegnet.“

Mabel schluckte trocken. Sie hatte sich nicht getäuscht, als sie Victor und Michael zusammen gesehen hatte, ebenso wenig dass die beiden Männer heftig miteinander stritten. Ein Schauer, der nicht von der kühlen Nachtluft kam, rann über ihren Rücken. Eben war sie noch entschlossen gewesen, Victor zu erzählen, wie sich Michaels Mutter über ihre Behauptung, ihr Sohn habe mit Jennifer Crown ein Verhältnis, echauffiert hatte, jetzt behielt sie dieses Wissen jedoch für sich. Hatte sie sich in dem Tierarzt getäuscht? Victor hatte als Einziger ihre Geschichte geglaubt. Nicht nur das, er war mit ihr auch nach Bristol gefahren, um mehr über Sarah Miller zu erfahren. Warum leugnete er jetzt die Begegnung mit Michael Hampton, ja, sogar dass er ihn überhaupt kannte?

„Ich sollte wieder hineingehen.“ Mabels Stimme klang kühl. „Meine Cousine wartet, und wir müssen über den Basar auf Higher Barton sprechen.“

Victor nickte. „Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich mit dem Anwalt in Truro gesprochen habe.“

Mabel sagte ihm nicht, dass sie dieses Gespräch selbst führen würde, ebenso verschwieg sie, dass sie inzwischen ein Handy besaß. Die Enttäuschung, dass Victor Daniels etwas vor ihr verbarg, fraß wie ein Geschwür in ihr. Mit einem kurzen Gruß wandte sie sich ab und kehrte zu den Damen in den Salon zurück.

Während der folgenden Stunde ließ Mabel das Gerede von Mrs Wyatt bezüglich der Organisation des Basars über sich ergehen, ohne richtig bei der Sache zu sein. Immer wieder nickte sie und warf ein „Ja, sicher“ oder „Natürlich, der Meinung bin ich auch“ ein, wobei sie aber gar nicht erfasste, worum es in dem Gespräch eigentlich ging. Sie war verwirrt und fragte sich, warum Victor einen Disput mit Michael Hampton leugnete. Und ob er womöglich noch etwas vor ihr verbarg.

Rachel Wilmington erschien wieder zur Probe am Freitagabend. Die Haut um ihr Auge herum hatte eine grün-gelbe Färbung angenommen. Offenbar wussten alle im Ensemble über Rachels schwere häusliche Situation Bescheid, denn mitleidige Blicke trafen das Mädchen, niemand jedoch sprach Rachel auf die Verletzung an. Sie setzte sich still auf einen hinteren Stuhl, und als sie an der Reihe war, spielte sie ihre Szene mit hocherhobenem Kopf und aufrechtem Gang, mied aber den Blickkontakt zu Mabel. Rachel fungierte nur als Statistin und hatte keine Sprechrolle. Allerdings bemerkte Mabel, wie das Mädchen immer wieder zu Michael Hampton hinschaute, und in der Szene, in der er und Jennifer – als Mary Lerrick – sich küssten, presste sie zornig die Lippen aufeinander.

Nach der Probe packte Rachel schnell ihre Sachen zusammen. Bevor sie den Saal verlassen konnte, hatte Mabel sie eingeholt.

„Die Kostüme konnten gereinigt werden“, sagte Mabel schnell. „Ich habe sie bereits Eric gegeben, sie sehen wie neu aus.“

„Danke“, murmelte Rachel und wollte sich an Mabel vorbeidrängen.

„Bitte, warte.“ Mabel stellte sich ihr in den Weg. „Ich bin froh, dass du heute gekommen bist. Hat dein Vater dir wieder erlaubt, bei dem Stück mitzuwirken?“

Rachel zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

„Er ist im Pub“, sagte sie so leise, dass es nur Mabel hören konnte. „Darum muss ich schnell nach Hause, bevor er heimkommt und merkt, dass ich weg war. Ich hoffe nur, die Jungs und Angie halten ihre Klappe. Ich habe jedem fünf Pfund für ihr Schweigen gegeben, das bedeutet, es wird am Wochenende zum Essen mal wieder kein Fleisch geben.“

Sie verstummte, denn Michael Hampton drängte sich an ihnen vorbei. Er hielt Jennifers Hand und wirkte sehr aufgekratzt.

„Wir gehen noch was trinken“, sagte er zu Mabel. „Es ist Freitag, und die meisten der Gruppe treffen sich im Admiral’s Head, dem Pub in der Fore Street. Möchtest du nicht mitkommen, Mabel?“ Es war das erste Mal, dass Michael sie direkt ansprach, sie schüttelte jedoch den Kopf.

„Vielleicht das nächste Mal, aber danke.“

Michael zuckte mit den Schultern, flüsterte Jennifer etwas ins Ohr, woraufhin diese kicherte und Rachel mit ei-nem verächtlichen Blick musterte, dann verließen sie Arm in Arm den Saal.

„Du gehst nie mit ihnen aus, nicht wahr?“, fragte Mabel Rachel.

„Ausgehen? Ich weiß gar nicht, wie man das Wort überhaupt buchstabiert“, entgegnete Rachel. „Ich muss mich jetzt wirklich beeilen, Miss Clarence. Danke für das Waschen der Kostüme, das war sehr nett von Ihnen.“

Am liebsten hätte Mabel das Mädchen in die Arme genommen und getröstet, spürte jedoch, Rachel würde eine solche Nähe nicht wollen. Sie tat Mabel unendlich leid, daher bot sie Rachel an, sie nach Hause zu fahren.

„Mein Wagen steht direkt vor dem Haus.“

„Danke, das ist sehr nett.“

Mabel freute sich, dass Rachel ihr Angebot annahm. Nach fünf Minuten hielten sie vor dem verwahrlosten Backsteinhaus.

„Danke.“ Rachel sah Mabel an, und diese befürchtete, das Mädchen würde gleich zu weinen anfangen. „Sie sind sehr nett, Miss Clarence.“

„Ach, sag doch Mabel zu mir. Ich könnte zwar deine Großmutter sein, aber ich fühle mich so alt, wenn du mich mit dem Nachnamen ansprichst. Außerdem duzen sich in der Gruppe alle.“

Rachels Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und es war das erste Mal war, dass Mabel sie lächeln sah.

„Also gut … Mabel.“

„Du hast nichts von Sarah gehört?“, fragte Mabel direkt.

Rachel zuckte zusammen. „Nein, warum fragen Sie … warum fragst du?“

Mabel beschloss, nicht um den heißen Brei herumzureden.

„Ich habe deinen Brief an Sarah gesehen.“

Über Rachels Gesicht fiel ein Schatten. „Sie hat sich nicht gemeldet, und ihr Handy ist immer noch ausgeschaltet.“ Plötzlich reckte sie ihr Kinn nach vorn und sagte trotzig: „Sarah wird sich melden und zurückkommen. Sie lässt mich nicht allein, nicht nachdem …“ Als hätte sie etwas Verbotenes gesagt, schlug sie sich die Hand vor den Mund und ihre Wangen färbten sich rot. „Ich muss jetzt wirklich gehen.“

Rachel öffnete sie Autotür und sprang aus dem Wagen. Mabel sah ihr nach, als sie auf das Haus zulief, und plötzlich schoss ein Gedanke durch ihren Kopf, über den sie laut aufstöhnte. Natürlich! Warum hatte sie das nicht früher erkannt? Mabel erinnerte sich, was Pat über ihre Mitbewohnerin gesagt hatte. Plötzlich ergab vieles einen Sinn, und Mabel verstand, warum Rachel wegen Sarahs Verschwinden derart durch den Wind war, wie die jungen Leute es heutzutage auszudrücken pflegten. Mabel hatte bereits ihr Handy in der Hand, um Victor anzurufen und zu fragen, ob sie vorbeikommen könne, um ihn über ihre neuen Erkenntnisse zu informieren, doch sie ließ das Telefon wieder sinken. Etwas in ihr wehrte sich dagegen, mit Victor zu sprechen. Es war besser, ihrem delikaten Gedanken zuerst allein nachzugehen. Vielleicht irrte sie sich, dann würde sie schön dumm dastehen. Außerdem wusste Mabel nicht, ob sie dem Tierarzt noch vertrauen konnte.