8

In den nächsten Tagen widmete Mabel ihre Zeit Abigail, zumal das Wetter regnerisch und trüb war und nicht gerade zu Spaziergängen einlud. Am Freitagvormittag fuhr Justin Parker die beiden Damen nach East Looe, Abigail hatte einen Termin in dem Kosmetikinstitut vereinbart.

„Soll ich für dich ebenfalls einen ausmachen?“, hatte sie Mabel gefragt und die Cousine dabei von oben bis unten gemustert. „Deine Gesichtshaut wäre für eine Verwöhnbehandlung dankbar. Sie machen da ganz hervorragende Masken aus Honig und Schokolade.“

Mabel hatte dankend abgewinkt und gemeint: „Lass mich raten – die Maske wird dann nicht abgenommen, sondern abgeleckt, oder?“, woraufhin Abigail einen Flunsch gezogen und gemurmelt hatte, Mabel müsse etwas mehr auf sich achten. Mabel nahm das ihrer Cousine nicht übel, ihre Welt waren nun mal nicht Kosmetikstudios und Modeboutiquen. Als Krankenschwester war für Eitelkeit weder Platz noch Zeit gewesen, und Mabel hatte es seit Jahren aufgeben, sich für andere hübsch zu machen. Selbstverständlich achtete sie darauf, ordentlich gekleidet und gepflegt zu sein, färbte ihre grauen Haare jedoch nicht, und ihre Kleidung mochte vielleicht nicht der neusten Mode entsprechen, war aber bequem und praktisch. Seit ihrer Kinderzeit war Abigail immer die Hübschere von ihnen beiden gewesen und hatte immer großen Wert auf ihr Äußeres gelegt. Als Lady Tremaine und Herrin eines großen Landhauses musste Abigail auch repräsentative Pflichten erfüllen, und von einer Lady erwartete man, dass sie ihre Kleider nicht bei Marks & Spencer kaufte. Drei- bis viermal im Jahr fuhr Abigail nach London, um sich dort einzukleiden.

„Meistens werde ich bei Harrods fündig“, meinte sie lächelnd, und Mabel dachte: Wo auch sonst? „Wobei das Haus auch nicht mehr das ist, was es einmal war. Seit ihnen die königlichen Wappen und damit der Status des Hoflieferanten entzogen wurden, fehlen die elitären Kunden und immer mehr Touristen tummeln sich in den Verkaufsräumen.“ Verächtlich zog Abigail die Mundwinkel nach unten. „Nun, das Warenangebot ist immer noch unvergleichbar, Selfridges kann da nicht mithalten.“

Mabel kannte natürlich Harrods ebenso wie das Kaufhaus Selfridges und kaufte in beiden regelmäßig ein, denn auch bei Harrods gab es gute Angebote zu reellen Preisen und die Qualität stimmte. Sie wollte sich jedoch mit Abigail nicht auf eine Diskussion über Londons Nobelkaufhäuser einlassen, daher wechselte sie das Thema.

„Ich bin auf Looe gespannt. Ich war noch nie dort, auch früher nicht, nur ein oder zweimal in Polperro.“

„Das Zwillingsstädtchen wird dir gefallen“, versicherte Abigail, während sie in den Wagen stiegen. „East Looe ist etwas größer als Polperro und hat seinen ganz eigenen Charme.“

Da die Einfahrt für Pkw nur für Anwohner und für den Lieferverkehr gestattet war, hielt Justin Parker den Rolls Royce direkt hinter der Brücke am oberen Ende der Fore Street und half den Damen beim Aussteigen. Abigails Kosmetikstudio befand sich nur wenige Schritte von hier entfernt.

„Sie holen uns in drei Stunden wieder hier ab“, befahl Abigail, und der Chauffeur nickte.

„Lassen Sie sich so richtig verwöhnen, Mylady. Nicht, dass Sie es nötig hätten, aber ein paar Stunden der Entspannung werden Ihnen guttun.“

Mabel war über diese Worte eines Angestellten gegenüber seiner Herrin überrascht und meinte, sogar ein Zwinkern in Justins Augen gesehen zu haben. Da Abigail auf die Bemerkung nicht reagierte, sagte auch Mabel nichts, hakte sich bei ihr unter und gemeinsam schlenderten sie die Straße entlang.

„Möchtest du nicht doch mitkommen?“, fragte Abigail. „Was machst du denn sonst die ganze Zeit?“

„Ich werde mir den Ort ansehen.“

„Bei dem Wetter?“ Abigail sah zum Himmel, wo sich schwarze Wolken ballten und den nächsten Regenguss ankündigten.

„Ich bin nicht aus Zucker.“ Mabel lachte und verabschiedete ihre Cousine vor dem Eingang zu einem alten, sehr schön renovierten zweistöckigen Haus, an dessen Tür ein Gold glänzendes Schild mit dem Aufdruck „Annies Schönheitssalon – Pediküre, Maniküre, Gesichts-/ Ganzkörperbehandlungen und Massagen“ angebracht war. Aus ihrer Handtasche nahm Mabel vorsorglich den zusammenklappbaren Schirm, um gegen den Regen gewappnet zu sein. Trotz des schlechten Wetters drückten sich viele Leute durch die engen Gassen. Die meisten waren Touristen, sie trugen Rucksäcke und bequeme Wandersandalen.

Der ältere Teil des Ortes, East Looe, war mit dem kleineren, neueren West Looe durch eine rund einhundertfünfzig Jahre alte, und im letzten Jahrhundert erweiterte, Brücke verbunden, die den Fluss Looe überspannte. Die ursprüngliche, im 15. Jahrhundert erbaute Bogenbrücke, die einst weiter flussabwärts die Ortsteile miteinander verbunden hatte, existierte schon lange nicht mehr. Beide Städtchen waren bedeutende Fischerdörfer gewesen, im Mittelalter hatten sie zusammen sogar einen bedeutenden Seehafen gebildet, dessen Schiffe an jeder wichtigen Seeschlacht teilnahmen. Heute spielte der Fischfang keine große Rolle mehr, und nur noch wenige Boote – umkreist von hungrigen Möwen – waren geblieben. Die Fänge, die die Fischer heute einbrachten, dienten lokalen Zwecken, und der Fisch wurde in die zahlreichen Restaurants und Hotels der beiden Ortschaften verkauft. Besonders East Looe war ebenso wie das westlich gelegene Polperro eine Hochburg des Tourismus in Cornwall, dementsprechend hatte sich die Stadt auf den Ansturm der Besucher eingestellt. In den engen, gewundenen Gässchen, die manchmal so schmal waren, dass gerade ein Auto sie passieren konnte, reihte sich ein Souvenirladen an den anderen, dazwischen gab es Schnellimbisse, Tearooms und Kunstgalerien, die fast ausschließlich Werke von einheimischen Künstlern ausstellten und verkauften.

In Mabels Nase stieg der köstliche Geruch von Cornish Pastys, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Obwohl sie gut gefrühstückt hatte, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und kaufte sich eine Pasty mit Lamm und Pfefferminz. Die Teigtasche war kochend heiß und vorsichtig biss Mabel hinein. Delicious! Sie liebte diese kornische Spezialität, die ursprünglich das Essen von Bergleuten war, sich aber längst zur Leibspeise der Touristen gemausert hatte. Seit Jahren gab es in allen großen Städten Englands, natürlich auch in London, Cornish-Pasty-Shops, dorthin wurden die Pasteten jedoch tiefgefroren geliefert und aufgetaut. In der Bäckerei in Looe backte man sie noch selbst, was sich in einem überaus köstlichen Geschmack widerspiegelte.

Mabel gelangte zur Seepromenade oberhalb des großzügigen Sandstrandes, am dem heute aufgrund des Wetter nur wenig Betrieb herrschte. Eine Handvoll Menschen führte ihre Hunde aus, die ausgelassen in die sanften Wellen des Meeres sprangen und sich das nasse Fell ausgiebig schüttelten. Die Bänke auf der Promenade waren alle feucht, so aß Mabel ihre Pasty im Stehen und beschloss, einen Tearoom aufzusuchen, denn die herzhafte Fleischpastete hatte sie durstig gemacht. Als sie in die Lower Chapel Street einbog, sah sie an einem Laternenpfahl das bekannte Plakat hängen – „Verrat in Lower Barton“. Mabel blieb stehen und betrachtete das feine Gesicht des Mädchens, von dem sie jetzt wusste, dass es Sarah Miller war.

„Tja, ich sagte doch, die Sache wird touristisch vermarktet“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich und fuhr herum.

„Mr Daniels!“ Mabel wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, den Tierarzt zu sehen.

„Victor“, erinnerte er. „Wir waren schon mal beim Vornamen.“

Mabel nickte und fragte: „Was machen Sie hier in Looe? Ist Ihre Praxis so groß, dass Sie auch hier Patienten haben?“

„Auch ein Tierarzt hat mal einen freien Tag.“ Victor brummte und sein Gesicht verschloss sich.

„Es tut mir leid. Es geht mich selbstverständlich nichts an, was Sie in ihrer Freizeit tun.“

„Ganz richtig.“ Ein erneutes Brummen, und Mabel wollte sich schon verabschieden, als er hinzufügte. „Wollte gerade einen Tee trinken, wollen Sie mitkommen?“

Da Mabel dies ohnehin vorgehabt hatte, außerdem der Tee in Gesellschaft besser schmeckte, stimmte sie zu. Victor führte sie in einen kleinen Tearoom in einer Seitengasse der Fore Street, der gerade einmal zehn Personen Platz bot. Sie fanden den letzten freien Tisch und während sie sich setzen, meinte Victor: „Den Schokoladen-Victorian-Sponge hier kann ich empfehlen, natürlich frisch gebacken, und die Marmelade für die Füllung wird ebenfalls selbst hergestellt. Also, wenn man süßes Zeugs mag. Oder möchten Sie lieber einen Cream Tee?“

Mabel schüttelte den Kopf und lächelte. „Danke, ich mache mir nicht viel aus Kuchen oder gar Cream Tee. Die Clotted Cream liegt mir nur stundenlang schwer im Magen.“

„Ja, im Alter müssen wir auf unsere Ernährung achten, man geht leicht auseinander“, entgegnete Victor wenig charmant.

Sie bestellten sich beide nur eine Kanne Tee, dann fragte Victor: „Haben Sie immer noch Interesse an unserem Festakt?“

„Inzwischen habe ich mich der Theatergruppe angeschlossen“, entgegnete Mabel stolz. „Ich helfe bei den Kostümen.“

Die buschigen Augenbrauen des Tierarztes schossen nach oben. „Nun, dann haben Sie also vor, länger in der Gegend zu bleiben?“

„Solange meine Cousine mich erträgt.“ Mabel nippte an ihrem Tee, der brühend heiß war. „Außerdem haben Sie mein Interesse an der Geschichte von Lower Barton geweckt. Ich möchte mir die Festivitäten und die Theateraufführung gerne ansehen.“

„Touristenfang.“ Victor winkte verächtlich ab. „Sie werden enttäuscht sein, sind aber alt genug, um zu wissen, was Sie machen.“

Mabel lag auf der Zunge zu sagen, dass er wohl kaum jünger als sie sein konnte, verkniff sich aber diese Bemerkung. Stattdessen fragte sie: „Kennen Sie eigentlich die Menschen in Lower Barton?“

Er runzelte die Stirn. „Sollte man meinen, hab’ mein ganzes Leben da verbracht, und kaum jemand, der kein Haustier hat, das früher oder später meine Behandlung braucht.“

Interessiert lehnte sich Mabel vor.

„Kennen Sie auch eine Rachel? Sie muss so Anfang zwanzig sein, mausbraunes Haar und, wenn sie geht, hinkt sie …“

„Rachel Wilmington, natürlich.“ Victor nickte und sah Mabel aufmerksam an. „Jeder in Lower Barton kennt die Geschichte der armen Rachel.“

„Arme Rachel?“, wiederholte Mabel. „Warum?“

Victor lächelte spöttisch.

„Hab’ Sie nicht als Tratschtante eingeschätzt, Mabel, dachte, Sie sind nicht am Gerede der Leute interessiert. Sie sind aber doch nur eine Frau, und alle Frauen klatschen gern.“

Mabel war kurz davor, ob dieser Beleidigung aufzustehen und zu gehen, die Chance, von Victor etwas zu erfahren, wollte sie sich aber nicht entgehen lassen. Daher sagte sie kühl: „Zusammen mit Rachel Wilmington soll ich die Kostüme für die Aufführung anfertigen, und das Mädchen scheint mir etwas verschreckt zu sein. Ich dachte nur, es wäre hilfreich zu wissen, was mit ihr los ist, wenn ich mit ihr zusammenarbeite.“

Entweder bemerkte der Tierarzt Mabels Missstimmung nicht oder es war ihm gleichgültig. Mabel schätzte, beides war der Fall, denn Victor machte nicht den Eindruck, als würde er sich darum scheren, wie sein Verhalten und seine Worte auf andere wirkten.

„Nun, Rachel hat ihre Mutter getötet.“

„Was?“ Mabel verschluckte sich an dem Tee und musste husten. Natürlich machte Daniels keine Anstalten, ihr auf den Rücken zu klopfen. Wieder zu Atem gekommen, keuchte sie: „Das ist nicht Ihr Ernst!“

„Würd’ es nicht sagen, wenn’s nicht stimmen würde“, brummte Victor. „Erst wollen Sie wissen, was mit dem Mädchen ist, dann glauben Sie mir nicht. Warum fragen Sie dann?“

Mabel atmete mehrmals tief ein und aus, bevor sie ruhig antwortete: „Selbstverständlich glaube ich Ihnen, es scheint mir nur so unwahrscheinlich, dass dieses zierliche Mädchen so etwas getan haben soll.“

„Tja, meine Worte waren vielleicht etwas hart“, lenkte Victor ein. „Rachel wurde freigesprochen. Es gibt aber viele, allen voran ihr eigener Vater, die ihr vorwerfen, die Mörderin ihrer Mutter zu sein. Es war ein Autounfall, und das Mädchen saß am Steuer. Sie hatte erst wenige Tage den Führerschein. Sie und ihre Mutter wollten nach Truro, einkaufen. Kam eh selten vor, dass die beiden was zusammen unternahmen, denn Mrs Wilmington hatte es nie leicht gehabt mit vier Kindern und einem Mann, der säuft wie ein Loch. Es war März, es war neblig, und wahrscheinlich gefror der Nebel auf der Straße. Es war auf der A390, kurz hinter Lostwithiel. Das Auto schleuderte, schoss von der Straße, überschlug sich und prallte gegen einen Baum. Mrs Wilmington war auf der Stelle tot, und Rachel kann seitdem nicht mehr richtig laufen. Sie hat Glück gehabt, nicht im Rollstuhl zu enden.

„Wann war das?“, warf Mabel ein.

„Lassen Sie mich nachdenken …“, Victor runzelte die Stirn, „muss jetzt fünf Jahre her sein.“ Er nickte, um seine Worte zu bestätigen. „Ja, vergangenen März waren es genau fünf Jahre. Ich weiß das so genau, weil die Rottweiler Hündin vom alten Sam damals einen Wurf mit zwölf Jungen hatte. War eine schwere Geburt, die Hündin wäre beinahe draufgegangen, wir haben aber alle Welpen durchgebracht.“

„Das ist ja furchtbar!“ Mabel holte tief Luft, und Victor grinste.

„Das fand Sam zuerst auch, schließlich hat er mit sechs oder sieben, aber nicht mit zwölf Welpen gerechnet …“

„Sie sind unmöglich.“ Mabel schlug leicht nach Victors Arm. „Ich finde die Sache mit Rachel schrecklich. Kein Wunder, dass das Mädchen so verschüchtert und zurückhaltend ist.“

„Ja, kann man verstehen. Ihr Vater säuft seitdem von früh bis spät, hat längst keine Arbeit mehr und lebt von der Stütze. Rachel kümmert sich um den Haushalt und um ihre drei jüngeren Geschwister, die alle noch zur Schule gehen. Ihr Vater lässt keine Gelegenheit verstreichen, sie daran zu erinnern, dass sie ihre Mutter auf dem Gewissen hat.“

In Mabels Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie verfügte über eine gute Menschenkenntnis und hatte gleich gespürt, dass Rachel Wilmington kein gewöhnliches Mädchen war. Nicht allein ihr wenig anziehendes Äußeres machte ihre Schüchternheit aus, nein, es steckte mehr dahinter.

„Kennen Sie auch Sarah Miller?“, fragte Mabel direkt.

„Sarah Miller?“ Victor zuckte die Schultern. „Nie gehört. Die ist nicht aus dem Ort.“

„Sarah Miller hätte die Mary Lerrick spielen sollen, ist aber seit ein paar Tagen verschwunden.“ Mabel wusste nicht, warum sie dem Tierarzt davon erzählte. Wahrscheinlich war es die warme und gemütliche Atmosphäre des Tearooms, die sie spüren ließ, dass sie unbedingt mit jemandem über ihre Entdeckung sprechen wollte.

„Na und?“ Ein erneutes Schulterzucken, dann sah Victor auf seine Uhr. „Es tut mir leid, ich hab’ einen Termin.“

Mabel verstand. „Danke für Ihre Zeit, Victor“, sagte sie, während sie sich erhob. „Sie können eigentlich ganz nett sein, wenn Sie nicht immer so brummig wären.“

Für einen Moment verschlug es dem Tierarzt die Sprache, dann zuckten seine Mundwinkel.

„Eins zu null für Sie, Mabel. Ich weiß nicht, was Sie so alles erlebt haben, da Sie jedoch nicht mehr die Jüngste sind, nehme ich an, eine ganze Menge. Auf jeden Fall hat mich das Leben gelehrt, dass Tiere die besseren Menschen sind. Ein Tier wird Sie niemals enttäuschen, es ist dankbar für jede Aufmerksamkeit und bleibt Ihnen ein ganzes Leben lang treu. Etwas, was man von Menschen nicht erwarten kann.“

Unwillkürlich dachte Mabel an Arthur und Abigail, und wie sie von den Menschen, die sie beide geliebt hatte, enttäuscht worden war. Schnell schob sie die Erinnerung zur Seite, es war lange her, und sie hatte Abigail längst verziehen. Auf der Straße verabschiedeten sie sich, dann musste Mabel sich beeilen, die Fore Street hinauf zum Parkplatz zu eilen. Durch die Plauderei mit Victor waren die drei Stunden wie im Flug vergangen, und der Chauffeur wartete bereits, als sie außer Atem den Wagen erreichte. Eine Minute später kam auch Abigail und Mabel versuchte, ihrer Cousine nicht allzu direkt ins Gesicht zu starren. Ihre Stirn, Wangen und Kinnpartie waren gerötet, und die Kosmetikerin hatte sie fürs Tageslicht viel zu stark geschminkt. Abigail schien die Behandlung jedoch gutgetan zu haben, denn mit einem erleichterten Seufzer ließ sie sich in die elfenbeinfarbenen weichen Lederpolster des Rolls fallen.

„Ah, das tat gut. Das nächste Mal musst du unbedingt mitkommen, Mabel. Jede Frau braucht von Zeit zu Zeit eine Runderneuerung.“

Aus den Augenwinkeln sah Mabel, wie Justin sie im Rückspiegel beobachtete und grinste.

Den Nachmittag verbrachte Mabel damit, die Säume an den Kostümen anzunähen, was sie ausschließlich in Handarbeit tat, obwohl Abigail ihr angeboten hatte, die Nähmaschine zu benutzen.

„Mrs Penrose hat eine im Hauswirtschaftsraum stehen. Oder du gibst ihr die Sachen, dann kann sie sie nähen.“

„Danke, aber ich möchte es selbst machen“, erwiderte Mabel. „Die Kleider sollten so historisch authentisch wie möglich wirken, und vor dreihundert Jahren gab es noch keine Nähmaschinen.“

Abigail zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Geh am besten in die Bibliothek, um diese Uhrzeit ist da das Licht am besten. Ich werde mich in mein Zimmer zurückziehen und etwas lesen. Wir sehen uns dann beim Abendessen.“

Seit ihrer dramatischen Ankunft vor sechs Tagen hatte Mabel die Bibliothek nicht mehr betreten. Als sie nun die Tür öffnete und eintrat, war es, als würde ein eiskalter Hauch über ihren Nacken streifen. In dem Raum war alles unverändert. Im Kamin brannte zwar kein Feuer, es war aber trotzdem nicht kalt, allenfalls ein wenig kühl, aber keinesfalls so sehr, dass Mabel erschauerte. Nein, die Erinnerung an die Ermordete war wieder da, und unwillkürlich sah Mabel zu dem Teppich vor dem Kamin. Fast erwartete sie, das Mädchen dort liegen zu sehen. Mabel legte die Kostüme auf einen Sessel, stellte den Nähkorb, den sie sich von Emma Penrose geliehen hatte, auf das Rauchtischchen und trat vor den Kamin. Sie ging in die Hocke und strich mit der Hand über den Teppich. Aus der Jackentasche holte sie ihre Lesebrille, um besser sehen zu können, und suchte jeden Zentimeter des Bodens ab. Wenn die Frau hier erdrosselt worden war, mussten doch Spuren zu finden sein! Oder der Mörder hatte diese ebenso schnell beseitigt wie die Leiche. Langsam tastete Mabel sich zur Terrassentür vor. Auch hier gab es keine Spuren. Mabel war sich jedoch sicher, würde die Polizei mit einem Team der Kriminaltechnik die Bibliothek genau unter die Lupe nehmen – im wahrsten Sinn des Wortes –, dann fände sich bestimmt irgendetwas. Ein mit dem bloßen Auge nicht sichtbarer Schuhabdruck zum Beispiel oder DNS- oder DNA-Spuren oder wie die Dinger hießen. Dann bräuchten sie nur noch eine DNS-Probe von Sarah Miller und schon konnte festgestellt werden, ob die verschwundene Schauspielerin auf Higher Barton gewesen war oder nicht. Mabel wusste jedoch, wenn sie Chefinspektor Warden mit diesem Vorschlag kommen würde, würde er sie hochkantig vor die Tür setzen. Zum Glück war heute Abend die nächste Probe für das Theaterstück angesetzt. Mabel hoffte, mit den anderen Schauspielern ins Gespräch zu kommen, um mehr in Erfahrung zu bringen. Rachel Wilmington hatte von einer Pension gesprochen, in der Sarah gewohnt hatte. Mabel musste unbedingt herausfinden, um welche es sich handelte. Vielleicht war in Sarahs ehemaligem Zimmer ein Hinweis zu finden.

Gegen vier Uhr legte Mabel die Näharbeit zur Seite. Obwohl sie eine Nahsichtbrille trug, tränten ihre Augen, denn sie hatte schon länger nicht mehr derart angestrengt gearbeitet. Da es bald Zeit für den Tee war, beschloss Mabel, Abigail zu fragen, ob sie ihn zusammen in deren Boudoir einnehmen sollten. Im Haus war alles ruhig, als sie die breite Treppe hinaufging. Abigails Zimmerflucht – ihr Schlafzimmer, das Ankleidezimmer und ein kleiner Salon, den sie selbst als Boudoir bezeichnete – befanden sich im ersten Stock im Westflügel. Der rote, weiche Teppich dämpte Mabels Schritte, während sie durch den holzgetäfelten Flur ging. An den Wänden hingen Porträts von längst verblichenen Tremaines, und bei einigen kam Mabel nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit mit Arthur festzustellen. Sie klopfte an Abigails Boudoirtür, erhielt jedoch keine Antwort. Vielleicht hatte sich die Cousine hingelegt und schlief? Leise öffnete Mabel die Tür. Sie wollte Abigail nicht wecken. Wenn sie schlief, würde sie den Tee in ihrem eigenen Zimmer trinken. Die Tür zu Abigails Schlafzimmer war nur angelehnt und es brannte kein Licht. Aufgrund des Regens war es in den Räumen dämmrig, als wäre der Abend bereits angebrochen. Vorsichtig spähte Mabel durch den Türspalt. Abigail lag tatsächlich im Bett, sie schlief jedoch nicht – und sie war nicht allein! Die Decke bedeckte sie nur bis zur Hüfte, und neben Abigail lag Justin Parker, der Chauffeur. So wie Gott ihn geschaffen hatte. Mabel keuchte vor Schreck und schlug doppelt erschrocken die Hand vor den Mund. Die beiden waren jedoch derart miteinander beschäftigt, dass keiner von ihnen Mabel bemerkte. Schnell zog sie sich zurück, bemüht, nicht das kleinste Geräusch zu machen.

Abigail und Justin, hämmerte es in Mabels Kopf. Du meine Güte, der Mann konnte doch ihr Sohn sein! Mabel war keinesfalls der Meinung, eine Frau mit sechzig Jahren müsse auf die Liebe, auch die körperliche Liebe, verzichten, diese Konstellation schockierte sie aber zutiefst. Sie war auch nicht so altmodisch zu denken, dass der Mann älter als die Frau sein müsse. Nein, es war gang und gäbe, wenn sich ältere Damen jüngere Männer, die ihre Söhne sein könnten, zum Geliebten nahmen. Das machten ihnen ja zahlreiche Prominente aus der Showbranche tagtäglich vor – aber Abigail und ihr Chauffeur!

Im Flur musste sich Mabel auf einen Stuhl sinken lassen. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie keinen Schritt weitergehen konnte. Nun, offenbar hatte Abigail nicht bemerkt, dass sie, Mabel, hinter ihr Geheimnis gekommen war, und Mabel würde die Sache gegenüber ihrer Cousine nicht ansprechen. Abigail war alt genug, um zu wissen, was sie tat. Mabel wünschte sich, nach Hause abreisen zu können, doch sie hatte Eric Cardell ihre Hilfe zugesichert. Und der Tod von Sarah Miller beschäftigte sie nach wie vor jede Sekunde.

Die Situation war mehr als peinlich, dennoch würde Mabel versuchen, sich nichts anmerken zu lassen, und abwarten, ob Abigail ihr Verhältnis zu dem Chauffeur von sich aus ansprach.