22

Am Dienstagvormittag meldete sich Mabel auf der Polizeistation, um den Unfall aus ihrer Sicht zu schildern und das Protokoll zu unterschreiben. Es war bereits ihr dritter Besuch auf dem Revier, seit sie nach Cornwall gekommen war. Sie hatte in ihrem Leben nie zuvor mit der Polizei zu tun gehabt und hoffte, das Gebäude bald nur noch von außen zu sehen. Sie war überzeugt, sie und Victor standen kurz davor, Sarah Millers Leiche zu entdecken, dann musste Chefinspektor Warden tätig werden, und der Täter – oder die Täterin – würde dingfest gemacht werden. Heute jedoch hielt sich Mabel bedeckt, mit keiner Silbe erwähnte sie ihren Verdacht, jemand könne die Bremsen an ihrem Wagen manipuliert haben. Zweimal waren ihre Aussagen von diesem unfreundlichen Chefinspektor Warden nicht nur ignoriert, sondern sie selbst als dumme Alte, die ihre sieben Sinne nicht mehr beisammen hat, hingestellt und ausgelacht worden. Gut, ihr Verdacht, Denzil Wilmington hätte Sarah ermordet, hatte sich als haltlos herausgestellt. Jennifer Crown, die Sarah aus Eifersucht getötet haben könnte, wollte Mabel nicht völlig aus dem Kreis der Verdächtigen streichen, obwohl ihr Motiv recht dürftig war. Abigail allerdings hatte nicht nur das stärkste Motiv, sondern auch die Gelegenheit und zudem kein Alibi, wobei Mabel bei diesem Gedanken das mittlerweile schon zur Gewohnheit gewordene Magendrücken bekam. Schon aus diesem Grund wollte Mabel so bald wie möglich den Mord aufklären, denn sie hoffte insgeheim, Abigails Unschuld beweisen und den wahren Täter überführen zu können.

Das Protokoll wurde von einer Sekretärin ins Reine getippt, und während Mabel wartete, sah sie sich in dem Großraumbüro um. Warden war nirgends zu sehen. Gut, dachte sie, in zwei Tagen werde ich diesem Mann eine Leiche auf dem Präsentierteller servieren, dann wird er mich und meine Aussagen nicht länger ignorieren können.

Wenige Minuten später unterschrieb Mabel das Protokoll und wandte sich zum Gehen, als der Sergeant sagte: „Miss Clarence, einen Moment bitte. Der Chefinspektor möchte noch mit ihnen sprechen.“

Mabel seufzte. Sie hatte keine Lust, Warden zu begegnen.

„Ich wüsste nicht, warum“, murmelte sie, als sie dem jungen Mann in Wardens Büro folgte. Bevor Warden etwas sagen konnte, kam sie gleich zur Sache: „Chefinspektor, ich habe alles, was ich über meinen Unfall berichten kann, zu Protokoll gegeben.“

Warden musterte sie von oben bis unten, dann sagte er mit ausdrucksloser Miene: „Ich habe Sie nicht wegen des Unfalls in mein Büro gebeten, sondern wegen Denzil Wilmington. Der Staatsanwalt hat Anklage wegen unerlaubten Waffenbesitzes erhoben, wir brauchen von Ihnen jetzt noch die offizielle Anzeige.“

„Von mir?“ Mabel schüttelte erstaunt den Kopf. „Macht das nicht automatisch die Staatsanwaltschaft?“

„Nein, Miss Clarence. Wilmington erwartet ein Verfahren wegen, wie ich bereits sagte, unerlaubten Waffenbesitzes, da er das Gewehr jedoch gegen Sie richtete, müssen Sie Anzeige wegen versuchten Totschlags erstatten.“

„Totschlags?“ Mabels Augen weiteten sich erstaunt, ihre Gedanken arbeiteten blitzschnell. „Ich habe nicht vor, den Mann anzuzeigen, es ist ja nichts passiert.“

„Wilmington hat auf Sie geschossen!“ Warden sah sie an, als ob er der Meinung wäre, Mabel an den Vorfall erinnern zu müssen. „Er hätte Sie auch treffen und töten können.“

„Er wollte mich nur aus seinem Haus vertreiben“, entgegnete Mabel bestimmt. „Außerdem war der Mann betrunken und nicht Herr seiner Sinne. Nein, Chefinspektor, ich sehe keinen Grund, Wilmington anzuzeigen.“

Warden verdrehte die Augen, was er von Mabel hielt, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Nun gut, wie Sie wollen, wegen des Waffenbesitzes ist er ohnehin dran, das wird ihm allerdings nur eine Verwarnung und eine Geldstrafe einbringen. Außerdem muss ich ihn aus der Untersuchungshaft entlassen.“ Warden lehnte sich über den Schreibtisch und sah Mabel eindringlich an. „Miss Clarence, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie nach dem Angriff unmittelbar zu mir kamen und …“

„Doch nicht, um Wilmington anzuzeigen“, fiel Mabel Warden ins Wort. „Ich kam, um Ihnen von meinem Verdacht zu berichten, er könne einen Mord begangen haben. Nun, Chefinspektor, ich muss gestehen, diesbezüglich habe ich mich geirrt, obwohl Wilmington ein starkes Motiv gehabt hätte, Sarah Miller zu töten. Heute bin ich jedoch der Überzeug, dass der Mann kein Mörder ist.“

Chefinspektor Warden musste all seine Kraft aufbringen, um ruhig zu bleiben. Diese Frau raubte ihm den letzten Nerv. Leise, jedes Wort betonend sagte er: „Nur für unsere Akten – Sie erstatten also keine Anzeige gegen Denzil Wilmington?“

Mabel rang mit sich. Auf der einen Seite würde es für Rachel eine Erleichterung bedeuten, wenn ihr Vater für längere Zeit ins Gefängnis käme, auf der anderen Seite hatte das Mädchen schon genug gelitten. Bei ihrem Gespräch im Hotel hatte Mabel gespürt, wie sehr Rachel trotz allem an ihrem Vater hing. Als Tochter eines inhaftierten Totschlägers würde ihr Leben in Lower Barton noch steiniger werden. Mabel wusste, Rachel würde ihre Geschwister nicht verlassen, solange diese sie noch brauchten, und sie hatte die vage Hoffnung, Wilmington würden die Tage der Untersuchungshaft eine Lehre sein und er würde versuchen, sein Leben zu ändern.

Sie straffte die Schultern und sagte fest: „Nein, Chefinspektor, ich möchte keine Anzeige gegen Mr Wilmington erstatten.“

Er seufzte. „Nun gut, dann wird Wilmington heute noch aus der Haft entlassen.“

„Ist sonst noch etwas, Chefinspektor?“

„Sie können gehen.“ Warden winkte ab und seufzte ein weiteres Mal.

Mabel schenkte ihm keinen weiteren Blick, als sie das Büro verließ. Sie stand unter großer Anspannung und fieberte dem Moment entgegen, wenn Warden vor Sarah Millers Leiche stand und ihr endlich Glauben schenken musste.

Eric Cardell war hocherfreut, als Mabel am Dienstagabend zur Probe kam, zugleich drückte sein Gesicht Besorgnis aus, als er das Pflaster auf ihrer Schläfe sah.

„Mabel, ich bin so froh, dass es Ihnen gut geht.“ Er umarmte sie, was er vorher noch nie getan hatte. „Dieser Unfall ist schrecklich, fast scheint es, als hätte Nora recht.“

Mabel schüttelte lächelnd den Kopf.

„Du meinst Noras Bemerkung, über der Aufführung läge ein Fluch? Das ist Unsinn. Mein Wagen war alt, da kann es schon mal passieren, dass die Bremsen ihren Dienst versagen.“ Mabel tat unbekümmerter, als ihr zumute war. Für einen Außenstehenden musste es wirklich so aussehen, als hätte es jemand auf die Theatergruppe abgesehen – erst verschwand Sarah, dann Michaels Motorradunfall und schließlich sie …

„Ich habe Tims Kostüm fertig“, wechselte Mabel das Thema. „Ich hoffe, es passt.“

Mabel hatte gute Arbeit geleistet, und Tim wirkte in dem Kostüm gleich königlicher als in Jeans und T-Shirt. An diesem Abend ließ Eric seine Truppe das ganze Stück durchspielen, und Mabel sah fasziniert zu. Ein paar Mal tauschte sie einen Blick mit Rachel, die heute etwas lockerer wirkte als bisher und auch immer mal wieder lächelte. Mabel fürchtete sich vor dem Augenblick, wenn Rachel erfahren würde, dass ihre Freundin Sarah tot war, und sie hoffte, dem Mädchen dann beistehen zu können.

„Am Freitag um acht ist die Generalprobe“, erinnerte Eric, als er die heutige Probe beendete. „Bitte seid pünktlich im Theater und vergesst eure Kostüme nicht.“

„Lower Barton hat ein Theater?“ Mabel trat zu Eric. Sie hatte sich bereits gefragt, wo die Aufführung stattfinden sollte.

„Theater ist vielleicht übertrieben.“ Eric grinste. „Es handelt sich um die Gemeindehalle, wir nennen es aber Theater, weil alle möglichen Aufführungen immer dort stattfinden. Außerdem passen bei enger Bestuhlung an die fünfhundert Zuschauer rein.“

„Wurde eigentlich vorher schon mal in Kostümen geprobt?“, fragte Mabel. Eric nickte.

„Vor etwa drei Wochen. Das war die erste Kostümprobe, da wollte ich sehen, wie sich die Akteure in den für sie doch ungewohnten Kleidern bewegen. Warum fragst du?“

„Ach, nur so.“ Mabel winkte ab und griff nach ihrer Handtasche. „Ich muss jetzt gehen, bis Freitag dann.“

„Wie kommst du eigentlich nach Hause?“, rief Eric ihr nach. „Dein Auto ist doch Schrott, nicht wahr?“

„Ein Bekannter fährt mich“, antwortete Mabel. Sie hatte Victors Angebot, sie zur Probe und danach wieder nach Higher Barton zu bringen, dankbar angenommen. Natürlich hätte Justin Parker sie fahren können, Mabel fühlte sich in seiner Gegenwart jedoch unwohl, seit sie wusste, dass er Abigail nach Strich und Faden hinterging und betrog. Sie konnte auch nicht garantieren, dass sie ihm nicht irgendwann gehörig die Meinung über sein schändliches Verhalten sagen würde, was unweigerlich neuen Ärger mit Abigail nach sich ziehen würde.

Victor ließ Mabel am Tor zur Auffahrt nach Higher Barton aussteigen.

„Es ist besser, wenn man uns nicht zusammen sieht“, meinte Mabel.

„Denken Sie etwa, der Mörder könnte es auch auf mich abgesehen haben?“ Victor wischte diese Idee lächelnd zur Seite. „Glauben Sie mir, Mabel, ich habe in meinem Leben schon so viel erlebt, da jagt mir so schnell niemand Angst ein.“

Mabel legte eine Hand auf Victors Arm.

„Ich würde mir niemals verzeihen, wenn Ihnen etwas geschieht“, sagte sie leise. „Ich habe Sie in die Sache hineingezogen, ohne zu ahnen, dass der Täter mir offenbar bereits auf der Spur ist.“

„Soll ich Sie nicht doch zum Haus begleiten?“ Im schwachen Licht der Scheinwerfer, das ins Wageninnere drang, erkannte Mabel Victors besorgten Blick. „Der Weg ist sehr dunkel …“

„Ich glaube nicht, dass mir auf Higher Barton Gefahr droht.“ Mabel straffte die Schultern und öffnete die Wagentür. „Abigail wird es nicht wagen, auf ihrem eigenen Besitz …“

„Bei Sarah hatte sie auch keine Skrupel“, unterbrach Victor. „Mabel, seien Sie vorsichtig. Wir sehen uns dann am Donnerstagmorgen um fünf Uhr.“

Während der Fahrt hatten sie vereinbart, Victor solle in den frühen Morgenstunden des übernächsten Tages, wenn gerade die Sonne aufging, in den See tauchen. Da war es auf Higher Barton noch ruhig, und sie brauchten keine Angst zu haben, entdeckt zu werden.

Mabel sah Victors Auto nach, bis dessen Rücklichter in der Nacht verschwunden waren, dann ging sie mit weitausholenden Schritten die Auffahrt entlang. Der Weg war von hohen Eichen und dichtem Gebüsch gesäumt, und in Mabels Ohren klang das Geräusch ihrer Schritte unnatürlich laut. Sie umklammerte fest ihre Handtasche, im Notfall waren Damenhandtaschen nämlich eine gute Waffe. Die Fassade des Herrenhauses kam in Sicht, und Mabel sah, dass in Abigails Räumen noch Licht brannte, ebenso in einem Zimmer im Erdgeschoss. Plötzlich sah sie einen Schatten, der sich ihr von links näherte und direkt auf sie zukam. Mabels Herz tat einen Sprung. Schnell verbarg sie sich im Gebüsch. Die Gestalt kam langsam näher, und Mabel konnte das Klacken der Absätze auf dem Asphalt hören. Offenbar handelte es sich um eine Frau. Abigail konnte es nicht sein, denn sie war größer als die Fremde, und Emma Penrose war in der Regel nachts nicht im Herrenhaus. Die Frau passierte die Stelle, wo Mabel sich im Gebüsch verborgen hielt, und Mabel befürchtete, sie könne ihr Atmen hören. Vorsorglich presste sie eine Hand auf ihren Mund. Im schwachen Licht des Halbmonds konnte sie das Gesicht der nächtlichen Besucherin nicht erkennen, sah nur, dass sie lange, dunkle Haare hatte, ihre Figur schlank und sportlich war, und ihre Bewegungen ließen darauf schließen, dass sie noch recht jung war. Was hatte die Frau so spät auf Higher Barton zu suchen? Dazu noch zu Fuß? Sie war auch nicht aus dem Herrenhaus gekommen, sondern von links. Von dort, wo sich die Garagen befanden. Als hätte jemand Mabel den Schleier vom Gesicht gezogen, erkannte sie plötzlich den Zusammenhang: Die Fremde war die Geliebte von Justin Parker! Offenbar kam sie von einem Stelldichein mit dem Chauffeur und hatte ihren Wagen irgendwo außerhalb des Anwesens geparkt. Mabel sah der Gestalt nach, bis die Dunkelheit sie verschluckte, und ballte die Hände zu Fäusten. Sie verspürte große Lust, unverzüglich zu Abigail zu gehen und ihrer Cousine von Justins Betrug zu erzählen. Unter anderen Umständen hätte Mabel es auch getan, jetzt jedoch konnte sie Abigail nicht mehr vertrauen. Zu schwer wogen das Motiv und die Indizien, Abigail könnte dafür gesorgt haben, dass Arthurs Affäre und sein uneheliches Kind nicht an Tageslicht kamen und sie ihr Vermögen nicht mit jemandem teilen musste.

In dieser Nacht tat Mabel kein Auge zu. Nachdem sie sich stundenlang ruhelos von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, stand sie auf, zog den Morgenmantel über und verließ ihr Zimmer. Sie wollte sich in der Küche eine warme Milch mit Honig machen, das hatte bisher immer gewirkt, wenn sie nicht einschlafen konnte. Als Mabel die Halle betrat, schlug die Standuhr die zweite Morgenstunde, und zu Mabels Erstaunen schimmerte unter der Küchentür ein Streifen Licht hervor. Offenbar fand in dieser Nacht noch jemand keine Ruhe. Bemüht, kein Geräusch zu machen, schlich sie näher, legte ein Ohr an die Tür und hörte jemanden schluchzten. Obwohl es nicht Mabels Art war, bückte sie sich und spähte durch das Schlüsselloch. Ihr Blick erfasste jedoch nur einen Teil des Tisches. Mabel holte tief Luft und stieß die Tür auf.

„Abigail!“ Eigentlich war sie nicht erstaunt, ihre Cousine vorzufinden. Abigail, in einen bunt bedruckten seidenen Morgenmantel gehüllt, saß am Küchentisch, vor sich eine Tasse Milch.

„Ich konnte nicht schlafen.“ Mit einer raschen Bewegung wischte sich Abigails übers Gesicht, die Spuren ihres Weinens ließen sich jedoch nicht verbergen.

„Ich auch nicht“, sagte Mabel leise und deutete auf die Tasse. „Offenbar haben wir immer noch den gleichen Geschmack, ich wollte mir auch eine warme Milch mit Honig machen.“

Während Mabel sich eine Tasse einschenkte und sie in die Mikrowelle zum Erwärmen stellte, fragte Abigail: „Wie war die Probe?“

Über die Schulter warf Mabel ihr einen Blick zu. Es war offensichtlich, dass Abigail nicht darüber sprechen wollte, warum sie geweint hatte, daher sagte sie: „Recht gut, wenn man bedenkt, dass zwei Rollen innerhalb kürzester Zeit neu besetzt werden mussten.“

Abigail seufzte, ihre Hände umklammerten die Tasse.

„Michaels Unfall war kein Unfall.“

„Was?“ Mabel, die gerade die Tasse aus der Mikrowelle genommen hatte, fuhr so heftig herum, dass ein Teil der Milch überschwappte und auf den Boden tropfte. „Woher weißt du das?“

„Clara Hampton, Michaels Mutter, rief heute Abend an. Die Frau war völlig aufgelöst. Zuerst dachte ich, ihr Sohn wäre … also, er hätte es nicht geschafft, aber dann sagte Clara, die Polizei hätte ihnen mitgeteilt, jemand habe versucht, Michael zu töten.“

Mabels Blut schoss in rasender Geschwindigkeit durch ihre Adern, äußerlich wirkte sie jedoch völlig ruhig, als sie sich setzte und interessiert fragte: „Hat sie auch gesagt, wie es passiert ist?“

Abigail nickte. „Man hat Holzsplitter in den Speichen seines Motorrads gefunden, die offenbar von einem Eichenast stammen. Da es auf der Straße, wo Michael verunglückt ist, keine Bäume gibt, geht die Polizei davon aus, dass jemand einen dicken Ast auf die Straße gelegt hat, unmittelbar bevor Michael die Stelle passierte. Er erkannte den Ast zu spät und konnte nicht mehr ausweichen. Dafür spricht auch das Fehlen jeglicher Bremsspuren und auch die Fallrichtung des Motorrads scheint darauf hinzuweisen.“

„Faszinierend, was man heutzutage alles feststellen kann“, murmelte Mabel und sah Abigail in die Augen. „Du hast doch nicht wegen Michael Hampton geweint, oder?“

Abigail zuckte zusammen, ihre Wangen färbten sich dunkelrot und sie senkte den Blick.

„Nein, nein, obwohl es schrecklich ist zu wissen, dass in dieser Gegend jemand ist, der einen unschuldigen jungen Mann töten wollte. Ich hoffe, sie finden den Verantwortlichen. Die Polizei vermutet, es handelt sich um den Racheakt eines eifersüchtigen Mannes – Michaels Liebschaften sind ja in der ganzen Gegend bekannt.“

Abigails Sorge wirkte beeindruckend echt. Konnte diese Frau wirklich eine kaltblütige Mörderin sein und sich derart verstellen? Sie nahm Abigails Hand und sagte leise: „Irgendetwas bedrückt dich. Möchtest du mit mir darüber sprechen? Ich bin eine gute Zuhörerin.“

Für einen Moment glaubte Mabel, ihre Cousine würde sich ihr anvertrauen, dann zog Abigail ihre Hand mit einem Ruck weg und stand auf.

„Hast du nicht auch manchmal einen sentimentalen Augenblick?“ Ihre Stimme klang hart, und sie wich Mabels Blick aus. „Das kommt vor, oder? Ich werde wieder ins Bett gehen. Bitte, mach das Licht aus, wenn du die Küche verlässt.“

Es lag Mabel auf der Zunge, Abigail hinterherzurufen, ob sie wegen Justin Parker traurig sei, ihre Cousine war jedoch bereits verschwunden. Vielleicht ahnte Abigail, dass der Chauffeur sie betrog, vielleicht hatten die beiden sich auch gestritten. Justin schien sich seiner Sache sicher zu sein, wie sonst war es zu erklären, dass er sich regelmäßig mit seiner Geliebten auf Higher Barton traf? Wieder kam Mabel der Gedanke, dass Abigail vielleicht darüber Bescheid wusste und Parkers Verhalten tolerierte, nur um ihn nicht zu verlieren. Was nicht hieß, dass sie weniger litt, im Gegenteil vermutlich. Immer wieder hörte und las man von Frauen, die sich von Männern fast alles bieten ließen, um nicht von ihnen verlassen zu werden. Obwohl Mabel in den vergangenen Jahren manchmal einen Menschen an ihrer Seite vermisst hatte, war sie froh, sich niemals derart heftig in einer solchen Liebe, die mehr Hörigkeit als echte Zuneigung war, verloren zu haben.

Die Eröffnung, dass nun auch die Polizei endlich zu der Erkenntnis gelangt war, jemand habe einen gezielten Anschlag auf Michael Hampton verübt, machte Mabel Hoffnung. Jetzt mussten sie doch die Beziehung zwischen Michael und Sarah Miller überprüfen und konnten das spurlose Verschwinden der jungen Frau nicht länger ignorieren. Für Mabel stellte sich erneut die Frage, wer den Anschlag auf Michael Hampton verübt hatte. Die Vorstellung, Abigail könnte mitten in der Nacht mit einem großen Ast auf der Straße lauern und diesen dann kaltblütig direkt vor das Motorrad werfen, war absurd. Der Zusammenhang zwischen Sarahs Tod und die Anschläge auf Michael und auf sie selbst standen außer Frage. Mabel hoffte, am Donnerstagmorgen Sarah Millers Leiche im See zu finden, dann hätten sie zwar noch nicht den Mörder, dieser arrogante Warden würde aber endlich die Möglichkeiten, die die Polizei hatte, einsetzen. Mabel bezweifelte nur, ob an einer Leiche, die seit über drei Wochen im Wasser lag, noch viele Spuren zu finden wären.

Chefinspektor Warden runzelte unwillig die Stirn, als am Mittwochabend der Sergeant mit einer Akte in der Hand sein Büro betrat.

„Was gibt es, Bourke? Ich wollte gerade Feierabend machen.“

Heute war der Geburtstag von Wardens Frau, und er hatte ihr versprochen, sie in ein Restaurant nach Fowey auszuführen, das für seine hervorragenden Fischgerichte bekannt war. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er spät dran war, denn der Tisch war in einer Stunde reserviert und er musste sich noch umziehen.

„Chef, der Bericht der Kriminaltechnik wegen des Wagens.“ Der Sergeant legte die schmale, grüne Akte auf Wardens Schreibtisch.

„Wagen? Was für ein Wagen?“

Bourke warf einen Blick auf die Akte und sagte: „Mabel Clarence, der Autounfall bei Looe.“

„Ach so, ja.“ Warden seufzte und sah erneut verstohlen zur Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er noch pünktlich sein, seine Frau wäre zu Recht verärgert, wenn er sie versetzte, was aufgrund seines Berufes leider häufig vorkam. Trotzdem nahm er die Akte zur Hand und schlug die erste Seite auf. Rasch überflogen seine Augen den Bericht. „Scheiße“, entfuhr es ihm, worauf der Sergeant verstohlen grinste, denn sein Vorgesetzter neigte sonst nicht zu Kraftausdrücken. „Die Bremsleitung wurde angeschnitten, das war kein Unfall.“

„Zwei Fälle von manipulierten Unfällen binnen weniger Tage?“ Bourke runzelte die Stirn. „Erst der Motorradfahrer, dann diese ältere Dame. Glauben Sie, es gibt einen Zusammenhang?“

Warden erhob sich seufzend.

„Das herauszufinden, mein lieber Bourke, ist unsere Aufgabe, aber nicht mehr heute.“ Er griff nach seiner Jacke. „Rufen Sie Miss Clarence an und bestellen Sie sie für morgen früh ins Präsidium.“

Der Sergeant lächelte. „Bereits erledigt, Chef, die Dame meinte allerdings, sie würde sich morgen ohnehin mit uns in Verbindung setzen.“

Warden, eine Hand auf der Türklinke, wandte sich um.

„Was soll das heißen?“

Bourke zuckte mit den Schultern. „Miss Clarence war nicht bereit mehr zu sagen, sie meinte nur, dass sie morgen früh wahrscheinlich etwas für uns hätte, das uns sehr interessieren würde.“

„Dieses Weib macht mich krank“, murmelte Warden. „Ich werde morgen nach Higher Barton rausfahren, und Sie begleiten mich, Bourke. Ich habe da so ein Gefühl. Wir treffen uns hier um acht Uhr.“

Sergeant Bourke nickte und tippte an seine Mütze, dann verließ Warden sein Büro. Vorbei war die Vorfreude auf das Essen mit seiner Frau. Er wusste, seine Gedanken würden den ganzen Abend um Mabel Clarence und darum, was die Frau jetzt wieder ausheckte, kreisen.