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Das Wochenende verging für Mabel in zäher Langsamkeit. Abigail schien sich daran gewöhnt zu haben, dass ihre Cousine zwar auf Higher Barton schlief, sonst aber kaum im Haus war. Mabel hatte ein schlechtes Gewissen. Immerhin hatte Abigail sie eingeladen, damit die beiden Frauen sich wieder näherkamen, wenngleich die herzliche Freundschaft, die sie in ihrer Jugend verbunden hatte, sich wahrscheinlich nie wieder einstellen würde. Dafür war eine zu lange Zeit vergangen, und sie lebten in zu verschiedenen Welten. Mabel stellte jedoch fest, dass sie ihr Londoner Leben nicht vermisste. Natürlich gab es zu Hause Dinge, die ihr lieb und teuer waren – der Lärm, die Hektik und der Schmutz der Großstadt fehlten ihr keineswegs. Die Luft in Cornwall war viel frischer und klarer, stets lag der Geruch nach Torf, Salz und Tang in ihr, und alles schien einen Gang langsamer zu gehen als in London.

Den Samstag verbrachte Mabel damit, sich von Abigail durch das Haus führen zu lassen.

„Jetzt bist du schon eine Woche hier, und ich habe dich kaum zu Gesicht bekommen.“ Diese Spitze konnte sich Abigail nicht verkneifen.

„Es tut mir leid, Abigail.“ Mabel sah ihre Cousine entschuldigend an. „Die Arbeit bei der Theatergruppe macht sehr viel Spaß, und die Geschichte von Lower Barton fasziniert mich.“

„Schon gut.“ Abigail winkte ab und lächelte etwas gezwungen. „Was hältst du davon, morgen einen kleinen Ausflug zu machen? Der Wetterbericht verspricht einen schönen, sonnigen Tag. Mrs Penrose kann uns einen Korb richten und wir picknicken am Strand.“

„Das wäre sehr schön.“ Am Sonntag konnte Mabel ohnehin nichts unternehmen, und für ihre Beziehung zu Abigail wäre ein gemeinsamer Tag sicher förderlich.

„Gut, dann sage ich Justin Bescheid, er soll um zehn Uhr den Wagen vorfahren.“

Die Erwähnung des Chauffeurs trübte Mabels Stimmung.

„Ich kann auch fahren“, bot sie an. „Dein Chauffeur hat am Sonntag bestimmt etwas anderes vor.“

Bildete sie es sich ein oder musterten Abigails Augen sie scharf, als sie sagte: „Ich bezahle Justin gut, damit er mir rund um die Uhr zur Verfügung steht.“

Mabel verzichtete auf einen Kommentar, denn sie befürchtete, sich zu verraten. Sie hakte sich bei Abigail unter und meinte leichthin: „Wie du meinst, meine Liebe. Jetzt kommt, du wolltest mir doch das Haus zeigen.“

Sie stiegen treppauf und treppab, und Mabel war erstaunt, wie fit und agil ihre Cousine immer noch war. Während Mabels linkes Knie zu schmerzen begann, als sie ins Dachgeschoss hinaufstiegen – sie hatte bereits seit Jahren Arthrose im Kniegelenk –, und sie außer Atem geriet, schien es Abigail nichts auszumachen. Die Dachzimmer, in denen früher die Hausmädchen gelebt hatten, waren verwaist und in ihnen lagerte allerlei Gerümpel, wie Koffer, Taschen und ausrangierte Möbelstücke.

„Ich führe kein großes Haus mehr“, erklärte Abigail. „Die Penroses wohnen in einem Cottage unweit des Hauses und Justin in der alten Kutscherwohnung über der Garage. Mehr Personal brauche ich nicht. Wenn ich größere Einladungen gebe, wie am letzten Wochenende, kommen zwei Mädchen aus dem Dorf zum Helfen nach Higher Barton, ebenso wie eine Putzfrau, die das Haus in Ordnung hält.“

Mabel horchte auf. „Du hattest an deinem Geburtstag Mädchen aus Lower Barton engagiert?“

„Sage ich doch.“ Abigail musterte sie mit gerunzelter Stirn. „Ich hoffe nicht, dass du langsam schwerhörig wirst.“

Mabel ging auf die Bemerkung nicht ein, sondern fragte: „Was waren das für Mädchen? Kennst du ihre Namen?“

„Da muss ich Emma Penrose fragen, sie kümmert sich um das Personal.“ Abigail drehte sich zu ihrer Cousine um, es dämmerte ihr, warum Mabel diese Frage gestellt hatte. „Ach, Mabel, glaubst du immer noch, in meinem Haus eine Tote gesehen zu haben? Du kannst mir glauben, die beiden Mädchen, die beim Servieren halfen, haben gesund und vollkommen lebendig das Haus kurz nach Mitternacht verlassen. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Übrigens, keine von ihnen trug ein altmodisches Kleid, wie du es an der angeblichen Leiche entdeckt haben willst.“

Mabel zuckte die Schultern und winkte ab. „Ich frage lediglich aus Interesse“, sagte sie leichthin. „Vielleicht kenne ich eines der Mädchen – in der Theatergruppe sind einige junge Leute.“

Abigail warf ihr seinen Seitenblick zu, öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder. Wahrscheinlich wollte auch sie die dramatischen Umstände, unter denen Mabel nach Higher Barton gekommen war, nicht erneut diskutieren.

Im Verlauf des Tages erfuhr Mabel, dass der Garten und der große Park von Landschaftsgärtnern aus Liskeard in Ordnung gehalten wurden, die täglich zur Arbeit herkamen und abends wieder zurückfuhren. Somit lebten nur vier Personen ständig auf Higher Barton: Abigail, der Chauffeur Justin und das Ehepaar Penrose. Natürlich hätte jeder das Grundstück unbemerkt betreten können, ebenso das Haus selbst, denn Mabel hatte ja die Terrassentür der Bibliothek offen vorgefunden. Auf Higher Barton gab es keine Alarmanlagen oder sonstige Sicherungen, obwohl das Haus reich an Antiquitäten, Kunstgegenständen und Gemälden war. Diesbezüglich angesprochen, antwortete Abigail mit einem Schulterzucken.

„Die Menschen sind hier noch ehrlich, Mabel. Die meisten schließen nicht einmal ihre Häuser ab. Außerdem – wenn ein Dieb wirklich einbrechen will, dann lässt er sich von einer Alarmanlage nicht abhalten.“

Nach dem Lunch, den sie gemeinsam im kleinen Speisezimmer einnahmen, zog Abigail sich zurück, und Mabel beschloss, an dem Kostüm des Henkers zu arbeiten. Obwohl das Licht in der Bibliothek besser war, ging sie in ihr Zimmer, von dessen Fenster aus sie die Einfahrt im Blick behalten konnte. Sie hatte sich nicht getäuscht – es war kaum eine halbe Stunde vergangen, als Justin Parker mit federnden Schritten auf das Portal zuging und im Haus verschwand. Mabel konnte sich denken, was der Chauffeur um diese Zeit hier wollte. Sie schüttelte sich innerlich und konzentrierte sich auf die Näharbeit.

Am Sonntagmorgen hing dichter Nebel über dem Land, der sich jedoch schnell lichtete, und um zehn Uhr strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und es war angenehm warm. Mabel zog sich eine Jacke über, denn der Wind am Meer konnte kühl sein, und sie wollte sich nicht erkälten. Für den heutigen Ausflug benutzten sie nicht den Rolls Royce, denn für die einspurigen, gewundenen Straßen hinunter zur Küste war der Wagen zu groß und zu unhandlich, sondern Justin Parker fuhr den kleineren Jaguar X-Type vor. Mabel fragte sich, wie viele Autos Abigail noch in ihrer Garage stehen hatte. Offenbar stand es um ihre Finanzen sehr gut, allein der Rolls und der Jaguar waren zusammen so viel wert, wie man durchschnittlich für ein modernes Einfamilienhaus ausgeben musste. Justin hielt in dem Dorf Porthallow, das lediglich eine Ansammlung von ein paar Häusern und einem kleinen Hotel war. Von hier aus wollten sie zu Fuß dem Weg zur Talland Bay folgen. Etwas irritiert nahm Mabel zu Kenntnis, dass der Chauffeur sie begleitete, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Nach wenigen Minuten öffneten sich die drei Meter hohen Hecken, die den Weg an beiden Seiten säumten, und gaben den Blick auf das kristallblaue Meer frei. Es war Flut, und von dem kleinen Sandstrand der Talland Bay war nichts zu sehen. Kinder saßen auf den aus dem Wasser ragenden Felsen und fischten nach Krabben, was in dieser Gegend sehr beliebt war. Linker Hand befand sich ein kleiner Tearoom, aus dem es verführerisch nach frischem Kaffee duftete, und die Sitzplätze vor dem Café waren alle belegt. Offenbar nutzten viele Leute den sonnig-warmen Tag für einen Ausflug ans Meer.

Abigail blieb stehen und atmete tief ein und aus.

„Kennst du einen Ort auf der Welt, an dem es schöner wäre?“, fragte sie Mabel.

„Oh, da ich im Gegensatz zu dir kaum gereist bin, kann ich das schlecht beurteilen“, entgegnete Mabel und Abigail lachte.

„Nun, mit Arthur bin ich um die halbe Welt gereist und früher hätte ich nie gedacht, dass mir Cornwall einmal derart ans Herz wachsen würde. Als Arthur und ich heirateten, verbrachten wir so viel Zeit wie möglich in London, denn hier auf dem Land war ja nichts los. Wenn man allerdings älter wird, weiß man die Ruhe und Beschaulichkeit dieser Gegend zu schätzen.“ Abigail wandte ihren Blick zu Mabel und sah sie ernst an. „Bitte, bleibe für immer. Was hält dich in London? Du bist in Rente, hast außer mir keine Verwandten und bist ungebunden. Ich würde mich sehr freuen, wenn du dich entschließen könntest, für immer auf Higher Barton zu leben.“

In Mabels Hals bildete sich ein Kloß. Sie sah zwar die Aufrichtigkeit in Abigails Augen, dennoch nagten seltsame Zweifel an der Ehrlichkeit ihrer Cousine an ihr. Solange sie nicht wusste, was Sarah Miller auf Higher Barton zu suchen gehabt hatte und warum sie dort gestorben war, konnte sie Abigail nicht frei und unbefangen begegnen.

„Wir werden sehen“, antwortete sie ausweichend, sah sich um und deutete auf eine freie Bank mit Tisch oberhalb der Kaimauer. „Sollen wir uns dorthin setzen?“

Abigail nickte, und Justin ging voraus, breitete zwei Decken über die Holzbänke und begann, den Picknickkorb auszuräumen. Mabel fragte sich, ob er mit ihnen essen würde, sah aber zu ihrer Erleichterung, dass er nur Teller und Besteck für zwei herauslegte.

„Danke, Justin.“ Abigail sah ihn strahlend an. Er erwiderte ihr Lächeln und tippte kurz an seine Mütze.

„Einen schönen Tag, Mylady“, sein Blick ging zu Mabel, „und Miss Clarence. Ich hole Sie in zwei Stunden wieder ab.“

Mabel sah, wie Abigail ihren Blick nicht von seiner hochgewachsenen, schlanken Gestalt abwenden konnte, als der Chauffeur sie verließ und zum Wagen zurückkehrte. Mabel war weit davon entfernt, irgendwelche Standesdünkel zu hegen, und unter anderen Umständen hätte sie es begrüßt, wenn der Chauffeur ihnen Gesellschaft geleistet hätte. Seit sie jedoch wusste, dass der junge Mann und ihre Cousine das Bett miteinander teilten, ging sie Justin lieber aus dem Weg. Mabel war weder altmodisch noch prüde, sie fühlte sich in Gegenwart dieses jugendlichen Galans aber alles andere als wohl. Um sich abzulenken, begann sie, die Köstlichkeiten, die Emma Penrose eingepackt hatte, auszubreiten. Es gab kaltes Hühnchen, Lammfrikadellen mit Pfefferminz und dünn geschnittenes Roastbeef. Dazu hatte die Haushälterin einen mediterranen Nudelsalat und kaltes Brokkoligemüse zubereitet. Frisch gebackenes Weißbrot, Äpfel, Birnen und eine Schale mit ersten Erdbeeren rundeten das Mahl ab. Zu trinken gab es einen leichten Weißwein, von dem Mabel nur wenig kostete, denn sie wollte einen klaren Kopf behalten.

„Was für ein schöner Tag.“ Abigail schob ihren Teller zur Seite und seufzte. „Hoffentlich wird der kommende Sommer nicht wieder so kühl und regnerisch wie der vergangene. Nun, ich habe ohnehin vor, für ein paar Wochen an die Côte d’Azur zu reisen, um dem Trubel, wenn die Touristen in Cornwall einfallen, zu entgehen.“

„In Südfrankreich wirst du aber kaum weniger Touristen haben“, gab Mabel zu bedenken. „Im Juli und August ist an der Côte d’Azur ebenfalls Hauptsaison.“

Abigail sah sie von oben herab an. „Das kannst du doch gar nicht miteinander vergleichen, liebe Mabel. Im Sommer trifft sich die beste Gesellschaft in Südfrankreich, lauter liebe, nette Menschen, die verstehen, sich ihrem Stand angemessen zu benehmen, ganz im Gegensatz zu den meisten Touristen, die sich in dieser Gegend tummeln.“

Mabel stellte sich Abigail im Kreis berühmter und reicher Persönlichkeiten vor, als ein Gedanke durch ihren Kopf schoss.

„Wirst du allein reisen?“, fragte sie.

„Du kannst mich selbstverständlich begleiten“, schlug Abigail sofort vor. „Wir fahren ohnehin mit dem Rolls, in den letzten Jahren fliege ich nämlich immer weniger gern, außerdem ist es besser, meinen eigenen Wagen zur Verfügung zu haben.“

„Dann wird Justin Parker dich begleiten?“ Mabel hatte es befürchtet.

„Selbstverständlich, oder soll ich den Rolls etwa selbst chauffieren?“ Abigail kicherte wie ein junges Mädchen. „Dem guten Justin wird es guttun, mal rauszukommen. Er sagte, er wäre noch nie an der französischen Mittelmeerküste gewesen und freut sich schon sehr auf die Reise.“

„Na, dann ist es wohl besser, wenn ich hier bleibe, ich möchte nämlich nicht stören.“ Die Bemerkung war Mabel entschlüpft, bevor sie über die Worte hatte nachdenken können. Abigail hatte den leicht scharfen Unterton herausgehört.

„Du weißt es?“ Sie brauchte nicht zu sagen, was sie meinte. Daher nickte Mabel nur, woraufhin Abigail lapidar mit den Schultern zuckte. „Spar dir deine weisen Ratschläge und Ermahnungen. Ich weiß genau, was ich tue.“

„Du bist erwachsen und alt genug“, erwiderte Mabel leise. „Ich möchte nur nicht, dass du verletzt wirst. Dieser Mann … er ist so jung … und …“

„Geht nur mit mir ins Bett, weil ich ihn gut dafür bezahle.“ Rasch schaute Mabel sich um, ob jemand Abigails Worte gehört hatte, aber es war niemand in der Nähe. Abigail sah keinen Grund, ihre Stimme zu dämpfen. „So mag es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen, liebe Mabel, aber Justin und ich … wir lieben uns wirklich. Zuerst habe ich es ja auch nicht glauben können, dachte, er wäre nur charmant, weil er sich Vorteile erhoffte. Er ließ jedoch nicht locker.“ Abigail sah ihre Cousine ernst an. „Mabel, Arthur ist seit Jahren tot und mein Körper mag alt sein. Hier drinnen jedoch“, sie klopfte sich auf die Brust, „bin ich immer noch jung und sehne mich nach Liebe und Zärtlichkeit. Es ist wohl das Grausamste am Alter, dass der Wunsch nach körperlicher Liebe nie vergeht, man aber täglich zusehen muss, wie der eigene Körper altert und zunehmend unansehnlicher wird. Ich weiß, zwischen mir und Justin wird es nichts von Dauer sein, ich bin jedoch entschlossen, die Zeit, die das Schicksal uns schenkt, bis zur Neige zu genießen.“

Mabel griff über den Tisch nach Abigails Hand.

„Es ist dein Leben“, sagte sie. „Sei dennoch vorsichtig und versprich mir, auf dich aufzupassen, ja?“

Abigail schmunzelte. „Siehst du nun, wie wichtig es ist, dass du in Cornwall bleibst? Niemand sonst als du kann besser auf mich aufpassen, liebste Cousine.“

Spontan beugte sich Mabel vor und küsste Abigail auf die Wange, woraufhin diese errötete.

„Du hast mir endgültig verziehen?“, flüsterte sie, und Mabel nickte.

„Ich glaube, du warst für Arthur die bessere Frau. Als Lady Tremaine musst du stets repräsentieren und in der Öffentlichkeit stehen, etwas, mit dem ich, wie du weißt, immer Probleme hatte. Damals war ich natürlich sehr verletzt, dachte, mein Leben wäre beendet. In meiner Arbeit habe ich jedoch die Erfüllung gefunden, um wirklich glücklich zu sein.“

Abigail sah ihre Cousine ernst an.

„Du hast nie geheiratet. Lange Zeit machte ich mir Vorwürfe, dass Arthur und ich dein Herz gebrochen hätten und dir deswegen das Glück auf eine eigene Familie versagt blieb.“

Mabel hob abwehrend die Hände: „Ich wollte nicht heiraten, nur um verheiratet zu sein. Ich gebe zu, dass ich keinem Mann begegnet bin, für den ich ähnliche Gefühle wie für Arthur empfand, und Kinder …“ Sie zögerte und fuhr dann fort: „Du und Arthur, warum habt ihr keine Kinder gehabt? Verzeih, es ist eine sehr persönliche Frage, du brauchst sie nicht zu beantworten, wenn du nicht möchtest.“

Ein Schatten fiel über Abigails Gesicht und ihr Blick verdunkelte sich.

„Nach zwei Jahren Ehe wurde ich schwanger. Arthur freute sich ungemein, während ich hin- und hergerissen war. Ich wollte weiterhin reisen, auf Partys gehen und meinen Spaß haben. Außerdem hatte ich Angst, meine schlanke Figur zu verlieren, du weißt, wie eitel ich immer war.“ Sie lachte leise, und Mabel konnte einen bitteren Unterton in ihrer Stimme hören, als sie fortfuhr: „Ich verlor das Kind im vierten Monat und die Ärzte sagten, ich könne nie wieder schwanger werden. Arthur und ich suchten die besten Spezialisten auf, nicht nur in England, sondern in ganz Europa, aber jeder stellte dieselbe Diagnose.“

„Das tut mir leid.“ Mabel drückte Abigails Hand.

„Du siehst, wir hatten unsere Schattenseiten. Dazu kamen die Vorwürfe, die ich mir machte, da ich dieses Kind ursprünglich nicht wollte.“ Abigail zuckte die Schultern und sagte ernst: „Ich bin froh, dass zwischen uns nun alles ausgeräumt ist. Wer weiß, wie lange das Schicksal uns noch auf dieser Welt belässt. Auf keinen Fall wollte ich sterben, ohne dass du mir verziehen hast, und wenn ich Higher Barton bei dir in guten Händen weiß, sehe ich meinen letzten Jahren recht positiv entgegen.“

Mabel wand sich unbehaglich und rutschte auf der Bank umher.

„Abigail … die Idee, mich als Erbin einzusetzen … Ich verstehe deinen Wunsch, den Besitz in der Familie zu behalten, aber …“

Resolut schnitt Abigail Mabel das Wort ab.

„Es ist bereits alles schriftlich geregelt. Solltest du vor mir sterben, dann geht Higher Barton an eine gemeinnützige Stiftung, die daraus entweder ein Alten- oder ein Kinderheim machen wird.“

Mabel schwieg, obwohl es ihr auf der Zunge brannte zu sagen, dass Abigail doch gleich ihr Testament zugunsten dieser Stiftung aufsetzen könne. Sie wusste, dass ihre Cousine von einem einmal gefassten Entschluss nicht abzubringen war. Sie und Abigail waren beide ihrem Alter entsprechend gesund und rüstig – und in den nächsten Jahren könnte noch viel geschehen. Etwas jedoch musste Mabel ihre Cousine noch fragen.

„Was ist mit Justin Parker? Erwartet er nicht, einen Teil des Kuchens abzubekommen?“

Abigail verstand sofort, was Mabel meinte.

„Du schätzt Justin falsch ein“, sagte sie und schüttelte vehement den Kopf. „Er war es, der nicht lockergelassen hat, als ich ihn wiederholt abwies und meinte, ich wäre viel zu alt für ihn. Mit jüngeren Frauen hat Justin noch nie etwas anfangen können und er weigert sich, auch nur einen Penny von mir anzunehmen, der sein Gehalt übersteigt. Wir lieben uns wirklich. Du musst Justin nur besser kennenlernen, dann wirst du feststellen, was für ein wunderbarer Mensch er ist.“

Mabel verzichtete auf eine Antwort. Auf jeden Fall würde sie den Sommer über in Cornwall bleiben und ein Auge auf Abigail haben. Und da war natürlich noch die Sache mit Sarah Miller …

Mabel glaubte zuerst an eine Halluzination, als sie Michael Hampton und Jennifer Crown erkannte, die über den Küstenweg direkt auf sie zukamen. Sie blinzelte, es war aber kein Trugbild. Die beiden attraktiven jungen Menschen hielten sich an den Händen und schienen in eine lebhafte Diskussion vertieft zu sein. Bisher hatten sie Mabel nicht gesehen. Instinktiv riss Mabel den Hut von Abigails Kopf, ignorierte deren Protest und stülpte sich den Hut mit der ausladenden Krempe über, dann kramte sie hektisch nach der Sonnenbrille in ihrer Handtasche.

„Was ist plötzlich in dich gefahren?“, fragte Abigail perplex. „Spielen wir jetzt Verkleiden?“

„Sei still“, zischte Mabel, beugte sich über den Tisch und tat, als wäre sie intensiv mit den Knochen eines Hähnchenschenkels beschäftigt. „Ich bitte dich, halt einfach den Mund, ja?“

Entsetzt über Mabels rüden Ton schnappte Abigail nach Luft, verzichtete jedoch auf eine Erwiderung. Michael und Jennifer kamen näher, das Mädchen kicherte, und Mabel konnte hören, wie sie sagte: „Du hättest Eric mal sehen sollen, wie er winselnd vor mir im Staub gekrochen ist, damit ich die Rolle spiele.“ Jennifers Tonfall war mehr als gehässig. „Ich hatte große Lust, ihn noch länger zappeln zu lassen, aber schließlich muss ich die Szenen einstudieren, und es ist nicht mehr viel Zeit.“

„Dass Sarah einfach von einem Tag auf den anderen abgehauen ist, ist ein wahrer Glücksfall für dich, nicht wahr?“ Michael sah das Mädchen von der Seite an. „Ich hielt sie ja noch nie für eine bessere Schauspielerin als dich …“

„Aber ihre Titten fandest du nicht schlecht?“, gab Jennifer schnippisch zurück. „Du hast nichts unversucht zu lassen, um sie ins Bett zu kriegen, und warst stinksauer, als sie dich abblitzen ließ.“

Michael legte einen Arm um Jennifers Schultern.

„Ach, das war doch nur Spaß. Ich möchte doch nur mit dir zusammen sein.“ Er sprach mit einem schmeichelnden Tonfall, der Mabel falsch vorkam, doch Jennifer ließ es zu, dass Michael sie küsste. Als sie sich voneinander lösten, fuhr er fort: „Vielleicht habe ich Sarah mit meinen Nachstellungen nur genervt, damit sie Lower Barton verlässt und du die Rolle wiederbekommst. Du weißt, ich würde alles für dich tun.“

„Ach ja?“, fragte Jennifer. „Du willst mir doch nicht weismachen wollen, Sarah ist auf dein Bestreben hin abgehauen?“

Sie lachte laut, die beiden entfernten sich, und Mabel konnte ihre nächsten Worte nicht mehr verstehen. Ihre Nerven vibrierten. Rachel hatte ihr erzählt, dass Michael und Jennifer ein Paar gewesen waren – als Sarah gekommen war, hatte er sie abserviert, zudem hatte Jennifer ihre Rolle an Sarah verloren. Sarah wollte ihrerseits von Michael nichts wissen, und Jennifer war zu Recht sauer auf den jungen Mann. Wenn Michael also dafür sorgte, dass Sarah Lower Barton verließ, schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe: Jennifer hatte die Rolle wieder, und sein männliches Ego war wieder hergestellt. Mabel vermutete, ein Mann wie Michael war es nicht gewohnt, von Frauen verschmäht zu werden, folglich hatte er – aus seiner Sicht – allen Grund, auf Sarah wütend zu sein. Jennifer selbst durfte sie aber auch nicht außer Acht lassen. Immerhin hatte Mabel miterlebt, wie sauer das Mädchen gewesen war, als Eric Cardell ihr die Rolle wegnahm und Sarah gab. Jennifer schien sehr ehrgeizig zu sein und daran gewöhnt, zu bekommen was sie wollte. Sie profitierte am meisten von Sarahs Tod.

„Aber bringt man deswegen jemanden um?“

„Was sagst du?“, fragte Abigail, denn Mabel hatte nicht bemerkt, dass sie laut gedacht hatte. „Was soll das hier werden? Kann ich meinen Hut wiederhaben? Also wirklich, Mabel, manchmal verhältst du dich ein wenig seltsam.“

Mabel war in Gedanken weit weg und betrachtete aus den Augenwinkeln Jennifers schmale und zarte Hände. Sarah Miller war mit brutaler Gewalt erdrosselt worden, und Jennifer sah nicht so aus, als hätte sie eine solch große Kraft, zumal Sarah sich sicher gewehrt hatte. Mabel schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sie sah Michael und Jennifer nach, die auf der anderen Seite der Bucht den steilen Küstenpfad hinaufstiegen und bald außer Sicht waren. Sie nahm den Hut wieder ab, reichte ihn Abigail und legte die Sonnenbrille auf den Tisch.

„Verzeih, Abigail, aber ich wollte nicht erkannt werden.“

„Das habe ich mir bereits gedacht“, entgegnete Abigail spitz. „Wer waren die beiden?“

Mabel bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln. „Sie gehören zu der Theatergruppe, die Verrat in Lower Barton aufführt. Du weißt doch, Abigail, ich nähe die Kostüme für das Stück.“

Abigails Blick blieb skeptisch. „Warum wolltest du nicht, dass sie dich erkennen?“ Langsam dämmerte es Abigail. „Mabel, du jagst doch nicht etwa immer noch dem Hirngespinst, ein totes Mädchen in meinem Haus gesehen zu haben, nach?“ Mabels Gesichtsausdruck sprach Bände, und Abigail schüttelte entsetzt den Kopf. „Meine Liebe, ich dachte, die Sache wäre erledigt und du hättest eingesehen, dass du einfach nur übermüdet warst.“

„Das war ich nicht“, begann Mabel und wurde von Abigail sofort schroff unterbrochen.

„Lower Barton ist eine kleine Gemeinde, hier kennt jeder jeden. Wir vom Herrenhaus haben eine Art Vorbildfunktion, diesbezüglich sind die Menschen auf dem Land noch nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen. Ich muss dich inständig bitten, diese Sache zu vergessen und nie wieder zu erwähnen.“

Den Zusatz „Du bist schließlich Gast in meinem Haus“ sprach Abigail zwar nicht aus, Mabel las es jedoch in ihrem Gesicht.

„Du bist um deinen Ruf besorgt?“, fragte sie überrascht.

Abigail gab sich keine Mühe, dies zu leugnen. „Die Leute reden nun mal gerne, und wenn bekannt wird, dass die Cousine von Lady Tremaine meint, Tote zu sehen und unschuldige junge Leute des Mordes verdächtigt, wäre das für das Ansehen von Higher Barton wenig förderlich.“

„Was, glaubst du, würden die Leute reden, wenn sie wüssten, dass eine Lady Tremaine sich einen Chauffeur, der ihr Sohn sein könnte, ins Bett holt?“

Gleich nachdem Mabel die Worte ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie zu weit gegangen war. Abigail presste die Lippen zusammen, auf ihrer Stirn entstand eine steile Falte und sie zischte: „Ich glaube, es ist besser, wir gehen.“

Ohne Mabel weiter zu beachten, stand sie auf und schritt hoheitsvoll wie eine Königin in Richtung Kirche davon. Mabel blieb nichts anderes übrig, als das Geschirr und die Essensreste in den Picknickkorb zu räumen, sich diesen und die Decken unter den Arm zu klemmen und ihrer Cousine zu folgen. Sie hoffte, Abigail würde vor Ärger nicht ohne sie losfahren, denn der Weg von der Talland Bay nach Higher Barton war weit.

Auf halber Höhe der Straße nach Porthallow kam ihnen Justin Parker entgegen. Mabel sah, wie Abigail ein paar hastige Worte mit dem Chauffeur wechselte, woraufhin er sie, Mabel, mit einem ärgerlichen Ausdruck ansah. Trotzdem nahm Justin ihr den Korb und die Decke ab und verstaute sie im Kofferraum. Als Mabel in den Wagen stieg, sagte sie leise: „Es tut mir leid, Abigail, ich hätte das nicht sagen sollen.“

„Du hast recht – das hättest du nicht sagen sollen.“ Abigails Stimme war eisig.

Während der Heimfahrt sprachen die Frauen kein Wort miteinander, und Abigail starrte angestrengt aus dem Fenster. Obwohl es früher Nachmittag war, zog sie sich gleich in ihr Zimmer zurück und gab Emma Penrose die Anweisung, sie würde den Tee sowie das Abendessen allein in ihren Räumen einnehmen. Auf eine weitere Entschuldigung Mabels reagierte Abigail nicht, und Mabel konnte es ihrer Cousine nicht verübeln. Künftig musste sie versuchen, ihre Zunge besser im Zaum zu halten.

Den Rest des Tages verbrachte Mabel in ihrem Zimmer, unablässig über das Gespräch zwischen Michael und Jennifer nachgrübelnd. Obwohl sie den arroganten jungen Mann nicht mochte, traute sie ihm keinen kaltblütigen Mord zu. Mabel dachte an Michaels Hände. Im Gegensatz zu Jennifer hatte er zweifelsohne die Kraft, jemanden zu erdrosseln, doch die Vorstellung, diese Hände könnten den Strick um Sarahs Hals gelegt haben, ließ sie erschauern. In Laufe ihres Lebens hatte sie viele Menschen kennengelernt, die sich aufgrund ihres attraktiven Äußeren für etwas Besseres hielten und dachten, die Welt müsse ihnen zu Füßen liegen. Michael Hampton gehörte zweifelsohne zu dieser Sorte, war er aber deswegen gleich ein Mörder?

Gegen Abend schien Mabels Schädel zu platzen und sie hatte pochende Kopfschmerzen. Mrs Penrose servierte ihr eine heiße Gemüsesuppe und kalten Braten, von dem Mabel jedoch kaum etwas anrührte. Sie hoffte auf den morgigen Tag, und dass ihre Nachforschungen in Bristol etwas ergeben würden. Mabel wusste nicht, was sie zu finden hoffte. Vielleicht hatte Sarah Familie, die in Sorge um sie war, oder zumindest Freunde, die ihr sagen konnten, was Sarah nach Cornwall getrieben hatte. Das wäre ein Anfang.

Da Mabel wusste, wie wenig Abigail mit der Fahrt nach Bristol einverstanden sein würde, beschloss sie, ihrer Cousine nichts zu sagen. Abigail war ohnehin schon beleidigt. Sie, Mabel, würde also versuchen, die Unstimmigkeit zwischen ihnen dann zu bereinigen, wenn der Mörder von Sarah Miller gefasst war und hinter Schloss und Riegel saß.