7

Pünktlich um fünf Uhr trudelten die Schauspieler einer nach dem anderen ein. Alle Altersklassen waren vertreten – junge Mädchen und halbwüchsige Jungen, aber auch Frauen und Männer in Mabels Alter. Sie zählte dreiundzwanzig Personen, die aus einem Nebenraum Stühle herbeischleppten, diese in einem Halbkreis stellten und sich geräuschvoll setzten. Eric Cardell nahm ihnen gegenüber Platz und hob die Hand. Augenblicklich verstummten alle Gespräche, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich dem Regisseur zu.

„Meine Lieben, ich danke euch, dass ihr heute vollzählig gekommen seid“, sagte er mit lauter Stimme und ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen. „Nun ja, beinahe vollständig … dazu aber später. Zuerst möchte ich euch Mabel vorstellen.“ Eric deutete auf Mabel, die sich auf einen Stuhl neben der Tür zur Teeküche gesetzt hatte, und winkte ihr zu. „Mabel, komm, rück ein Stück näher, wir beißen nicht.“ Zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln auf Erics Lippen, und zwei junge Mädchen kicherten. „Mabel wird uns bei den Kostümen behilflich sein. Wie ihr wisst, gibt es noch einiges auszubessern, und das Kostüm des Henkers muss neu genäht werden, da unser guter Alex das Gewand vom Vorjahr regelrecht gesprengt hat.“

Die Bemerkung brachte Eric einige Lacher ein, und alle Augen wandten sich einem großen, stattlichen Mann Anfang vierzig zu, der einen deutlichen Bierbauch vor sich her trug. Alex schien Erics Worte nicht krumm zu nehmen, sondern klatschte sich mit der Hand auf den Bauch.

„Meine Frau kocht einfach zu gut. Was soll ich machen?“

Ein junger attraktiver Mann mit schwarzen Haaren und Augen, die so blau waren wie das Meer an einem schönen Sommertag, hob die Hand und fragte: „Dann werden wir also auftreten, Eric? Ich meine nur … nachdem Sarah …“

Eric nickte, räusperte sich und sagte dann leise, aber deutlich genug, damit ihn jeder verstehen konnte: „In der letzten Nacht habe ich kein Auge zugetan und bin zu dem Entschluss gekommen: The Show must go on! Wahrscheinlich werden wir nie wissen, warum Sarah uns derart plötzlich im Stich gelassen hat. Ihr könnt mir glauben, ich bin ziemlich sauer auf sie, wir werden das Stück jedoch stemmen. Was die Rolle betrifft …“ Erics Blick richtete sich auf eines der Mädchen, das vorhin gekichert hatte, „ich bitte dich, Jennifer, wieder die Rolle der Mary Lerrick zu spielen.“

Das angesprochene Mädchen hob den Kopf, sah in die Runde, dabei warf sie ihr kastanienbraunes Haar, das ihr in sanften Wellen bis zur Taille fiel, mit einer anmutigen Bewegung zurück. Mabel registrierte, dass das Mädchen nicht allein nur hübsch, sondern ausgesprochen schön war. Ihre mandelförmigen Augen waren dunkelbraun, ihre Nase schmal und ihre Lippen voll und rot. Auch ihre Figur schien perfekt zu sein – schlank, aber nicht zu dünn, und sie war recht freizügig gekleidet, sodass in dem Trägertop der Ansatz ihrer vollen Brüste und in dem Minirock ihre schlanken, gebräunten Beine gut zur Geltung kamen. Das Mädchen war sich ihrer Attraktivität ganz offenbar bewusst, und Mabel spürte instinktiv, dass sie diese, wenn nötig, auch einsetzte. Jennifer erhob sich betont langsam, sah in die Runde und sagte mit einer angenehm klaren Stimme: „Warum sollte ich das tun, Eric? Welchen Grund hätte ich, dich jetzt aus der Scheiße zu ziehen, in die du dich selbst reingeritten hast? Ich habe schließlich gleich gemerkt, dass man Sarah nicht trauen kann, auf mich wolltest du aber nicht hören.“

Über die wenig schönen Worte zog Mabel hörbar die Luft ein. Wie das Mädchen den Regisseur jetzt herausfordernd anstarrte, ließ auf eine nicht unerhebliche Arroganz schließen.

Eric seufzte, blieb äußerlich jedoch ganz ruhig.

„Vielleicht solltest du nicht nur an mich oder an dich denken, Jennifer, sondern an die Gruppe. Die Aufführung ist in knapp drei Wochen – zu wenig Zeit, damit jemand anderes die Rolle neu einstudiert. Du hast die Mary in den letzten zwei Jahren gespielt, müsstest also mit dem Text schnell wieder klarkommen.“

„Genau!“ Triumphierend warf Jennifer den Kopf in den Nacken und stemmte die Hände in ihre schmale Taille. „Du hast es auf den Punkt gebracht, Eric – ich habe die Mary zwei Jahre lang gespielt. Dann kam jedoch so eine dahergelaufene Person, von der wir kaum etwas wussten, blinzelt ein paar Mal mit ihren hübschen Augen, und schwups hast du ihr die Rolle gegeben. Und ich konnte sehen, wo ich bleibe – obwohl Sarah eine Fremde ist, und ich mein ganzes Leben in diesem Kaff verbracht und die Geschichte bereits mit der Muttermilch eingetrichtert bekommen habe. Jetzt hat es sich die schöne Sarah plötzlich anders überlegt und die Fliege gemacht, und ich soll die Lückenbüßerin spielen!“

„Sei mal vernünftig!“ Scharf unterbrach Eric den Redefluss des Mädchens. „Du weißt ebenso gut wie wir alle“, er machte eine raumgreifende Handbewegung, „dass Sarah die optimale Besetzung der Rolle war. Sie ist nicht nur eine hervorragende Schauspielerin, sondern sieht der echten Mary dazu noch verblüffend ähnlich. Wir hatten das doch besprochen.“

„Falsch!“ Jennifers Stimme überschlug sich fast. „Du hast es bestimmt! Ich hatte keine andere Wahl, als in die zweite Reihe zu treten und Marys langweilige Schwester zu spielen, die gerade mal zwei kurze Dialoge hat, oder ganz aus der Gruppe zu fliegen.“ Jennifer bückte sich, nahm ihre Handtasche, die sie unter dem Stuhl abgestellt hatte, und ging zur Tür. Eine Hand bereits auf der Klinke, wandte sie den Kopf und sah Eric über die Schulter hinweg mit einem funkelnden Blick, in dem eine Spur Siegessicherheit lag, an. „Ich werde es mir überlegen, lieber Eric. Du wirst von mir hören.“

Nicht nur Mabel zuckte zusammen, als hinter Jennifer die Tür krachend ins Schloss fiel. Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen, dann sprachen alle durcheinander.

„Ich finde, sie hat recht“, bemerkte der hübsche dunkelhaarige Mann. „Schließlich wurde Jenny einfach ausgebootet.“

„Sie muss aber auch an die Gruppe denken“, rief eine ältere Frau, „Jennifer kann uns jetzt nicht im Stich lassen.“

Mabel hörte sich die verschiedenen Meinungen an. Nach und nach setzten sich die Puzzleteile zusammen. Und während die Gruppe weiterdiskutierte, bemerkte Mabel ein Mädchen, das ihren Stuhl ein Stück aus dem Kreis herausgeschoben hatte und sich an dem lauten und heftigen Gespräch nicht beteiligte. Zuvor war sie ihr nicht aufgefallen und Mabel dachte, dass wohl niemand das Mädchen auf den ersten Blick bemerkte. Sie mochte Anfang zwanzig sein, war klein, nicht nur schlank, sondern hager, und ihr spitzes Gesicht konnte man nicht als ansprechend im landläufigen Sinn bezeichnen, dazu standen ihre grauen Augen zu eng beisammen, war ihre Nase zu groß und leicht gekrümmt und ihre Lippen zu schmal. Das mausbraune Haar trug sie zu einem Knoten in den Nacken gesteckt, was ihr einen strengen Ausdruck verlieh und sie zugleich älter wirken ließ. Ihre verwaschene Jeans war ohne Passform und das dunkelgrüne Sweatshirt hing wie in Sack um ihren knochigen Oberkörper und ließ keine weiblichen Formen erkennen.

„Seid jetzt mal alle still!“ Laut übertöne Eric Cardells Stimme die Gespräche. Er stand auf und ging, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, im Saal auf und ab. „Wir wissen alle, dass wir die Aufführung absagen müssen, wenn Jennifer die Mary nicht spielt. Die meisten von uns kennen Jennifer seit Jahren und wissen, dass die Dame gebeten sein möchte. Nun“, er zuckte resigniert mit den Schultern und seufzte, „dann werde ich eben den Gang nach Canossa antreten und sie inständig bitten, die Rolle wieder zu übernehmen.“

„Na dann, viel Spaß“, höhnte der junge Mann, der Jennifer zur Seite gesprungen war. „Aber Blumen oder Pralinen brauchste Jennifer erst gar nicht mitzubringen. Sie steht nicht auf Riechbesen oder Süßes, das ist schlecht für die Figur unserer Diva.“

Eric bedachte den Sprecher mit einem scharfen Blick.

„Danke, Michael, für deine nützlichen Hinweise.“ Spott schwang in seiner Stimme. Er trat hinter seinen Stuhl und legte die Hände auf die Lehne. „Ich glaube nicht, dass heute eine Probe Sinn macht, darum verschieben wir sie, bis geklärt ist, ob wir überhaupt auftreten können. Wir sehen uns dann nächsten Freitag wieder … hoffentlich …“

Stühle rückten, Füße scharrten über den Holzboden, und die Schauspieler diskutierten eifrig weiter, während sie den Saal verließen. Mabel stand unschlüssig am Rand. Nach Erics Anweisung hatte sie vorhin Tee aufgebrüht, doch niemand schien an einer Tasse interessiert zu sein. Bevor das Mädchen mit den mausbraunen Haaren den Saal verlassen konnte, sprach Eric sie an.

„Rachel, bist du bitte so lieb und zeigst Mabel die Kostüme? Auch wenn wir nicht wissen, ob wir sie überhaupt brauchen werden, es kann nicht schaden, wenn Mabel so schnell wie möglich mit Änderungen beginnt.“

Mabel sah, wie über Rachels Wangen eine leichte Röte flog, und sie zögerte. Als sie sprach, war ihre Stimme leise und kaum zu verstehen.

„Ich muss nach Hause.“

Eric unterbrach sie mit einer Handbewegung.

„Die Probe war bis sieben Uhr angesetzt, jetzt ist es gerade mal sechs. Du hast also noch eine Stunde Zeit. Bitte, Rachel, niemand kennt sich mit den Kleidern so gut aus wie du.“

Die Röte auf Rachels Gesicht verstärkte sich, offenbar fühlte sie sich geschmeichelt, von Eric gelobt zu werden. Mabel vermutete, dass das Mädchen wohl nicht oft Lob und Anerkennung erhielt.

Eric legte eine Hand auf Rachels Schulter und führte sie durch den Saal.

„Mabel, das ist Rachel Wilmington, sie hat bisher die ganze Näharbeit allein gemacht. Es ist aber zu viel für sie geworden, nicht wahr, Rachel?“ Bestätigend nickte das Mädchen, sah Mabel jedoch nicht an, sondern starrte auf einen imaginären Punkt an der Wand irgendwo hinter Mabel.

Mabel bot ihr die Hand zum Gruß, Rachel ergriff sie zögerlich. Ihre Hand war kalt und ein wenig feucht.

„Es freut mich, dich kennenzulernen, Rachel“, sagte Mabel freundlich. „Möchtest du mir jetzt die Sachen zeigen?“

Das Mädchen nickte. „Sie sind in einem Raum im ersten Stock.“

Eric Cardell lächelte zufrieden. „Ich schließe dann vorne gleich ab, ihr könnt durch den Hinterausgang rausgehen.“

Mabel folgte dem Mädchen durch einen schmalen, muffig riechenden Flur und über eine gewundene Treppe ins Obergeschoss. In einem kleinen Raum, der bis unter die Decke mit Gerümpel vollgestopft war, zog Rachel mehrere Pappkartons, ähnlich denen, die man für Umzüge verwendete, hervor und öffnete die Deckel.

„Das sind die Kostüme vom letzten Jahr.“ Ihre Stimme war leise, und sie sah Mabel immer noch nicht an. „An den meisten sind die Säume abgerissen, an einigen lösen sich die Applikationen auf den Oberteilen, und acht Kleider müssen entweder weiter oder enger gemacht werden. Dann müssen wir noch drei Gewänder für die Männer umnähen, und das für den Henker sogar ganz neu nähen.“

Mabel nahm ein Kostüm in die Hand, bemüht, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen. Es handelte sich eindeutig um die Art von Kleid, das die Tote auf Higher Barton getragen hatte und von dem jetzt ein Fetzen herausgerissenen Stoffs in ihrem Zimmer lag. Es war die gleiche Farbe und das gleiche Material.

„Hat Sarah auch so ein Kleid gehabt?“, fragte Mabel gerade heraus und war über das Erschrecken in Rachels Augen überrascht.

Das Mädchen wich einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.

„Eric sagt, Sarah habe das Kleid gestohlen, das ist aber nicht wahr. Sie hat es nur mit nach Hause genommen, um selbst eine Kante zu säumen. Ganz sicher hätte sie es wieder zurückgebracht, und sie kommt auch wieder zurück. Ja, Sarah wird wiederkommen, sie lässt uns nicht einfach im Stich.“

Mabel sah, wie Rachels Augen feucht wurden. Sie legte das Kleid zur Seite und versuchte, Rachels Arm zu berühren, doch das Mädchen wich zur Seite.

„Rachel, möchtest du mir von Sarah erzählen?“, fragte Mabel einfühlsam. Im Laufe ihres Berufslebens hatte sie gelernt, nicht nur auf physische, sondern auch auf psychische Veränderungen zu reagieren. Vielleicht waren sie und Sarah über die Theaterarbeit hinaus befreundet gewesen. „Aus euren Gesprächen habe ich herausgehört, dass Sarah die Hauptrolle spielen sollte, aber inzwischen verschwunden ist.“

„Sie ist nicht fort.“ Zu Mabels Freude schien Rachel bereit zu sein, Auskunft zu geben. „Das würde Sarah nie machen. Michael hält sie zwar für ein Flittchen, das ist sie aber nicht.“

„Michael?“, hakte Mabel nach.

„Der arrogante Beau mit den schwarzen Haaren“, erklärte Rachel. „Nur weil er bei Sarah nicht landen konnte, unternimmt er alles, um sie in den Dreck zu ziehen.“

„Dann war … ist“, korrigierte Mabel sich hastig, „Sarah ein hübsches und nettes Mädchen?“

„Das schönste, das ich kenne.“ Für einen winzigen Moment leuchteten Rachels Augen, sie senkte aber schnell den Kopf. „Viel schöner als Jennifer Crown, obwohl diese dumme Kuh glaubt, die nächste Miss England zu werden, und alle müssten ihr zu Füßen liegen, um ihre Schuhe zu lecken.“

Mabel hätte dem schüchternen Mädchen eine solch direkte Ausdrucksweise nicht zugetraut.

„Und dieser Michael wollte also … er wollte mit Sarah ausgehen?“, fragte sie interessiert.

Rachel lachte, aber es war ein unfrohes Lachen. „Oh, Michael hält sich für den schönsten Mann von ganz Lower Barton, darin sind er und Jennifer sich einig. Die beide waren mal ein Paar, aber als Sarah kam, wandte Michael schnell sein Interesse ihr zu, seitdem sprechen er und Jennifer nur noch das Nötigste miteinander.“

„Seit wann ist Sarah eigentlich verschwunden?“ Mabel bemühte sich, beiläufig zu klingen, damit Rachel nicht misstrauisch wurde.

„Seit letztem Wochenende.“ Rachel legte nachdenklich eine Fingerspitze auf ihre Nase. „Am Samstagabend nach der Probe sagte sie, sie hätte etwas zu erledigen, und am Sonntag meinte ihre Wirtin, dass sie am Vortag abgereist wäre.“ Rachel schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Bei der Probe war Sarah wie immer, sie hätte mir gesagt, wenn sie an dem Abend hätte wegfahren wollen.“

„Sie hat doch sicher ein Handy, oder? Hast du nicht versucht, sie anzurufen?“

„Natürlich, wir alle haben versucht, sie zu erreichen.“ Rachel sah Mabel an, als wäre sie bekloppt. „Es ist aber abgeschaltet. Eric hat ihr einige SMS geschickt, aber vielleicht hat Sarah das Handy auch verloren und kann die Nachrichten gar nicht lesen. Sie kommt aber bald wieder.“ Rachel nickte nachdrücklich. „Sarah wäre nie fortgegangen, ohne sich von mir zu verabschieden.“

„Dann wart ihr Freundinnen?“ Schnell hakte Mabel nach.

Rachel zögerte, zuckte dann mit den Schultern.

„Mit Sarah wollte jeder befreundet sein.“

„Wie heißt Sarah eigentlich mit Nachnamen?“, fragte Mabel.

„Miller, wieso?“ Rachel sah sie plötzlich skeptisch an, so, als würde sie erst jetzt bemerken, wie sie von Mabel regelrecht ausfragt wurde. „Warum wollen Sie das alles wissen? Und warum wollen Sie uns eigentlich helfen?“ Entgegen Erics Aussage, im Ensemble würden sich alle duzen, wollte Rachel wohl einen gewissen Abstand waren, denn sie blieb beim Sie. Mabel konnte ihr es nicht verdenken, denn immerhin war sie alt genug, um Rachels Großmutter zu sein. Scheinbar desinteressiert zuckte sie mit den Schultern.

„Ach, nur so. Ich verbringe einige Zeit in der Gegend und da ich das Theater liebe, selbst aber nicht zur Schauspielerin tauge, dachte ich, es ist eine gute Idee, etwas zu der Festwoche beizutragen.“

Skeptisch runzelte Rachel die Stirn und sah Mabel zum ersten Mal direkt in die Augen.

„Sie sind nicht von hier“, stellte sie fest. „Ich hab’ Sie in Lower Barton noch nie gesehen.“

Mabel nickte und bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln.

„Ich bin für ein paar Wochen zu Besuch in Cornwall.“ Während ihrer nächsten Worte fixierte sie Rachels Blick, damit ihr keine Reaktion entging. „Bei meiner Cousine Abigail Tremaine. Vielleicht kennst du sie, ihr gehört das Landgut Higher Barton, zwei Meilen von hier in Richtung Polperro.“

Mabel hatte gehofft, bei der Erwähnung des Landsitzes, auf dem Sarah ums Leben gekommen war, eine Reaktion bei dem Mädchen feststellen zu können, sie wurde jedoch enttäuscht. Rachel zuckte lediglich mit den Schultern und murmelte: „Klar, jeder hier kennt das Herrenhaus. Ist auch egal, warum Sie gekommen sind, ich bin über Hilfe dankbar. Die ganzen Sachen allein zu nähen, hätte ich nämlich nicht geschafft, und die anderen sind nicht gerade geschickt im Umgang mit Nadel und Faden.“

„Hast du eine Arbeit?“, fragte Mabel direkt.

„Ich kümmere mich um meinen Vater und meine Geschwister“, gab Rachel knapp zur Antwort.

„Und deine Mutter?“

„Ist tot.“ Rachels Gesicht verschloss sich. Sie holte fünf Kleider aus dem Karton und drückte sie Mabel in die Arme. „Hier, wenn Sie bis Freitag die Säume nähen könnten, wäre das nett.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt gehen.“

Sie verließen den Gemeindesaal durch die Hintertür, die außen statt einer Klinke einen Knauf hatte und hinter ihnen ins Schloss fiel. Rachel nickte Mabel kurz zu, murmelte „Schönen Abend noch“ und eilte dann durch die enge Gasse davon. Als Mabel ihr nachsah, bemerkte sie, wie Rachel das rechte Bein nachzog und hinkte.

Armes Mädchen, dachte sie. Rachel Wilmington hatte ihr Interesse geweckt, denn es war offensichtlich, dass dem Mädchen Sarahs Verschwinden nahe ging. Mabel war für ihren spontanen Einfall, sich um die Kostüme der Theatergruppe zu kümmern, dankbar. Sie war sicher, hier mehr über Sarah Miller in Erfahrung bringen zu können, von der Mabel sicher war, dass es sich um die Tote in der Bibliothek handelte. Alles passte zusammen – Sarah Miller war am Samstag nach der Probe verschwunden, und Mabel hatte die Leiche in den Morgenstunden des Sonntags gefunden. Mabel wusste, es wäre das Vernünftigste, zur Polizei zu gehen und Chefinspektor Warden von Sarah und deren Verschwinden zu erzählen, sie wollte sich aber nicht erneut zum Narren machen lassen, denn offenbar hatte noch niemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Mabel würde der Sache allein auf den Grund gehen müssen.

Abigail reagierte gereizt, als Mabel erst nach acht Uhr auf Higher Barton ankam. Sie erwartete ihre Cousine in der Halle und sah sie vorwurfsvoll an

„Wo warst du denn so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht und Justin gebeten, den Weg in den Ort abzufahren. Es hätte dir ja auch etwas passiert sein können, eine Panne oder gar ein Unfall!“

Mabel lächelte, umarmte Abigail und küsste sie auf die Wange. Abigail roch nach einem süßen, schweren Parfüm, das so vollkommen zu ihrem Typ passte, als wäre es eigens für sie komponiert worden.

„Ach, der Abend war so schön, da habe ich mir für den Weg Zeit gelassen. Du hast mit dem Essen hoffentlich nicht auf mich gewartet?“

„Nein, ich habe bereits gegessen“, knurrte Abigail sichtlich beleidigt. „Emma Penrose kann dir einen Teller Sandwichs auf dein Zimmer bringen lassen, wenn du Hunger hast.“

„Es tut mir leid.“ Mabel meinte ihre Worte ehrlich. Immerhin war sie Gast auf Higher Barton und ihr Verhalten gegenüber Abigail alles andere als aufmerksam. „Darf ich noch etwas fragen?“

„Was?“ Abigail runzelte die Stirn, und Mabel gab sich einen Ruck.

„Weißt du etwas über das Fest, das in drei Wochen in Lower Barton stattfindet? Das zu Ehren von Mary Lerrick gegeben wird?“

Abigails Augen weiteten sich.

„Du hast dich ja schnell mit der hiesigen Geschichte befasst“, erwiderte sie pikiert. „Wenn du für das Haus, das dir schließlich eines Tages gehören wird, ein solches Interesse aufbringen könntest, würde ich mich freuen. Was weißt du denn von Mary Lerrick und über das Fest?“

In raschen Worten schilderte Mabel, wie sie erst das Plakat gesehen und dann die Broschüre im Touristenbüro entdeckt hatte. Selbstverständlich erwähnte sie nicht, dass sie auf dem Cover das tote Mädchen wiedererkannt hatte. Sie musste Abigail jedoch einen Teil der Wahrheit sagen, da sie in der nächsten Zeit oft außer Haus sein würde, zudem lag in ihrem Wagen ein Stapel Kleider, die es auszubessern galt, was sie sicher nicht machen konnte, ohne dass es Abigail erfuhr.

„Ich finde die Geschichte sehr interessant. Darum habe ich mich mit entschlossen, zum Gelingen der Aufführung beizutragen und kümmere ich mich um die Kostüme.“

„Was?“ Abigail ließ sich auf einen Stuhl sinken, von denen rund ein Dutzend an den Wänden in der großen Eingangshalle platziert waren. „Wie kommst du denn auf eine solche Schnapsidee?“

Mabel zuckte mit den Schultern.

„Ach, Nähen macht mir Spaß, und Eric Cardell brauchte noch jemanden, der hilft.“

„Nun dann … es ist deine Sache, Mabel.“ Abigail seufzte. „Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, immerhin ist Higher Barton seit Jahren in das Spektakel involviert. Am Samstagnachmittag der Festwoche findet ein Basar in unserem Park statt. Die Frauen der Umgebung backen Kuchen, bereiten Puddings zu, fertigen Decken, Topflappen, Kissenbezüge und Häkeldeckchen an, die auf dem Basar verkauft werden. Der Erlös fällt der Kirche zu, denn das normannische Taufbecken bedarf dringend einer Renovierung.“

„Kennst du die Aufführung des Laientheaters?“, fragte Mabel interessiert.

„Früher sind Arthur und ich zur Aufführung gegangen“, entgegnete Abigail. „In den letzten Jahren nicht mehr, es ist doch jedes Jahr dasselbe.“ Sie sah ihre Cousine kopfschüttelnd an. „Wie bist du eigentlich an Eric Cardell geraten?“

„Ach, das war ein Zufall“, erwiderte Mabel ausweichend, was ja auch der Wahrheit entsprach. Zufällig hatte sie das Plakat gesehen und damit den Stein ins Rollen …

„Es geht mich nichts an, was du tust, Mabel.“ Abigail erhob sich und seufzte. „Ich hatte nur gehofft, wir beide würden mehr Zeit miteinander verbringen, nachdem wir so viele Jahre versäumt haben.“

Mabel murmelte eine Entschuldigung und war erleichtert, als Abigail meinte, sie wolle sich zurückziehen. Sie war begierig, die Kleider, die sie aus dem Theater mitgenommen hatte, mit dem Stoffstück, das auf ihrer Kommode lag, zu vergleichen. Schnell holte sie den Packen vom Rücksitz ihres Autos, ging in ihr Zimmer hinauf, warf das Bündel auf ihr Bett und wandte sich dann der Kommode zu. Sie runzelte die Stirn, denn der Stofffetzen war verschwunden, dabei war sie sich sicher, ihn direkt neben die Haarbürste gelegt zu haben. Schnell schob sie alle Gegenstände zur Seite und bückte sich, um nachzusehen, ob er von der Kommode gefallen war. Auf dem Fußboden war er auch nicht zu finden, ebenso wenig in den Schubladen, die Mabel nun eine nach der anderen öffnete und hastig durchsuchte. Nach etwa zehn Minuten sank sie auf den Stuhl und atmete tief ein und aus. Der Flicken war eindeutig verschwunden! Da sie ihn nicht selbst weggeworfen hatte, musste also jemand in ihrem Zimmer gewesen sein und ihn fortgenommen haben. Dafür kam nur Emma Penrose in Frage. Die Haushälterin machte jeden Tag ihr Bett, wahrscheinlich hatte sie heute das Zimmer geputzt und gemeint, der Stofffetzen wäre Abfall. Mabel verließ das Zimmer und eilte in die Küche hinunter. Sie hatte Glück – Mrs Penrose war gerade dabei, eine Platte mit belegten Toastscheiben anzurichten.

„Ah, Miss Clarence, ich mache Ihnen gerade etwas zu essen“, sagte die Haushältern freundlich, als Mabel in die Küche stürmte.

„Mrs Penrose, haben Sie heute in meinem Zimmer geputzt?“

Emma Penroses Lächeln erstarb und sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe Ihr Bett gemacht, wie jeden Tag. Gründlich geputzt wird nur samstags, dazu kommt ein Mädchen aus dem Ort. Ich allein kann die ganze Arbeit nicht schaffen, muss ja auch noch einkaufen und kochen. Warum, ist etwas nicht in Ordnung?“ Die Haushälterin sah Mabel fragend an.

Mabel hatte die Antwort beinahe erwartet. Sie sah Mrs Penrose fest in die Augen und sagte: „Ich vermisse ein Stück Stoff, das auf der Kommode lag. Haben Sie es vielleicht an sich genommen?“

„Wo denken Sie hin!“ Mrs Penrose ließ das Messer fallen und hob entrüstet beide Hände. „Ich entwende doch nichts aus Ihrem Zimmer, Miss. Sie wollen mir nicht ernsthaft unterstellen, ich könnte …“

„Bitte, beruhigen Sie sich!“ Mabel beeilte sich, die Haushälterin zu beschwichtigen. „Es hätte ja sein können, dass Sie den Stofffetzen für Müll gehalten und ihn fortgeworfen haben. Es handelt sich um ein Stoffmuster der Kostüme für die Theateraufführung in Lower Barton.“

Emma Penroses Lippen wurden schmal. „Ich habe nichts gesehen und auch nichts entwendet, Miss Clarence. Sie müssen sich irren.“

Ja, ebenso wie ich mich geirrt habe, als ich eine Leiche in der Bibliothek fand, dachte Mabel und ballte die Hände hinter ihrem Rücken zu Fäusten. Sie war sich sicher, noch am Vormittag, während sie ihr Haar gekämmt hatte, das Stück Stoff aus Sarah Millers Kostüm auf der Kommode gesehen zu haben.

„Nun, wahrscheinlich irre ich mich tatsächlich“, sagte Mabel mühsam beherrscht. „Es ist auch nicht so wichtig.“ Sie deutete auf die Platte. „Ich nehme die Sandwichs gleich mit auf mein Zimmer, wenn es recht ist.“

Wortlos schob ihr Mrs Penrose die Platte hin und würdigte Mabel keines weiteren Blickes. Während Mabel die Treppe hinaufging, wusste sie, jemand hatte den Stofffetzen – das einzige Beweisstück von Sarah Millers Tod in diesem Haus – absichtlich weggenommen und vernichtet. Sie überlegte, ob es Sinn machte, den Hausmüll zu durchsuchen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Dieser Jemand hatte sicher dafür gesorgt, dass der Fetzen nicht mehr auffindbar sein würde.

Mabel ließ sie Sandwichs unberührt stehen, der Appetit war ihr vergangen. In diesem Haus ging etwas Seltsames vor. Entschlossen straffte Mabel die Schultern. So leicht würde sie sich nicht einschüchtern lassen.