Der Himmel über Hamburg

Die Steine im Turmsockel sind von alten Bränden rot gefärbt. Auf den Stufen glänzt eine schmierige, schwarze Dreckschicht. Taubenfedern. Der scharfe Gestank nach Kot und Zement. Stave sprintet die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal. Der erste Absatz. Er prallt zurück. Luft. Eine Windböe zerrt an seinem Mantel, er wagt kaum hinunterzublicken. Keine Wand, kein Geländer. Reiß dich zusammen, das sind noch nicht einmal zehn Meter. Weiter!

Er nimmt die Stufen nun langsamer, versucht, starr nach unten zu blicken. Schramm kann ihm ja nicht weglaufen. Was will der Kerl da oben? Regen an der Schulter. Irgendwann hält er inne. Das Maßwerk eines zersprengten Fensters neben ihm, filigran gemeißelte Steinbögen und Rosetten. Wenn ich dagegenfalle, werden sie nachgeben und mich in die Tiefe stürzen lassen, denkt der Kripo-Mann. Er glaubt, irgendwo über sich den schweren Atem des Bankiers zu hören, aber vielleicht ist das Einbildung. Der Wind pfeift im Gemäuer, die Böen werden stärker. Wie hoch? Zwanzig Meter? Dreißig? Weiter.

Zerbeulte Glocken in einem hölzernen Rahmen. Die grünspanüberzogenen Bronzegehäuse zittern im Wind, ein Balken ächzt. Sein Fußgelenk pocht bei jedem Schritt. Die Rechte schmerzt, weil er immer noch den Ziegelbrocken umklammert hält. Schmerzen in der Schusswunde, als würde jemand mit einer Nadel seine Lunge perforieren. Er zittert, denn sein Körper ist nass vom Regen und vom Schweiß. Mindestens fünfzig Meter. Er fragt sich, woher der alte Bankier die Kraft nimmt, in einem solchen Tempo himmelan zu stürmen. Weiter.

Der letzte Absatz. Sechsundsiebzig Meter. Nicht nach unten blicken. Das Gefühl, dass der Kirchturm schwankt. Nur eine Illusion, sagt er sich, das kann bloß eine Illusion sein. Doch er spürt das Zittern der Stufen, das sogar durch die Sohlen der Schuhe dringt. Der Wind heult im Maßwerk wie ein Orgelton.

Stave tritt behutsam auf eine halb zerschmetterte Etage unterhalb der spitz zulaufenden Turmspitze. Eine schwarz verbrannte gotische Dämonenfigur auf der Spitze einer Mauerecke, die Fratze blickt auf die Stadt. Weit unten die aufgerissenen Häuser: Mauerstümpfe, Fensterhöhlen, Brandspuren. Grauer Himmel, schwarze, niedrige Wolken, Regenschleier. Die Spukfigur starrt höhnisch auf die apokalyptische Landschaft, als hätte ihr Fluch diese Zerstörung heraufbeschworen. Der böse Blick, denkt Stave. Abrupt hält er inne.

Schramm steht am gegenüberliegenden Ende der verwüsteten Etage, mit dem Rücken zu ihm. Von dort öffnet sich der Abgrund zur Brücke – und zum Reimershof, der von hier oben aussieht wie ein eingeschlagenes Puppenhaus. Der Bankier starrt hinunter, die Spitzen seiner Schuhe berühren fast den Rand des bröckeligen Bodens, dahinter ist das Nichts.

Der Oberinspektor weiß nicht, was er tun soll. Er zwingt seinen Atem zu einem ruhigeren Rhythmus und beobachtet den anderen. Lange verharrt Schramm fast unbeweglich am Abgrund. Er schwankt ganz leicht. Schließlich hebt er die Rechte – und entlässt die obere Hälfte des schwarzen Kopfes in die Tiefe. Ein, zwei Sekunden lang fällt das Fragment des alten Kunstwerks nach unten, ein dunkler Fleck in der Luft. Dann zerplatzt es auf einem schmalen Bodenstreifen zwischen Kirchturm und einer Ruine. Wie eine Bombe, fährt es Stave durch den Kopf, nur steht er so hoch, dass er keinen Ton davon hört.

Und dann begreift er endlich, was Schramm hier hochgetrieben hat.

Der Oberinspektor tritt vor. »Tun Sie es nicht!«, ruft er.

Schramm fährt herum, so erschrocken, dass er in seiner Drehung beinahe in den Abgrund getaumelt wäre. Der Gehstock in seiner Linken zittert. Stave lässt den Ziegelbrocken aus seiner Hand fallen. »Tun Sie es nicht«, wiederholt er, nun ruhiger. Er kommt noch einen Schritt näher.

»Bleiben Sie, wo Sie sind! Ich habe Sie und Ihresgleichen so satt.«

»Das ist kein Verhör«, fährt der Kripo-Mann fort. »Es geschieht Ihnen nichts. Lassen Sie uns einfach diese Treppe hinuntergehen. Unten können wir reden, wenn Sie wollen.«

Schramm lacht bitter auf. »Sie wollen mich zum Reden bringen? Sie kennen doch schon meine Geschichte – sonst wären Sie jetzt nicht hier.«

»Das war Zufall«, erklärt der Oberinspektor. »Ich will den Fall zu den Akten legen. Erledigt, versprochen. Ich wollte nur noch einen letzten Blick auf den Fundort werfen. Da tauchten Sie plötzlich auf.«

»Ich habe es mir also doch nicht eingebildet, dass ich eine Bewegung gesehen habe, bevor ich den Reimershof betrat.«

»Warum sind Sie gekommen?«

Schramm deutet nach unten. »Um zu sehen, ob ich nicht doch noch das eine oder andere Kunstwerk finde.«

»Es sind alles Ihre Kunstwerke. Ihre Sammlung.«

»Sammlung?« Schramm lacht bitter auf. »Ein Asyl, geschaffen von einem Narren. Ich habe ab 1933 alle Werke gekauft, die diese Barbaren geraubt haben – alle, die ich irgendwie kaufen konnte. Es waren wenig genug. Meistens erhielt ich keine Spitzenstücke. Die haben die Herren Nazis teuer ins Ausland verkauft. Aber an die nicht so bekannten Werke konnte ich herankommen. An den Männerkopf etwa. Ich habe sie bei mir versteckt. In der Hoffnung auf bessere Zeiten.«

»In Ihrer Villa.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ein Familienfoto an der Wand hat es mir verraten.«

Der Bankier schaut ihn verwirrt an, nickt schließlich resigniert. »Irgendeinen Fehler begeht man immer. Gut, dass Sie nicht bei der Gestapo waren. Die Besuche Ihrer Kollegen haben mich dazu getrieben, meine Kunstwerke anderswo zu verstecken. Im Reimershof.« Er schüttelt den Kopf. »Was war ich für ein Narr. In meinem Haus ist nicht eine Dachschindel angekratzt worden in all den Jahren. Und sehen Sie sich nun das Kontorhaus an.« Er deutet in die Tiefe. Wieder schwankt er kurz. Er muss tödlich erschöpft sein, durchfährt es Stave.

»Es war mir von Anfang an klar, dass Ihnen die Verbindung von den Kunstwerken zu mir nicht lange verborgen bleiben würde«, fährt Schramm fort.

»Ich hätte es aber niemals beweisen können. So, wie ich auch andere Verbrechen niemals beweisen kann.« Der Oberinspektor deutet auf den Gehstock seines Gegenübers. Inzwischen ist er noch einen Schritt nähergekommen. »Sie haben Rolf Rosenthal damit erschlagen. Im Sommer 1943. Ihren Prokuristen, Ihre rechte Hand. Einen Juden, den Sie selbst unter großer Gefahr jahrelang geschützt haben. Ich frage mich, warum Sie das getan haben.«

»Das frage ich mich auch, die ganze Zeit schon.« Der Bankier reibt sich mit der Rechten über die Augen. Er hat aber sein Monokel vergessen. Plötzlich segelt das runde Glas aus seinem Gesicht, ein Splitter Licht in der Luft, dann ist es verschwunden. Stave nutzt diese Ablenkung, um wieder einen Schritt zu wagen.

»Ich hätte nie gedacht, dass man in einer einzigen panischen Sekunde ein Leben zerstören kann. Oder sogar zwei.« Schramms Gesicht ist nun grau, die befehlsgewohnte Stimme klingt müde. »Ich habe Sie nicht angelogen: Die Büros im Reimershof hatte ich schon lange angemietet, um dort diskrete Geschäfte zu tätigen. Geschäfte, die gewissen Herren der Gauleitung oder gar in Berlin ganz sicher nicht gefallen hätten. Mitte 1939 fing ich an, dort auch meine Objekte zu verstecken.«

»Auch das Bronzeporträt der Anni Mewes.«

»Das schönste Stück dieser bunten Exilantenschar. Die Mewes habe ich sogar mal im Theater gesehen, als sie noch jung war.« Er lacht wehmütig. »Ich habe die Kunstwerke im Reimershof auf ein Regal gestellt. Hinter Akten verborgen. Nur die Mewes habe ich vor den Ordnern platziert. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dieses junge Frauengesicht im Dunkeln verschwinden zu lassen. Sentimentalität.« Der Bankier schweigt eine Zeitlang. Stave betet, dass die Windböen schwächer werden, die den dunklen, beschmutzten Mantel des Mannes über den Abgrund flattern lassen. »Im September 1941 gewährte ich dann auch Herrn Rosenthal Unterschlupf in den Büros.«

»Im September 1941?«

Schramm starrt ihn zornfunkelnd an. »Wo waren Sie, als die Juden, die noch im Reich lebten, den gelben Stern tragen mussten?«

Stave schweigt.

»Viele Juden sind von diesem Zeitpunkt an ins Konzentrationslager verschleppt worden«, erzählt der Bankier mit tonloser Stimme. »Herr Rosenthal hat in einer Herbstnacht 41 bei mir an die Tür gehämmert. Er war aus seiner Wohnung geflohen und in großer Sorge. Ich auch, wie Sie sich denken können. Ich habe jedoch nicht gewagt, ihn bei mir zu behalten. Was, wenn die Gestapo ihn entdeckt hätte? Wir sind kurz vor Morgengrauen von meiner Villa bis zum Reimershof gefahren. Dort hat Herr Rosenthal«, er sucht nach dem richtigen Wort, »sich dann eingerichtet.«

»Er ist untergetaucht?«

»So kann man das wohl nennen. Ich habe ihn mit Lebensmitteln versorgt, mit Kleidung, mit Zeitungen. Nicht, dass er deren Schlagzeilen gerne gelesen hätte.«

»Wer wusste davon?«

»Niemand. Die Verwandten von Herrn Rosenthal ahnten nichts, weil ich nie gewagt habe, mit der Familie Kontakt aufzunehmen. Die Angst vor der Gestapo, Sie verstehen das sicher. Kein Mitarbeiter wusste etwas, weil man sich ja nie sicher sein konnte, ob nicht doch ein Spitzel im Haus war. Die Reinmachefrau schaute einmal in der Woche in den Räumen vorbei, doch sie kam immer zur gleichen Zeit – Herr Rosenthal hat sich dann jedes Mal im Heizungskeller versteckt. Ich schaute ab und zu im Reimershof vorbei. Das fiel niemandem auf, denn ich hatte dort ja schon lange mein Büro.«

»Warum musste Rosenthal dann sterben?«

Schramm schließt für einen Moment die Augen. Zu kurz, als dass Stave hätte heranspringen können. »Weil ich den Kopf verloren habe. Beim ersten Nachtangriff im Juni 1943 regneten Brandbomben auf den Reimershof. Der Dachstuhl fing Feuer, auch die oberen Etagen. Das Gebäude war beschädigt – aber es war noch nicht so zerstört, wie Sie es jetzt hier unter uns sehen. Ich bin am nächsten Morgen dorthin geeilt. Einer meiner beiden Büroräume war verschwunden, mit ihm die Kunstwerke. Verborgen irgendwo unter Tonnen von Schutt. Der andere Raum war zur Hälfte zerstört, aufgerissen wie ein Pappkarton. Dort kauerte Herr Rosenthal, halb wahnsinnig vor Angst, weil er die Nacht praktisch hilflos im Kontorhaus verbringen musste. Das hatte ja keinen Schutzraum. Stellen Sie sich das vor: allein in einem riesigen Gebäude. Die Bomben. Brände überall. Er war mit seinen Nerven am Ende.«

»Hat er Sie angegriffen?«

»Nicht mit seinen Fäusten.« Schramm schließt in der Erinnerung erneut die Augen. Er schwankt. Stave wagt sich nur noch um Zentimeter näher heran. »Er stürzte auf mich zu, sobald er mich sah. ›Sie müssen mich fortschaffen, Herr Direktor!‹, schrie er. Ganz laut, immer wieder. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Wenn uns jemand bemerkte? Außerdem wusste ich nicht, wo ich Rosenthal verstecken sollte. Ich hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wie ich ihn ungesehen aus dem Reimershof hätte hinausschmuggeln sollen. Nach den Angriffen war die Stadt doch immer voll: Polizei, Feuerwehrleute, Luftschutzwarte, Ausgebombte. Da hätte ich nicht einfach mit einem Juden vorbeispazieren können.«

Stave erinnert sich an das Durcheinander nach den Bombennächten. An die Feuer und die Überlebenden, die wie betäubt durch qualmende Ruinen taumeln, an Blindgänger, Plünderer, an den widerlichen Gestank nach verbranntem Fleisch und aufgesprengten Abwasserkanälen.

»Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Aber es war, als hörte er mich gar nicht. Und dann, ganz plötzlich, wurde er irgendwie anders. Das hat mich noch viel mehr erschreckt. Rosenthal, der sonst immer sehr zurückhaltend war, ist trotz seines Klumpfußes durch das verwüstete Büro geeilt und hat einen Packen Briefbögen aus einem Schreibtisch geholt. Das Papier war angesengt, aber der Kopf war noch klar zu lesen. Mein Name, meine Adresse. ›Darauf werde ich Anzeige erstatten!‹, hat Rosenthal immer wieder geschrien. ›Ich schreibe der Gestapo und verrate ihr, dass Sie ‚entartete Kunst‘ horten, wenn Sie mich nicht sofort irgendwo verstecken!‹ Er war wahnsinnig vor Angst. Blind, in gewisser Weise. Leider habe auch ich keinen kühlen Kopf behalten. Plötzlich war meine Panik genauso groß wie seine. Der zeigt mich tatsächlich an, die Gestapo bricht mir die Knochen, das dachte ich. Ich wollte Rosenthal zur Vernunft bringen, wollte, dass er wenigstens aufhört, wie ein Wahnsinniger in der Ruine herumzubrüllen – mit all den Leuten auf der Straße, nur ein paar Meter weg. Da hob ich meinen Stock und schlug zu. Einmal. Ich wollte ihn wirklich nur zum Schweigen bringen. Wollte, dass er zur Besinnung kommt. Wie eine Ohrfeige, die man einer Hysterikerin verpasst, verstehen Sie?«

»Aber es war keine Ohrfeige.«

»Ich konnte hören, wie der Knochen brach«, gesteht Schramm. »Noch in der Sekunde, als ich zuschlug, habe ich es schon bereut. Zu spät. Rosenthal verdrehte die Augen und stürzte nach hinten über, wie vom Blitz getroffen. Plötzlich war überall Blut. Seine Beine haben unkontrolliert gezuckt, er hat mit seinen Schuhen den schweren Schreibtischstuhl umgestoßen, dann waren seine Füße schrecklich ruhig. Ich bin hinausgerannt, entsetzt von mir selbst.«

»Sind Sie noch einmal zurückgekehrt?« Stave ist jetzt so nah, dass er sein Gegenüber mit einer schnellen Bewegung greifen könnte. Doch er wagt es nicht, den Arm zu heben. Was, wenn Schramm springt, nachdem er ihn gepackt hat – und ihn mit in die Tiefe reißt? Er kann sich nirgendwo festhalten.

»In der darauffolgenden Nacht gab es den nächsten Angriff. Als ich mich danach wieder zum Reimershof gewagt habe, war dessen Inneres endgültig zerstört. Keine Spur mehr von meinen Büros, von meinen Kunstwerken – und von Rosenthal. Alles war unter Trümmern begraben. Ich bin nach Hause gegangen und habe versucht, die Sache zu vergessen. Nach und nach kam sie mir vor wie ein Alptraum, wie etwas Irreales. Das war nicht ich, der das getan hatte. Da war überhaupt nichts geschehen. Es ist erstaunlich, was der Mensch alles verdrängen kann, wenn er es sich nur lange genug einredet.«

»Aber irgendwann bin ich bei Ihnen aufgekreuzt und habe Ihnen ein Foto des Bronzekopfes vor Augen gehalten.«

»Und dann kam alles wieder. Die Erinnerung. Die Angst vor Entdeckung. Jetzt wühlen sie in den alten Sachen, dachte ich. Als Sie gegangen waren, musste ich nur ein paar Anrufe tätigen, dann wusste ich, dass man im Reimershof auch Rosenthals Leiche gefunden hatte. Ausgerechnet Dönnecke bearbeitete den Fall!«

»Aber er hat sich doch nie bei Ihnen gemeldet. Er hat überhaupt nicht richtig ermittelt. Er fürchtete sich mindestens so sehr vor Ihnen wie Sie sich vor ihm.«

»Sie fürchteten sich aber nicht vor mir. Nach und nach habe ich zwar geahnt, dass niemand von der Mordkommission sich für die Leiche interessiert, weil mich keiner von diesen Beamten je verhören wollte. Aber da war es zu spät: Sie waren da. Und die Erinnerungen waren wieder da. Und die Scham über das, was ich getan habe.«

»Ich war Ihnen auf der Spur. Aber ich hätte es Ihnen nie nachweisen können.«

»Das können Sie auch jetzt nicht. Das ist kein Verhör. Sie haben keinen Beweis, dass ich das alles je erzählt habe.«

Stave denkt einen Augenblick fieberhaft nach, ob er es mit einem Bluff versuchen soll, entscheidet sich jedoch fast sofort für die Wahrheit. »Das stimmt«, gibt er zu. »Ich habe nichts in der Hand gegen Sie.«

Schramm lächelt in schwachem Triumph. »Auch die Burschen von der Gestapo haben es nie geschafft, mich festzunageln«, flüstert er. »Aber dem eigenen Gewissen macht man nichts vor. Man entkommt seinen Erinnerungen letztlich niemals. Seit Ihrem Besuch muss ich wieder an Rosenthal denken. In meinen Träumen höre ich wieder sein Flehen, damals, in der Ruine. Ich habe ihn auf dem Gewissen, es hilft nichts, sich etwas anderes einzureden. Und dann muss man die Konsequenzen ziehen.«

Der Oberinspektor sieht sich noch einmal verzweifelt nach irgendetwas um, an das er sich klammern könnte. Nichts. »Wenn Sie jetzt springen, dann kann ich Sie nicht festhalten«, gesteht er. Er will beschwörend klingen, doch seine Worte kommen bloß gepresst hervor. Dann packt er mit der Rechten Schramms Mantel. »Wenn Sie jetzt springen, reißen Sie mich mit in die Tiefe.«

Der Bankier blickt ihn zornig an. »Machen Sie sich nicht lächerlich! Lassen Sie mich los. Ob ich jetzt springe oder später unter dem Fallbeil lande, das kann Ihnen doch einerlei sein. Sie haben die Lösung Ihres Falles. Ich habe endlich meine Ruhe.«

Staves Gedanken rasen. Dönnecke. Der Gestapo-Agent im Café. Der Nazi-Bürgermeister am gedeckten Tisch. Niemand von denen hat auch nur einmal schlecht geträumt. So viele Tote. Keine Strafe. »Sie sind einer von den Guten!«, stößt er hervor, weil ihm kein anderes Wort einfallen will. »Gehen Sie nicht«, fleht er. »Sie haben die Gestapo abgewehrt. Sie haben Juden geschützt. Sie haben Kunstwerke gerettet. Die Nazis haben Sie nicht zerstören können. Wollen Sie, dass die jetzt triumphieren?«

»Das ist mir gleichgültig«, erwidert Schramm müde.

Da lässt Stave ihn los.

Der Oberinspektor tritt zwei Schritte zurück. Schweiß rinnt ihm die Schläfen hinunter. Sein Herz pocht so stark wie nach einem Boxkampf. »Ich gehe wieder hinunter«, sagt er. Seine Stimme ist bloß noch ein Krächzen. »Und wenn ich unten bin, werde ich vergessen, was ich hier oben gehört habe. Den Reimershof. Den Bronzekopf. Rolf Rosenthal. Sie existieren nicht mehr für mich.«

Der Bankier sieht ihn fassungslos an. »Sie probieren wirklich jeden Trick aus«, flüstert er.

Stave schüttelt den Kopf. »Es ist mein Ernst. Das war kein Mord damals nach jener Bombennacht 1943, sondern ein Augenblick höchster Angst. Ein tragischer Fehler. Niemand wird ihn mehr gutmachen können. Und Sie sind schon gestraft, auch ohne einen Richterspruch.« Er weicht vorsichtig bis zur obersten Treppenstufe zurück, geht einen Schritt, dreht sich dann noch einmal um. »Und außerdem gehöre ich nicht mehr zur Mordkommission.«

Dann steigt Stave hinab. Schritt um Schritt. Die Angst im Nacken, einen gellenden Schrei zu hören und einen schrecklich dumpfen Aufschlag. Noch eine Stufe. Noch eine. Ihn schaudert es, vor Nässe, Kälte, Höhenangst. Noch eine Stufe.

Als er schon zwei Absätze hinuntergegangen ist, hört der Oberinspektor ein Geräusch. Er stockt, hält den Atem an, lauscht. Das Schleifen eines Gehstockes auf Stein. Das Knirschen von Ziegelstaub unter einer Sohle. Schwere Schritte auf der Treppe, irgendwo über ihm.

Da eilt Stave die Turmruine hinunter. Plötzlich fürchtet er den Abgrund nicht mehr.