Unbekannte Scheine

Montag, 14. Juni 1948

Am frühen Morgen verlässt Stave nachdenklich das Haus. Er hat einen Nachbarn im Erdgeschoss: Kurt Flasch, etwa vierzig Jahre alt, klein, nervös, dürr, die wenigen dunklen Haare quer über die Glatze gekämmt, eine in der Mitte gelötete Nickelbrille auf der Nase, die seine dunklen Augen wie unter Vergrößerungsgläsern leuchten lässt. Seine Gattin ist fast zwei Köpfe größer als er und mindestens doppelt so schwer, seine beiden halbwüchsigen Jungen haben ständig Flausen im Kopf. Ein Mann, dem die Familie die Lohntüte leerisst und der immer in Sorge lebt, ebenjene Tüte zu verlieren. Ein braver Beamter, der im März 1933 schnell in die NSDAP eingetreten und noch 1945 schnell von den Engländern in einem der ersten Entnazifizierungsverfahren wieder gecleart worden ist. Jemand, mit dem der Oberinspektor nie mehr als die üblichen Nachbarschaftsfloskeln gewechselt hat – bis zu jenem Wochenende. Denn Kurt Flasch ist Beamter bei der Landeszentralbank in Hamburg.

Also hatte der Kripo-Mann Sonntagmittag vor der Ahrensburger Straße 93 gewartet, weil er wusste, dass um diese Zeit Flasch von seiner allwöchentlichen »Herrenrunde« zurückkehrte, einem Frühschoppen in einer Eckkneipe, befeuert von billigem Bier und selbstgebranntem Schnaps. Vor dem Haus war er auf ihn zugetreten und hatte so getan, als sei es eine zufällige Begegnung gewesen. Er ist kein guter Schauspieler, aber Flasch war zu dieser Stunde schon nicht mehr so nüchtern gewesen, dass ihm etwas aufgefallen wäre. Der Nachbar hatte endlose Minuten gebraucht, um den Schlüssel aus seiner Hosentasche zu fummeln.

»Bald muss niemand mehr abschließen«, hatte Stave wie beiläufig bemerkt, während er die fahrigen Bewegungen des anderen beobachtete und sich zwingen musste, ihm nicht den Schlüssel zu entreißen und die Tür zu öffnen. »Am Tag X sind wir alle so ruiniert, dass sich ein Einbruch nicht mehr lohnt.«

Flasch hatte seine Bemühungen vorübergehend aufgegeben und den Schlüssel gehoben wie ein Lehrer seinen Stock. »Ab dem Tag X werden wir uns alle zusätzliche Schlösser kaufen müssen!«, erwiderte er mit leicht schleppender Stimme.

»Das neue Geld wird uns genauso wenig satt machen wie die alte Reichsmark.«

»Papperlapapp. Geld ist Vertrauen auf Papier. Niemand traut mehr den alten Lappen. Aber das neue Geld wird von den Amerikanern kommen, das ist solide. Und wenn die Leute erst wieder echtes Geld verdienen, dann werden sie auch echte Dinge produzieren und echte Dinge kaufen. Es geht aufwärts, Sie werden sehen. Das Schwarzmarktpack wird an unseren Türen kratzen.«

»Wann?«

Flasch hatte seinen Schlüssel nun ganz vergessen. Er blickte sich um, doch bei dem schlechten Wetter war die Ahrensburger Straße beinahe leer. »Im Mai haben in Bremerhaven amerikanische Frachter an einen besonders bewachten Kai angelegt. US-Soldaten haben 23 000 Holzkisten entladen. Sie sind sofort in acht Sonderzüge gebracht worden. Nach Frankfurt!«

Flasch hatte ihn triumphierend angesehen, doch dann bemerkt, dass Stave die Pointe nicht verstanden hatte.

»In Frankfurt steht doch die Zentrale der Reichsbank!«, war er fortgefahren. »Mit den größten Tresoren Deutschlands! Was wird wohl in diesen 23 000 Kisten sein? Schokolade?« Er lachte.

»In Frankfurt befindet sich auch das Hauptquartier der Amerikaner«, erwiderte Stave. »Das könnte ebenso gut Munition sein. Oder Dollarbündel für die Soldaten.«

Flasch tippte sich auf die Nase. »Ich bin jetzt lange genug bei der Landeszentralbank. Ich kann Geld riechen, selbst wenn es in Frankfurter Tresoren liegt.«

Dafür, dass du Geld riechen kannst, bist du ziemlich dünn, hatte Stave gedacht, aber sich jede Bemerkung verkniffen und seinem Nachbarn noch einen schönen Sonntag gewünscht – und dann die Tür für ihn aufgeschlossen.

Auf dem Weg zur Zentrale geht er im Geiste noch einmal das Gespräch durch. Wenn das neue Geld schon in Deutschland ist, dann wird es bald ausgegeben. Wie lange mag so etwas dauern? Noch ein paar Wochen? Ein paar Tage? Ein Jahr? Er kann sich nicht vorstellen, was es ändern sollte, einen alten Schein von einer Mark durch einen neuen Schein von einer Mark zu ersetzen. Warum ist der alte nichts wert und der neue doch? Andererseits: Als er neunzehn Jahre alt und gerade in die Polizei eingetreten war, war er gleich Milliardär geworden, mit seinem ersten selbst verdienten Geld: 1923 druckten die Notenpressen Reichsmarkscheine waschkörbeweise, sein Gehalt war wöchentlich ausgezahlt worden. Zuerst Millionen, dann Milliarden, dann Billionen. Ein Witz mit vielen Nullen. Eine Zeitung oder ein Ei, Pfennigartikel noch ein paar Monate zuvor, hatten plötzlich so viel gekostet, dass man mit dem Finger die Nullen nachzählen musste, um überhaupt festzustellen, ob es nur zehn oder schon hundert Millionen waren. Staves Stolz auf sein Gehalt war rasch zu zynischer Verachtung verlodert. Kinder hatten sich aus zusammengeklebten 1000-Reichsmark-Scheinen Drachen gebastelt, die Nachbarn seiner Eltern hatten mit Bündeln Ritzen in den Türen abgedichtet. Und dann war über Nacht eine neue Mark eingeführt worden – und alles war wieder normal gewesen. Normale Preise, keine Inflation, es war, als wäre das alles bloß ein böser Spuk gewesen. Der Oberinspektor hatte nie verstanden, warum das damals funktioniert hatte. Und er hatte Jahre gebraucht, um den Impuls zu unterdrücken, sein Geld sofort komplett auszugeben, bevor es die Woche darauf schon nichts mehr wert sein könnte. Wenn das 1923 geklappt hatte, mochte das 1948 auch wieder gut gehen.

Er verliert sich in Erinnerungen, während er mit kräftigen Schritten die Ahrensburger Straße entlanggeht. Aus manchen Ruinenhaufen wäscht der Regen braune, schmierige Ströme heraus, die über den rissigen Bürgersteig gurgeln. Er weicht ihnen aus, um seine Schuhe nicht zu ruinieren. An die chaotische Weimarer Republik denkt er, die ihm nie so schlimm vorgekommen war. Vielleicht, weil er seine jungen Jahre in ihr verlebt hatte. Mit Margarethe. Mit Karl, als der noch ein fröhlicher Junge gewesen war. Irgendwann wandern seine Gedanken zur Bombennacht 1943. Zur Kriegsgefangenschaft seines Sohnes. Zu Anna. Und irgendwann fällt Stave auf, dass der einzige Mensch, mit dem er am vergangenen Wochenende geredet hat, jener angetrunkene kleine Beamte der Landeszentralbank war, den er heimlich ausgeforscht hatte. So ist er erleichtert, als er endlich am bronzenen Elefanten vorbei das Portal am Karl-Muck-Platz aufstößt.

Noch auf dem Flur fängt Bahr den Oberinspektor ab. »Wir sollen zu Cuddel Breuer«, informiert ihn der Leiter vom Chefamt S.

»Ist der Chef so unzufrieden mit uns?«

»Dann wäre er ein sehr unzufriedener Mann. Er lässt alle Beamten antanzen.«

Etliche Dutzend verschlafene Beamte drängen sich bereits im größten Besprechungsraum der Zentrale. Einige Kollegen zeigen verknautschte Montagmorgengesichter und mehr, als es für diesen stickigen Raum gut wäre, stinken nach Schweiß oder Schnaps. Trotzdem öffnet niemand ein Fenster, denn der Sturm peitscht Regenschlieren über das Glas. Viele haben sich, wie Stave, nasse Mäntel über die Arme gelegt, weil sie keine Zeit mehr hatten, in ihre Büros zu gehen.

Cuddel Breuer kommt herein, er sieht frischer aus als alle Untergebenen. »Kinder«, ruft er, »wir machen einen Ausflug.«

Eine halbe Stunde später verteilen sich eine Hundertschaft Schupos und Dutzende missgelaunte Krimsches in nassen Mänteln um das Rathaus und das Gebäude der Landeszentralbank. Ein Klotz von einem Gebäude rechts neben dem Rathaus, solide wie ein gigantischer Tresor, hellgrau. Oben prangt im Giebel neben dem Wappen noch die Inschrift »Reichsbank« und, als wäre es eine Münze mit Emissionsdatum, die Jahre der Errichtung: »1914  17«. Darunter blicken fünf Steinfiguren grimmig auf den Platz, in ihrer Mitte ein Hansereeder, der ein Schiffsmodell trägt.

»So viele Polizisten standen nicht mehr vor dem Rathaus, seit der Führer in Hamburg gesprochen hat«, murmelt Bahr, der neben Stave getreten ist. Beide haben ihre Kragen hochgeschlagen und die Sommerhüte tief in die Stirn gezogen. Trotzdem spürt der Oberinspektor, wie sein Kopf langsam feucht wird und wie die Nässe an den Schultern durch den dünnen Mantel kriecht.

»Niemand interessiert sich für das Rathaus«, antwortet er. »Auch wenn Cuddel Breuer uns nicht gesagt hat, um was es geht – wir sichern die Landeszentralbank, nicht das Refugium des Bürgermeisters.«

»Der Tag X naht.«

»Ich möchte nur wissen, wie.«

Sie stehen an einer gusseisernen Wasserpumpe, vielleicht hundert Meter vom Bankgebäude entfernt. Der Wind peitscht Regen über den Platz. Auch aus der Alster und den nahen Fleeten steigt Feuchtigkeit auf und ein Gestank nach Schlamm und Fäulnis. Eine Straßenbahn rumpelt heran, hält mit kreischenden Rädern mitten auf dem Platz. Ihre blassgelbe und rote Lackierung leuchtet in der Nässe, die Fenster sind milchig beschlagen. Ein paar Dutzend Frauen und Männer springen aus den Türen, hasten, Hände auf Hüten und Kopftüchern, manche mit Regenschirmen in der Faust, über die freie Fläche in die Sicherheit eines Gebäudes. Wie früher bei Fliegeralarm, denkt Stave unwillkürlich. Kaum jemand achtet auf die Polizisten und Zivilisten, die, jeweils wenige Meter voneinander entfernt, eine weite Kette um den Platz bilden.

»Hoffentlich passiert bald was«, brummt Bahr, »ich werde langsam zu alt, um stundenlang in feuchten Schuhen irgendwo herumzustehen.«

»Wir bekommen Besuch«, erwidert Stave und tastet nach der Pistole im Holster.

Zwei englische Jeeps rasen heran und halten mit kreischenden Reifen links und rechts vom Gebäude der Landeszentralbank. Britische Militärpolizisten mit Maschinenpistolen springen heraus und postieren sich neben den Eingang. Cuddel Breuer geht auf sie zu, redet kurz mit einem Captain, kehrt zurück. Seine Anweisungen rufen sich die Polizisten die Länge der Kette nach zu: »Alle Straßen sind gesperrt. Die Straßenbahn ist gestoppt. Lasst niemanden mehr auf den Platz. Es wird nur ein paar Minuten dauern.«

Acht schwere Armeelastwagen rollen vor, bleiben mit laufenden Motoren stehen. Ihre Fracht ist unter den Planen der Ladeflächen nicht auszumachen. Noch mehr Militärpolizisten. Stave erkennt links von sich, wie zwei Schupos einige Frauen daran hindern, über den Platz zu gehen. In seiner Nähe ist niemand.

Aus dem Innern des Gebäudes kommen Bankmitarbeiter heraus. Der Oberinspektor erkennt Flasch, trotz der dunkelblauen Regenpelerine, die der sich übergeworfen hat. Die Beamten treten zum ersten Lastwagen, dessen Heckklappe fällt. Dann schleppen sie hölzerne Kisten von der Ladefläche bis zum Eingang, durch ein Spalier von Militärpolizisten, die nun ihre Maschinenpistolen im Anschlag haben.

Stave tritt näher hinzu. Die Kisten sind lang und schmal, aus groben Brettern. Auf den Seiten steht CLAY-W-OCF-OFD-279.

»Sieht wie eine Codenummer aus«, bemerkt Bahr. »Clay heißt Ton. Ob unsere Herren Bankiers mit Töpferkursen beginnen?« Er lacht.

Stave beobachtet die schmächtige Gestalt von Flasch, der mit einem anderen Beamten zusammen eine Kiste trägt, scheinbar mühelos. »So schwer scheint die Fracht nicht zu sein«, murmelt er.

»Also keine Münzen«, kommentiert der Leiter vom Chefamt S und klingt leicht enttäuscht. »Papiergeld, kistenweise. Acht Lastwagen für ganz Hamburg. Wie viel das wohl ist?«

»Hoffentlich nicht genug, um ein paar von unseren Klienten anzulocken.« Der Oberinspektor sieht sich nervös um.

Tatsächlich dauert es viel länger als die angekündigten wenigen Minuten, bis alle Lastwagen entladen worden sind. Zuletzt packen einige Militärpolizisten mit an, des Wartens offenbar überdrüssig. Erst am späten Vormittag schnaufen die Lastwagen davon. Stave ist inzwischen dankbar, dass es so stark regnet. An einem normalen, warmen Sommertag hätten sich längst Hunderte Neugierige eingefunden, aber das schlechte Wetter verscheucht die Gaffer besser, als es die Beamten gekonnt hätten.

Breuer lässt einige der jüngeren Kollegen zurück, dazu zwanzig Schupos. Auch einige Engländer bleiben neben der Landeszentralbank postiert. Alle anderen dürfen endlich abziehen. Bald kreischt die erste Straßenbahn in die Haltestelle. Schirm- und mützenbewehrte Gestalten hasten wieder über den freien Platz. Es ist, als wäre nichts geschehen.

Nachmittags tritt MacDonald in Staves Büro. Der Oberinspektor schüttelt ihm die Hand, überrascht, erfreut – und ein wenig zögerlich. »Früher konnte ich mir immer einreden, dass Sie vielleicht nicht kommen, weil es Ärger gibt, sondern weil Sie meine Sekretärin verführen wollen. Jetzt habe ich nicht mal mehr ein Vorzimmer, in dem eine Sekretärin sitzen und auf Sie warten könnte.«

»Also bleibt nur der Ärger. Tut mir leid, alter Junge. Ich bin nicht überrascht, dass Sie die Abteilung gewechselt haben: Irgendwann hat auch der tapferste Krieger genug von Kugeln und Leichen. Und seit einer Stunde bin ich sogar richtig froh darüber. Der Herr Zivilgouverneur möchte gerne in einem, sagen wir: sensiblen Fall mit dem Chefamt S kooperieren.«

»Diskret, selbstverständlich.«

»Ihren Vorgesetzten dürfen Sie informieren. Aber es muss nicht unbedingt morgen in der Zeitung stehen.«

»Ich ermittle schon in einem Fall.«

»Umso besser. Dann fällt es weniger auf, wenn Sie sich auch noch in einer anderen Sache umhören.« MacDonald nimmt Platz und zündet sich eine John Players an. Er hat es längst aufgegeben, Stave ebenfalls Zigaretten anzubieten. »Die britische Verwaltung hat gewisse Informanten, die uns mit Neuigkeiten versorgen.«

»Spitzel?«

»Zuverlässige Beobachter. Einer jener Herren war vor einer Stunde bei mir und hat mir das überreicht.« Der Offizier holt eine lederne Brieftasche aus seinem Uniformjackett und zieht zwei Geldscheine heraus: Der eine zeigt ein grün-gelbliches Rautenmuster, eine »5« in der Mitte, dazu den Aufdruck: »Fünf Pfennig – BANK DEUTSCHER LÄNDER«. Der zweite Schein ist blau, mit einem anderen Muster, eine Zehn-Pfennig-Note, dieselbe Bankangabe.

»Irgendjemand hat ein kleines Bündel dieser Scheine auf dem Schwarzmarkt am Goldbergplatz gegen Reichsmark verkauft. Heute Mittag«, fährt MacDonald fort. Er klingt, als erzähle er eine Anekdote, doch sein durchgedrückter Rücken und die angespannten Kiefermuskeln verraten dem Kripo-Beamten, wie aufmerksam er ist.

»Ich habe noch nie 5- oder 10-Pfennig-Scheine gesehen. Und noch nie mit einem solchen Muster und so einer Aufschrift«, erwidert Stave und lächelt, »aber ich kann mir denken, warum Sie hier sind.«

Der Lieutenant wirbelt mit der Linken eine Tabakwolke beiseite. »Deshalb bilden wir so ein gutes Team.«

»Seit Wochen wispern sich die Leute Geschichten vom Tag X und dem neuen Geld zu«, fährt der Kripo-Mann fort. »Heute Morgen habe ich mit allen Kollegen den Rathausplatz gesperrt, stundenlang. Armeelastwagen rollten heran, Kisten wurden in die Landeszentralbank getragen. Nicht gerade das, was ich eine Geheimoperation nennen würde. Tausend neue Gerüchte werden herumschwirren.«

»Und das nutzt ein cleverer Fälscher, um Fantasiegeld unter die Leute zu bringen. Spielzeugnoten. Aber unser Informant sagt, sie wurden als ›das Geld von morgen‹ verkauft. Die meisten haben das als Unsinn abgetan. Aber es gab ein paar Leichtgläubige, die diese Lappen tatsächlich gekauft haben.«

Stave denkt an einen Fall, der im vergangenen Jahr bei den Krimsches ebenso viel Fassungslosigkeit wie Heiterkeit verursacht hatte: Ein Steindrucker hatte in Hamburg mit seinen Geräten im Keller Fett- und Zuckermarken gedruckt und per Hand eingefärbt. Keine sehr geschickten Fälschungen, doch gut genug, um ihm in kurzer Zeit 430 Kilogramm Fett und 320 Kilogramm Zucker einzubringen, ein Vermögen. Und er erinnert sich an den Kleingeldmangel im Geschäft auf der Mönkebergstraße. »Keine schlechte Idee, Pfennige auf Scheine zu drucken«, murmelt er. »Das macht die Sache irgendwie glaubhafter, als würde man versuchen, 100-Mark-Scheine zu verschanzen.«

»Doch je glaubhafter dieser Fälscher ist, desto mehr Menschen werden seine Machwerke kaufen. Und dann? Sie werden irgendwann feststellen, dass sie das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Wieder werden die Menschen vom Geld enttäuscht sein. Die Reichsmark ist bloß noch ein Witz. Ich muss Ihnen nicht sagen, wie groß die Hoffnungen der Deutschen auf eine neue Währung sind. Und ich verrate Ihnen wohl auch kein Geheimnis meiner alliierten Vorgesetzten, wenn ich Ihnen sage: Ja, irgendwann wird eine neue Währung kommen. Aber welche Währung das ist und wann sie kommt, dass muss uns vorbehalten sein. Wir dürfen auf keinen Fall diese große Hoffnung enttäuschen und das Vertrauen verspielen.«

»Ein dreister Geldfälscher würde Ihnen die Sache vermasseln.«

»In Hamburg und vielleicht in der ganzen Trizone. Wenn die Leute einmal verunsichert sind, dann werden sie misstrauisch. Sie werden, wenn sie dann kommt, auch der neuen Währung misstrauen. Und wenn sie ihr erst einmal misstrauen, dann wird die neue Währung auch ein Fehlschlag. Ohne Vertrauen keine stabile Währung.«

»Klingt so, als würden Sie den Fälscher lieber heute als morgen im Gefängnis sehen.«

»Fassen Sie ihn, bevor uns der Kerl alles ruiniert.«

»Ich möchte mit Ihrem Informanten reden.«

MacDonald lächelt dünn. »Er wartet schon nebenan.«

Ein junger Mann, Anfang zwanzig, das weißblonde Haar millimeterkurz über der schrundigen Kopfhaut, eine Hornbrille, die zu wuchtig wirkt für die hageren Züge. Der Mann steht nicht auf, als Stave eintritt, und der Oberinspektor glaubt einen Moment, dass er aus Unhöflichkeit sitzen bleibt. Dann sieht er das direkt unter der Hüfte eingerollte und zugenähte Hosenbein und die Krücken, die neben dem Stuhl auf dem Boden liegen.

»Sie sind also der Geldbote«, begrüßt er ihn und setzt sich ihm gegenüber. MacDonald holt einen weiteren Stuhl aus dem Nebenraum, schließt die Tür, reicht dem Mann eine Zigarette.

»Heinz Suchardt«, stellt der sich vor und zündet sich die John Players an. Seine Hände zittern.

»Einer unserer zuverlässigsten Freunde«, ergänzt der Lieutenant beruhigend.

»Dann erzählen Sie mal«, fordert ihn Stave auf.

»Diese Scheine gingen heute gegen Mittag auf dem Goldbekplatz rum«, berichtet Suchardt. Mit jedem Wort wirkt er weniger nervös. Routinierter Spitzel, denkt Stave. »Sie können sich ja denken, dass die Schieber mächtig aufgeregt sind. Seit dem Morgen reden alle Leute nur noch über die Lastwagen neben dem Rathaus. Keiner weiß, wann es losgeht. Keiner weiß, was dann geschehen wird. Ändert sich nichts? Oder bricht der Schwarzmarkt zusammen? Oder blüht er noch mehr auf? Sie fragen drei Männer und bekommen vier Antworten. Manche Waren bekommen Sie gar nicht mehr, Zucker zum Beispiel. Wird alles gehortet. Die Hehler warten, bis das neue Geld kommt. Der Preis für eine Ami-Zigarette ist über Nacht von acht auf zwölf Reichsmark hochgegangen. Die Leute geben ihr Geld aus, als wäre es ihnen egal, dass sie morgen vielleicht pleite sind. Alle sind nervös.

Na, und plötzlich tauchen diese neuen Lappen auf. ›Das wird das Geld der Alliierten sein!‹, flüstert jemand. Einer kauft es. Dann denkt er, dass er übers Ohr gehauen worden ist und ihm wertlose Blüten angedreht wurden. Also verkauft er die Scheine weiter. Kein schlechtes Geschäft, denn da die Waren immer knapper werden, steigen die Preise. Und der Nächste verkauft es wieder. Und wieder. Irgendwann kamen diese beiden Scheine zu mir. Waren da schon ganz schön teuer.« Suchardt blickt Stave eindringlich an.

»Sie erhalten Ihre Belohnung«, versichert ihm der Oberinspektor. »Wer hat diese Scheine in Umlauf gebracht?«

»Keine Ahnung. Hab sie ja aus dritter oder vierter Hand gekauft.«

Beinahe hätte Stave Suchardt aufgefordert, mitzukommen und sich im Büro mit der Verbrecherkartei der Kripo mögliche Verdächtige anzusehen. Er erinnert sich gerade noch rechtzeitig an das amputierte Bein. »Ich hole Ihnen unsere Karten«, sagt er.

Kurz darauf wuchtet er eine Holzkiste herein: darin Hunderte anthropometrische Karten, der Stolz der Hamburger Krimsches, eingeführt schon 1894. Alle jemals in der Stadt ertappten Ganoven, dazu alle Menschen, nach denen gefahndet wird, sauber verzeichnet auf ein paar Quadratzentimetern Pappe. Foto frontal und von der Seite, Fingerabdrücke, letzte bekannte Adresse, bestimmte unveränderliche äußere Merkmale.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagt er.

»Aber wonach soll ich denn überhaupt suchen?«, erwidert Suchardt leicht verzweifelt. »Wenn ich doch gar nicht weiß, wer diese Blüten auf dem Goldbekplatz verteilt hat?«

»Lassen Sie sich inspirieren«, beruhigt ihn der Oberinspektor und lehnt sich zurück.

Er wartet fast eine halbe Stunde, während sich Suchardt langsam durch die Karteikarten arbeitet – und tatsächlich bleibt die Hand des Spitzels schließlich bei einer Karte hängen, er zieht sie hervor. »Ich weiß nicht, ob der etwas mit den Blüten zu tun hat«, erzählt Suchardt zögernd, »aber der treibt sich auf jeden Fall auf dem Schwarzmarkt herum. Und die Stammgäste auf dem Goldbekplatz wissen, dass er nicht sauber ist. Der hat schon mal gefälschte Scheine verschanzt.«

Stave nimmt ihm die Karte ab, auch MacDonald beugt sich vor. »Toni Weber«, murmelt er. Geboren 1903 in Berlin, die Polizeifotos zeigen einen dünnen Mann mit kurzen Haaren, der nicht grimmig oder verstockt dreinblickt wie die meisten Verbrecher, sondern erschrocken. »Ein Künstler«, liest der Kripo-Beamte weiter vor, »Maler, Grafiker, Bildhauer. Seit 1945 in Hamburg, letzte bekannte Adresse: eine der Ley-Hütten an der Langenhorner Chaussee. Ist Ende 1945 zu einer Geldstrafe verurteilt worden, als Hundertfünfundsiebziger.«

»Dieses Wort habe ich in meinem Deutschkurs nicht gelernt«, unterbricht ihn der Lieutenant.

»Paragraf 175 stellt homosexuellen Verkehr unter Strafe«, erklärt der Oberinspektor. »Eine Regel aus der Kaiserzeit. Die Nazis haben den Paragrafen verschärft, und in dieser Form gilt er immer noch.« Dann pfeift er anerkennend. »Weber hat dann 1946 ein halbes Jahr gesessen, aber nicht, weil er einem Jungen schöne Augen gemacht hat, sondern weil er Lebensmittelkarten der 40. Zuteilungsperiode gefälscht hat. Mit Pinsel und Tusche auf Papier.«

»Nicht die gleiche Technik wie bei den Geldscheinen jetzt«, gibt MacDonald zu bedenken.

»Trotzdem ein Mann, bei dem sich eine Befragung lohnt«, erwidert Stave.

»Bekomme ich jetzt meine Belohnung?«, fragt Suchardt.

Der Oberinspektor verschwindet in Bahrs Büro. Dem Chefamt S ist es nach langem internen Ringen vor einigen Monaten offiziell erlaubt worden, Spitzel mit beschlagnahmten Waren zu belohnen. Stave informiert seinen Vorgesetzten kurz über den Fall.

»Geben Sie dem Kerl ein Pfund Butter aus unserem Depot sichergestellter Waren«, ordnet der an. »Wenn es wirklich so wichtig ist, wie Ihr englischer Offiziersfreund behauptet.«

»Sehr großzügig.« Für ein Pfund Butter muss ein Arbeiter sechs Wochen lang schuften.

»Wir haben kaum noch Spitzel, die uns etwas stecken. Wie gesagt: Niemand nimmt uns mehr ernst. Da können wir großzügig sein. Was werden Sie als Nächstes unternehmen?«

»Ich werde einen glücklichen Spitzel mit Butter schmieren und nach Hause schicken. Und dann werde ich einen Spaziergang über den Goldbekplatz unternehmen.«

Eine Stunde später steht der Oberinspektor im Nieselregen am Goldbekkanal in Winterhude: ein trapezförmiger Platz, fünf- und sechsgeschossige, hell verputzte Gründerzeithäuser auf zwei Seiten, gegenüber ähnlich hohe, aber bescheidenere Mietskasernen aus Backstein; an der Westseite des Areals, nahe der Alster, ragt die verlassene Chemiefabrik Schülke und Mayr auf, feuchtigkeitsfleckige Ziegelhäuser mit leeren Fenstern, eingetretene Türen, eingefallene Dächer, ein kollabierter Schornstein. Gutes Versteck, denkt Stave, für Schmuggelware oder auch für die Schieber selbst, falls mal eine Razzia droht. Die professionellen Händler, die in der Zeitung als »Ernährungsschädlinge« geschmäht werden, sind leicht an ihren guten Regenmänteln und den teuren Lederschuhen zu erkennen. Dazwischen Kinder, Hausfrauen, Angestellte, ganz normale Hamburger. Stave ist schon so oft auf dem Schwarzmarkt unterwegs gewesen, als Beamter ebenso wie als Kunde, dass er glaubt, die Gepflogenheiten dort zu kennen, obwohl er bislang immer die größeren illegalen Märkte auf dem Hansaplatz und an der Reeperbahn aufgesucht hat.

Doch diesmal scheint ihm etwas anders zu sein, und er braucht einige Augenblicke, um den Unterschied zu erkennen: Die Menschen gehen schneller. Kein langsames, vorgetäuschtes zielloses Herumschlendern wie sonst, keine bloß halb verborgenen Gespräche, kein Gefeilsche unter Regenschirmen und glänzenden Umhängen, keine hastig aufgeschlagenen Mäntel, keine versteckten Waren, die durch flinke Finger von Aktentasche zu Aktentasche fliegen. Alle Personen sind raschen Schrittes unterwegs. Eine Nervosität liegt über dem Platz wie elektrische Spannung vor einem Gewitter.

Der Oberinspektor lässt sich im Gedränge treiben. Schnell glaubt er, die Ursache der Hektik zu kennen: Viele potenzielle Käufer, wenige Waren. Verschwunden der Bohnenkaffee, von dem ein Kilogramm bis letzte Woche noch 300 Reichsmark kostete, das Fünfzigfache des Vorkriegspreises. Verschwunden die unterschlagenen Forellen, verschwunden das Penizillin aus alliierten Beständen, verschwunden die aus der Sunlicht-Siederei herausgeschmuggelte Seife.

Was die Schieber noch anbieten, ist entweder sehr teure oder sehr billige Ware – oder sehr heiße. Ein junger Mann zupft Stave am Ärmel, öffnet seinen Mantel und deutet auf ein Dutzend Glühbirnen, die aus den extra eingenähten Innentaschen des Stoffes blitzen. Der Kripo-Beamte muss an einen Diebstahl auf dem Hamburger Bahnpostamt in der vorletzten Woche denken, als Packer, die nachts Briefsäcke auf Waggons laden sollten, zwei Drittel aller Glühbirnen in ihrer Halle aus den Fassungen geschraubt und verschanzt hatten. Er könnte den Kerl festnehmen, doch das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.

Er entdeckt eine Schreibmaschine für 12 000 Reichsmark. Eine ältere Frau, der Oberinspektor schätzt sie als Kriegerwitwe ein, verkauft eine Leica für 40 000 Reichsmark. »Mein Mann hat so gerne fotografiert und den Apparat immer gepflegt«, versichert sie leise. Anfängerin. Was würde Kienle tun, wenn er das sähe? Zuschlagen und kaufen? Es ist ein Schieber, der aus seiner Gesäßtasche lässig ein dickes Bündel zieht und der Frau einige abgegriffene Scheine reicht, um sich das Schnäppchen nicht entgehen zu lassen. Gut möglich, dass sie das letzte Erinnerungsstück an ihren Gatten verkauft hat für einen Stapel wertloses Papier.

Ein Junge verschanzt Asphaltstreifen, die er irgendwo aus einer Straße gekratzt hat. »Für das Dach«, erklärt er ernsthaft, als Stave ihn erstaunt darauf anspricht. »Das macht man über dem Feuer warm und streicht es auf die Pappe. Schon regnet es nicht mehr durch.«

Der Kripo-Mann wendet sich ab. Er sucht nach Toni Weber, dem Künstler mit seinen sehr speziellen Fertigkeiten, er hat die Karte mitgenommen und vergleicht hin und wieder unauffällig den einen oder anderen Mann mit den Fotos. Niemand. Er sucht nach gefälschten Geldscheinen oder Lebensmittelkarten. Vergebens.

Die einzige Überraschung erlebt Stave in der Nähe eines Arbeiters, der in Flaschen eine gelbe Flüssigkeit als »Bratöl« verkauft. Dort stößt er fast mit Kurt Flasch zusammen, dem Nachbarn aus der Ahrensburger Straße. Immer wieder kommt es vor, dass sich Kollegen oder Nachbarn auf dem Schwarzmarkt begegnen. Stets sind es etwas peinliche Zusammentreffen, als würden sich zwei Bekannte zufällig in einem Bordell über den Weg laufen.

»Ich dachte, Sie haben heute genug in der Landeszentralbank zu tun«, flüstert Stave erstaunt.

»Und ich hätte auch nicht vermutet, einen Oberinspektor der Kriminalpolizei auf dem Schwarzmarkt zu sehen«, gibt Flasch ebenso leise zurück.

»Die Ladung aus den Lastwagen ist verstaut?«

»So sprechen Sie doch leiser, Herr Oberinspektor!« Flasch blickt sich nervös um, obwohl Stave bloß gewispert hat. »Die Ladung ist dort, wo sie sein soll. Mehr darf ich aber wirklich nicht sagen, nicht einmal Ihnen. Hier spielen ja schon alle verrückt.«

»Und verschanzen zum Beispiel seltsame Fünf- und Zehn-Pfennig-Scheine, die nie jemand zuvor gesehen hat.«

Flasch scheint sich etwas zu entspannen. »Ach deshalb sind Sie hier? Ich nämlich auch. Der Herr Bankpräsident hat mich und einige Kollegen losgeschickt. Ihm sind da Gerüchte zu Ohren gekommen …«

»Sie sollen herausfinden, ob diese Scheine aus den Kisten herausgeflattert und bis zum Goldbekplatz geflogen sind?«

»Ich darf Ihnen wirklich nicht sagen, was in den Kisten steckt. Aber, in der Tat, wir sollen Geldscheine suchen.«

»Und?«

»Fehlanzeige. Wahrscheinlich falscher Alarm.«

»Bedauerlicherweise nicht.« Der Oberinspektor zückt seine Brieftasche und hält Flasch die beiden Noten unter die Nase.

Der wird blass. »Das sind eindeutig Fälschungen«, stammelt er.

»Das ist doch schon mal was«, murmelt der Kripo-Beamte und lässt die Blüten wieder verschwinden. »Wie viele Ihrer Kollegen bei der Bank sind losgeschickt worden? Wer weiß alles davon?«

Flasch hebt die Achseln. »Höchstens zwanzig Beamte.«

Stave wischt sich Regentropfen von der Stirn, sieht sich um und überlegt, wer alles schon von den Geldscheinen gehört, wer sie gesehen haben könnte. Auf dem Goldbekplatz sind, schätzt er, mindestens zweihundert Menschen. Zwanzig Beamte von der Bank. Ein paar Kollegen der Kripo. Eine unbekannte Zahl Engländer. Genug jedenfalls, um Gerüchte durch die ganze Stadt zu tragen. Aber auch genug, um die Geschichte zu verbreiten, dass diese seltsamen Scheine Fälschungen sind. Wenn sich das schnell herumspricht, wird man die Lappen für die dreisten Täuschungen halten, die sie sind. Dann wird niemand mehr diese Pfennig-Scheine verkaufen können – und das Vertrauen in das neue Geld wird nicht erschüttert. Hofft Stave.

»Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, dass auf dem Goldbekplatz lächerliche Blüten umgehen«, flüstert der Oberinspektor Flasch zu. »Reden Sie darüber auch mit den Kollegen. Je mehr Menschen von diesen nachgemachten Scheinen wissen, desto weniger fallen darauf herein.«

»Und Sie finden den Fälscher?«

»Das ist mein Beruf.«

Flasch blickt erleichtert drein. »Das wird den Herrn Präsidenten freuen.«

»Vielleicht sollte ich mir eine Flasche Bratöl leisten«, sagt der Oberinspektor, nun lauter.

Sein Nachbar schüttelt kaum merklich den Kopf. »Das können Sie höchstens auf eine Fahrradkette schmieren«, antwortet er, seine Stimme bleibt leise. »Das ist Torpedoöl, aus der U-Boot-Werft von Blohm & Voss. Knochenöl mit chemischen Zusätzen, sodass es bei allen Temperaturen flüssig bleibt. Wenn Sie das in Ihre Pfanne kippen, können Sie nach dem Essen Ihre Beine nicht mehr bewegen. Oder sie bekommen Probleme hier oben.« Er tippt sich an die Stirn.

»Danke für den Hinweis«, murmelt Stave und nimmt sich vor, einen Kollegen vom Chefamt S auf diesen Bratöl-Händler anzusetzen. Falls er in der verwaisten Zentrale noch einen Kollegen findet, der bereit ist, eine derartige Aufgabe zu übernehmen.

Tatsächlich wartet ein Beamter im Büro auf ihn – Hauptpolizist Ruge. »Da werden die Kollegen Augen machen, dass ein Schupo bei mir döst«, begrüßt ihn Stave.

»Welche Kollegen?«

»Schon gut. Wenn Sie aufkreuzen, dann gibt es einen neuen Fall. Um was geht es?«

»Um Ihren Fall, Herr Oberinspektor«, verkündet Ruge aufgeregt. Der Kripo-Beamte ist einen Moment erstaunt, weil er glaubt, dass sich die Geschichte mit den falschen Scheinen schon bis zu den einfachen Schupos herumgesprochen hat. »Die Kunstwerke in den Trümmern«, fährt Ruge fort und bemerkt nicht, dass Stave erleichtert ausatmet. »Ich habe mich erkundigt, wer die Räume Reimershof gemietet hatte, bis 1943.«

»Das gehört zu Ihren Aufgaben bei der Schutzpolizei? Wie haben Sie überhaupt davon erfahren?«

»Es waren Kollegen von der Schutzpolizei im Reimershof dabei, Herr Oberinspektor. Leichen finden wir ja öfter mal unter den Trümmern, aber ein Schatz ist selten in den Ruinen verborgen.«

»Das ist kein Schatz, das sind Kunstwerke.«

»Das meine ich ja. Da redet man halt im Kollegenkreis. Und auch über Ihre …« Ruge ringt um das richtige Wort, »… fachliche Veränderung«, endet er lahm.

»Die Beamten tratschen wie Fischweiber, weil ich nicht mehr bei der Mordkommission bin?«

»So kann man das sagen.«

»Und warum erkundigen Sie sich dann ohne Auftrag nach den Mietern des Reimershofes? Das ist mein Fall.«

Der Hauptpolizist hüstelt. »Ich will doch zu den Krimsches wechseln, Herr Oberinspektor. Und da Sommer ist und wenig passiert auf den Straßen, dachte ich, dass ich schon mal anfange mit Nachforschungen.« Ruge holt einen Zettel aus seiner Uniformtasche und faltet ihn umständlich auseinander. »Ich habe den ehemaligen Vermieter aufgetrieben«, erklärt er. »Und dann habe ich noch das Handelsverzeichnis von 1943 studiert. In den obersten beiden Stockwerken des Reimershofes war eine Flussschiffreederei untergebracht. Fast alle Etagen darunter hatte eine Kaffee-Import-Firma angemietet. Das Erdgeschoss hatte ein Bankier belegt.«

»Die obersten beiden Etagen wird die Brandbombe vernichtet haben. Da lagen die Kunstwerke nicht. Bei der Kaffee-Import-Firma werden die Geschäfte ab 1939 nicht mehr gut gelaufen sein.« Der Oberinspektor erinnert sich daran, dass Kaffeebohnen schon bei Kriegsbeginn rationiert worden waren.

»Den Firmeninhaber können wir sowieso nicht mehr befragen. Er ist im Hungerwinter 46/47 gestorben«, ergänzt Ruge.

»Bleibt das Erdgeschoss. War dort eine Bankfiliale untergebracht?« Der Oberinspektor fürchtet schon, er muss eine Hundertschaft Bereitschaftspolizisten losschicken, um die Ruine vor Plünderern zu schützen, die sich durch die Trümmer wühlen würden, sobald sich das herumspräche.

»Nein. Wenn ich die Unterlagen richtig verstehe, hat der Bankier die Räume gemietet, nicht die Bank.«

»Als Privatmann?«

»Vielleicht.«

»Wann?«

»Im Herbst 1937.«

»Mitten in der braunen Zeit. Und wir finden in den Trümmern Kunstwerke, die dem Kunstgeschmack der Nazis garantiert nicht entsprochen haben. Das klingt einfach zu schön, um ein Zufall zu sein.«

Ruge lächelt stolz. »Der Mieter von damals lebt noch: Doktor Alfred Schramm, Fährstraße 80 in Uhlenhorst.«

Stave nickt anerkennend. »Feine Gegend. Hart an der von den Engländern requirierten Zone rund um die Alster. Sieht so aus, als wäre unser Doktor Schramm gut durch den Krieg gekommen.«

»Seine Privatbank ist schon wieder eröffnet worden.«

»Die Engländer haben ihn also gecleart. Er hat das Entnazifizierungsverfahren unbeschadet überstanden, sonst hätte er keine Lizenz erhalten.«

»Nach allem, was mir der Vermieter des Reimershofes erzählen konnte, war es wohl so, dass dieser Schramm die Nazis mehr fürchten musste als die Engländer.«

»Schramm kann nicht Jude sein, sonst wäre sein Geldhaus arisiert worden.«

»Alte Hamburger Bankiersfamilie. Sieht so aus, als mochte er die braunen Kerle einfach nicht.«

Der Oberinspektor streicht sich nachdenklich über den Mund. »Ein wohlhabender Mann«, murmelt er.

»Womöglich ein Kunstkenner«, ergänzt Ruge.

»Und womöglich jemand, der genau jene Werke schätzt, die der Führer und der Klumpfuß Goebbels verabscheuten. Der die Kunst wegschließt, damit sie den Schergen vom Propagandaministerium nicht in die Finger fällt. Der sie in einem unauffälligen Büro in einem unauffälligen Kontorhaus versteckt, bis wieder bessere Zeiten anbrechen. Der aber nicht mit englischen Fliegerbomben gerechnet hat. Und der sich vielleicht freut, wenn man ihm nun ein paar gerettete Objekte präsentiert.«

»Fahren wir in die Fährstraße?«, fragt Ruge hoffnungsvoll.

Stave blickt auf seine Uhr. »Ich muss erst mit dem Staatsanwalt über den Fall reden. Doktor Ehrlich arbeitet oft bis in den späten Abend, aber ich will mein Glück nicht strapazieren. Morgen besuchen wir den Bankier. Sie und ich.«

Der Hauptpolizist schlägt die Hacken zusammen und dreht sich zur Tür.

»Ruge? Hat sich eigentlich noch ein Beamter beim Vermieter des Reimershofes umgehört?«

»Wer?«

»Jemand von der Mordkommission? Womöglich Dönnecke selbst?«

»Niemand, Herr Oberinspektor. Der Vermieter wusste nicht einmal, dass man in seinem Trümmerhaus einen Toten gefunden hat.«

»Und Sie haben ihn nicht zufällig auch nach der Leiche befragt?«

»Sollte ich das?«

»Wir sehen uns morgen.«

Selbst für den kurzen Weg zur Staatsanwaltschaft muss sich Stave den Regenmantel überwerfen. Und auf meinem Hut wird noch Moos wachsen, sagt er sich verdrossen. Der graue Sommer zermürbt die Lebensfreude, im Dauerregen erodieren selbst elementarste Regeln der Höflichkeit. Mordwetter. Zum Glück nicht mehr mein Geschäft, sagt er sich.

Doktor Albert Ehrlich bedenkt ihn über den Rand seiner Hornbrille hinweg mit einem langen Blick. »Sie sind schmaler geworden, Herr Oberinspektor. Noch schmaler.« Der Staatsanwalt fährt mit der Rechten über seinen eigenen Bauch, über dem der Hosenbund spannt. »Ein bürgerlicher Hüftring ist die Zierde des gesetzten Mannes. Ich arbeite mich mit englischem Gebäck an meinen Vorkriegszustand heran.«

»Danke, dass Ihr erster Satz nicht meiner Versetzung gilt«, erwidert der Kripo-Beamte.

»Sie sollten Ihre Antwort auf einen Pappkarton schreiben und bei passender Gelegenheit vorzeigen. Das schont die Stimmbänder. Also: Warum haben Sie genug von den Mördern? Wir waren ein gutes Gespann.«

»Das sind wir hoffentlich immer noch. Oder haben Sie sich nun ausschließlich auf Mörder und Nazis spezialisiert?«

»Letztere bilden eine Untergruppe der Ersteren, eine sehr große Gruppe. In der Tat: Die Hehler und Schieber überlasse ich gerne meinen englischen Schnellrichter-Kollegen.«

»Ich habe zwei Fälle«, erklärt Stave. »Der eine interessiert die Engländer, die Ihre und meine, sagen wir, Förderer sind. Der andere wird Sie interessieren.«

»Persönlich?«

»Es geht um Kunst.«

Ehrlich dreht sich im Stuhl um, betrachtet die Lithografie von Ernst Barlach an der Wand. Der Totentanz. Eines der wenigen Werke seiner von den Nazis geplünderten Expressionistensammlung, das er wiedererlangt hat. »Vielleicht tut auch mir ein wenig Abwechslung gut. Erzählen Sie«, fordert ihn der Staatsanwalt auf.

Stave berichtet zunächst von den seltsamen Geldscheinen, die auf dem Schwarzmarkt am Goldbekplatz aufgetaucht sind, und zeigt ihm die beiden Blüten. Ehrlich betrachtet sie nur kurz und schüttelt den Kopf. »Ich kann verstehen, warum sich unser gemeinsamer Freund MacDonald darüber Sorgen macht. Grüngelbe Fünf-Pfennig-Scheine – das ist nicht nur dreist, das ist geradezu peinlich. Jeder Fälscher, der ein wenig Berufsehre hat, nimmt sich doch Zehner oder Hunderter vor. Das ist ja schon beinahe eine Verhöhnung der Bemühungen unserer Besatzer.«

»Sie meinen, da verspottet jemand die Briten, indem er groteske Geldnoten unter das Volk wirft? So eine Art Sabotage?«

»Was sonst? Für eine einzige Zigarette müssen Sie auf dem Schwarzmarkt mehrere Mark ausgeben. Wozu soll sich jemand da die Mühe machen, Pfennig-Scheine zu erfinden? Was will er denn mit diesen Blüten kaufen? Tabakkrümel?«

»Jemand macht sich die Mühe des Drucks und geht auch das Risiko ein, erwischt zu werden, bloß um die Engländer zu verunsichern?«

»Bei MacDonald ist es dem Unbekannten jedenfalls gelungen. Bei Ihnen übrigens auch.« Ehrlich hebt beschwichtigend die Hände. »Ich werde den Fall übernehmen, wenn Sie mir jemanden liefern. Ich schnüre daraus eine Anklage, versprochen.«

»Das wird den Lieutenant freuen – und seine Vorgesetzten auch.«

»Ich tue ihm und Ihnen diesen Gefallen hauptsächlich deshalb, um mir auch den zweiten Fall anzuhören.«

Der Oberinspektor lächelt dünn und zieht einige von Kienles Aufnahmen hervor. »Diese Kunstwerke haben Trümmerfrauen bei Arbeiten im ausgebombten Reimershof gefunden.«

»Neben dem Skelett, das Dönnecke am Hals hat? Ich habe davon gehört.«

Ehrlich beugt sich dicht über die Schwarzweißaufnahmen, seine hinter den Brillengläsern eulenhaft vergrößerten Augen fixieren die Details. Kienles Bilder sind scharf, doch die Abzüge sind klein, um Papier und Chemikalien zu sparen.

»Das sind nicht zufällig Ihre?« Stave bemüht sich um einen möglichst scherzhaften Ton. Doch insgeheim hofft er, Ehrlich würde ihm nebenbei etwas über Annas Ermittlungen zu seinen verschollenen Bildern sagen. Aber sein Gegenüber schüttelt bloß den Kopf.

»Leider nicht«, murmelt er, »obwohl sie gut in meine Sammlung gepasst hätten. Ich kenne die Köpfe nicht, auch wenn sie mir vage bekannt vorkommen. Als hätte ich sie irgendwo schon einmal gesehen – nicht im Original, eher als Abbildung im Katalog oder auf einem Foto. Sieht nach expressionistischen Skulpturen aus. Keine Werke allererster Kategorie. Eher solider Mittelbau, wenn Sie verstehen, was ich meine. Objekte, die von Museen gekauft, aber nicht im Zentrum eines Raumes platziert werden.«

»An denen man als Besucher vorbeiläuft, den Blick auf ein Meisterwerk gerichtet?«

»Exakt. Plastiken, die sich auch ein Sammler mit einem Beamtengehalt hätte leisten können.«

»Und ein Bankier?«

Ehrlich blickt überrascht auf. »Ein Bankier, der seinen Namen verdient, verdient auch genug, um sich die ganz Großen leisten zu können. Wenn er Expressionisten liebt: die Werke des Blauen Reiters oder von der Brücke. Warum fragen Sie?«

»Sagt Ihnen der Name Doktor Alfred Schramm etwas?«

»Privat: Ja. Beruflich: Nein. Ein Hamburger Bankier, ein Förderer der Kunst und der Künstler, der Moderne sehr aufgeschlossen. Wenn man sich für Kunst interessiert, zumal für zeitgenössische Strömungen, dann ist die Welt auf einmal sehr übersichtlich. Ich weiß, dass Schramm sammelt und dass er wohl auch finanziell dem einen oder anderen Künstler unter die Arme greift. Begegnet bin ich ihm allerdings noch nie. Nicht in Museen oder Galerien – und auch nicht vor Gericht. Tadelloser Ruf.«

»Kein Nazi? Oder ein Nazi mit einem sehr guten Persilschein?«

»Für den war die braune Bande immer ein Proletenpack. Ich habe meine Informationen selbstverständlich nur aus zweiter Hand …«

Stave, der von den engen Verbindungen Ehrlichs zu britischen Offizieren weiß, die noch aus der Zeit herrührten, da er ins Exil nach England fliehen musste, nickt verständnisvoll.

»Aber«, fährt der Staatsanwalt fort, »Schramm hat eine Art eingeimpften Widerwillen gegen Hitlers Schergen gehabt, schon lange vor 1933. Ein Bankier in vierter Generation, konservativ, ja national gesinnt, aber kultiviert und durch und durch standesbewusst.«

»Dünkelhaft?«

»Manchmal rettet einen Dünkel vor den schlimmsten Entgleisungen. Schramm jedenfalls war in Hamburg einflussreich, er war wohlhabend, er verfügte über beste Geschäftskontakte nach Übersee, zudem war er so arisch wie nur irgendein SS-Standartenführer. Seine Geschäfte gingen nach 1933 sicherlich schlechter als davor, aber die Nazis haben doch nie gewagt, Hand an ihn zu legen. Allerdings gab es Gerüchte, die Gestapo habe sich für ihn interessiert, es soll sogar Akten über ihn gegeben haben. Die sind alle verschwunden, die Herren haben ja im Frühjahr 45 gründlich aufgeräumt, bevor die englischen Panzer einrollten. Schramm jedenfalls blieb bis zum Kriegsende ein angesehener Geldmann. Und ist es seither wieder. Eher mehr noch als je zuvor.«

»Ein Mann, den ich mir bei meinen Ermittlungen nicht zum Feind machen sollte?«

»Was könnte Schramm mit den Fundstücken aus dem Reimershof zu tun haben?«

»Er hatte im Kontorhaus eine Etage gemietet. Privat, nicht für seine Bank. Möglich, wenn auch unbeweisbar, dass die Kunstwerke dort untergebracht waren.«

»Dann wird er doch froh und Ihr Freund sein, nicht Ihr Feind.«

»Irgendetwas stimmt an der Sache nicht. Wenn Schramm auch nach 33 solche Kunstwerke sammelt, warum versteckt er sie dann nicht bei sich zu Hause? Er besitzt eine Villa an der Alster. Unzerstört und groß. Der ideale Platz, um Sachen in einem Speicher oder einem diskreten Wandschrank verschwinden zu lassen. Warum deponiert er die Objekte stattdessen in einer relativ kleinen Kontorhausetage, wo er viel weniger Platz hat? Wo er als Mieter auch nicht einfach Tresore in Wände setzen kann? Und obendrein noch in einem Viertel, das von den Engländern und Amerikanern regelmäßig bombardiert wird?«

»Aber vielleicht ist gerade so ein Büro das perfekte Versteck? Wer würde dort schon suchen?«

»Gut, das ist möglich. Wenn ein Versteck jedoch aufgedeckt wird, ist derjenige, der es einst anlegte, selten glücklich. Deshalb erkundige ich mich lieber vorher nach dem Einfluss des Herrn Doktor Schramm.«

»Das klingt, als könnte mich auch dieser Fall interessieren. Vorausgesetzt, dass es überhaupt ein Fall ist. Denn bislang haben Sie bloß einige beschädigte Kunstwerke zwischen Ruinen. Das gleicht noch eher der Arbeit eines Beamten im Fundbüro als bei der Kriminalpolizei.«

»Morgen werde ich mehr wissen.«

»Vielleicht schon heute Abend.« Ehrlich lächelt verschmitzt. »Sie sind kein großer Freund der modernen Kunst, Herr Oberinspektor?«

»Was das angeht, bin ich im 19. Jahrhundert stehengeblieben.«

»Dann schadet ein wenig Nachhilfe nicht. Heute Abend veranstaltet der Auktionator Herbert Nattenheimer eine Versteigerung alter und moderner Kunst sowie ausgesuchter Antiquitäten im Winterhuder Fährhaus. Sie werden dort mehr Objekte sehen als in einem Museum. Sie werden dort Käufer sehen, die sich für so etwas brennend interessieren. Und Sie werden sehen, welche Preise für Kunst geboten werden.«

»Die halbe Stadt liegt in Trümmern, die Leute schleppen sich mit eintausend Kalorien durch den Tag – und da veranstaltet jemand eine Kunstauktion?«

»Regelmäßig, mein lieber Herr Oberinspektor. Nattenheimers Versteigerungen sind ein gesellschaftliches Ereignis und unterhaltsamer als viele Varietéprogramme. Es ist Ihr neues Jagdrevier. Um acht Uhr fällt der erste Hammer.«

»Ich bin zu schäbig gekleidet.«

»Sie müssen ja nicht mitbieten. Reihen Sie sich einfach in den Kreis der Schaulustigen ein, Sie werden nicht auffallen. Nattenheimer hat immer ein großes Publikum.«

»Werde ich Sie dort treffen?«

Der Staatsanwalt klopft auf einen Aktenordner. »Ich habe bedauerlicherweise morgen früh eine Verabredung vor Gericht. Aber ich habe meine Augen und Ohren im Winterhuder Fährhaus. Falls eines der Werke aus meiner geraubten Sammlung dort zufälligerweise aufgerufen werden sollte, wird man mich umgehend informieren. Frau von Veckinhausen führt für mich noch immer private Nachforschungen durch.«

»Ich lasse mir die Sache durch den Kopf gehen«, erwidert Stave und erhebt sich. Plötzlich hat er es eilig, aus dem Raum zu kommen.

Er ist hungrig und müde, die klamme Kleidung klebt an seiner Haut. Er würde gerne etwas Warmes essen, ein heißes Bad nehmen. Einen anderen Abend. Wenn er es pünktlich bis zum Winterhuder Fährhaus schaffen will, muss er sich beeilen. Der Oberinspektor kann ein Stück weit mit der Straßenbahn fahren, danach geht er im Laufschritt weiter. Diesmal kümmert es ihn nicht, dass jedermann sein Hinken sehen kann. Er blickt auf seine Uhr. Auf dem Weg überquert der Kripo-Beamte den Goldbekplatz, im Regen und zur Abendbrotzeit nun fast verlassen. Bloß drei Mädchen stehen mitten auf dem Platz, zwei schwingen ein Springseil, das dritte hüpft und singt ein Lied, das BDM-Mädel gesungen haben, wenn sie durch die Straßen paradierten. Weiter auf der Sierichstraße. Er unterquert eine Brücke der Hochbahn: verrostete Stahlträger, dünn wie Unterarme, die Konstruktion sieht aus, als müsste sie einstürzen, sobald die erste Bahn darüberrattert. Tatsächlich ist sie schon in der Kaiserzeit errichtet worden, und Stave wundert sich wieder einmal, wieso im Bombenregen massive Bauten einfach kollabierten, während manche fragilen Werke, ja sogar einige Bäume oder Denkmäler unversehrt blieben. Oder Kunstwerke in Trümmerhäusern.

Das Winterhuder Fährhaus ist ein Ausflugslokal an der kastaniengesäumten Hudtwalckerstraße, direkt am Ufer der Alster: Jugendstil, ein Türmchen an der Ecke, ein verglastes Café am Bürgersteig. Hell erleuchtet wie ein Vergnügungsdampfer, Schatten hinter beschlagenen Fenstern. Das müssen Hunderte sein, vermutet der Oberinspektor erstaunt.

Er zwängt sich hinein, fünf Minuten vor acht Uhr. Miefige Luft, Dutzende trocknende Mäntel an den Garderobenhaken. Sein Herz schlägt bis zum Hals. Sein Blick schweift durch den Raum. Anna. Sie sitzt auf einem Holzstuhl in der letzten von zwanzig Reihen, die vor einem mit weißem Samt ausgeschlagenen Podium aufgereiht sind. Stimmengewirr, Zigarettenqualm, Parfumduft, Aufregung wie vor einer Premiere. Sie hat ihn noch nicht gesehen. Sie ist allein. Der Platz neben ihr ist noch frei. Stave springt, bevor sich im letzten Moment noch jemand anderer dorthin drängen könnte.

»Du?«, ruft sie. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen für einen Augenblick erschrocken geweitet, dann leuchten sie. Hoffentlich freut sie sich, denkt Stave. Wie schön sie ist. Ihr schlanker Körper, den er schon in den Armen halten durfte. Wie lange ist das her? Ihre glatten, schwarzen Haare, die wie Samt schimmern. Sie hat sie hochgesteckt, doch sie scheinen ihm noch länger zu sein als früher. Ob sie ihr bis zur Hüfte fallen würden? Er ist so durcheinander, dass er bloß stammelt: »Dein Haar ist lang geworden.«

Sie lächelt verwirrt. »Kein Friseur in der Stadt schneidet mehr die Haare, es sei denn, man schiebt Zigaretten über den Tisch. Nur Nattenheimer akzeptiert noch Scheine. Was machst du hier? Willst du auch deinen Sparstrumpf versilbern wie viele hier?«

Und was machst du hier?, hätte der Oberinspektor beinahe geantwortet. Die elende Eifersucht auf Ehrlich. Fang bloß nicht an, den Polizisten zu spielen, ermahnt er sich. »Ich bilde mich weiter«, antwortet Stave stattdessen und berichtet ihr in wenigen Sätzen von den Kunstwerken im Reimershof.

»Du bist nicht mehr bei der Mordkommission?«, unterbricht sie ihn.

»Das ist nichts mehr für mich.« Soll er ihr von der Schusswunde erzählen? Den Wochen im Krankenhaus? Von seinen Zweifeln? Zu dramatisch, irgendwie schämt er sich dafür vor ihr. Also belässt er es dabei.

»Gut«, antwortet sie. Nur ein Wort. Nicht einmal ein Lächeln. Doch Stave atmet durch und lehnt sich zurück. Das wird kein schlechter Abend, sagt er sich.

Das Raunen verstärkt sich, läuft wie eine Welle durch die Reihen, ebbt dann zu erwartungsvoller Stille ab.

»Nattenheimer«, flüstert Anna, als würde das alles erklären. »Sieh einfach zu. Wir reden später.« Sie hat ein Notizheft aus einer schmalen Handtasche gezogen – einer eleganten, ledernen Tasche, die Stave noch nie gesehen hat. Dazu eine getippte Liste. Ehrlichs Verzeichnis seiner geraubten Sammlung, vermutet der Oberinspektor. Doch er hält sich an das, was Anna ihm geraten hat, und schweigt.

Ein Mann springt mit elastischen Schritten auf das Podium, Anfang dreißig, eleganter Anzug. »Guten Abend«, ruft er, »ein herzliches Willkommen auch unseren Gästen aus anderen Zonen.« Die angenehm dunkle Stimme eines geübten Redners. »Allerdings«, der Auktionator lächelt entschuldigend, »wer ins Ausland reisen will, ist von der Versteigerung ausgeschlossen. Anordnung der Militärregierung.«

Er hebt das erste Schmuckstück hoch: »Gute, lupenreine Ware«, ruft er. Stave blickt fassungslos auf das Kollier in Nattenheimers Hand und fragt sich, wie solche Dinge noch im zertrümmerten Deutschland existieren können. »Fünfundzwanzig Brillanten, anderthalb Karat, Gold«, fährt der Auktionator mit schmeichelnder Stimme fort, »Gebote?«

Ein Moment der Stille. Niemand traut sich, das erste Angebot abzugeben. Schließlich hebt ein gelangweilt blickender junger Mann in der ersten Reihe die Hand. »Zehntausend!«, sagt er und klingt dabei fast gleichgültig. Für diese Summe müsste Stave die nächsten sieben, acht Jahre arbeiten. Wo hat der Kerl das Geld her?

Doch Nattenheimer lächelt bloß müde. »Dann lasst uns lieber Witze erzählen!«, ruft er. Ein paar Lacher im Publikum, Geraune.

»Elftausend!«, schreit jemand.

»Zwölf Mille.«

»Dreizehn.«

Bei neunzehntausend fällt der Hammer, Nattenheimer hat keine zwei Minuten gebraucht, um den Preis für das Kollier in die Höhe zu treiben. Nun holt er die nächsten Lose auf das Podium, Schlag auf Schlag, wie Nummern eines Varietékünstlers: siebzehntausend für einen Goldring, achtundzwanzigtausend für einen großen Brillanten. Bei den teuren Schmuckstücken sind es stets dieselben sechs, sieben gutgekleideten jungen Männer mit harten Gesichtern, die mit kühlen Stimmen Tausendersummen in den Raum werfen. Nach einer halben Stunde – der Oberinspektor hat es längst aufgegeben, die Zuschlagssummen im Geiste zu addieren, um abzuschätzen, wie viel Geld in diesem einen Raum versammelt sein muss – hat Nattenheimer seine Vorräte an Gold und Edelsteinen verhökert.

Jetzt holt er Silberbesteck hervor, mal eine ganze Garnitur, mal einen einzelnen Sahnelöffel. Plötzlich bieten andere Zuschauer mit, ältere Herren, Familienväter, junge Männer in nicht ganz so teuren Anzügen. Die Zuschläge sinken in den Tausenderbereich, in den Hunderter – und schließlich geht ein Buttermesser gegen das Gebot von einem halben Pfund Butter weg.

»Das entspricht 120 Reichsmark«, sagt Nattenheimer schmunzelnd. »Bietet jemand mehr?« Der Hammer fällt.

Zuletzt ruft er Bilder auf. Kitsch in Öl mit Goldrahmen, expressionistische Zeichnungen, das Aquarell eines Romantikers, zwei Marmorköpfe junger Mädchen aus dem 19. Jahrhundert – alles wird verkauft, jeder Stil, jedes Alter. Anna hat die Werke aufmerksam betrachtet, schüttelt schließlich kaum merklich den Kopf, als Nattenheimer nach zwei Stunden erschöpft und zufrieden das Podium räumt.

»Nichts von Ehrlichs Schätzen dabei?«, fragt Stave.

»Das war Nattenheimers fünfzehnte Auktion. Die Versteigerungen sind zu einer Art Spektakel geworden. Kein Hehler, der noch ganz bei Sinnen ist, würde geraubte Ware hier einliefern. Das wäre zu auffällig. Andererseits sind drei Viertel der Leute im Publikum Schaulustige, Anfänger. Man kann nie ausschließen, dass einer von denen auch mal etwas einliefert und dass dies für den Staatsanwalt interessant sein könnte.«

»Hast du schon etwas für Ehrlich gefunden?«

»Zwei Skizzen von Nolde. Auf dem Schwarzmarkt am Nobistor.«

»Zahlt Ehrlich dafür gut?«

»Mit seinen nützlichen Verbindungen.« Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Nützlich für meinen Beruf.«

Kunstwerke und Antiquitäten aus Trümmerhäusern zu bergen, zu restaurieren und an Schwarzhändler und Briten zu verkaufen. Höchst illegal. Sollte Anna von Veckinhausen jemals erwischt werden, könnte ihr ein englischer Schnellrichter bedenkenlos ein Jahr Gefängnis aufbrummen. Es sei denn, ein deutscher Staatsanwalt legt für sie ein gutes Wort ein.

»Und du?«, fragt sie. »Hat dieser Abend deinem Beruf genutzt?«

»Ich habe auch ein paar Kunstwerke aus Trümmern geborgen«, erwidert er. »Allerdings sah keines auch nur entfernt so aus wie das, was Nattenheimer gerade versteigert hat.«

»Der Mann ist der geborene Künstler. Wusstest du, dass er ausgebildeter Opernsänger ist? Bassbariton. Seinem Vater gehörte das Auktionshaus bis 1935. Dann haben die Nazis es geschlossen, aus ›rassischen Gründen‹. Irgendwie haben die Nattenheimers überlebt. Nach dem Krieg konnte er mit seinem Gesang nicht viel verdienen, also hat er es mit dem Geschäft seines Vaters probiert. Und siehe da: Der Handel brummt.«

»Die Leute werfen ihm ihre Geldscheine zu, als sei das Altpapier.«

»Das ist Altpapier. Wer Geld hat, investiert besser in Gold und Brillanten. Und wenn es dazu nicht reicht, dann wenigstens in ein Silberbesteck.«

»Oder in ein Buttermesser. Ich frage mich, wo die Menschen all das Geld herhaben. Bei manchen kann ich es mir denken.« Der Oberinspektor deutet auf zwei junge Männer, die sich mit Nattenheimer hinter dem Podium unterhalten und offenbar Formalitäten erledigen. »Die Könige des Schwarzmarktes. Aber wer sind die anderen?«

»Die Könige der Nazizeit.« Anna lacht bitter auf. »Da haben ja viele nicht schlecht verdient, vorausgesetzt, man kannte die richtigen Leute.«

»Oder man war selbst einer der richtigen Leute.«

»Hier sitzen tausend Jahre Mitgliedschaft in der NSDAP auf den Stühlen. Jedenfalls sind längst nicht alle Sparstrümpfe im Bombenhagel verbrannt. Da liegen noch genügend Reichsmarkscheine herum, die darauf warten, in echte Wertsachen eingetauscht zu werden.«

»Sehr solide«, murmelt Stave, »und so angenehm spurenlos. Ein Silberbesteck komplett mit Quittung vom Auktionator und mit dem Beleg vom Finanzamt, dass man seine fünfzehn Prozent Steuer brav entrichtet hat. Und schon gibt es keine Verbindung mehr zu deinen Reichsmarklappen und zu der Frage, wie du sie einst verdient hast.«

»Aber du bist nicht hier, um alten Reichsmarkscheinen nachzuspüren?«

»Alten Kunstwerken. Oder eher: nicht wirklich alten Kunstwerken. Herrenlosen Kunstwerken. Lass uns hier noch einen Kaffee trinken. Dann reden wir über meinen Fall.« Und vielleicht auch über uns, hofft er, wagt es jedoch nicht, das auch nur anzudeuten.

Sie schlendern in den Nebenraum an einen der wenigen freien Tische. Viele Gäste der Versteigerung sitzen hier, bemerkt Stave – aber niemand von den gut gekleideten Herren, die Gold oder Edelsteine erstanden haben.

»Einen Kaffee«, bittet Anna die dünne, verschwitzte Kellnerin.

»Bohne oder Ersatz?«

»Ersatzkaffee.« Sie lächelt ihren Begleiter an. »Oder hast du eine Gehaltserhöhung bekommen?«

»Zwei Ersatzkaffee«, bestellt Stave. Er zieht die Fotos aus dem Reimershof hervor und erklärt ihr in wenigen Worten seine Nachforschungen.

»Das hätte ich gerne gefunden«, murmelt Anna und studiert die Bilder eingehend.

»Du kennst die Werke?«, fragt er hoffnungsvoll.

»Noch nicht. Expressionismus, zwanziger Jahre wahrscheinlich. Solide. Nicht das, was bei englischen Offizieren hoch im Kurs steht. Oder bei meinen Kunden vom Schwarzmarkt. Aber es gibt wieder Kenner, die sich dafür interessieren.«

»Wertvolle Stücke?«

»Wer kann das jetzt noch sicher sagen? Du warst ja gerade dabei, wie jemand für ein Buttermesser mehr als einen Monatsverdienst hingelegt hat. Aber wenn wir wieder echtes Geld bekommen sollten, ist der Spuk vielleicht vorbei – wer würde dann noch seine kostbaren Scheine für einen beschädigten Betonkopf ausgeben? In der Weimarer Republik haben solche Plastiken ein paar Hundert oder Tausend Reichsmark gekostet.«

»Und danach?«

Sie runzelt die Stirn. »So naiv bist selbst du nicht. Für die Nazis war das ›entartete Kunst‹. Also unverkäuflich, außer ins Ausland.«

»Ins Ausland?«

»Die Nazis haben viele Werke, die sie aus den Museen gerissen oder Sammlern gestohlen haben, über Galerien und Auktionshäuser in London, Paris oder der Schweiz verscherbelt. Sie haben diese Schätze so gründlich geplündert wie später die Rote Armee.«

Der Oberinspektor nippt an seinem Kaffee. Fade, aber wenigstens heiß. Der Reimershof liegt direkt an einem Fleet, mit einer unauffälligen Schute ist von dort aus jedes Schiff im Hafen zu erreichen. Der Bankier hatte sicherlich beste Verbindungen ins Ausland, was eine der Ursachen dafür war, dass ihn die Gestapo in Frieden gelassen hat. Wollte er die Sachen schmuggeln und haben ihm nur ein paar Brandbomben einen Strich durch die Rechnung gemacht? Werke, die in Deutschland plötzlich unverkäuflich waren, aber bei Sammlern in Übersee gute Preise erzielt hätten? Vielleicht ein kleiner Ausgleich für das ab 1933 erlahmende Geldgeschäft? Aber wie wäre Schramm an diese verfemten Werke gekommen? Womöglich gehörten die Köpfe niemals Schramm, sondern Museen oder Sammlern. Leuten, die nun Fragen stellen würden, wie ihre Schätze in die Trümmer des Reimershofes gelangt sein könnten. Stave denkt an Ehrlichs Hartnäckigkeit, an seine freundliche Unerbittlichkeit. Der Staatsanwalt hat seine Sammlung zusammen mit seiner Frau aufgebaut – einer Frau, die von den Nazis später in den Selbstmord getrieben wurde. Ehrlich geht es nicht um Geld, ihm geht es um Erinnerungen. Wer ihm die gestohlen hat, dem wird er zum gnadenlosen Feind. Wird interessant werden, sagt er sich, den Bankier morgen zu befragen.

»Kennst du einen Doktor Alfred Schramm?«

Anna schüttelt den Kopf. »Ein Verdächtiger? Oder ein Opfer?«

»Das eine schließt das andere nicht aus.« Er berichtet ihr von dem, was er über den Bankier erfahren hat.

»Darf ich die Fotos behalten?«

Stave reicht ihr einen seiner wenigen Abzüge. Sie steckt ihn in ihre elegante Handtasche.

»Eine Neuerwerbung?«, fragt Stave und deutet auf die Tasche.

Einen Moment lang errötet sie wie ein junges Mädchen, das sich ertappt fühlt. »Im Gegenteil«, gesteht sie und streicht über das weiche, braune Leder. »Die gehört mir schon seit Jahren. Sie ist fast das einzige, was ich bei meiner Flucht retten konnte. Absurd, welche nutzlosen Dinge man mit sich schleppt, nicht wahr?«

Stave blickt auf die Handtasche und erstarrt. Anna von Veckinhausen. Auf dem Leder ist in Gold ein Monogramm eingestanzt: »A.v.G.« Ihn schwindelt. Wäre dies ein Verhör, würde er sie nun auf dieses »G« ansprechen. So aber sitzt er nur da, als habe ihm jemand einen Schlag verpasst.

 »Ich werde mich ein wenig umhören«, fährt Anna fort, die seine Verwirrung nicht bemerkt hat. »Irgendjemand wird diese Köpfe schon einmal gesehen haben.«

Staves Herz klopft bis zum Hals. Mühsam verbannt er die Enttäuschung aus seiner Stimme. Eine Enttäuschung darüber, dass sie ihm so viel von ihrer Vergangenheit verschweigt. Angst. Eifersucht. Und doch auch eine wilde, unbezwingbare Hoffnung. »Dann sehen wir uns wieder?«

»Ich werde dir sagen, was ich herausgefunden habe. Im ›Fiedler‹. Sagen wir: um fünf Uhr? Kannst du mich jetzt nach Hause bringen? Bald ist Sperrstunde, und ich bin zu müde, um mich abzuhetzen.«

Der Regen hat sich verausgabt. Die Wände der ausgebombten Häuser glänzen noch feucht, die Luft ist kühl und schwer, der Abendhimmel leuchtet dunkelviolett durch leere Fensterrahmen. Anna hakt sich nicht wie früher bei ihm ein, sondern schlendert eine Armlänge neben ihm durch die halbdunklen Straßen. Stave ist trotzdem dankbar, ihren Duft einzuatmen. Wenn sie in den Lichtkreis einer der wenigen funktionierenden Laternen treten, schimmert ihr Haar.

Sie wechseln nur wenige Sätze. Kein Wort über ihre gemeinsamen Tage, nichts über seinen Sohn Karl. Er hütet sich, ihr Fragen zu stellen, will nicht, wie so oft, den Polizisten spielen: Was machst du? Triffst du dich oft mit Ehrlich? Oder hast du jemand anderen kennengelernt? Was bedeutet »G«? Keine Frage dazu, auch wenn es ihn quält. Sei einfach bloß ein Mann, der an der Seite einer schönen Frau durch eine nächtliche Stadt spaziert.

Nach anderthalb Stunden stehen sie vor der Tür zu ihrer Kellerwohnung in der Röperstraße in Altona. Die Elbe schimmert wie ein graues Band hinter dem Ende der Straße. Ein Fischerboot dampft langsam den Strom hinauf bis zur Anlegestelle an den Lagerhäusern von Altona, der bittere Kohlequalm aus seinem Schornstein weht bis vor das Gebäude.

»Vielen Dank für den Geleitschutz«, sagt sie.

»Anna …« Stave fällt plötzlich kein vernünftiges Wort mehr ein.

Sie lächelt, beugt sich vor und küsst ihn auf die Wange. »Du solltest dein Gehalt in Rasierklingen anlegen«, flüstert sie, »bevor das Geld gar nichts mehr wert ist.«

»Schon geschehen.« Er hält ihr die Tür auf, aus dem Treppenhaus schlägt ihnen muffige Luft entgegen.

»Ich melde mich wieder.«

»Heute ist mein Glückstag«, erwidert Stave und schließt behutsam die Tür hinter Anna, damit sie nicht krachend ins Schloss fällt und alle Nachbarn weckt. »Das ist ernst gemeint«, setzt er hinzu, doch da kann sie ihn schon nicht mehr hören.