Der geschenkte Nachmittag

Erst zum Abend haben sich MacDonald und er bei Veit Harlan angekündigt. Der Oberinspektor verharrt lange in der Röperstraße, so lange, bis er hinter den Vorhängen der Wohnung im zweiten Obergeschoss eine Bewegung wahrnimmt. Jemand beobachtet ihn. Da fährt er davon, verwirrt, glücklich und ohne Ziel. Zurück in die Kripo-Zentrale? Über die leeren Gänge gehen, auf Akten starren, die ihm Antworten verweigern? Die Stunden in seiner stillen Wohnung verstreichen lassen?

Ohne dass es ihm selbst bewusst ist, biegt er rechts auf die Palmaille, radelt nur Minuten später – wie schnell er plötzlich ist – über die Reeperbahn, die mittags im Regen grau und trist und verlassen ist. Über das Heiliggeistfeld nach Norden, vorbei an den wuchtigen Hochbunkern, schwarz eher als im üblichen Grau, weil die Feuchtigkeit der letzten Tage tief im Beton steckt. Planten un Blomen, die Wege im Park schlammige Pfade, so tief eingefurcht, dass sein Lenker schlackert. Der Bahnhof Dammtor und dahinter: die Universität.

Stave will einen Kunsthistoriker auftreiben, der ihm vielleicht etwas über Toni Weber erzählen kann. Er gesteht sich selbst nicht ein, dass ihn noch ein zweites Motiv an diesen Ort treibt, eine so verletzliche Hoffnung, dass er sie nicht einmal klar zu denken wagt, aus Angst, sie könnte zerfallen.

Auf der Wiese vor der Universität muss er absteigen: Zwei ältere Männer treiben ein Paar Ochsen an, das einen schweren Eisenpflug durch den Boden zieht. »Kartoffeln für die Herren Studiosi«, ruft ihm einer der Männer zu, als er seinen erstaunten Blick bemerkt. Der schwere Duft frisch aufgeworfener Erde. Wann hat er einen so ländlichen Geruch zuletzt eingeatmet? Langsam bereut er, dass er nicht an ein Schloss und eine Kette gedacht hat. Er legt sich den Rahmen des schweren, holländischen Fahrrades über die Schultern und betritt die unterste Treppenstufe zum Hauptgebäude der Universität: ein aus dem Leim geratener Rokokopavillon, helle Steinsäulen, grauer, geriffelter Beton, was ihm aber erst auf den zweiten Blick auffällt. Ein Bau aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich Beton mit falscher Vergangenheit maskierte. Der Oberinspektor, der nie studiert hat, fühlt sich klein und abgewiesen.

Über dem Eingangsportal glänzt die Inschrift: »Der Forschung / Der Lehre / Der Bildung«. Früher wäre Stave das pathetisch vorgekommen. Nun aber, im Angesicht der Trümmer und des Ochsenpfluges vor den Treppen, empfindet er es als ungeheuer ernsthaftes Versprechen.

Das Innere ist düster und zugig, ihn weht ein Geruch nach alten Büchern und Betonstaub an. Er lässt das Rad beim vergebens protestierenden Pförtner in der Loge stehen. Studenten drängen sich an ihm vorbei, als er sich umblickt, um sich zu orientieren: Jungen und Mädchen, in abgewetzten Strickjacken und zerschlissenen Hosen, manche mit Aktentaschen oder Schreibheften in Händen, andere mit Schultornistern. Auffallend vielen Studenten fehlt ein Arm, ein Bein, ein Auge. Gedämpfte, ernsthafte Gespräche, kein Lachen. Niemand beachtet ihn. Ein Kloster, denkt Stave, bevölkert von fanatisch strebsamen Mönchen.

Er muss sich durchfragen, bis ihm jemand einen Hörsaal zeigt, in dem Professor Christian Kitt eine Vorlesung hält: »Tendenzen der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts«. Der Oberinspektor schlüpft hinein. Am Pult ein älterer, hagerer Mann, dunkle Haare, grauer Bart, Nickelbrille. Früher hätte er bei seinem Vortrag vielleicht großformatige Reproduktionen gezeigt oder Lichtbilder an die Wand geworfen, nun bleibt ihm bloß, bei passender Gelegenheit einen zerschlissenen Kunstkatalog in die Höhe zu halten. Stave kann kaum etwas von den Bildern erkennen – was nicht weiter schlimm ist, denn er versteht auch kaum etwas vom Vortrag des Professors. Der Gelehrte benutzt Begriffe, die er noch nie gehört hat. Und selbst nach einer Viertelstunde weiß der Kripo-Beamte nicht, worum es in dieser Vorlesung geht. Doch die etwa zwei Dutzend Studenten schreiben eifrig mit – viele auf alten Rechnungen oder den Rückseiten von Akten, weil sie kein Geld für Notizhefte haben. Der Oberinspektor fragt sich, ob es eine gute Idee ist, diesen Professor verhören zu wollen.

Trotzdem wartet er das Ende der Veranstaltung ab, lässt die Studenten aus dem Hörsaal gehen, ignoriert ihre neugierigen Blicke und stellt sich schließlich dem Forscher vor.

»Ich hätte gerne einige Auskünfte über moderne Künstler und ihre Sammler«, beginnt er.

»Seit 1933 interessiert sich die Polizei für moderne Kunst«, erwidert Kitt, nicht unfreundlich im Ton, doch mit abwartendem Blick. Ein Exilant, vermutet Stave, erst nach 1945 zurückgekehrt.

»Was wissen Sie über Toni Weber?«

»Ich kenne den Namen. Mehr nicht.«

»Das ist alles? Sie sind doch Experte?«

Kitt seufzt und bedenkt ihn mit einem Blick, den Gelehrte für Vollidioten reserviert haben. Der Kripo-Beamte hätte nicht übel Lust, ihn auf der Stelle zu verhaften. »Wissen Sie, was von der Kunst der Moderne noch übrig geblieben ist? Ich meine, in den Köpfen der Studenten? Nichts. Schlimmer: weniger als nichts. Völlig falsche Vorstellungen, vergiftete Vorstellungen. Kann man etwas nachschlagen? Von den 600 000 Bänden unserer Universitätsbibliothek haben zwei Drittel die Bombenangriffe nicht überstanden. Das letzte Drittel ist auch nur das, was die Nazis übrig gelassen haben. Die haben schon zehn Jahre vor den englischen und amerikanischen Fliegern Bücher verbrannt. Wer heute moderne Kunst studieren, gar zu ihr forschen will, der muss alles nachholen. Der muss mit den Meistern beginnen: Munch, van Gogh, Klee, Picasso, Matisse, Dix, Kokoschka, ich könnte Ihnen Dutzende nennen. Erst wenn wir deren Werke wieder erfasst haben, was Jahrzehnte dauern wird, dann können wir uns den minderen Talenten zuwenden.«

»Weber ist also ein minderes Talent?«

»In jedem Stamm gibt es viele Indianer, aber nur wenige Häuptlinge. Es lohnt sich nicht, über die Indianer zu forschen, wenn man nicht einmal die Häuptlinge kennt.«

Stave erinnert sich an die Wandmalereien im Haus des Schiebers an der Ostsee und fragt sich, was ein Herr Professor Kitt wohl dazu sagen würde. »Lohnt es sich, über Sammler zu forschen?«, fragt er, schon ohne große Hoffnung.

»Noch weniger.«

»Doktor Alfred Schramm?«

»Ah«, murmelt der Gelehrte und schnalzt mit der Zunge, als hätte er ein raffiniertes Abendessen erwähnt. »Ein Mäzen. Ein Freund des Warburginstitutes.«

»Sie kennen ihn?«

»Flüchtig. Ich war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut, als Schramm dort gelegentlich vorbeisah. Er förderte unsere Arbeit. Ideell. Und«, Kitt räuspert sich, »auch materiell. Aber ich war seinerzeit nicht … etabliert genug, um von Doktor Schramm wahrgenommen zu werden. Und dann war ich ja einige Jahre nicht in Deutschland.«

»Gibt es einen Kollegen, der mir mehr über Schramm verraten könnte?«

»Da gibt es mehrere, aber nicht in Hamburg. Die Mitarbeiter des Warburginstitutes, die fähigeren jedenfalls und diejenigen, die sich für die Kunst interessierten, die auch Schramm interessierte, die gingen nach 1933 ins Ausland. Die meisten lehren heute in Oxford oder irgendwo in Amerika. Außerdem war Schramm sowieso nicht so häufig im Institut und fast nie in der Universität. Er hatte dafür seine Leute.«

»Seine Leute?«

Kitt räuspert sich. »Doktor Schramm ließ einige seiner Mitarbeiter als Gasthörer der Philosophischen Fakultät einschreiben, damit sie Kunstgeschichte und verwandte Fächer belegen konnten. Eigentlich waren das Prokuristen und solche Leute.« Kitt gelingt es nicht, seine Verachtung ganz zu verbergen. »Aber er vertraute ihnen. Und er wollte, dass sie ihn auch in Kunstdingen berieten. Oder vielleicht wollte er sich in seiner Bank auch bloß mit Mitarbeitern umgeben, mit denen er nicht nur Kredite und Bilanzen bereden konnte, sondern auch eine intelligente Konversation zu pflegen vermochte. Jedenfalls waren stets ein, zwei Herren aus dem Bankhaus hier in diesem Hörsaal, in dem Sie und ich gerade stehen. Die Dozenten sahen das nicht so gerne, aber Herr Doktor Schramm war nun mal ein Mäzen, da sagt man nicht nein.«

»Schickte Schramm auch Juden?«, fragt Stave, dem plötzlich eine Idee kommt.

Der Professor blickt ihn einen Moment lang an, als hätte er den Namen eines peinlichen Verwandten ausgesprochen. »Vermutlich. Es gab da immer gewisse Gerüchte über eine Art Judenfreundschaft des Herrn Doktor Schramm. Und einige seiner Mitarbeiter erschienen schon im Frühjahr 1933 nicht mehr an der Universität. Das lässt gewisse Rückschlüsse zu, nehme ich an.«

»Namen?«

»Das waren doch bloß Gasthörer!«, ruft Professor Kitt, als würde das alles erklären.

»Danke«, murmelt Stave und strebt zum Ausgang. Könnte der unbekannte Tote mit dem Judenstern aus dem Reimershof einer von Schramms kunstsinnigen Mitarbeitern sein? Jemand, der in der Bank arbeitete, aber von seinem Chef an die Universität geschickt wurde? Jemand, der nach 1933 als eine Art Hüter verbotener Schätze im Reimershof wachte? Aber wenn es so ist: Warum sagt Schramm nichts? Warum leugnet er alles? An der Tür dreht er sich noch einmal um. »Sind die Namen der Gasthörer irgendwo verzeichnet?«

Kitt, der seine Unterlagen umständlich in eine Aktentasche schaufelt, blickt irritiert auf. »Die alten Studentenverzeichnisse haben sich bei irgendeinem Bombenangriff in Asche verwandelt.«

Vor dem Hauptgebäude geht Stave mit geschultertem Rad die Treppe hinunter, als er Karl erblickt. Er hat genau auf einen solchen Zufall gehofft. Ein Grund, der ihn ebenso an die Universität getrieben hat wie die Idee, einen Kunsthistoriker zu befragen. Sein Sohn. Wie viele Studenten arbeiten wieder hier? Viertausend? Fünftausend? So unwahrscheinlich ist es nicht, unter ihnen ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Und er hat tatsächlich Glück gehabt.

Karl blickt ihn überrascht an. Er hat einen zerschlissenen, umgefärbten Wehrmachtsmantel gegen den Regen über ein Notizheft gebreitet, das er an der Seite trägt. Neben ihm humpelt an Krücken ein junger Mann die Treppe hoch, dem der rechte Unterschenkel fehlt. »Du ermittelst hier?«, fragt sein Sohn.

»Zufall«, lügt Stave und hofft, nicht dabei ertappt zu werden. Sein Herz schlägt rascher. Er erzählt in knappen Worten von seiner Unterredung mit Professor Kitt. Gleichzeitig rasen seine Gedanken: Karl ist an der Universität! Er wagt nicht, nach dem Fach zu fragen.

»Und das Fahrrad?«, fragt Karl. »Hast du das auch hier abgeholt?«

»Ein günstiger Tausch.« Stave erzählt, wie er an seinen neuen Besitz gekommen ist.

»Verzeihung«, unterbricht ihn sein Sohn und deutet auf seinen Begleiter: »Darf ich dir Manfred Loos vorstellen, ein Kommilitone.«

Kommilitone! Er ist eingeschrieben. Stave schüttelt dem hageren Mann die Hand, nachdem der geschickt eine Krücke von der Rechten in die Linke geworfen hat. Älter als Karl, denkt der Oberinspektor.

»Manfred ist Hochspringer«, sagt sein Sohn.

Stave starrt die beiden verwirrt an, nicht sicher, ob ihm eben ein übler Scherz gespielt worden ist. Loos lächelt. »Ich war vor dem Krieg Leichtathlet«, erklärt er. »1943 hat mir in Russland ein Flaksplitter den Unterschenkel abgeschnitten. Aber ich habe einfach weiter trainiert. Ich schaffe wieder 1,77 Meter.«

»Das ist nur achtzehn Zentimeter unter dem deutschen Rekord«, ergänzt Karl.

Stave fällt auf, dass auch sein Sohn sportlicher aussieht: Die Haut dunkler von der Sonne, die Haltung gerader, die Finger nicht länger nikotingelb. Ob die beiden sich beim Sport kennengelernt haben? Was weiß er eigentlich von Karl? Trotzdem fühlt er sich seltsam leicht. Selbst seine ewige Sorge, dass sein verkrüppelter Fuß anderen Menschen auffallen könnte, erscheint ihm auf einmal lächerlich. 1,77 Meter auf einem Bein! Der Kripo-Mann fragt sich, wie das möglich ist.

Er fasst sich ein Herz. »Was studierst du?« Mag Loos es seltsam finden, dass der eigene Vater nicht einmal das Fach des Sohnes kennt, ihm ist das nun auch gleichgültig.

»Geschichte und Philosophie«, antwortet Karl, rasch und stolz.

Stave erkennt, dass sein Sohn auf diese Frage gewartet hat. Erkennt, dass es gut war, sie gestellt zu haben. Dass er eine Art Test bestanden hat, dass er eine Tür geöffnet hat zu seinem Kind.

»Das ist wichtig«, erwidert er ehrfürchtig, weil ihm nichts Klügeres einfallen will.

»Von alten Zeiten und alten Denkern kann man einiges lernen«, sagt Karl. Es soll beiläufig klingen, doch Stave spürt, wie ernst es ihm ist.

Loos räuspert sich, packt seine Krücken wieder in beide Hände. »In fünf Minuten beginnt der Vortrag.«

Karl nickt. »Eine Einführung in den Buddhismus.«

Stave, eben noch beseelt, ist alarmiert. »Eine Sekte?«, fragt er erschrocken.

Da lachen ihn die beiden jungen Männer aus, aber freundlich. »Der burmesische Mönch Bhikkhu U. Thunanda besucht Hamburg, Vater, ein großer buddhistischer Gelehrter aus Rangun. Er macht eine Weltreise, um seine Gedanken zu verbreiten. Gleich hält er hier einen Vortrag über seine Lehre, die einzige Rede, die er in Hamburg halten wird. Ich will zuhören. Denn ich werde Philosoph, nicht Buddhist.« Er klopft ihm ermunternd auf die Schulter und stürmt danach die Treppe hoch. Loos, auf seinen Krücken, kaum langsamer hinterher.

Stave bleibt zurück, starrt auf das Ochsengespann, das inzwischen fast die ganze Wiese in einen aufgebrochenen Acker verwandelt hat, auf den Dammtorbahnhof jenseits davon, auf den Himmel, über den niedrige Wolken ziehen. Dieser kurze Klaps auf die Schulter. Er kann sich nicht daran erinnern, wann ihn sein Sohn das letzte Mal so freundschaftlich berührt hat.