Ein arbeitsloser Regisseur

Beinahe fühlt sich Stave, als machte er einen Ausflug, wie vor dem Krieg. Er hat ein wenig Zeit, also lenkt er sein Fahrrad zunächst nach Harvestehude, ein von den Engländern requiriertes Viertel: Gründerzeithäuser, gepflegte Straßen, Ruhe. Wenn der Regen nicht wäre, hätte der Oberinspektor vielleicht sogar einen übermütigen Spurt gewagt, doch er misstraut der einen Stempelbremse seines Gazelle-Rads. »Kackeschieber« haben sie solche Bremsen als Schüler genannt, weil deren Gummibelag den Dreck vom Reifen abraspelt – und leider auch das Profil des Radmantels, weshalb der Oberinspektor lieber nichts riskieren will.

Der nördlichste Zipfel der Außenalster ist wie ein großes »L« geformt; hier sind nur noch die unmittelbar am Ufer entlangführenden Straßen britisches Sperrgebiet. Er wendet, mit dem Fahrrad ist er in wenigen Minuten zurück an der Esplanade 6. Ein wuchtiger grau-roter Klotz von einem Verwaltungsgebäude an einer schicken Allee, der Sitz der britischen Zivilverwaltung.

Der Kripo-Mann fühlt sich etwas lächerlich und schäbig, als er dem wartenden britischen Posten vor dem Eingang mit einer Hand seinen Polizeiausweis präsentiert, während er mit der anderen den Lenkergriff des alten Rades umklammert. Doch der junge MP nimmt ungerührt den Namen entgegen, hebt einen wuchtigen, schwarzen Telefonhörer in seinem Verschlag und spricht ein paar Worte auf Englisch hinein.

Kurz darauf ist MacDonald da. »Sie sind bereit für einen neuen Blitzkrieg!«, ruft er, als er Staves Rad erblickt.

Dem Kripo-Beamten ist schon allein dieses Wort peinlich, ausgerechnet vor der englischen Verwaltung. »Ein günstiger Tausch«, murmelt er.

»Da kann ich nicht mithalten, alter Junge. Keine Räder in der Army. Soll ich mich auf den Gepäckträger setzen, wenn wir um die Alster radeln? Dieser Nazi-Regisseur wird Augen machen. Vielleicht kommt ihm die Idee zu einem neuen Film.«

»Sicherlich eine Komödie. Ich ziehe aber Ihren Jeep vor.«

»Dachte ich mir. Wollen Sie das Fahrrad hier abstellen?«

»Sie können Gedanken lesen.«

MacDonald wechselt ein paar Worte mit dem Posten, dann schiebt der junge Soldat die Gazelle ins Foyer. Er fasst sie mit spitzen Fingern an, als fürchte er, sich an ihr eine ansteckende Krankheit einzufangen.

Der Lieutenant deutet auf einen Jeep. »Wir könnten auch gehen. Aber erstens regnet es. Und zweitens machen wir damit mehr Eindruck.«

»Vorausgesetzt, wir haben keine Panne.«

MacDonald lässt den Motor an und rollt in gemächlichem Tempo die Straße hinunter. Nach links, dann die Alster hoch. Das Wasser grau, von Wellen und Regentropfen gekräuselt wie ein ungemachtes Betttuch.

Der Lieutenant blickt seinen Beifahrer an. »Wissen Sie, warum ich so schnell von meinen Vorgesetzten die Erlaubnis bekommen habe, Harlan zu befragen?«

»Es gibt Filmkenner im britischen Oberkommando?«

»Es gibt sogar Minister, die diesen Kerl hängen sehen wollen. Für sie ist er schlimmer als mancher SS-Mann.«

»Und warum haben Sie ihn nicht aufgeknüpft? Nur, weil seine Frau Schwedin ist?«

Der junge Engländer seufzt. »Es schwimmen so viele Fische im braunen Tümpel«, erklärt er. »Wir kümmern uns nur um die dicksten. Oder, um im Bild zu bleiben: um die Haie. Die echten Massenmörder. Die Hauptverantwortlichen. Den Rest überlassen wir euch Deutschen.«

»Besten Dank auch«, brummt Stave. Veit Harlan war Hitlers Lieblingsregisseur: Abenteuerfilme, Epen, große Stars und weite Welt. Er hat seinen »Münchhausen« gesehen, zusammen mit Margarethe. Er weiß noch, wie sie die ganze Zeit gelacht und wie sie sich noch Stunden später einzelne Szenen nacherzählt haben, auf dem Weg nach Hause, beim Abendbrot, sogar noch im Bett.

Dann »Jud Süß« im Kino, der Krieg war schon lange ausgebrochen. Der schmierige Jude, der die unschuldige, blonde Frau bedrängt, sie vergewaltigt, in den Tod treibt. Kristina Söderbaum. Weil sie in diesem wie in vielen anderen Filmen den Freitod wählt, wird sie im Volk als »Reichswasserleiche« verspottet. Sehr schön, sehr rein, immer etwas naiv. Stave fragt sich, was Harlan gefühlt haben muss, als er diese Szenen drehte: seine Frau, vergewaltigt von einem anderen. Seine Frau, den Tod wählend. Ein Erfolg war es auf jeden Fall. Goebbels ließ den Film auf Sondervorführungen SS-Männern und KZ-Wärtern zeigen, um sie zum Judenhass anzustacheln. Eine Zeitlang hatten seine Kollegen im Kommissariat über »Jud Süß« gesprochen, in der Mittagspause, abends beim Bier, durchaus mit Mordlust im Blick. Stave hatte geschwiegen, denn er hatte den Film nie gesehen, andererseits aber auch nicht gewagt, das irgendjemandem gegenüber zuzugeben.

Nach 1945 war Harlan selbstverständlich vor dem Zentralausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten gelandet. Die Experten dort hatten Tausende Hamburger in Kategorien eingeteilt: 1 – Kriegsverbrecher, 2 – Übeltäter, 3 – geringerer Übeltäter, 4 – Anhänger der NSDAP, 5 – Unbelasteter. Für Harlan gab es vor wenigen Monaten die Einteilung in Gruppe 5. Ein Persilschein erster Klasse.

Der Oberinspektor erinnert sich an die Proteste vor dem Gericht, an Manifeste in der »Zeit«, Demonstrationen vor Kinos, in denen Harlan und seine Frau im Publikum saßen. Nun läuft vor dem Hamburger Landgericht ein neues Verfahren gegen Harlan. Anklage: »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, da »Jud Süß« zu antisemitischen Gewalttaten angestachelt habe. Ende des Verfahrens: unabsehbar.

MacDonald umkurvt das Rondeel, eine kreisförmige Ausbuchtung der Alster, ein von Weiden und Villen umsäumter Teich. Es ist das Ziel vieler Liebespaare, die mit gemieteten Ruderbooten hierhin gleiten, manche bis unter die dichten Vorhänge der Weidenzweige. Die Kollegen von der Sitte machten Witze darüber und patrouillierten gerade deshalb gelegentlich das Ufer ab. Stave hätte in jungen Jahren auch gerne einmal eine romantische Bootstour mit Margarethe gemacht, doch fürchtete er, ein paar feixenden Krimsches in die Hände zu fallen.

Die Scheffelstraße: schmal, gediegen, Alsterblick. Alte Eichen und Buchen mit knotiger Rinde. So verlassen, dass das Rauschen von Regen und Wind unnatürlich laut wirkt. Eine schmale, aber elegante Villa zur rechten Seite, steile Treppe, zwei Geschosse, unübersehbar, weil an einem Mast die schwedische Flagge flappt, schwer vor Nässe. Als MacDonald den Motor abstellt, saugt Stave den Duft des Wohlstandes ein: feuchte Erde, Rosen, der süßliche Hauch des warmen Wassers von der Alster. Er denkt an Karl, der mit siebzehn für zwei Jahre nach Workuta ins Eis geschickt wurde, und daran, dass Männer wie Harlan ihre Villen nicht einmal für einen Tag aufgeben mussten. Er ist nur ein Zeuge, ermahnt er sich, nimm ihn nicht zu hart ran. Nur ein Zeuge.

Vor der schweren hölzernen Eingangstür türmen sich Briefe, Geschenke, mit schwedischen, britischen, amerikanischen, schweizerischen Briefmarken. Dazu mehrere Kränze mit schwarzen Schleifen, keine Namen darauf.

»Scheint so, dass wir nicht den günstigsten Moment für einen Besuch erwischt haben«, flüstert MacDonald, während er die Klingel drückt.

»Vielleicht ist Harlan ja tot«, erwidert der Kripo-Beamte.

»Würde Sie das freuen – oder ärgern, weil Sie Ihren Mann nicht mehr befragen können?«

»Sagen wir so: Am liebsten würde ich ihn auf dem Totenbett befragen.«

Der junge Lieutenant will antworten, als die Tür geräuschlos aufgezogen wird und eine blonde Frau vor ihnen steht: sinnliche Lippen, Himmelfahrtsnase, helle Augen. Kristina Söderbaum.

Stave hatte Hausmädchen oder Diener erwartet und starrt die Filmschauspielerin einen Moment lang fassungslos an, wie eine Fee aus dem Märchenland, die plötzlich in den Alltag hineinschwebt. MacDonald erholt sich schneller, grüßt mit lässiger Geste zum Mützenschirm, stellt sich und seinen Begleiter vor und deutet auf die Pakete und Kränze vor der Tür. »Sie haben Post bekommen.«

»Wie jeden Tag.« Die Stimme, die Stave aus Filmen kennt. Trotzdem irgendwie weicher. »Ich räume das gleich weg.«

»Sie haben einen Trauerfall?«

»Nein. Die Briefe und Pakete werden uns von Freunden meines Mannes gesandt. Oder manchmal auch von Leuten, die sich noch an meine Rollen erinnern. Die Kränze sind von Leuten, die uns den Tod wünschen. Ich weiß schon nicht mehr, wohin damit. Wir können sie ja schlecht vor der Tür liegen lassen.« Kristina Söderbaum seufzt, blickt die beiden Besucher an, als würde sie sich plötzlich erinnern, warum sie da sind, und bittet sie hinein. Sie wirkt noch bedrückter als wenige Augenblicke zuvor.

»Wir bleiben nicht lange«, beruhigt sie MacDonald.

Stave rempelt den Lieutenant unauffällig an. Das fehlt ihm noch, dass sich der junge Engländer in einen Filmstar verguckt.

»Wir haben ein paar Fragen an Ihren Mann«, ergänzt er vorsichtig.

»Ich bin sicher, dass er sie zu Ihrer Zufriedenheit beantworten wird. Wir haben inzwischen eine gewisse Erfahrung im Beantworten von Polizeifragen.«

Ein helles Zimmer. Tisch, Stühle, die Rahmen der an den Wänden hängenden Aquarelle aus Kiefernholz. »Eigentlich sind wir hier nur zu Gast«, erklärt Kristina Söderbaum, »bei schwedischen Freunden. Doch die sind die meiste Zeit verreist.«

»Es lebt sich ja momentan auch nicht so komfortabel in Hamburg«, erwidert MacDonald freundlich.

Die Schauspielerin blickt ihn irritiert an, unsicher, ob er Mitgefühl zeigt oder sie verspotten möchte. »Mein Mann wird jeden Augenblick kommen. Er liest unserem Kleinen noch vor.«

Stave erinnert sich vage daran, irgendwann von der Geburt eines zweiten Sohnes im Hause Harlan gelesen zu haben. Nach dem Krieg. Das Leben geht weiter. Seine Wut wächst.

Nach ein paar Minuten geht die Tür auf und der Oberinspektor hat zum zweiten Mal das Gefühl, einer Gestalt aus einer Legende leibhaftig gegenüberzustehen: Veit Harlan ist fast fünfzig Jahre alt, fleischig, wallendes Künstlerhaar, nun grau meliert, der in der Nazizeit bekannte und oft verspottete Spitzbart abrasiert, die Augen klar und aufmerksam hinter einer dunkel umrandeten Brille. Ein Mann, der jeden Raum füllt, den er betritt.

»Sind Sie wegen des Prozesses hier?« Eine Stimme, die gewohnt ist, Kommandos zu geben.

»Das ist kein Fall für die Kriminalpolizei«, erwidert Stave.

»Freut mich zu hören.« Harlan lässt seinen Körper auf einen Stuhl fallen, der leise knarzt. »Ich möchte wieder arbeiten. Meine Frau hat ein Engagement.« Er nickt Kristina Söderbaum zu.

»Ich spiele in einem amerikanischen Thriller«, erklärt sie. »›Gaslicht‹, in der ›Auslese‹, einem neuen Ensemble. Es ist erfrischend, wieder einmal Theater zu machen.«

»Ich berste auch vor Energie. Vor Ideen. Neue Filme wären gut für dieses Land, in dieser Situation. Aber man lässt mich nicht.«

»Der eine oder andere erinnert sich noch an Ihre früheren Filme«, kommentiert der Kripo-Beamte.

Harlan schüttelt die Rechte, als verscheuche er eine Fliege. »Das war Zwang. Ich konnte nicht anders. Haben Sie je den Goebbels erlebt, meine Herren? Wie der ans Set kam, wie der in den Drehbüchern herumschmierte? Noch nach dem Schnitt an diesem und jenem herummäkelte? Und immer diese Drohung. Wenn du nicht spurst, dann …«

»Sie werden das alles vor Gericht erklären können.«

»Jüdische Nebenkläger! Ich habe keinen von denen je zuvor gesehen! Wissen Sie, dass sich persönlich noch nie ein Jude bei mir beschwert hat?«

»Es sind ja auch nicht mehr so viele übrig«, erwidert MacDonald leise.

Der Regisseur blickt ihn einen Moment an, nickt. »Was wollen Sie von mir?«, fragt er vorsichtig.

Stave zieht das Foto des bronzenen Frauenkopfes aus seiner Manteltasche. »Kennen Sie die?«

Harlan blickt darauf, lächelt. »Die Anni Mewes. Ganz gute Schauspielerin, vor meiner Zeit. Stummfilm. Ihre Stimme war aber nicht gut genug für den Tonfilm. Klang wie eine Küchenmagd.«

»Sie ist trotzdem in einem Ihrer Filme aufgetreten – in dieser Form.«

»Als Bronzekopf? Ja … ich erinnere mich. Ich brauchte Requisiten für diesen Film. 1938. Moderne Kunst. Ich verstehe davon nicht besonders viel. Ich musste mir Sachen aus den Depots des Propagandaministeriums aussuchen, Goebbels bestand darauf. Persönlich. Also bin ich dorthin gegangen und habe einfach auf ein paar Skulpturen gezeigt. Das, das, das. Und da habe ich das Porträt der Mewes wiedererkannt. Ich hatte es irgendwann mal gesehen, sie selbst schon seit Jahren nicht. Das habe ich auch noch genommen und später im Film so platziert, dass man es gut sah. Eine kleine Hommage an eine Künstlerin. Eigentlich sogar ein Akt des Widerstands.«

Stave blickt starr auf seine Hände, ertappt sich dabei, wie seine Finger so fest ineinandergreifen, dass die Knöchel weiß schimmern. Versucht sich zu entspannen. »Und danach?«

»Wonach?«

»Nachdem Sie den Film abgedreht hatten. Was geschah dann mit den Werken?«

»Zurück ins Depot.«

Der Oberinspektor zwingt sich ein hinterhältiges Grinsen ins Gesicht. »Es ist erstaunlich, dass sich ein Regisseur wie Sie, der sich in so vielen Filmen um so viele Dinge kümmern musste, genau an diese eine Requisite erinnern kann, die er vor zehn Jahren in wenigen Szenen irgendwo in den Hintergrund gestellt hat.«

Harlan zögert, wirft seiner Frau einen raschen Blick zu. »Der Kopf der Mewes kam nicht zurück ins Depot. Darum erinnere ich mich. Den Kopf wollte jemand kaufen.«

Der Kripo-Beamte beugt sich vor, wagt kaum zu atmen. »Wer?«

»Das weiß ich allerdings nicht mehr.«

»Ich schon.« Kristina Söderbaum lächelt. »Damals war das verboten. Aber ich denke, wir können heute offen darüber sprechen. Am letzten Drehtag hat uns ein Herr im Studio besucht, der sich, sehr diskret, nach den Kunstwerken der Requisite erkundigt hat. Das war sehr ungewöhnlich. Ich weiß nicht, woher er davon erfahren hatte. Er wollte welche erstehen. Er hatte Geld. Die meisten waren jedoch schon wieder abtransportiert worden. Den Kopf brauchten wir aber noch für die letzte Szene, also war der noch da. Den haben wir dem Herrn angeboten und er hat uns einen guten Preis gemacht. Im Propagandaministerium ist es offenbar niemandem aufgefallen, dass ein Kunstwerk weniger ins Depot zurückging. Das war Goebbels und seinen Leuten wahrscheinlich egal.« Sie errötet.

»Wer war der Mann, der das Werk kaufen wollte?«

»Ein Herr Rosenthal. Ein Jude.« Sie haucht das letzte Wort fast.

»Ich sagte ja, ich habe mir nichts vorzuwerfen«, ruft Harlan, fast ein wenig triumphierend. »Jetzt fällt mir die Geschichte auch wieder ein.«

»Rosenthal? Hat er gesagt, wer er ist? Ein Sammler? Ein Galerist?«

»Das war in den Dreißigern«, erklärt der Regisseur ungeduldig. »Da durften Juden so etwas nicht mehr sein.«

»Was war er dann?«

»Wir haben ihn nicht gefragt.«

»Sie haben sich nicht darüber gewundert, dass jemand bei Ihnen vorbeikam und heimlich ein Werk ›entarteter Kunst‹ kaufen wollte? Ein Jude zudem?«

»Die letzten Drehtage sind immer besonders hektisch. Da hat man andere Dinge im Kopf. Ich hatte am gleichen Tag noch einen Termin beim Reichsminister für Propaganda. Mir war die Sache peinlich. Ich habe gesagt: ›Gut, machen wir, aber verschwinden Sie rasch wieder.‹ Was der Herr auch tat.«

»Gibt es einen Kaufvertrag? Eine Quittung?«

»Wo waren Sie in der Zeit? Im Ausland? Man verkaufte doch 1938 keinem Juden verbotene Kunst und ließ sich das auch noch quittieren.«

Stave schweigt und erinnert sich an das, was ihm Professor Kitt gesagt hatte: an die Mitarbeiter, die Schramm ausschickte, manche davon Juden. Spezialisten, die für ihn agierten. Hat nicht der Bankier selbst einen Rosenthal erwähnt? »Sagt Ihnen der Name Schramm etwas?«

»Nie gehört.« Auch Kristina Söderbaum schüttelt den Kopf.

Ein Nachbar beinahe, denkt der Oberinspektor, der lebt kaum hundert Meter weiter, wenigstens so hätten sie vom Bankier hören müssen. Andererseits: Harlan und seine Gattin wohnen erst seit Kriegsende an der Alster, und ihr Haus verlassen sie sicherlich nicht allzu häufig.

»Toni Weber?«, fragt er.

»Jemand aus der Filmbranche? Ich meine, den Namen schon mal gehört zu haben. Wobei der ja auch nicht wirklich selten ist, oder?«

Stave ignoriert Harlan, blickt Kristina Söderbaum an. Naiv, verletzlich, ganz wie in ihren Filmen. Wenn ich sie zu hart anfasse, wird sie in die Alster gehen, denkt er. »Können Sie mir noch mehr zu diesem Herrn Rosenthal sagen?«

»Der war vierzig oder fünfzig Jahre alt. Dünn. Ein wenig nervös.« Sie denkt nach. »Alliteration!«, ruft sie plötzlich. »Sein Vorname, ich erinnere mich, als er sich vorgestellt hat: Rolf Rosenthal. Und er hat gehinkt. Hatte einen Klumpfuß wie der Goebbels, bloß irgendwie eleganter. Aber das ist für Sie wahrscheinlich nicht so wichtig.« Sie errötet erneut.

»Doch«, murmelt Stave und eine Welle ungewollter Dankbarkeit für Kristina Söderbaum durchflutet ihn. »Doch, das ist für mich wichtig.«

»Sind Sie zufrieden?«, fragt MacDonald, als sie wieder in den Jeep steigen.

»Ich habe ein Problem gelöst und mir dafür andere eingehandelt«, erwidert Stave vorsichtig.

»Klingt wie eine typische Army-Aktion.«

Der Kripo-Mann berichtet dem Lieutenant von Schramms Mitarbeitern, die an der Universität in Kunstgeschichte fortgebildet worden sind. »Alles passt: Ich kann für den unbekannten Toten und für den Bronzekopf die Geschichte rekonstruieren. Toni Weber erschafft die Skulptur als Porträt einer Schauspielerin in den zwanziger Jahren. Die Nazis ächten das Werk als ›entartete Kunst‹, es verschwindet schließlich im Depot des Propagandaministeriums – wie Tausende weitere Objekte auch. Dort wird es wieder hervorgekramt, als Requisite für einen Film, den Veit Harlan 1938 dreht. Bevor der Kopf zurückgegeben werden kann, taucht Rolf Rosenthal im Studio auf und kauft die Bronze, was illegal ist, aber für Harlan vermutlich ziemlich lukrativ. Schließlich hat er sich gratis bei Goebbels bedienen können und bekommt nun vielleicht ein paar hundert, vielleicht gar mehrere tausend Reichsmark, bar, steuerfrei. Wer ist dieser Rolf Rosenthal? Wir wissen von Bankier Schramm, dass er seine Mitarbeiter in Kunstdingen ausbildet, auch Juden noch nach 1933. Schramm selbst hat mir in einer Befragung beiläufig einen Juden genannt, der sein Vertrauter gewesen sei: ein Rosenthal. Sicher, der Name war früher häufig, aber das ist doch eine seltsame Parallele, oder? Der Tote, den wir neben dem Kunstwerk gefunden haben, trug Reste eines Judensterns, hatte ein Papier bei sich, das auf einen Mann mit dem Vornamen ›Rolf‹ ausgestellt ist, und hat einen verkrüppelten Fuß. Da zudem die Skulptur der Anni Mewes auf einem Foto zu sehen ist, das einige Wochen nach Beendigung des Films in Schramms Villa entstanden ist, bleibt nur eine Schlussfolgerung.«

»Rolf Rosenthal ist ein Abgesandter des Kunstsammlers Schramm, der für diesen verfemte Werke kauft, sodass Schramm selbst, der ja schon Ärger mit der Gestapo hat, diskret im Hintergrund bleiben kann«, ergänzt MacDonald.

Der Kripo-Beamte lächelt müde. »Warum leugnet Schramm alles? Er behauptet, den Bronzekopf nicht zu kennen. Und kein Wort zum Toten. Was er 1938 gemacht hat, war nach den Gesetzen des Dritten Reichs illegal. Heute gilt das als ehrenhaft. Treue zu einem jüdischen Mitarbeiter. Einsatz für verfemte Kunst. Ich verstehe nicht, wieso er sich dazu nicht bekennt. Ganz abgesehen davon, dass er ein Kunstwerk aufgibt, das er wahrscheinlich für viel Geld gekauft hat.«

»Schramm kann es sich leisten, auf Geld zu verzichten.«

»Kennen Sie einen Bankier, der freiwillig auf einen Pfennig verzichtet? Dafür muss es einen wichtigen Grund geben – vielleicht ist Rolf Rosenthal nicht beim Bombenangriff gestorben. Seine seltsam geformte Schädelverletzung, wie ein Schlag von oben. Kratzspuren an ungewöhnlichen Stellen unter den Schuhsohlen. Das ist mir alles ein Rätsel.«

»Sie sehen aber aus, als wären Sie gerade ziemlich zufrieden mit sich.«

»Es ging mir schon mal schlechter«, gibt der Oberinspektor zu.

Kurz darauf kurvt Stave auf seinem Rad zwischen den Schlaglöchern auf der Esplanade und dem Gorch-Fock-Wall herum. Nur ein paar hundert Meter, doch seine Hose klebt an den Beinen, Nässe sickert in die Schuhe. Muss mir noch einen Regenschutz besorgen, denkt er und fragt sich, was er in der Tauschzentrale noch anbieten könnte für einen wasserdichten Umhang. Und ob es bald überhaupt noch Tauschzentralen geben wird, nach dem Tag X. Ein Lastwagen überholt ihn, ein asthmatisches Vorkriegsmodell, kaum schneller als er. Blaue Wolken quellen aus dem Auspuff und wabern in der regenschweren Luft wie zäher Nebel über der Straße. Der Gestank nach Benzin und Schmierfett. Der Karl-Muck-Platz, geradeaus könnte er geradewegs bis ins Foyer der Kripozentrale radeln und die Blicke der Kollegen genießen. Er biegt jedoch rechts ab, zur Staatsanwaltschaft.

»Wie ich höre, machen Sie jetzt Prominentenbesuche?«, begrüßt ihn Ehrlich. Die Augen hinter der dicken Hornbrille blitzen spöttisch, aber Stave entgeht nicht, dass sie an den Rändern rot entzündet sind vor Müdigkeit.

»Eine archäologische Expedition zu den Ruinen einer einstigen Ufa-Größe.«

»Haben Sie einen Schatz geborgen?«

»Ich habe eine klumpfüßige Mumie identifiziert.« Der Oberinspektor berichtet von der Befragung und von seinen Schlussfolgerungen.

»Wie bedauerlich, dass Sie nicht mehr bei der Mordkommission sind«, bemerkt Ehrlich. »Wir haben übrigens bald noch einen weiteren Termin. Wahrscheinlich noch im Juli. Das Gericht wird Sie als Zeugen vorladen.«

»Der Maat von der ›Tirpitz‹, der mich niedergeschossen hat«, murmelt Stave.

»Und der seine Familie auf dem Gewissen hat. Wir haben sein Geständnis. Aber Sie wissen, wie das ist: Wir werden trotzdem die wichtigsten Aussagen hören. Könnte sein, dass diese Aussagen vor Gericht etwas peinlich werden für die Kriminalpolizei.«

Stave schließt die Augen. »Die Abreibung. Ich habe davon gehört. Gesehen habe ich nichts, ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon andere Sorgen.« Er klopft sich leicht auf die Brust.

»Vielleicht wird der Verteidiger den Kollegen Dönnecke in den Zeugenstand rufen.«

»Es wird seinem Mandanten trotzdem nichts nutzen. Der Maat wird unter dem Fallbeil enden.«

»Gelegentlich trifft es die Richtigen.«

Stave müsste nun eigentlich gehen, doch irgendwie will er sich nicht aus dem unbequemen Stuhl hochstemmen. Auch Ehrlich sieht nicht so aus, als habe er dringende andere Termine.

»Führen Sie auch die Anklage gegen Harlan?«, fragt der Kripo-Mann.

»Wegen Aufstachelung zum Rassenhass? Nein, das macht ein Kollege. Er macht das gut, aber ich bedauere ihn trotzdem.«

»Weil er keine Chance hat?«

»Sieht so aus. Üble Filme an sich sind noch kein Verbrechen, jedenfalls nicht so ohne weiteres. Und außerdem beruft sich Harlan darauf, dass Goebbels ihn dazu gezwungen hat.«

»Das tun die alten Nazi-Größen alle.«

»Und sie kommen ja auch fast alle damit durch. Wer nicht gerade selbst die Finger am Abzug oder am Gashahn hatte, also nicht nachweislich Blut an den Händen hat, der muss sich keine allzu großen Sorgen machen. Es findet sich immer ein Vorgesetzter, der vor 1945 diesen und jenen Befehl gegeben hat, den man befolgen musste.« Der Staatsanwalt nimmt einen Schluck von seinem Tee. »Bislang sind mehr als 300 000 Hamburger vor den Fachausschuss geladen worden – und fast alle haben einen Persilschein bekommen. Und wenn wirklich mal jemand nicht gecleart wird, dann gibt es noch andere Wege. Einen geschickten Autounfall zum Beispiel.«

Stave nickt. Karl Kaufmann, der ehemalige Gauleiter und eigentliche Herrscher Hamburgs in der braunen Zeit, wurde in einem recht unspektakulären Unfall verletzt. Das hatte ausgereicht, um sein Verfahren einzustellen. Er denkt auch an den ehemaligen Bürgermeister Krogmann, den er vor kurzem im Restaurant gesehen hat. An den ehemaligen Gestapo-Agenten Greiner, der frei herumläuft. An Annas Mann, den Diplomaten im Judenreferat, der sich in einem Kloster versteckt und auf dem Weg nach Südamerika ist, zu einem neuen Leben.

»Nicht alle Nazis kommen so glimpflich davon«, erwidert Stave vorsichtig. »Wer in einem Ministerium gearbeitet hat, der wird verfolgt.«

»Zum Beispiel im Außenministerium?«, fragt Ehrlich und lächelt fein. »Ich wusste, dass Sie irgendwann auf diese Spur stoßen werden.«

»Klaus von Gudow.«

»Ein Mann der Vergangenheit.«

»Seit wann wissen Sie es?«

»Nachdem ich Frau von Veckinhausen das erste Mal begegnet bin und von ihrer Kunstexpertise beeindruckt war, habe ich gewisse Erkundigungen eingezogen.«

»Diskret?«

»Sehr diskret, über englische Freunde. Keine deutschen Stellen.«

»Weiß Anna von Ihren Erkundigungen?«

»Nein.«

»Fahnden Sie nach Ihrem Mann?«

»Ja.«

»Nutzen Sie Anna als Lockvogel?«

»Ja. Aber der Vogel lockt nicht.«

Stave starrt Ehrlich an. »Annas Auftrag, die gestohlene Kunst zu suchen, war nur ein Vorwand«, raunt er.

Der Staatsanwalt schüttelt energisch den Kopf. »Nennen wir es lieber einen angenehmen Nebenaspekt. Sie war ja auch erfolgreich.« Er deutet auf die Grafik an der Wand. »Ein paar Werke hat Frau von Veckinhausen schon aufgespürt.«

»Aber eigentlich gaben Sie ihr den Auftrag, um sie im Auge zu behalten.«

»Falls Ihr Mann Kontakt zu ihr aufnimmt, ja.«

Der Kripo-Beamte denkt an den Ehering aus dem Juweliergeschäft und fragt sich sorgenvoll, ob sein Gegenüber davon weiß.

»Klaus von Gudow ist irgendwo in Italien«, fährt Ehrlich fort. »Noch. Haben Sie von der ›Rattenlinie‹ gehört? Fluchtrouten aus Deutschland über Österreich bis nach Italien. Organisiert von alten Parteigenossen und dem einen oder anderen der Sache sehr aufgeschlossen gegenüberstehenden Geistlichen. Es soll Bischöfe geben, für die sechs Millionen ermordete Juden keine Sünde sind, sondern so eine Art gerechte Gottesstrafe.«

»Anna hat nichts mehr mit ihrem Mann zu tun.«

»Das habe ich bedauerlicherweise inzwischen auch festgestellt. Keine Briefe. Keine Reisen. Keine heimlichen Treffen. Sie hat sich von ihrem Gatten losgesagt. Ein neues Leben. Eine neue Liebe.« Er blickt Stave aufmerksam an, müde Augen hinter dicken Brillengläsern.

»Was nun?«, fragt Stave und wagt kaum zu atmen.

»Ich habe die Fahndung nach Klaus von Gudow an die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main abgegeben. Amerikanische Zone. Da ich annehme, dass jener Herr nicht in Italien bleiben wird, sondern Reisepläne nach Südamerika hegt, werden die Kollegen dort besser mit deren Autoritäten kooperieren können. Vielleicht erwischen sie ihn doch noch, bevor er in Argentinien oder Paraguay verschwindet.«

»Argentinien. Weiß Anna von alldem?«

»Kein Wort.«

Stave schließt die Augen. Er fühlt sich, als würde ihm ein mit Wackersteinen gefüllter Rucksack von den Schultern genommen.

»Viel Glück«, murmelt Ehrlich und erhebt sich. »Mit Frau von Veckinhausen.«

»Ich werde mich bemühen, es nicht zu vermasseln«, antwortet er und schüttelt dem Staatsanwalt die Hand.

Stave verzichtet darauf, noch einmal in der Zentrale hereinzuschauen, es wird niemand da sein, im Chefamt S schon gar nicht. Morgen ist der Tag X. Der Oberinspektor fragt sich, ob übermorgen alles anders sein wird.

Er tritt gegen den feuchten Nordwind in die Pedale. Vor der Ahrensburger Straße 93 schultert er sein Rad. Flasch, der aus einem Zimmer im Erdgeschoss auf den Bürgersteig blickt, schaut ihn überrascht an, macht dann eine Handbewegung, von der nicht ganz klar ist, ob er damit Bewunderung oder Mitleid signalisieren will. Stave nickt und drückt die schwere Eingangstür auf. Vier Stockwerke. Egal. Wenn er sein Fahrrad morgen noch benutzen will, dann muss er es wohl oder übel bis in seine Wohnung hinaufschleppen – vor seinem Kellerverschlag hängt bloß eine Tür aus einigen zusammengenagelten Brettern.

Er ist außer Atem, als er endlich den Treppenabsatz vor seiner Wohnungstür erreicht. Sein linkes Fußgelenk schmerzt, seine Schulter brennt vom Stahlrohr des Rahmens, das bei jedem Schritt scheuert, die Brustwunde pocht. Er fummelt mit der Rechten in der Hosentasche nach dem Schlüssel, da geht die Wohnungstür auf.

Karl.

»Dich kann man auswringen«, ruft sein Sohn.

»Es ist nur der Regen«, murmelt Stave, der vor seinem Sohn nicht zugeben will, wie erschöpft er ist. Er setzt sein Rad ab und schiebt es in den Flur. »Ich ziehe mich bloß rasch um. Du bleibst doch noch?« Er wagt es kaum, die Frage auszusprechen.

»Mal sehen. Hast du was in der Speisekammer? Ich habe ein paar Salate und Karotten im Kleingarten eingetauscht. Und die ersten Sauerkirschen.«

»Ich habe noch Kartoffeln, Brot und Fett und Ersatzkaffee«, ruft er durch die Badezimmertür.

»Meinst du, dass wir bald mehr zwischen die Zähne kriegen werden?«, fragt Karl eine halbe Stunde später, als sie am Küchentisch vor zwei Tellern sitzen, aus denen es verführerisch dampft.

»Es kann nur besser werden.«

»Das habe ich nach den Bombenangriffen schon gehört. Und als ich mit den Kameraden in Berlin gekämpft habe. Und im Lager in Workuta. Immer: ›Es kann nur besser werden.‹ Hat nie gestimmt. Es wurde immer nur noch schlimmer und schlimmer.«

Stave will seinen Sohn nicht entmutigen. Der ist doch gerade erst zwanzig Jahre alt, denkt er, wenn der nicht optimistisch ist, wer soll es dann sein? »Das neue Geld wird wieder etwas wert sein«, erwidert er und bemüht sich, zuversichtlicher zu klingen, als er sich fühlt.

Karl lacht kurz, schüttelt den Kopf. »Der berühmte Tag X. Vielleicht passiert gar nichts?«

»Das ist nicht nur eine Aktion der Engländer. Die Amerikaner machen mit. Die sind die eigentlichen Herrn im Haus. Wenn die etwas organisieren, dann wird das auch was.«

»Die Bombenangriffe haben sie jedenfalls gut organisiert.«

»Und die CARE-Pakete auch. Ohne die wären hier schon ein paar mehr Leute verhungert.«

Sein Sohn schüttelt nachdenklich den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte an eine gute Zukunft glauben«, murmelt er. »Glaubst du daran?«

Stave will zustimmen. Aber er will auch ehrlich sein. »Ich hoffe auf eine gute Zukunft«, antwortet er behutsam. »Ich arbeite darauf hin. Dass alles besser wird, meine ich. Was bleibt mir sonst übrig?«

»Der Sprung aus dem Fenster.«

»Wenn das wirklich deine Meinung wäre, dass es keine Hoffnung mehr gibt, dann hättest du die zwei Jahre in Workuta nicht überlebt.«

Karl blickt ihn überrascht an, lächelt anerkennend, schnippt mit den Fingern. »Jetzt hast du mich in die Ecke getrieben. Wird wohl was Wahres dran sein.«

»Und du bist Student«, entfährt es seinem Vater stolz.

»Alte Geschichte. Irgendjemand muss dem ganzen Schlamassel doch auf den Grund gehen. Ich meine: wirklich auf den Grund.«

»Zwei Jahrtausende zurück?«

Er zuckt mit den Achseln. »Irgendeine Ursache muss es ja dafür geben. Vielleicht liegt es an den alten Römern, die sich Europa unterworfen haben? Oder am Christentum? Die Nazis waren jedenfalls nicht die Ersten, die auf die Idee gekommen sind, den Kontinent zu erobern. Und auch nicht die Ersten, die unbedingt jeden Juden erschlagen wollten, der ihnen in die Finger fiel. Das reicht weiter zurück.«

»Was nützt es, die Ursachen in ferner Vergangenheit zu suchen?«

»Dann passiert uns so etwas vielleicht nicht noch einmal.«

Stave lehnt sich zurück, ehrlich überrascht. So hat er das noch nie gesehen. Geschichte war für ihn immer die Welt von gestern, nicht die von morgen. Da ist doch Optimismus bei Karl, hofft er.

»Eigentlich habe ich mich hauptsächlich deshalb bei dir zum Abendessen eingeladen, weil du ein Radio hast«, sagt sein Sohn nun und blickt auf seine alte Armbanduhr. Wo hat er die denn her, fragt sich sein Vater. Wohl gegen Tabak eingetauscht.

»Der Bürgermeister soll gleich sprechen. Dachte mir, dass das interessant werden könnte.«

Stave steht auf und schaltet das alte Gerät ein. Er hofft, dass er für diesen Monat noch genügend Strom übrig hat, um die ganze Sendung zu hören. Sicherheitshalber knipst er die Deckenlampe mit der einen noch intakten Glühbirne aus. Das sanfte gelbe Glühen der Röhren flutet durch den Raum. Knistern und Rauschen, während das Radio warm wird. Dann eine Stimme. NWDR.

Sie lauschen Bürgermeister Max Brauer. Ruhig, besonnen, zuversichtlich: »Das deutsche Volk wird auf Jahre hinaus arm sein und sich keinen besonderen Luxus leisten können. Aber Armut schändet nicht, und vor allem schreckt sie uns nicht, wenn nur alle die anständigen deutschen Männer und Frauen für ihre Arbeit wieder ehrliches Geld in die Hand bekommen, von dem sie etwas kaufen können und auch etwas ersparen, was wir alle werden tun müssen.«

»Der redet schon anders als der Adolf«, sagt Karl, als die Sendung zu Ende ist.

»Ehrliches Geld, klingt nicht schlecht.«

»Er hat aber auch gesagt, dass wir auf Jahre hinaus arm bleiben werden.«

»Immerhin jemand, der mal nicht lügt.«

Karl sieht aus dem Fenster. Regenschlieren, Dunkelheit auf der Ahrensburger Straße. »Was würdest du dir denn als Erstes kaufen? Nach dem Tag X, meine ich. Falls das mit dem ehrlichen Geld kein Gewäsch ist. Was würdest du dir mit deinem nächsten Lohn kaufen?«

Stave überlegt lange. »Ein paar Schuhe«, verkündet er schließlich. »Ordentliche Herrenschuhe. Leder, bequeme, feste Sohle. Schuhe, mit denen du quer durch die Stadt laufen kannst. Und mit denen du nicht mehr aussiehst wie ein Landstreicher. Und du?«

»Bücher. Amerikanische Bücher. Englische Bücher. Französische Bücher. Vielleicht sogar sowjetische Bücher. Ich fühle mich, als hätte ich nicht bloß zwei Jahre im Lager gesessen, sondern mein ganzes Leben lang. Ich muss lernen, selbst zu denken.«

Hoffentlich wird das neue Geld ein Erfolg, fleht Stave stumm. Irgendwann muss doch mal wieder etwas in diesem Land funktionieren. Schuhe. Bücher. Wäre kein schlechter Start für eine neue Zeit.

Karl streicht sich über die Augen. »Ich bin müde«, sagt er. »Kann ich über Nacht hierbleiben? Ist das kleine Zimmer noch frei?«

»Wer soll da sonst sein?«, antwortet Stave und kann sein Glück gar nicht fassen.