Erkennungszeichen

Auf dem Rückweg nach Hause durchströmt Stave das irritierende und irgendwie angenehme Gefühl, nicht in die Welt zu passen. Die halben Fassaden zu beiden Straßenseiten scheinen ihm wie die Kulissen eines düsteren, experimentellen Theaterstücks zu sein, in dem Mord und Zerstörung die Hauptrollen spielen. Er aber würde am liebsten ein Lied pfeifen und tanzen, so wie die Stars aus den heiteren Musikfilmen der dreißiger Jahre.

Er achtet nicht besonders auf seinen Weg. Einmal stoppt ihn eine englische Streife, zwei Soldaten in ihrem Jeep, die ihn passieren lassen, nachdem sie seinen Polizeiausweis gesehen haben, und die sogar mit der Hand zum Mützenschirm freundlich grüßen. Längst vorbei die Zeiten, als nervöse Briten noch beim kleinsten Geräusch zwischen den Trümmern ihre Maschinenpistolen hochrissen.

Nach einer Dreiviertelstunde findet sich der Kripo-Beamte in der Neuen Rabenstraße wieder, nicht ganz der halbe Weg von Annas Bleibe zu seiner Wohnung. Er eilt schneller voran, schlägt den Mantelkragen hoch, da der Nieselregen wieder einsetzt, stoppt abrupt, dreht sich um.

Licht im Gebäude der Rechtsmedizin, ein warmes gelbes Quadrat in der Fassade der schlecht gepflegten ehemaligen Villa. Hinter dem Fenster verbirgt sich Czrisinis Büro.

Stave, viel zu erregt und hungrig, um schon müde zu sein, drückt kurz entschlossen die Klinke der Eingangstür hinunter. Unverschlossen. Wer würde auch schon im Leichenschauhaus einbrechen? Er tastet sich durch dunkle Flure, bis er Czrisinis Tür findet, klopft und eintritt.

»Sie haben mich zu Tode erschrocken!«, ruft der Rechtsmediziner.

»Das kommt in ihrem Metier eher selten vor, nehme ich an.« Dann stutzt der Kripo-Mann. Czrisini ist dabei, Akten und Bücher in Kisten zu verstauen. Sein Büro, bislang vollgestopft wie das Lager eines verwahrlosten Museums, wirkt wie der Lagerraum einer Firma, die Konkurs angemeldet hat. »Was tun Sie hier?«

»Ich räume auf. Was tun Sie hier?«

»Ich habe einen Spaziergang gemacht. Reiner Zufall. Ich habe Licht im Haus gesehen. Geht es Ihnen gut?«

»Weil ich aufräume?« Czrisini lacht. »Man soll auch im Alter noch Neues lernen. Ich lerne, Ordnung zu schaffen. Ich versuche es zumindest.«

Irgendwie ist Stave beunruhigt, ohne dass er weiß, warum. »Wenn Sie das gelernt haben, können Sie bei mir vorbeischauen«, sagt er und tippt zum Abschied mit der Rechten an die Hutkrempe.

»Warten Sie noch!«, ruft der Rechtsmediziner. »Ich kann Ihnen etwas zeigen, falls sie noch nicht zu müde dafür sind.«

»Der Tote aus dem Reimershof? Das würde mich munter machen.«

Czrisini lächelt und geht voran. Er schlurft, denkt Stave. Früher war der Rechtsmediziner oft der Erste am Fundort einer Leiche, agil wie ein aufgeregter kleiner Hund. Czrisini legt einen Lichtschalter um, führt ihn über enge Flure bis in den Keller mit den Seziertischen. Aus einem Wandregal holt er einen Karton hervor und öffnet ihn.

»Seien Sie vorsichtig. Der Stoff ist empfindlich nach so vielen Jahren unter Dreck und Trümmern.«

»Die Kleidung des Toten?«

»Die Reste davon. Das, was auf dem Skelett geborgen werden konnte. Der Tote lag auf dem Rücken. Die Kleidungsfetzen sind nur vorne auf den Rippen, dem Becken und den Beinknochen erhalten, dazu die speziellen Lederschuhe an den Füßen, die Sie schon kennen. Keine Geldbörse, keine Dokumente, keine Münzen oder Schlüssel in den Taschen.«

»Der Bombenangriff fand im Sommer 1943 statt. Ein warmer Tag, wenn ich mich recht erinnere.«

»Und noch wärmer, als dann der Feuersturm ausbrach«, Czrisinis Stimme verliert sich. »Jedenfalls haben Sie wohl recht: Der Mann trug zum Zeitpunkt seines Todes wahrscheinlich leichte Kleidung. Sommerhose ohne Gürtel, ein helles Hemd, darüber ein blaues Jackett.«

»Damit wird Dönnecke nicht viel anfangen können.«

»Er weiß es nicht.«

»Warum haben Sie den Mund gehalten?«

»Ich habe nicht den Mund gehalten, der Kollege hat sich die Ohren zugehalten. Der Herr Oberinspektor war an meinen Funden nicht sonderlich interessiert. Er wollte wohl den Fall so rasch wie möglich zu den Akten legen. Er wimmelte mich jedenfalls ab. Steht selbstverständlich trotzdem alles in meinem Bericht. Doch der wird wohl ungelesen zerfallen – so wie dieser interessante Hinweis, den ich zwischen Jackett und Hemd in Brusthöhe des Toten gefunden habe.« Der Rechtsmediziner holt mit einer Pinzette einen gezackten Stoffrest aus einem Umschlag, der unter den anderen Kleidungsresten in der Box verborgen war. Gelb, darauf Reste einer schwarzen Beschriftung.

»Das kommt mir bekannt vor«, murmelt Stave düster. »Ein Judenstern.«

Nachdem er sich von Czrisini verabschiedet hat, geht der Oberinspektor den langen Rest des Weges bis zur Ahrensburger Straße, im Kopf viele Gedanken. Am 1. September 1941 wurden alle Juden im Reich gezwungen, den gelben, sechszackigen Stern zu tragen. Er erinnert sich noch recht gut daran, da ihre Vorgesetzten sie damals anwiesen, »verstärkt auf peinlichste Einhaltung dieser Vorschrift« zu achten und jeden polizeibekannten Juden, der das Zeichen nicht deutlich sichtbar angeheftet hatte, sofort zu verhaften. Er war sich schäbig vorgekommen, als er danach über die Mönkebergstraße patrouillieren musste. Tatsächlich hatte er einen Juden entdeckt, einen Ohrenarzt, bei dem Karl als kleines Kind einmal gewesen war, zu einer Zeit, als Juden noch Nichtjuden in ihren Praxen behandeln durften. Der Mann war ohne Stern über Hamburgs prachtvollste Einkaufsstraße geschlendert. Geradezu herausfordernd, fand der Oberinspektor. Er hatte den Arzt weder angesprochen noch verhaftet, sondern so getan, als kannte er ihn nicht. Anschließend hatte er sich tagelang gesorgt, ihn könnte dabei jemand beobachtet und wegen Pflichtverletzung denunziert haben. Aber nichts war geschehen. Den Arzt hatte er auch nie wieder gesehen.

Im Sommer 1943 waren Menschen mit dem gelben Stern aus Hamburgs Straßen verschwunden. Die wenigen Bürger, die überhaupt davon sprachen, sagten: »In den Osten umgesiedelt.« Wenn der Tote aus dem Reimershof tatsächlich ein Jude gewesen war, dann war er im Sommer 1943 definitiv an einem Ort gewesen, an dem er längst nicht mehr hätte sein dürfen. Ein Jude, der untergetaucht war und sich in einem unbenutzten Büro in dem Kontorhaus versteckt hatte? Einem Büro, das jemandem, der sich nicht auf die Straßen wagen durfte, bei einem Bombenangriff zur Todesfalle wurde?

Dönneckes Fall, ruft er sich ins Gedächtnis. Doch der alte Kollege kümmert sich nicht darum. Und selbst wenn er doch noch von dem Judenstern erfahren sollte: Nachdem Millionen Juden gestorben sind, würde sich ausgerechnet ein Dönnecke Mühe geben, das Schicksal oder wenigstens den Namen eines einzigen toten Juden aufzuklären?

Ich hätte vielleicht doch bei der Mordkommission bleiben sollen, sagt sich Stave. Sind Menschen und Schicksale nicht wichtiger als Sachen, und seien es Kunstwerke? Aber er denkt auch an Annas Kommentar, als er ihr von seinem Wechsel berichtet hatte. Das schlichte »gut«. Sie hat die Mordkommission gehasst wie eine Rivalin: All die Fälle haben Staves Zeit gestohlen, abends, an Wochenenden, nachts. Und wer sich jeden Tag mit Mord und Totschlag abgibt, dessen Geist wird irgendwann vergiftet von ständigem Misstrauen, von ewigen Fragen. Sie hat es nicht mehr ausgehalten. Das – und die Blicke von Karl, der aus dem Krieg zurückkam und statt seiner Mutter nun Anna an der Seite seines Vaters sah.

Zu Hause findet er noch ein Brot im Küchenschrank. In der feuchten Luft hat sich weißer Schimmel auf der Oberseite des Laibes gebildet. Er schneidet ihn sorgfältig ab, darauf bedacht, möglichst wenig wegzuwerfen. Dann zerteilt er das Brot in Scheiben, kaut jede einzelne sorgfältig durch. Wasser aus dem Hahn. Die letzte saure Gurke aus einem Glas. Er hat noch ein paar matschige Kartoffeln, doch er ist plötzlich zu müde, sie auf seiner Brennhexe zu kochen. Morgen vielleicht.

Als er endlich in sein Bett fällt, die kurze Hochsommernacht löst sich schon in grauem Nebel auf, sinkt er sofort in einen Traum: Anna und das Skelett tanzen im Saal des Winterhuder Fährhauses einen irren Tanz zu schriller Musik, die sein Sohn Karl auf der Geige spielt. Der Auktionator Nattenheimer schwingt seinen Hammer wie einen Dirigentenstock und reißt Witze. Doktor Czrisini, zwei glimmende Woodbines in den Mundwinkeln, stapelt die Stühle des Publikums in riesenhafte Holzkisten. Und ich?, fragt sich Stave in seinem Traum. Ich kann doch alle erkennen, wo bin dann ich? Er kann nicht einmal seine Hände oder Füße ausmachen, er öffnet den Mund, aber kein Ton kommt über seine Lippen. Als wäre er ein Geist, der durch den Saal schwebt, unsichtbar für alle Menschen.