In der Rechtsmedizin

Abends schlendert Stave zum Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik in der Neuen Rabenstraße. Aus dem Regen ist eine Art feinster Nebel geworden, der Kripo-Mann fühlt sich, als ginge er durch sanfte, kühle Seidentücher. Langsam dringt Feuchtigkeit durch die dünnen Schuhsohlen, seine Füße werden klamm, so als mache er eine Wattwanderung. Czrisinis Reich ist eine alte Villa mit einigen vernagelten Fenstern und einem Putz, der in der feuchten Luft die gelbliche Farbe billigen Papiers angenommen hat.

»Wo ist das Objekt meiner Neugier?«, fragt der Oberinspektor.

»Im Kühlraum. Ich hatte bisher weniger Zeit als gedacht. Ich musste für einen erkrankten Kollegen einspringen und ein paar Studenten einen Trick zeigen.« Er deutet auf einen Schädel, dessen Knochennähte aufgesprengt sind. Neugierig tritt Stave näher.

»Sie haben Erbsen in den Kopf gelegt?«, entfährt es ihm.

»Man lässt trockene Erbsen von unten in den Totenschädel rieseln. Dann kippt man Wasser darüber, die Erbsen quellen auf – und mit einem schönen ›Knack‹ sprengen die aufquellenden Erbsen alle Fontanellen sauber auf. Sehr lehrreich.«

»Sehr kalorienreich. Wenn ich daran denke, was ich pro Woche auf meiner Lebensmittelkarte an Marken habe, dann hätte ich die Erbsen nötiger als dieser Knochenmann.«

»Sie hatten auch gut ausgebildete Ärzte nötig. Ist noch gar nicht lange her.«

»Also haben Sie Ihre Zeit mit Erbsen und Studenten verbracht. Soll ich morgen noch einmal wiederkommen?«

»Ein paar Dinge habe ich zwischendurch schon bei unserem Freund untersucht. Oberinspektor Dönnecke besteht auf einem Bericht.«

»Er will die Akte schließen.«

»Er hielt es nicht für nötig, mir zu sagen, warum er den Bericht so dringend haben will. Ich habe mir die Leiche in aller Eile angesehen und ein paar Zeilen heruntergerasselt. Dann habe ich den Körper für später aus dem Weg geräumt.«

»Könnte es sein, dass Sie einen Durchschlag Ihres Berichtes haben?«

»Habe ich, aber nicht für Sie. Nichts für ungut, aber ich möchte nicht, dass der werte Kollege irgendwann bei Ihnen ein Dokument von mir entdeckt, das er gar nicht bei Ihnen finden dürfte.«

»Verstehe«, murmelt Stave und zückt sein zerfleddertes Notizbuch.

Czrisini lächelt. »Das Opfer ist schon sehr lange tot. Wie lange, kann man kaum schätzen. Die Zerstörung des Reimershofes ist etwa fünf Jahre her. Das könnte zum Befund passen, sagen wir also als Hypothese: seit fünf Jahren tot, aber wie gesagt, bloß eine vage Vermutung.

Todesursache vermutlich Schädel-Hirn-Trauma. Selbstverständlich kann ich andere Ursachen nicht ganz ausschließen, vorausgesetzt, der Unbekannte starb tatsächlich bei einem Bombenangriff: Die Druckluft der Explosion zerstört die Lunge. Er ist erstickt. So etwas. Sicher ist aber, dass er eine schwere Kopfverletzung erlitten hat. Sieht so aus, als hätte ihm ein L-förmiges Objekt, ungefähr faustgroß, den Schädel von oben eingeschlagen.«

»Trümmerstücke des einstürzenden Hauses?«

»Eher nicht. Zementbrocken oder Balken fügen den Opfern großflächigere Verletzungen zu, oft sind die Schädelknochen regelrecht zersplittert. Das hier sieht eigentlich eher wie ein Schlag aus, mit einem harten Gegenstand, einmal. Kein Hammer, kein Rohr, kein Schlagstock, dann wären die Brüche anders geformt. Im Innern des Schädels findet sich übrigens auch nichts, was diese Verletzung hervorgerufen haben könnte, etwa ein Bombensplitter oder dergleichen. Wirkt also eher wie ein Schlag von außen mit einem Objekt, das dann auch außerhalb des Schädels verblieben ist.«

»Mord mit einem L-förmigen Gegenstand?«, fragt der Oberinspektor gespannt.

»Hätte man den Toten anderswo gefunden, würde ich sofort zustimmen. Aber in einem zerbombten Haus …«, Czrisinis Körper wird in einem Hustenanfall geschüttelt wie eine Weide im Wind. »In einem zerbombten Haus will ich nicht ausschließen, dass dies doch eine Explosionsfolge gewesen ist. Wer von uns weiß schon genau, was in einem Gebäude abläuft, während es einstürzt?«

Stave muss an Margarethe denken. Er klammert sich, wie er meint: unauffällig, am Tisch fest, bis der Schwindel vorüber ist. »Gibt es Bilder?«, will er wissen. Seine Stimme klingt seltsam tonlos.

Der Rechtsmediziner scheint das nicht zu bemerken. Er starrt aus dem Fenster in die Dunkelheit – so lange, dass der Kripo-Mann schließlich glaubt, er habe ihn vergessen. »Ja, doch«, murmelt Czrisini plötzlich, als habe er in die Wirklichkeit zurückgefunden. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen einen Abzug überlassen sollte.«

»Wird das Bild jemals bei mir entdeckt werden, dann schiebe ich es auf Kienle.«

Czrisini lächelt schwach und kramt in einer Ablage, bis er ein DIN-A4-großes Foto aus einem Umschlag zieht: Schädelknochen, umspannt von verwester Haut, Haarreste. Mitten auf dem Kopf eine alte Wunde, ein schwarz verkrustetes Loch.

»Sehen Sie«, murmelt der Rechtsmediziner und deutet auf die Verletzung.

»Sieht aus, als habe ihm jemand ein ›L‹ verkehrt herum auf den Kopf gestempelt«, murmelt Stave.

»Ein ziemlich großes ›L‹, das ziemlich tief eingestempelt wurde«, kommentiert Czrisini. »Wäre das Gehirn nicht verwest, dann würde ich dort wohl massive Blutungen feststellen.«

»Tödliche Blutungen?«

»Darauf können Sie ein paar Reichsmarklappen wetten.«

»Sonst noch etwas?«

»Auf diese Fakten können Sie auch noch setzen: Der Tote ist ein Mann, dafür sprechen die Form des Beckens ebenso wie Schädel, Hände, Arme, Beine. Ein Erwachsener, etwa 1,70 Meter groß, schlanker Körperbau. Dem Zustand der Zähne und Gelenke nach schätze ich ihn auf älter als dreißig und jünger als fünfzig. Kein Wehrmachtssoldat.«

»Das können Sie bei einer Obduktion erkennen?«

»Er hatte Verwachsungen am linken Fuß«, erwidert Czrisini trocken. »Auf Deutsch: einen Klumpfuß. Den hätte nicht mal der Adolf genommen.«

»Der Führer hatte für mindestens einen Klumpfuß Verwendung«, erwidert der Oberinspektor und verlagert dabei unauffällig sein Gewicht auf sein rechtes Bein. Absurderweise ist es ihm wegen seiner eigenen Verletzung peinlich, dass der Rechtsmediziner über einen Klumpfuß spricht.

»Noch etwas«, fährt Czrisini fort und tut so, als habe er die Reaktion des Kripo-Beamten nicht bemerkt. »Der Tote trug gute Lederschuhe, die viel besser erhalten geblieben sind als die Kleiderfetzen am Leib.«

»Er musste sich jedes Paar beim Schuster fertigen lassen.«

»Danken wir dem unbekannten Schuster. Hier.« Czrisini holt aus einer Pappschachtel ein Paar schwarzer Lederschuhe hervor: der rechte elegant, trotz der Schimmelspuren auf dem Oberleder, der linke hingegen sieht aus wie ein ausgebeulter Kohlensack mit Schnürsenkeln. Der Gerichtsmediziner deutet auf die Sohlen. »Echtes Leder, kein Gummi. Schön glatt. Wenn Sie damit gehen, zerkratzt praktisch bei jedem Schritt die Oberfläche ein wenig, da reicht schon ein Sandkorn, auf das man tritt. Mit der Zeit bilden sich am Absatz und unter dem Ballen Muster aus unzähligen Strichen, als hätte da jemand mit einem harten Bleistift wild gekritzelt.«

Er holt eine Lupe hervor. »Nun sehen Sie.«

Stave entscheidet sich für den rechten Schuh und untersucht die Sohle unter dem Glas. Viele helle Linien unter Ballen und Fersen, aber auch einige eingegrabene Striche im Hohlraum der Fußbeuge. »Verdammt«, sagt er.

Czrisini nickt bestätigend. »Klassische Spuren: Der Träger dieser Schuhe ist gefallen und liegt am Boden. Normalerweise zerkratzen wir uns nämlich die Sohlen nur dort, wo wir auftreten: Ballen und Ferse. Doch der Herr hier muss liegend mit den Füßen gegen eine Mauer, einen Bordstein, irgendetwas Festes oder Raues getreten haben, sodass seine Schuhe auch dort Markierungen zeigen, wo normalerweise nie welche sind. Wäre er später wieder aufgestanden, wären die Kratzspuren in der Fußbeuge nicht mehr so frisch gewesen wie die an Ballen und Ferse. Die letzten Bewegungen mit seinen Füßen hat er also wahrscheinlich in der Horizontalen gemacht und das …«

»… bedeutet, dass er sich noch am Boden liegend gewehrt hat, oder aber, dass seine Füße im Todeskampf gegen etwas stießen«, vollendet Stave. »Ein heftiger Schlag auf den Schädel, der den Knochen zertrümmert«, sinniert er, »der Mann stürzt, das Todeszucken schüttelt seinen Leib, dabei tritt er mit den Sohlen gegen eine Wand oder Ähnliches, Ende.«

»Nette Theorie.«

»Steht das so in Ihrem Bericht an Dönnecke?«

»Der Oberinspektor war nicht wirklich glücklich darüber. Er sagte, dass ein einstürzendes Haus alle möglichen Spuren bei Leichen hinterlässt. Ich solle mir um die verdammten Ledersohlen keine Gedanken machen.«

Stave schweigt lange. »Was, glauben Sie, werden Sie entdecken, wenn Sie sich den Toten noch einmal vornehmen?«, will er schließlich wissen.

Ein Achselzucken. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich denke nur, dass unser namenloser Freund es verdient hat, dass ich ihn mir noch einmal genauer ansehe.«

»Jetzt?«

Czrisini schüttelt den Kopf. »Ich bin müde. Der Tote wird mir nicht davonlaufen.«

Der Oberinspektor blickt ihn an, die eingefallenen Wangen, die gelbliche Haut, die Hände, die leicht zittern. Früher hätte Czrisini sich die Nacht um die Ohren geschlagen, um einem Toten sein Geheimnis abzuringen.

»Gut«, sagt er. »Danke für Ihre diskrete Hilfe.«

Stave schlendert abends die Alster entlang. Er hat keine Eile, denn niemand wartet in der Wohnung auf ihn. Wenn wenigstens der Sommer seinen Namen verdienen würde, denkt er, dann könnte er die milden letzten Stunden des Tages auf dem Balkon verbringen. Seine dunklen, klammen Zimmer kommen ihm wie Gefängniszellen vor. Stave geht über die Lombardbrücke und entschließt sich, einen Umweg über die Mönkebergstraße zu machen. Im Regen leuchtet das rote Licht der Ampel, einer der beiden, die in Hamburg wieder in Betrieb sind. Die Straße queren nur wenige Autos und zwei Lastwagen der Briten, doch Hunderte Fußgänger halten diszipliniert an der Ampel, bis sie auf Grün springt.

Die Mönkebergstraße war einmal Hamburgs beliebteste Einkaufsmeile. Sie ist schmaler geworden, weil noch immer Trümmer und Fassadenreste auf den Bürgersteigen zu beiden Seiten liegen. Doch viele Geschäfte sind wieder geöffnet. Stave passiert das Levantehaus, dann den wuchtigen Klotz von C&A, das früher ein jüdisches Geschäft war, 1938 jedoch »günstig arisiert« worden ist. Der Oberinspektor hätte gedacht, dass man es nach dem Mai 1945 den alten Eigentümern zurückgeben würde, doch das war nie geschehen. Vielleicht gab es ja keine alten Eigentümer mehr.

Der Kripo-Beamte blickt in die Schaufenster zu beiden Straßenseiten. Auf seinem Bezugsschein gab es zehn amerikanische Zigaretten für Juni. Zusammen mit den Glimmstängeln der letzten Monate, die er allesamt aufgespart hatte, waren sie an seinen Sohn gegangen. Der hatte die Schätze auf dem Schwarzmarkt zu Reichsmark gemacht. Auch ein nettes Geschäft, das ich nicht mehr machen kann, denkt Stave, nun, wo er beim Chefamt S ist. Mit den Reichsmarkbündeln in der Hand fühlt er sich beinahe wie in Friedenszeiten – aber nicht lange.

Die Auslagen sind höhnisch leer. Ein Teller hier, eine Hose dort, einige dünne Mäntel daneben. Stave geht in das Geschäft gegenüber von C&A, wo ein Relief aus martialischen Steinfiguren und einem Löwen das Portal bewacht.

»Waren die Russen bei Ihnen?«, fragt er einen müden jungen Verkäufer. »Der Laden sieht aus, als wäre er leergeplündert.«

Ein abschätzender Blick. »Kommen Sie gerade aus der Kriegsgefangenschaft zurück?«

»So ähnlich.«

»Alle reden seit Wochen nur noch vom Tag X, deshalb gibt es hier so wenig.«

»Der Tag X ist schuld?«

»Unsere zweite Kapitulation. Die Kapitulation der Reichsmark. Der Tag, wenn uns die Amis neues Geld geben. Keiner weiß genau, wann das Geld eingeführt wird oder wie viel jeder von uns bekommen soll. Aber dass neues Geld kommen wird, das ist mal klar. Das muss ja so sein. Hier funktioniert nichts mehr.«

»Und deshalb verkaufen Sie nichts mehr gegen altes Geld?«

»Wir verkaufen, was wir auf Lager haben. Aber die Firmen produzieren nichts mehr. Oder sie produzieren, aber horten dann.

»Haben Sie noch ein Herrenhemd, meine Größe?«

»Nein.« Dann blickt sich der Verkäufer um, beugt sich vertraulich vor. »Versuchen Sie es doch mal beim Otto-Reuter-Geschäft.«

Stave lächelt leicht. Otto Reuter, O.R., »Ohne Rechnung«, ein kleiner Handel an der Steuer vorbei. Der Kerl würde dumm gucken, wenn er jetzt seinen Polizeiausweis zückte. Aber andererseits: Würde er dann ein Hemd bekommen?

»Was hat Otto Reuter da?«

»Bloß noch ein einfaches Arbeitshemd, hellblau. 22,50 Reichsmark.«

Der Oberinspektor verzieht keine Miene. Vor dem Krieg hat so etwas 3,50 Reichsmark gekostet. Aber was soll’s? Wenn schon sehr bald das alte Geld nichts mehr wert sein wird, dann ist jeder Preis ein guter Preis. Er legt 23 Reichsmarklappen auf den Tresen.

Der Verkäufer verschwindet in einem Lager und erscheint bald darauf mit einem in Packpapier eingewickelten Hemd. Er gibt ihm fünf Zehn-Pfennig-Briefmarken zurück.

»Keine Münzen?«

»Münzen werden gehortet. Es gibt Gerüchte, dass sie nicht entwertet werden. Und selbst wenn: Metall ist Metall. Da hat man was in der Hand.«

»Hoffen wir, dass der Tag X bald kommt. Sonst können wir keine Briefe mehr schreiben.« Stave ist sich ziemlich sicher, dass es illegal ist, Briefmarken als Geldersatz auszugeben. Er stopft die Marken in seine Brieftasche. »Gibt es hier irgendwo Rasierklingen?«

»Drei Läden weiter. Zum Sechzehnfachen des offiziellen Preises. War heute Mittag zumindest noch so.«

»Otto Reuter?«

»Sie waren wirklich lange weg.«

Am späten Abend sitzt Stave erschöpft in seinem kargen Wohnzimmer und blickt hinaus. Im Fenster sind Hitzespuren vom Feuersturm 1943 zurückgeblieben: kleine, amöbenförmige angeschmolzene Stellen im Glas, in denen sich das gelbliche Mondlicht bricht. Der Regen hat aufgehört, die Wolkendecke ist zerrissen. Aber die Luft ist kalt, der Nordwestwind böig. Das ist bloß eine Pause, denkt der Kripo-Beamte, das ganze lange Wochenende wird es unangenehm bleiben.

Seine Gedanken wandern zu den zerschmetterten Kunstwerken im Reimershof. Und zu der Leiche, deren Identität er nicht nachforschen darf. Einer von Zehntausenden Toten der Kriegszeit. Wen kümmert heute so ein Schicksal? Heute denken alle an das neue Geld. Er ertappt sich dabei, dass er seit mindestens einigen Minuten mit der Hand über die Narbe knapp unterhalb des Herzens streicht. Noch mal Glück gehabt, sagt er sich. Doch schließlich denkt er an Karl, der in seinem Schrebergarten hockt und Tabak anbaut. An Anna, die in diesem Augenblick vielleicht in ihrer feuchten Kellerwohnung in Altona aus dem hoch gelegenen Fenster in den gleichen Himmel starrt. Oder die noch zwischen einsturzgefährdeten Trümmern unterwegs ist, das Mondlicht ausnutzend, um Kunstwerke und Antiquitäten aus den Ruinen zu bergen. Oder die vielleicht gar nicht allein ist, die lacht oder … Er zwingt diese Gedanken fort. Glück, denkt er, ist das falsche Wort, um meinen Zustand zu beschreiben.