Deutsche Mark

Sonntag, 20. Juni 1948

Stave wacht pünktlich um vier Uhr früh auf, wie immer ohne Wecker. Wenn er sich am Abend vornimmt, am nächsten Morgen zu einer bestimmten Uhrzeit aufzustehen, dann endet sein Schlaf genau zu dieser Zeit, als würde ihn eine innere Uhr steuern. Er schleicht sich in die Küche, um Karl nicht zu wecken. Tag X. Graues Licht, Regen, viel zu kalt für den beginnenden Sommer. Er schneidet schimmelige Stellen aus dem Graubrot und wirft sie in den Ascheimer, vom brauchbaren Rest teilt er sich ein Drittel ab und verschlingt das Frühstück mit etwas Wasser aus dem Hahn. Es würde zu lange dauern, die Brennhexe anzuwerfen. Vielleicht kann er sich später irgendwo einen Ersatzkaffee besorgen.

Der Oberinspektor trägt sein Fahrrad durch das halbdunkle Treppenhaus. Stille. Nur unter der Wohnungstür von Flasch schimmert schon Licht durch den Spalt. Flüchtig fragt sich der Kripo-Beamte, wie sein Nachbar zur Landeszentralbank gelangen wird.

Als er über die leere Ahrensburger Straße fährt, kommt es ihm vor, als würde die Stadt noch einmal Atem holen, bevor sie sich hineinstürzen würde in … In was hineinstürzen? Ein Abenteuer? Eine neue Zeit? Oder eine riesige Enttäuschung?

Kurz vor halb sechs erreicht er den Platz vor dem Rathaus und lehnt sein Rad an einen Peterwagen. Vor der Landeszentralbank haben Schupos Posten bezogen, am Eingang patrouillieren englische Militärpolizisten. Lastwagen mit qualmenden Motoren stehen an der Seitenwand des Gebäudes, neben jedem Fahrer sitzt ein Bewaffneter.

»Heute geht es los!«, ruft Hauptpolizist Ruge.

»Zurück in die Postenkette!«, kommandiert ein unwirscher, übermüdeter Schupo. Ruge schneidet eine Grimasse und gehorcht.

Stave sammelt sich mit einigen Krimsches um Cuddel Breuer.

»Kinder«, sagt ihr Chef, »das muss jetzt glatt über die Bühne gehen. In dem Kasten da drin lagern 600 Millionen Mark. 600 Millionen Deutsche Mark, die sind so viele Reichsmark wert, die Zahl könntet ihr gar nicht auf ein Blatt Papier schreiben. Die uniformierten Kollegen und die Engländer werden das jetzt an die 1300 Geldausgabestellen in der Stadt verteilen. Unsere Aufgabe ist es, die Verladung zu sichern. Danach habt ihr frei. Ihr könnt zu euren Ausgabestellen gehen und euch das neue Geld abholen. Und morgen sind wir alle reiche Krimsches.«

Der erste Lastwagen rollt vor das Portal. Keine Kisten mehr, denkt Stave. Sie haben das Geld in plombierte Säcke umgeladen. Es dauert nur ein paar Augenblicke, dann ist die Ladefläche voll. Der nächste. Und noch einer. Und noch einer. Kein Passant auf dem zugigen Rathausplatz, keine verdächtige Bewegung in einer Nebenstraße, kein Geräusch außer dem Tröpfeln des Regens auf seiner Hutkrempe. Der Oberinspektor erkennt Flasch, der zu den Beamten gehört, die neben jedem Geldsack herlaufen und große Schirme über sie halten, damit sie auf den wenigen Metern vom Portal bis zur Ladefläche nicht nass werden. Einmal sieht ihn sein Nachbar und hebt zum Gruß den Schirm. Stave erwidert die Geste mit einer Hand.

Nachdem der letzte Lastwagen über den Alten Wall davongerumpelt ist, fahren einige Postautos vor. Auch sie werden mit Säcken vollgestopft. Dann Busse. Irgendwann müssen die Tresore doch leer sein, wundert sich Stave. Er muss bis 6.30 Uhr durchhalten, als endlich das letzte Fahrzeug vor der Landeszentralbank abgefertigt wird.

»Heim zu Muttern!«, ruft Cuddel Breuer. »Unsere Arbeit ist erledigt. Jetzt dürfen wir Geld tauschen!«

Während die meisten Kollegen eilig verschwinden, läuft Stave zum Bankgebäude. Vor einem britischen Militärpolizisten zückt er seinen Ausweis und gelangt so durch das Portal. Im Innern hält er den ersten Mitarbeiter an, der ihm über den Weg läuft. Aus seiner Manteltasche zieht er den Fünf- und den Zehn-Pfennig-Schein. »Ist das das neue Geld?«, fragt er den verblüfften Mann.

»Wo haben Sie das denn her?«, stammelt der Beamte. »Das dürfen Sie doch gleich erst eintauschen.«

Zwei Minuten später ist der Oberinspektor wieder draußen. Er betrachtet eine kleine Gruppe Schupos, die noch immer das Gebäude sichern. Die Männer haben ihre Tschakos tief in die Stirn gezogen, in der vergeblichen Hoffnung, sich so besser gegen den Regen zu schützen. Ruge. Er tritt zu ihm, sehr nah, flüstert bloß, damit es kein Kollege mitbekommt: »Hätten Sie heute Nachmittag Lust auf einen Abstecher?«

»In meiner Freizeit?«

»Ja. Und Sie sollten in Zivil kommen.«

»Ich bin dabei. Wohin soll es gehen?«

»Wir treffen uns um vier Uhr. Am Goldbekplatz.« Der Oberinspektor tippt zum Abschied mit dem Zeigefinger an den Hut und schlendert davon.

»Werden wir den Fall lösen?«, ruft ihm der junge Schupo hoffnungsvoll hinterher.

»Darauf können Sie Ihre neue Deutsche Mark wetten«, antwortet er.

Der Oberinspektor fährt zurück und verstaut sein Fahrrad. Die Wohnung ist leer. Karl ist erwachsen, mach dir keine Sorgen, sagt er sich. Er eilt zu seiner Lebensmittelkartenausgabestelle in der Nachbarschaft, um sich das neue Geld abzuholen.

Eine lange Schlange auf dem Bürgersteig, wohl dreihundert Meter oder mehr. Gestalten unter nassglänzenden Überwürfen, Hüten, Regenschirmen. Blaue Rauchfäden der Zigaretten in kühler Luft. Der Geruch nach alten Schuhen und ungewaschenen Körpern. Überall wird geflüstert, es ist wie ein elektrisches Summen, das die Luft füllt. Eine Spannung, halb wie vor einer Kinopremiere und halb wie im Wartezimmer eines Zahnarztes. Der Kripo-Beamte vernimmt nur geflüsterte Worte: »Deutsche Mark.« »Neue Töpfe.« »Wird nichts draus.« »Wieder trifft es den kleinen Mann.« »Amilappen.« »Neue Zeit.« »Nylonstrümpfe.«

Langsam kriecht die Menge voran. Wie viele Lebensjahre habe ich mit Schlangestehen vergeudet?, fragt sich Stave. Ob das je aufhören wird? Unauffällig sieht er sich um. Polizistenblick. Dann entspannt er sich ein wenig. Wirkt nicht so, als würde hier gleich Unruhe ausbrechen. Keine lauten Parolen, keine Rempler. Geduldig stehen Frauen und Männer im Regen, schicksalsergeben. Er hätte jetzt gerne einen heißen Ersatzkaffee getrunken.

Nach einer guten Stunde hat er den Eingang erreicht. An der Wand daneben klebt ein Plakat: »Bekanntmachung zur Währungsreform«. Niemand liest mehr die zwei Spalten Text. Vorwärts! Als hätte jeder Angst, dass genau vor seiner Nase das Tor zugeschlagen wird und man nicht mehr an das Geld kommt.

Er zeigt einem müden Ordner seinen bläulichen Personalausweis der Britischen Zone, dazu die aktuellen Lebensmittelkarten, um sich auszuweisen.

»Weitergehen«, murmelt der und winkt schon den Nächsten heran. Wer keine Papiere hat, der bekommt kein neues Geld. Wir werden heute mehr Illegale herausfischen als bei der größten Razzia, denkt Stave.

Geschiebe im Innern, stickige Luft, gedämpfte Stimmen. Mehrere Tische quer im Raum, wie eine Barriere. An jedem sitzen vier Angestellte der Stadt, an der Wand dahinter deutsche und englische Polizisten. Schilder über den Tischen teilen die Kunden alphabetisch ein. Der Kripo-Mann stellt sich in die Schlange vor »S–Z«. Über das Kopftuch der Frau vor ihm erhascht er einen Blick auf den Tisch: Karteikästen, Stempel, ein großes, schwarzes Telefon, bündelweise alte Reichsmarkscheine, abgegriffen, zerfleddert. Sie sehen wie Lumpen aus neben akkuraten, wie gebügelt wirkenden Stapeln neuer grüner, blauer, brauner Scheine. Plötzlich schlägt sein Herz schneller und er sieht ungeduldig auf die Uhr.

»Ihr Ausweis.« Ein verschwitzter, glatzköpfiger Beamter blickt ihn aus wässrigen Augen an. Stave zückt wieder seine Papiere, aufgeregt nun wie ein Schüler vor dem Examen. Der Glatzkopf kontrolliert das Dokument, ein Mann neben ihm notiert etwas in einer Liste, sucht danach aus einem großen Holzkasten die Kartei mit seinem Namen heraus.

»Familienvorstand?«

Als Stave den Beamten bloß verständnislos anblickt, seufzt der tief. »Familienvorstände dürfen für alle Mitglieder ihrer Familie das Geld eintauschen. Wie ist das bei Ihnen?«

Er denkt an Karl, der unter seiner eigenen Adresse gemeldet ist und hoffentlich genauso wie er jetzt irgendwo in einer Ausgabestelle wartet. »Nein«, antwortet er, »ich tausche nur für mich.« Klingt irgendwie wie das Eingeständnis des Scheiterns.

»Dann erhalten Sie Ihr Kopfgeld von vierzig Deutschen Mark.« Der Beamte leiert das herunter, er hat es in den letzten Stunden schon hunderte Mal gesagt. Stave kann ihn kaum verstehen. »Sie geben uns vierzig Reichsmark dafür. In zwei Monaten dürfen Sie weitere zwanzig Mark tauschen. Vom Umtausch ausgenommen sind Münzen und Scheine bis eine Reichsmark. Die sind weiterhin gültig, allerdings nur noch zu einem Zehntel des Nennwerts. Verstanden?«

Der Oberinspektor nickt betäubt und schiebt sein Bündel herüber. Es sind die besterhaltenen Reichsmarkscheine, die er in seiner Brieftasche gefunden hat. Der dritte Angestellte hinter dem Tisch zählt es rasch nach, legt es danach auf die Stapel alter Scheine. Der vierte Mann drückt ihm ein flaches, neues Bündel in die Hand.

»Bitte auf dem Formular quittieren. Weiter.«

Verwirrt tritt Stave zur Seite, lehnt sich mit der Hüfte an den Tisch, betrachtet die Scheine in seiner Faust – und staunt. Ein blauer Schein mit einem Muster, das an Eichenblätter erinnert: »Eine halbe Deutsche Mark – Serie 1948«. Ein Schein in Türkis, Gelb und Braun, am Rand ein heroischer Mann in Denkerpose, Papier in der Rechten, davor ein Globus, dahinter ein Schiff: »Fünf Deutsche Mark«. Majestätisch-blau und rot, eine Justitia im Zentrum, eine stolze Frau mit Waage und Schild: »Zehn Deutsche Mark«.

Ehrfürchtig streicht er mit den Fingerkuppen über das jungfräuliche, feste Papier, saugt den Duft ein. Gediegenheit. Zuverlässigkeit. Ist doch bloß Papier, sagt ihm eine innere Stimme. Und doch fühlt sich das ganz anders an als die alten Reichsmarknoten. In dieser einen Sekunde, am Rande des Durcheinanders in der Ausgabehalle, weiß er plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass er nie wieder mit Zigaretten oder einem Pfund Butter bezahlen muss. Ich halte eine Revolution in der Hand, denkt er, und nichts wird in Deutschland so bleiben, wie es ist.

Rasch blättert er den Rest des Bündels durch. Ganz unten leuchten Fünf- und Zehn-Pfennig-Scheine. »Euch habe ich schon einmal gesehen«, flüstert er zufrieden und tritt ins Freie.

In der Wohnung wartet Karl auf ihn. Er hat seine Markscheine auf dem Küchentisch ausgebreitet wie ein aufgedecktes Kartenspiel. »Daran muss ich mich wohl jetzt gewöhnen«, sagt er leise.

Stave weiß nicht recht, ob er eher Hoffnung auf die Zukunft aus diesem Satz heraushört – oder Furcht davor. »In einem halben Jahr werden wir nicht mehr wissen, wie die alten Reichsmarklappen aussahen«, antwortet er.

»Du glaubst also wirklich an den Erfolg des Amigeldes?«

»Es ist nun unser Geld, Karl. ›Deutsche Mark‹. Nicht ›Alliierte Mark‹. Das ist doch mal ein Anfang.«

»Das klingt, als wärst du stolz auf dieses Geld.«

Er starrt seinen Sohn verblüfft an, denkt nach, nickt verwundert. »Du hast recht. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, aber ich bin stolz.«

»Wer hätte gedacht, dass du dich mal nicht von der Vernunft leiten lässt«, erwidert Karl gutmütig. Dann blickt er wieder auf die Scheine. »Viele Bücher«, murmelt er und schaut auf den Tisch, als sähe er die Werke schon vor sich.

»Die neuen Rotationsromane bekommst du für ein paar Pfennige pro Buch. Mit dem Geld da«, Stave deutet auf die Scheine, »kannst du dir eine ganze Bibliothek leisten.«

»Aber deinen Schuhschrank wirst du damit nicht so schnell füllen.«

»Wie meinst du das?«

»Gehst du heute noch mal in die Stadt?«

»Ja, zum Goldbekplatz. Dienstlich.«

»Mach einen Umweg über die Mönkebergstraße. Sieh dir die Geschäfte an.«

»Es ist Sonntag. Kein Laden hat geöffnet.«

»Was nicht heißt, dass die Herren Krämer auf der faulen Haut liegen. Sieh es dir einfach an.«

»Kommst du mit?«

»Ich muss mich um meinen Garten kümmern. Wir sehen uns in den nächsten Tagen bestimmt.«

Eine winzige schwarze Blume der Enttäuschung. Stave will sich davon jedoch nicht niederdrücken lassen. »In den nächsten Tagen also«, erwidert er und zwingt sich zu einem Lächeln.

»Vielleicht finde ich ja noch einen Kiosk, der auch sonntags geöffnet ist. Mal sehen, ob die dort einen dieser Rotationsromane haben.« Er rafft die Scheine zusammen und wedelt mit dem Bündel. »Heil, Deutsche Mark!«, ruft er. Doch er klingt dabei nicht bitter – er lacht. Karl lacht, lacht wie ein junger Mann, fröhlich, spöttisch, unbeschwert. Wann habe ich das bei ihm das letzte Mal erlebt?, fragt sich Stave. Und dann lacht er mit, bis die Wunde in seiner Brust schmerzt, und selbst das fühlt sich für ihn noch köstlich an.

Der Oberinspektor macht sich früher auf den Weg, als er eigentlich müsste, denn er hält sich an Karls Ratschlag. Schon lange vor der Mönkebergstraße allerdings weiß er, worauf sein Sohn angespielt hat: Die Läden sind voll. »Neue Währung – neue Preise!« auf zwei riesigen Plakaten über den Auslagen eines Damenmodegeschäfts. Gestandene Männer und Frauen, die sich wie neugierige Kinder an Schaufenstern die Nasen plattdrücken. Die mit offenem Mund staunen. Stave steigt von seinem Rad und schiebt. Menschen überall, trotz des schlechten Wetters. Schließlich stoppt er und blickt die Mönkebergstraße hinunter.

»Das glaube ich einfach nicht«, murmelt er. Dann ertappt er sich dabei, dass er soeben zu sich selbst gesprochen hat. Lass dich davon nicht umhauen, ermahnt er sich – und hat doch das Gefühl, als zöge ihm jemand den Boden unter den Füßen weg.

Zigarren in Schaufensterauslagen. Flaschen mit Rheinwein. Räucherwürste, auf Porzellantellern zu kunstvollen Stapeln geschichtet. Röcke. Herrenhüte. Töpfe. Bei einem Autohändler steht sogar ein blitzender, schwarzer Opel Olympia im Schauraum. »6785,00 DM« auf einem Pappschild hinter der Frontscheibe. Der Kripo-Beamte braucht einen Augenblick, um zu begreifen, was die Buchstaben bedeuten sollen.

Und Schuhe, Schuhe, Schuhe. Herrenschuhe aus Leder. Helle Damenschuhe mit Absatz. Kindersandalen. Arbeitsstiefel.

»Wo kommt das alles her?«, flüstert eine ältere Frau, die neben Stave an ein Schaufenster getreten ist.

Ein junges Mädchen deutet auf ein Schild in einer Ecke der Schaufensterauslage: »Keine gehorteten Waren!« steht darauf. »Alles gelogen«, zischt sie.

Stave wendet sich ab, zu fassungslos, um wütend zu sein. Das erniedrigende Gefühl, betrogen worden zu sein. Die Erkenntnis, dass diese Mangelwaren, diese Schätze, diese Lebensnotwendigkeiten, für die man in den letzten Jahren wie ein verschämter Freier über windige Schwarzmärkte schleichen musste, um grinsenden, jugendlichen Schiebern seinen ererbten Schmuck anzubieten – dass diese Waren schon lange da waren. Nur dass sie versteckt waren, unsichtbar, gehortet in Lagern, Hinterzimmern, Kellern. Gehortet von Händlern, bei denen man täglich seine Lebensmittelmarken einlöste, die man seit Jahren kannte, Nachbarn. Die aber trotz des Elends ihre Sachen zurückhielten, bis heute, bis zum Tag X. Neue Währung.

Noch sind die Geschäfte geschlossen. Stave blickt sich um. Ob die enttäuschten Passanten die Schaufenster einschlagen und die Läden stürmen werden? Sieht nicht so aus, denkt er. Alle wirken eingeschüchtert von dem Reichtum, der ihnen entgegenfunkelt, der nur noch durch eine Glasscheibe von ihnen getrennt ist.

Das ist das Ende des Schwarzmarktes, durchfährt es den Kripo-Mann. Ich muss mich beeilen.

Er ist pünktlich an der Straße vor dem Goldbekplatz. Ruge wartet schon auf ihn. Der Oberinspektor erkennt ihn erst, als der junge Mann praktisch auf seine Zehen tritt. Ohne Uniform sieht er aus wie ein Primaner.

»Ich habe selbstverständlich keine Waffe dabei«, flüstert Ruge.

»Ich habe Sie auch nur einbestellt, damit Sie mein Fahrrad bewachen, während ich zuschlage«, zischt Stave. Ruges Gesichtszüge entgleisen. Der Kripo-Beamte lacht und klopft ihm auf die Schulter. »War nur ein Scherz«, versichert er. »Sie müssen sich nicht um diese alte Gazelle hier kümmern. Und eine Waffe werden wir auch nicht brauchen.« Für einen Moment denkt er an seine Schusswunde, doch rasch wischt er die Angst beiseite. Lass dich nicht verrückt machen.

Stave hat aus seinem Keller ein Stück dicken Draht und ein verrostetes Vorhängeschloss mitgenommen. Damit kettet er sein Rad an einen Laternenmast.

»Das kann sogar meine Großmutter knacken«, bemerkt Ruge.

»Dann hoffe ich, dass Ihre Großmutter nicht gerade jetzt auf dem Schwarzmarkt Geschäfte macht. Morgen kaufe ich mir ein neues Schloss.«

»Oder ein neues Fahrrad.«

»Auf jeden Fall muss ich mir hier nichts mehr besorgen.« Der Oberinspektor nickt in Richtung des Goldbekplatzes.

»Die Schieber flattern herum, als sei eine Handgranate hochgegangen«, spottet der junge Schupo.

Stave fragt sich flüchtig, ob Ruge auch noch an der Front war, sagt dazu aber nichts. »Sind Sie schon lange hier?«, raunt er.

»Ich sehe mir das jetzt seit einer Viertelstunde an. Wirkt eigentlich wie immer: Schieber, Spritzer, Kerle mit Aktentaschen, Jungs, die Schmiere stehen, Mütter mit Einkaufsnetzen. Zigaretten, Kaffee, ein wenig Butter. Die Läden sind ja heute noch geschlossen. Aber man spürt, wie nervös alle sind. Morgen werden die Geschäfte öffnen und das hier wird kollabieren, jeder weiß das. Da wollen die Schieber noch mal ein letztes großes Geschäft machen, aber niemand weiß, ob es besser ist, seine letzten Sachen zu verschanzen oder, ganz im Gegenteil, jetzt alles zu kaufen, was überhaupt nur angeboten wird.«

Stave und Ruge schlendern unauffällig über den Platz. Geflüsterte Preise. Jacken, die sich blitzschnell öffnen. Aber: rasche Blicke hierhin, dorthin, Fingerkuppen, die sie aneinanderreiben, etwas zu lautes Lachen. Morgen seid ihr erledigt, denkt der Kripo-Mann. Bin gespannt, in welchem Metier ihr euch übermorgen herumtreibt. Jede Wette, dass ihr auch in Zukunft Kunden der Krimsches bleiben werdet.

»Nach wem suchen wir?«, haucht Ruge ungeduldig.

»Nach einem Bekannten von mir«, antwortet Stave. »Nur Geduld, der Mann ist ungefährlich. Eigentlich tut er mir sogar leid.«

Kurz darauf stößt er den jungen Schupo leicht in die Rippen und deutet mit dem Kopf nach vorne. »Da ist unser Kerl.«

»Der sieht wirklich harmlos aus«, erwidert Ruge, eine Spur enttäuscht.

Kurt Flasch. Klein, dünn, halbblind von den Regentropfen auf seiner gelöteten Nickelbrille, so geht er im Zickzack über den Platz. Fahrige Bewegungen, unglücklicher Gesichtsausdruck.

»Sind Sie sicher, dass das der Geldfälscher ist?«, zischt Ruge.

»Der hat in seinem Leben noch keine Blüte fabriziert«, antwortet der Oberinspektor und tritt von hinten auf seinen Nachbarn zu. »Herr Flasch, Sie sind verhaftet«, sagt er leise. »Wenn Sie keine Dummheiten machen, erspare ich Ihnen die Peinlichkeit, Ihnen mitten auf dem Platz Handschellen anzulegen.«

Flasch fährt erschrocken herum, starrt Stave an, wirft einen flatternden Blick auf Ruge, wendet sich dann wieder dem Kripo-Mann zu. Seine fahle Haut wird noch um eine Nuance weißer. »Ich habe nichts verbrochen«, stammelt er.

»Das sehen die Alliierten anders«, erwidert der Oberinspektor und legt Flasch die Rechte auf die Schulter. Er spürt das Schlüsselbein des Mannes selbst durch seinen dünnen Regenmantel. Bei der Mordkommission hat er nie Mitleid mit den Leuten gehabt, die er verhaften musste. Schließlich waren das Täter, die einem anderen Menschen das Leben genommen hatten. Nun aber denkt er an Flaschs korpulente Frau im Erdgeschoss und die ständig unruhigen Kinder und fühlt sich irgendwie schäbig. »Vielleicht kommen Sie mit einer Geldstrafe davon«, sagt er, ohne Überzeugung.

»Was werfen Sie mir denn eigentlich vor?« Die Augen hinter der großen Brille verraten dem Oberinspektor allerdings, dass Flasch längst alles ahnt.

»Sie haben die neuen Pfennigscheine auf dem Goldbekplatz verkauft«, erwidert der Kripo-Mann. Inzwischen hat er ihn unmerklich bis zur Mauer der verlassenen Chemiefabrik geleitet. Er drückt den kleinen Mann bis in das aufgebrochene Portal des Gebäudes. Man könnte sie für drei Männer halten, die eines der üblichen Schwarzmarktgeschäfte abwickeln.

»Herr Ruge wird Sie jetzt durchsuchen. Es wird schnell gehen und niemandem auffallen«, versichert Stave.

Ruge macht sich an die Arbeit und filzt den Verhafteten. Geschickte Hände, denkt Stave, das ist nicht mehr der grüne Junge mit acht Wochen Ausbildung, den ich letztes Jahr kennengelernt habe. Der wird vielleicht wirklich bald ein Krimsche werden. Ruge bringt ein Taschentuch, ein paar Zigaretten und etliche Reichsmarknoten zum Vorschein – und ein Dutzend Fünf-Pfennig-Scheine, zusammengehalten von einer Büroklammer.

»Sie sitzen ja an der Quelle«, brummt Stave und betrachtet die Scheine.

»Ich habe heute Morgen mein Kopfgeld abgeholt, wie jeder andere auch«, verteidigt sich Flasch.

»Jeder hat vier Fünf-Pfennig-Scheine bekommen, nicht zwölf.«

»Ich habe schon etwas gekauft und Wechselgeld erhalten.«

Der Oberinspektor hält eine Note ins Licht. Grüngelbe Farbe. Das Muster leicht verschoben. Er zieht seine Brieftasche hervor und holt einen Fünf-Pfennig-Schein heraus. Dieselbe Farbe. Das Muster nicht verschoben. Flasch lässt die Schultern hängen und blickt auf den schmutzigen Boden. »Sie sind mir eine Erklärung schuldig«, sagt der Oberinspektor.

»Wie sind Sie mir überhaupt auf die Schliche gekommen?«

»Das war nicht gerade schwer. Nach ein paar Hinweisen war ich ziemlich sicher, dass die Geldscheine keine Blüten sind, sondern echte Banknoten. Das neue Geld. Wer kann schon vor dem Tag der Währungsreform an solche Scheine kommen? Ein Alliierter? Aber der würde die Noten kaum auf dem Schwarzmarkt verschanzen, was hätte jemand, der in Britischen Pfund bezahlt wird, schon dabei zu gewinnen? Also ein Deutscher. Bleibt eigentlich nur jemand von der Landeszentralbank übrig. Die Scheine tauchten zuerst auf dem Goldbekplatz auf. Sie trieben sich auf dem Goldbekplatz herum. Es war absurd einfach.«

»Ich war bloß zufällig an dem Tag da.«

»Sie haben mich vor dem Händler gewarnt, der giftiges Torpedoöl als Bratöl verkauft hat. Das weiß man nur, wenn man sich ziemlich oft hier herumtreibt.«

»Es lohnt sich nicht, hilfsbereit zu sein«, murmelt Flasch resigniert.

Stave schüttelt den Kopf. »Hätten Sie geschwiegen, wären Sie auch nicht davongekommen.«

»Warum haben Sie mich dann nicht früher verhaftet?«

»Weil ich zwei Dinge nicht verstehe und ich dachte, dass ich die erst klären muss, bevor ich zuschlage. Aber jetzt, da das neue Geld da ist, muss ich Sie festnehmen und verstehe immer noch das Wesentliche nicht: Warum haben Sie diese Scheine vor dem Tag X verkauft? Hätten Sie bis heute gewartet, dann hätte Ihnen niemand etwas nachweisen können. Und warum riskieren Sie so viel mit Pfennig-Noten und nicht mit Markscheinen?«

Flasch macht ein gequältes Gesicht. »Ich wollte den richtigen Moment abpassen«, gesteht er. »Als das Geld in den Holzkisten bei uns in der Landeszentralbank ankam, da haben wir die Scheine bündelweise gestapelt. Dabei ist uns ziemlich schnell aufgefallen, dass einige Fünf- und Zehn-Pfennig-Scheine Fehldrucke sind. Sie haben es gerade selbst gesehen: Farbe und Muster sind nicht ganz deckungsgleich. Das passiert immer wieder, das war schon bei der alten Reichsmark so, bei neuen Serien ist das noch viel häufiger der Fall, bis die Druckstöcke endlich richtig eingerichtet sind. Solche Fehldrucke kommen in die Trommel.«

»Die Trommel?«

»Eine Art Papiermühle. Die Feldrucke werden zerkleinert, bis das Papier fast wie Mehl ist. Zwei Kollegen bedienen die Trommel, werfen Geldbündel hinein, überwachen den Vorgang, bis nur noch Fetzen übrig sind. Diese Trommel sieht ungefähr so aus wie eine Waschmaschine. Allerdings ist sie oben offen. Sie können hineinsehen, während die Scheine zermahlen werden.«

»Und nicht nur hineinsehen – Sie können auch hineinfassen«, sagt Stave, dem langsam einiges klar wird.

»Deshalb sind wir ja stets zu zweit. Einer überwacht den anderen. Aber mein Kollege war erkältet. Er hat gehustet und sich einmal kräftig die Nase geschnäuzt und dabei abgewendet. Nur ein, zwei Sekunden lang. Da habe ich in die Trommel gegriffen und herausgeholt, was ich noch zu packen bekam.«

»Wie viele Scheine?«

»Acht Zehn-Pfennig-Scheine. Etwa zwanzig Fünfer.«

Der Oberinspektor schließt die Augen und zwingt sich, nicht zu lachen. Die ganze Aufregung für ein paar lächerliche Pfennigscheine!

»Ich habe die Scheine in den Hosenbund gestopft«, fährt der Bankmitarbeiter fort, »und bis zum Dienstschluss gewartet. Und dann bin ich auf den Goldbekplatz gegangen, da habe ich schon öfter Geschäfte gemacht. Legale Geschäfte.«

»Nichts auf dem Schwarzmarkt ist legal«, kommentiert Ruge.

Stave sagt dazu besser nichts, sondern blickt den Verhafteten an. »Aber gerade Sie wussten doch, dass die Währungsreform jetzt kommt. Warum haben Sie nicht die paar Tage noch gewartet? Warum wollten Sie die Noten sofort wieder verschanzen?«

»Ich habe doch Frau und Kinder!«, jammert Flasch. »Hätte ich bis heute gewartet, dann wäre ich jetzt um ein paar Pfennige reicher. Das ist ein Witz, dafür hätte ich dieses Risiko gar nicht eingehen müssen. Ich habe mir gedacht, du verkaufst die Scheine vorher, dann bekommst du einen besseren Preis. Ein Paar Kinderschuhe vielleicht. Oder«, er wird rot, »vielleicht Damenstrümpfe.«

»Haben Sie einen guten Preis erzielt?«

Flasch sieht zu Boden und schweigt.

»Na, muss ich auch nicht wissen«, murmelt der Oberinspektor versöhnlich. »Auf jeden Fall sind die Scheine ziemlich schnell bei den Engländern gelandet. Und die haben sich mächtig darüber aufgeregt.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich habe geglaubt, dass das keine großen Kreise ziehen wird. Sind doch bloß ein paar Pfennige. Und jetzt fällt es eh niemandem mehr auf.«

»Jetzt ist es zu spät.«

»Lassen Sie mich laufen. Es sind doch nur ein paar Pfennige«, fleht Flasch.

Stave zögert eine Winzigkeit. Untersuchungshaft. Gerichtsverfahren. Ein englischer Richter wird Flasch verurteilen. Ein Jahr Haft? Auf jeden Fall wird der Bankmitarbeiter seinen Beamtenstatus verlieren. Keine Arbeit und eine Familie zu Hause. Das alles für ein paar Pfennige. Dann wirft er Ruge einen raschen Blick zu. Ein Zeuge der Verhaftung. »Ich kann Sie nicht vom Haken lassen«, sagt er entschuldigend und überlegt sich, Flasch doch noch Handschellen anzulegen. Nicht, weil der fliehen würde, sondern weil er fürchtet, er könnte sich auf dem Weg vor ein Auto oder vor die Straßenbahn werfen. Am Ende entscheidet er sich dagegen.

»Machen wir einen Spaziergang bis zur Kripo-Zentrale«, ordnet er an.

»Auf dieses Vergnügen werde ich wohl in Zukunft verzichten müssen«, erwidert Flasch und trottet ergeben neben den beiden Polizisten den Bürgersteig entlang.

Später ist Stave allein in seinem Büro. Flasch sitzt in Untersuchungshaft, Ruge hat er nach Hause geschickt. Jetzt greift er zum Hörer. MacDonald wird erfreut sein, denkt er. Da es Sonntag ist, wählt er die Privatnummer des Lieutenants. »Hallo?« Eine weibliche Stimme. Stave ist für einen Moment so verblüfft, dass er keinen Ton herausbringt. Dann erkennt er die Stimme wieder.

»Frau Berg!«, ruft er. »Frau MacDonald«, korrigiert er sich hastig.

»Zu spät, Herr Oberinspektor. Ich habe Sie erkannt. Immer im Dienst, so wie früher?« Ihre Fröhlichkeit. Plötzlich zieht es Stave das Herz zusammen vor Sehnsucht. Sehnsucht nach der alten Zeit, nach der Mordkommission, nach Ernas unzerstörbarem Optimismus. Sentimentalitäten. Ich werde weich. Und doch bleibt da ein Stich Verlangen zurück. Verlangen danach, sonntags auch zu Hause zu sitzen, mit einer Frau, die lachend ins Telefon spricht.

»Wie geht es Iris?«

»Die Kleine saugt mich leer. Sie schreit die ganze Nacht. Sie verdreckt mehr Windeln als eine Kompanie Soldaten mit der Ruhr. Alles so, wie es sein soll.«

Stave würde sie gerne noch nach ihrem Sohn fragen. Nach ihren Plänen. Nach dem bald bevorstehenden Umzug. Ob sie schon weiß, wohin es gehen wird? Doch das scheint ihm indiskret zu sein. »Ist Lieutenant MacDonald zu sprechen?«, presst er stattdessen hervor.

»Sie wollen mir James doch nicht etwa am Sonntag entführen?« Ein Körnchen Sorge in der Stimme.

»Im Gegenteil: Ich werde seine Wochenendlaune noch verbessern.«

»Dann lautet die Antwort: Ja, James ist zu sprechen.«

»Alter Junge, Sie sind nicht beim Gottesdienst?«

Stave ist einen Augenblick lang verwirrt. »Ich gehe noch hin. Und stopfe ein paar Scheine in die Kollekte«, erwidert er schließlich.

»Fünf- und Zehn-Pfennig-Scheine? Sie haben den Kerl?«

»Der König von England und der Präsident der Vereinigten Staaten können wieder beruhigt schlafen gehen: Der Saboteur der neuen Währung sitzt hinter Schloss und Riegel.« Stave berichtet von der Aufklärung des Falles.

»Acht Zehn-Pfennig-Scheine und zwanzig Fünfer«, resümiert MacDonald und lacht schallend. »1,80 Deutsche Mark und das Britische Empire wackelt! Das überrascht Sie nicht, natürlich. Ich bin froh, dass wir keine viel größere undichte Stelle im System haben. Stellen Sie sich vor, es wäre irgendeiner bei uns Alliierten gewesen. Oder gar der Leibhaftige: Uncle Joe Stalin, der not amused ist, dass in der Trizone die Deutsche Mark eingeführt wird, und der uns eine Laus in Gestalt eines NKWD-Saboteurs ins Fell gesetzt hätte. Was hätten wir getan, wenn Stalin tatsächlich dahintergesteckt hätte? Wären wir nach Sibirien marschiert? Gott, bin ich erleichtert, dass es nur so ein armseliger Kerl ist.«

»Armselig, ja«, murmelt Stave.

»Sie kennen ihn?«

»Ein Nachbar. Ein armes Schwein.« Er erzählt auch diesen Teil der Geschichte.

»Na los, heraus damit!«, fordert ihn der Lieutenant auf, als er geendet hat.

»Heraus mit was?«

»Alter Junge, ich kenne Sie so gut wie Ihr Badezimmerspiegel. Sie machen mir nichts vor. Sie wollen, dass ich mich für diesen Flasch einsetze.«

»Sie haben gewisse Verbindungen.«

»Aber Sie haben den Kerl verhaftet und die Sache schon an den Ankläger abgegeben.«

»Es ging nicht anders. Ich war nicht allein.«

»Verstehe.« Stille am anderen Ende der Leitung. »Wissen Sie was? Der Fall wird vor einem britischen Schnellrichter landen, dafür werde ich sorgen. Als eins der üblichen Schwarzmarktdelikte. Aus Ihrer zweifellos lückenlosen, aber glücklicherweise auf Deutsch verfassten Akte mache ich einen einzigen englisch geschriebenen Anklagepunkt. Sagen wir: ›Bei Razzia gestellt mit ungewöhnlicher Menge Bargeld, aber ohne rationierte Ware.‹ Zehn Minuten Verhandlung, ein Urteil, ein paar Wochen Haft, der Nächste bitte. Nicht angenehm, aber alltäglich. Das hat ja schon beinahe wieder was Ehrenhaftes. Sie werden Flasch danach bei der Landeszentralbank irgendeine Disziplinarstrafe aufbrummen. Aber sie werden ihn nicht entlassen.«

»Wenn ich Erna nicht etwas anderes versprochen hätte, würde ich jetzt bei Ihnen vorbeiradeln, Sie unter den Arm klemmen und mich in der nächsten Kneipe mit Ihnen volllaufen lassen.«

»Ich frage mich, warum unsere Völker jemals Krieg gegeneinander geführt haben. Probleme lassen sich doch so einfach lösen. Ich werde Sie zu gegebener Zeit an Ihr Angebot erinnern.«

Stave sitzt an seinem Schreibtisch und ordnet die Akten. Es ist still in dem riesigen Gebäude, bis auf das feine Rauschen des Regens an den Scheiben. Er schiebt Papiere hin und her, doch das ist ihm zu wenig. Er könnte bersten vor Energie. Einfach ohne Ziel durch Hamburg fahren mit seinem neuen Rad? Sinnlos. Nach Hause gehen? Da wartet niemand auf ihn. Schließlich erkennt er, dass es eigentlich nur eines gibt, was er tun muss. Vermassle es diesmal nicht, ermahnt er sich.

Ein paar Augenblicke darauf fährt er den Holstenwall hinunter, Richtung Elbe. Am nassdunklen, turmhohen Bismarckdenkmal vorbei, rechts in die Hafenstraße, dann die Palmaille. Kaum ein Auto auf der Straße, die Bürgersteige sind leer – bis auf die Bereiche vor den Schaufenstern der Läden, wo sich immer noch Menschentrauben bilden, Knäuel aus Schirmen, Mänteln, Regencapes. Im Vorbeifahren erkennt der Oberinspektor bloß Hinterköpfe, denn jedermann starrt auf die Auslagen. Die Fassungslosigkeit liegt wie ein seltsamer Geruch über dem Asphalt.

Je weiter er kommt, desto kräftiger tritt er in die Pedale. Das große Mehrfamilienhaus zur Linken. Die Durchfahrt mitten im Gebäude, die aussieht wie das Tor zu einem Innenhof, tatsächlich jedoch den Weg zu einer kleinen Sackgasse freigibt: Röperstraße. Stave rast nun, zerrt vor der Hausnummer 6 so heftig am Bremshebel, dass der Reifen Gummi vom Bremsklotz abhobelt. Egal, denkt er flüchtig, ich werde mir einen neuen Klotz kaufen. Mit hastigen Bewegungen fummelt er an seinem selbstgebauten Schloss, bis er die Gazelle endlich gesichert hat. Er holt tief Luft, damit sich sein Herzschlag ein wenig beruhigt, klopft schließlich an die schäbige Tür zur Kellerwohnung. Bitte sei da, fleht er. Schritte hinter dem Holz, ein Schlüssel im Schloss, ein schabender Vorhängeriegel. Anna.

»Du«, sagt sie bloß. Aber sie öffnet die Tür weit.

Stave weiß nicht, was er erwidern soll. Sie hat die Haare in einem lockeren Knoten zurückgebunden, doch eine Strähne fällt ihr ins Gesicht. Sie trägt ein helles Kleid, das er noch nie gesehen hat. Er hätte Blumen mitbringen sollen, irgendetwas. Verlegen tritt er ein. Ihr Duft, als er eng an ihr vorbei in den Flur geht, während sie hinter ihm die Tür sorgfältig wieder abschließt. Die Wohnung besteht aus einem Kellerraum und der ehemaligen Waschküche. Die Ziegelwände sind mit weißer Kalkfarbe gestrichen, ein paar Nägel, die in die Fugen gehämmert sind. Daran hängen Bilder, die Anna geborgen hat. Ein Tisch, zwei Stühle, vor dem hochgelegenen Kellerfenster ein schiefer Wohnzimmerschrank, dessen Türen fehlen. Auf einem Bord an der Wand einige alte Bücher in braunen und blauen Einbänden mit ausgeblichenen Titeln auf dem Rücken, daneben zwei zerlesene Rotationsromane. Ein zweiter Tisch, darauf ein altes Ölbild – der Rahmen gelöst, die Leinwand eingerissen. Beute aus einer Ruine, ein Stück, das gerade restauriert wird. Das große, viereckige Becken der ehemaligen Waschküche. Die Wände schwitzen Wasser aus. Ihm kommt es vor wie das Paradies.

»Du überraschst mich«, sagt Anna und lächelt.

»Ich überrasche mich selbst«, gesteht er. Und dann tut er, was er schon vor Monaten hätte tun sollen. Er geht den einen Schritt bis nah zu ihr, nimmt sie in die Arme und küsst sie.