Chefamt S

Freitag, 11. Juni 1948

Stave steht neben dem bronzenen Elefanten, den die Krimsches »Anton« getauft haben. Ein Kunstwerk aus der Zeit, als die Kripo-Zentrale noch der Stammsitz einer Versicherung gewesen ist, in der versunkenen Vorkriegswelt der zwanziger Jahre, als sich sogar die fischblütigen Zahlenmenschen eines Konzerns luxuriöse Scherze wie eine drei Meter hohe, tonnenschwere glänzende Tierfigur neben dem Eingangsportal leisten wollten. Es ist erst sieben Uhr morgens. Obwohl es einer der längsten Tage des Jahres ist, badet die Stadt in grauem Licht. Feine Wasserschleier treiben in der Luft, zu dicht für Nebel, zu zart für Regen. Das Wetter ist kalt für einen Frühsommertag.

Noch im Treppenhaus streift der Oberinspektor den klammen, dünnen Mantel ab. Er lässt sich Zeit, sieht ihn ja niemand zu so früher Stunde. Er hinkt die in wilden Mustern gefliesten Stufen hoch, die alte Wunde im Fußgelenk aus der Zeit der Bombennächte. Die neue spürt er auch, aber weniger: eine Narbe auf der Brust, ein wenig rot noch, länger als ein Zeigefinger, doch gut verheilt schon, wie ihm die Ärzte versichert haben. Gelegentlich noch ein Schmerz, eher ein Ziehen, wenn er sich zu rasch bewegt. Und die Stiche beim Atmen, vor allem dann, wenn er sich anstrengt. Das wird auch noch vorbeigehen. In seiner Straßenkleidung sieht man ihm schon nichts mehr an, höchstens, dass er noch etwas hagerer ist als zuvor.

Der Flur im sechsten Stock ist verlassen wie der Führerbunker im April 45. Sein Vorzimmer, das Reich von Erna Berg. Erna MacDonald. Keine neue Sekretärin. Wozu auch? Zuerst, nach der Geburt von Ernas Tochter, war gerade keine qualifizierte Bewerberin da gewesen. Und danach hatte man ja niemanden einstellen müssen – nicht für einen Oberinspektor, der im Universitätskrankenhaus lag. Die schwere, schwarze Schreibmaschine, die auf dem Tisch stand, fehlt. Hat sich wohl ein Kollege organisiert, denkt Stave. Ist ja jetzt auch gleichgültig.

Sein Büro. Eine dünne Staubschicht auf dem Schreibtisch, keine neuen Akten, keine Anzeigen, keine Fotos aus dem Labor, kein Obduktionsbericht von Doktor Czrisini. Er zieht die Schublade eines Metallschranks auf: in grünen Hängeregistraturen die Akten der gelösten Fälle, die der ungelösten muss jemand mitgenommen und einem anderen Beamten hingelegt haben. Eine Schublade voller dünner Hängeordner aus Pappe – die Leistung eines Berufslebens. Sieht nicht übermäßig imposant aus, denkt der Kripo-Mann. Aber was zählt ist das, was unsichtbar ist: der verhaftete Mörder. Die Sühne vor Gericht. Der Trost für die Angehörigen der Opfer, ein schwacher Trost zwar, aber immerhin. Und vor allem: die Befriedigung, ja das Glück, wieder ein Rätsel gelöst zu haben.

»Es müssen ja nicht Mordfälle sein«, murmelt Stave und schiebt die Lade wieder zu, die mit einem metallischen Schlag in ihren Rahmen knallt.

Systematisch räumt er seinen Schreibtisch aus, wirft Zettel und bis zur letzten Seite vollgekritzelte Notizblöcke weg. Am Ende legt er einige Bleistifte und Blöcke auf die Platte, seine Ernennungsurkunde der Kriminalpolizei, auch ein Relikt der untergegangenen Weimarer Republik, die Karteikarten mit den Aberhunderten Adressen von Tätern, Opfern, Kontaktpersonen, Informanten und Verdächtigen, die er in Jahren zusammengetragen hat, einen Vorkriegsstadtplan von Hamburg und einen neuen Falkplan, in dem die zerbombten Viertel rot schraffiert sind und blaue Linien die Grenzen der britischen Sperrzone an der Alster markieren. Dazu eine Lupe, ein Federmesser. Mit dem Nippes und den Souvenirs, die manche Kollegen angesammelt haben, hat er noch nie etwas anfangen können. Und Fotos von Karl oder seiner verstorbenen Frau Margarethe wollte er nie im Büro haben; und erst recht kein Bild von Anna. Von ihr, fällt ihm erst jetzt auf, hat er nicht einmal ein Foto zu Hause.

Er stopft seine Habseligkeiten in eine lederne Aktentasche, deren Schloss nicht mehr schließt. Er hat sie auf dem Schwarzmarkt erstanden – wenn das die Kollegen wüssten. Inzwischen hört er Stimmen vom Flur, Schritte, Türenschlagen. Stave wird sich nun zum Dienstantritt melden. Der Chef wird nicht erfreut sein zu hören, was er ihm zu erzählen hat.

Cuddel Breuer wuchtet seinen massigen, muskulösen Körper aus dem Sitz, als Stave eintritt, kommt ihm entgegen, schüttelt ihm die Hand, ehrliche Freude im Gesicht. Macht mir die Sache nicht einfacher, denkt der Oberinspektor.

»Ich möchte gerne die Abteilung wechseln«, sagt er geradeheraus.

»Hat der Kerl vom Baumwall Sie auch am Kopf erwischt?«, fragt sein Chef und lässt sich in seinen Stuhl fallen. Noch immer lächelt er, doch irgendwie ist in seinen Zügen ein Licht erloschen. »Kommen Sie erst einmal hier an. Leben Sie sich ein. Sie müssen nicht sofort wieder einen Fall bearbeiten. Nicht sofort wieder hinaus.«

»Die Mordkommission ist nichts mehr für mich.«

»So eine Schusswunde kann einen ganz schon aus der Bahn werfen. Ich meine, nicht nur körperlich. Durchdenken Sie die Sache. Nehmen Sie sich Zeit.«

»Ich hatte im Krankenhaus Zeit genug zum Nachdenken. Es ist nicht so, dass ich plötzlich Angst hätte, mir könnte so etwas noch einmal passieren.«

»Warum wollen Sie dann wechseln? Zur Mordkommission kommen nur unsere Besten. Ich selbst habe Sie dorthin versetzt. Die Arbeit da war sicher spannender als die, die Sie vorher gemacht haben.«

Ein feiner Hinweis darauf, dass die Nazis Stave kaltgestellt hatten – und dass ihm das auch in den neuen Zeiten wieder drohen könnte. Was soll Stave antworten? Dass er einem wie Dönnecke nicht mehr über den Weg laufen möchte? Dass er sich bei jedem Kollegen fortan fragen würde, ob der zu denen gehört, die seine ehemalige Sekretärin als »Veronika« geschmäht haben? Dass er sich bei der Mordkommission so tief in Fälle eingegraben hatte, dass er keine Zeit mehr hatte für seinen Sohn und die einzige Frau, die er liebt?

»Das ist eine komplizierte Geschichte«, erwidert er.

»Es gehört zu meiner Arbeit, komplizierte Geschichten zu einem einfachen Ende zu führen«, brummt Breuer. »Haben Sie Angst, dass ich Ihnen Vorwürfe mache, weil Sie sich niederschießen ließen? Oder dass ich Sie nach der Abreibung frage, die man dem Kerl in der Ruine verpasst hat?«

»Nein. Das eine ist Berufsrisiko. Das andere ist Oberinspektor Dönneckes und Ihre Angelegenheit.«

Breuer murmelt Unverständliches, doch er holt einen Ordner hervor und blättert in den Akten. »Wohin wollen Sie denn?«

»Zum Chefamt S.«

Sein Vorgesetzter knallt den Ordner wieder zu. »Was ist los mit Ihnen, Stave? Kinder, seid Ihr denn alle verrückt geworden? Was will einer wie Sie bei der Abteilung, die den Schwarzmarkt bekämpft?«

»Das ist eine wichtige Arbeit.«

»Das war eine wichtige Arbeit! Waren Sie denn die letzten Wochen im Krankenhaus gar nicht bei Bewusstsein? Haben Sie nichts gehört?«

»Vom Tag X?«

»Dem Tag X, in der Tat. Seit Wochen schwirren Gerüchte herum: Wir kriegen neues Geld. Fort mit der alten, wertlosen Reichsmark! Das ist nur noch Altpapier. Irgendwann geben uns die Alliierten eine neue Währung. Keiner weiß wann, keiner weiß, wie alles werden wird, aber jeder hofft das Beste. Die Schaufenster der Läden sind noch leerer als sonst. Die Leute nehmen ihre Reichsmarklappen und zahlen bündelweise für alles, was sie trotzdem noch kriegen können. Sie glauben gar nicht, wie voll die Theater und Kinos sind. So viele Kulturinteressierte gab es noch nie, da die Kultur ja praktisch nichts mehr kostet. Wer weiß, ob man nicht nächste Woche die Tausendmarkscheine nur noch als Toilettenpapier verwenden kann?«

»Klingt doch nach goldenen Zeiten für den Schwarzmarkt.«

»Unsinn. Das ist das erste Mal, seit die Nazis verschwunden sind, dass ich nervöse Schieber gesehen habe. Niemand weiß, was mit der neuen Währung kommt. Vielleicht kollabiert ja die Wirtschaft endgültig. Dann gibt es aber auch nichts mehr auf dem Schwarzmarkt zu verhökern, dann werden wir alle wieder Bauern und graben in Holstein die Felder um. Aber vielleicht funktioniert es ja auch: Dann werden die Menschen wieder richtiges Geld verdienen und richtige Waren in richtigen Geschäften kaufen, so wie in der guten, alten Zeit. So oder so: Wer braucht da noch den Schwarzmarkt? Und da wollen sie zum Chefamt S, wo sie den Schwarzmarkt bekämpfen!« Breuer klopft auf den Ordner. »Ich habe hier ein Dutzend Versetzungsgesuche von Kollegen: weg vom Chefamt S, egal wohin! Wenn ich Sie bestrafen wollte, Stave, dann würde ich sie zum Chefamt S versetzen.«

»Sie belohnen mich.« Zum ersten Mal lächelt der Oberinspektor. »Im Krankenhaus kann man nicht viel tun, außer die Risse im Wandputz zu zählen und nachzudenken. Ich habe nicht nur an den Schwarzmarkt gedacht, Chef, sondern auch an die Ruinen, an die kaputten Straßen, an den Strom, den man uns immer wieder abschaltet, an die zerbombten Werften, die zertrümmerten Bahnhöfe, an die klapprigen, qualmenden Vorkriegsautos mit Holzvergasern, an die Schuhe aus zerschnittenen Gummireifen und die Kleider aus umgenähten Fallschirmen. Auf absehbare Zeit wird kein Deutscher mehr nach Russland oder sonst wo in der Welt einmarschieren. Überhaupt wird die Welt wenig von uns wissen wollen. Wir sind allein, und uns bleibt gar nichts anderes übrig, als den Trümmerhaufen wieder aufzubauen. Goldene Zeiten für findige Leute – ob nun Schwarzhändler oder ehrliche Kaufmänner. Viel Geld wird fließen, sehr viel Geld, in welcher Währung auch immer. Und wo viel Geld fließt, da sind die Kriminellen nie weit. Mag sein, dass das Chefamt S abstirbt. Aber daraus wird eine Abteilung für Wirtschaftsdelikte werden, das geht gar nicht anders. Das ist die Zukunft. Da will ich dabei sein.«

»Schmuggler und Hehler statt Leichen und Mörder?«

»Klingt in meinen Ohren nicht nach einem schlechten Tausch.«

»Da hören Sie eine Melodie, die niemand sonst auf diesen Fluren hört.« Breuer bemüht sich nun nicht länger, seine Enttäuschung zu verbergen. »Also gut. Ich habe hier ein Dutzend Beamte, die mir die durchgelaufenen Sohlen meiner alten Schuhe küssen würden, wenn ich sie zur Mordkommission versetze. Ich werde mir einen davon herauspicken. Sie dagegen können sofort Ihre neue Stellung antreten. Sie kennen ja den Flur. Melden Sie sich bei Bahr vom Chefamt S und suchen Sie sich ein Büro aus, es stehen dort einige leer.«

Als Stave ein letztes Mal über den Flur der Mordkommission geht, um seine Aktentasche zu holen, tritt ihm ein Beamter in den Weg: an die sechzig Jahre alt, schwer, wuchtiger Schädel, um den sich ein Ring aus Haaren legt wie der Lorbeerkranz auf dem Haupte eines Kaisers, tiefliegende, stechende Augen. Cäsar Dönnecke.

»Willkommen zurück, Kollege.« Er reicht ihm nicht die Hand.

»Auf Wiedersehen«, antwortet der Oberinspektor. »Ich gehe zum Chefamt S.« Er will sich vorbeidrängeln. Doch Dönnecke legt ihm eine Pranke auf die Schulter.

»Ich wusste immer, dass Sie zu weich sind für diese Arbeit, Stave«, flüstert er. Sein Atem stinkt nach kaltem Tabak. »Aber dass Sie so weich sind, hätte ich nicht gedacht. Ein Schuss und Sie verkriechen sich dorthin, wo Ihnen garantiert nichts geschieht. Der Schwarzmarkt ist am Ende, haben Sie das noch nicht gehört? Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis uns die Amerikaner neues Geld schenken. Dann lösen sich die Kunden vom Chefamt S auf wie ein Furz bei Nordwind.« Er imitiert erstaunlich naturgetreu das passende Geräusch und wedelt mit der behaarten Rechten. »Und dann? Was machen Sie dann?«

»Dann stelle ich mich mit einer Kelle auf den Stephansplatz und regle den Verkehr.«

»Das wäre eine Verbesserung.« Dönnecke lacht, lässt ihn los.

Stave geht zwei Schritte, dreht sich dann aber noch einmal um. »Was haben Sie mit dem Kerl vom Baumwall gemacht?«

Der wuchtige Alte zwinkert einen Moment lang irritiert, dann verzieht er seine fleischigen Züge zu einem freudlosen Grinsen. »Das hat sich geklärt. Sie könnten es in den Akten nachlesen – wenn Sie noch in der Mordkommission wären.«

Stave hat schon die Tür zu seinem Büro erreicht, als Dönnecke noch hinter ihm herruft – absichtlich so laut, dass es alle Kollegen hören können, denkt der Oberinspektor: »Wie geht es eigentlich Ihrer Sekretärin? Dieser Erna – wie war noch einmal ihr Nachname?«

»Veronika«, antwortet Stave ebenso laut und drückt die Klinke hinunter.

Einige Minuten später steht er ein paar Meter tiefer auf einem nahezu identischen Flur. Bei der Kripo sind die Abteilungen nach Bedeutung und Prestige auf die Stockwerke verteilt. Ganz oben die Mordkommission. Nur eine Etage darunter das Chefamt S, denn die Bekämpfung des Schwarzmarktes genoss seit 1945 höchste Priorität. Der Oberinspektor sieht sich um: Niemand steht auf dem Gang, die Türen zu etlichen Büros sind bloß angelehnt, nirgendwo hört er das Klacken einer Schreibmaschine. Sieht so aus, als würde dieses Stockwerk bald von einer anderen Abteilung bezogen werden.

Er geht auf die einzige Tür zu, hinter der er eine Stimme hört. Jemand telefoniert. Er klopft, tritt ein.

Ein Kollege, der vor dem Krieg einmal füllig gewesen sein muss, legt gerade mit einer resignierten Bewegung den schweren, schwarzen Hörer auf die Gabel. Wilhelm Bahr ist der Leiter des Chefamtes S – ein Mann, dem die Entbehrungen der letzten Jahre das Fett weggeschmolzen haben, seine alte Haut hängt nun schlaff an seinen Wangen und seinem Hals wie zerschlissene Segel an einem windstillen Tag. Stave hatte beim Fall des Trümmermörders mit ihm zusammen eine Razzia organisiert. Damals war er energisch und fröhlich gewesen, nun schaut er müde auf seinen Besucher. Ein Mann, der fürchtet, dass er verloren hat.

»Ich bin Ihr neuer Kollege«, sagt Stave und reicht ihm die Hand.

»Sie müssen verrückt sein. Ich habe gerade mit Cuddel Breuer gesprochen.« Bahr klopft auf den Hörer, schüttelt ihm aber immerhin die Hand.

»Selbst Sie glauben, dass diese Abteilung am Ende ist?«

»Nein. Wir werden in Zukunft wachsen und gedeihen. Aber niemand sonst in diesem Haus glaubt das.«

»Jetzt sind wir immerhin schon zwei«, erwidert der Oberinspektor.

Bahr schüttelt ungläubig den Kopf und wirft ihm einen Stapel Papiere zu. »Lesen Sie!«

Stave nimmt den obersten Zettel, ein liniertes Blatt, offenbar aus einem Schulheft herausgerissen, darauf in schwarzer Tinte und in ungelenken Buchstaben: Hiermit gebe ich Ihnen bekannt, dass der Fuhrunternehmer Kröger Straße 102 an der Kieler Straße, auf seinem Hof eine große Menge Hafer gelagert hatt. Ein Teil davon von Ungeziefer schon umgekommen ist, die Not ist so groß warum solche Zustände? Das Auto was Herr Kröger besitzt wird nur für Schwarzfahrten benutzt, dafür erhält Herr Kröger Brennstoff geliefert. Jetzt wird Nutz. u. Bauholz gefahren auf seinen Hof als Brennholz hunderte Meter.

»Was will uns der Dichter damit sagen?«, murmelt Stave.

»Dass er im Deutschunterricht nicht aufgepasst hat.« Bahr deutet verächtlich auf den Packen Papiere. »Denunzianten! So etwas segelt uns hier jeden Tag rein. Früher haben wir das meiste ignoriert und uns auf die dicken Fische konzentriert. Jetzt kümmern wir uns um diesen Dreck. Kollege, wir arbeiten hier die reguläre 56-Stunden-Woche, keine Überstunden wie in der Mordkommission, das verspreche ich Ihnen. Aber diese 56 Stunden können ziemlich zäh dahinfließen.«

»Kann ich mir ein Büro aussuchen, oder weisen Sie mir eines zu?«

»Gehen Sie nach nebenan. Schöner Blick über den Karl-Muck-Platz, viel Sonne, das Fenster schließt dicht. Wichtig im Winter – falls wir nächsten Winter noch hier sind. Eine eigene Sekretärin bekommen Sie aber nicht.«

»Ich werde mich daran gewöhnen.«

»Noch etwas: Wollen Sie heute erst einmal Ihre Sachen im Büro verstauen und sich einrichten? Oder wollen Sie schon einen Fall übernehmen?«

»Verdorbener Hafer an der Kieler Straße?«

»Nein. Kunstwerke in einem Trümmergrundstück. Hehlerware vielleicht, vielleicht auch Vorkriegszeug. Keine Abteilung will sich darum kümmern, also landet es beim Chefamt S.«

»Klingt interessanter, als mein Büro einzurichten. Das hat Zeit. Und viel Arbeit macht es sowieso nicht.« Der Oberinspektor deutet auf seine Aktentasche.

»Gut. Ziehen Sie los: Kontorhaus Reimershof an der Reimersbrücke. Gegenüber der Ruine von Sankt Nikolai. Die Schupos sind schon da. Ich organisiere Ihnen einen Wagen. Scheint so, als gebe es dort zeitgleich einen zweiten Fall, den ein Kollege der Mordkommission bearbeitet. Hat wohl nichts mit unserer Sache zu tun.«

»Welcher Kollege?«

»Oberinspektor Dönnecke.«

»Verdammter Mist.«

»Ich sagte es Ihnen ja: Wir stehen hier nicht auf der Gewinnerseite.«

Die grauschwarze Wolkendecke hängt so niedrig am Himmel, als könnte sie sich jeden Moment auf die Ruinen legen. Feiner Regen wirbelt im Wind, ein Vorbote stärkerer Güsse. Stave schlägt den Mantelkragen hoch, obwohl er nur wenige Schritte von der Zentrale zu einem auf dem Platz parkenden Peterwagen laufen muss. Der Radiwa – Radiostreifenwagen – ist ein kastenförmiger, alter Mercedes Benz, ein ehemaliger Sanitätswagen der Wehrmacht, mit dem nun die Kollegen der Revierwache 66 an der Lübecker Straße durch Hamburg patrouillieren. Der Oberinspektor fragt sich flüchtig, warum Bahr ausgerechnet dieses Auto organisieren konnte. Vielleicht hat er mal auf diesem Revier gearbeitet. Er nickt dem älteren, müden Schupo hinter dem Steuer zu.

»Zum Reimershof am …«

»Weiß ich schon. Achtung mit der Beifahrertür, die springt manchmal während der Fahrt auf.«

Bilde ich mir das ein?, fragt sich der Kripo-Beamte. Kaum bin ich nicht mehr bei der Mordkommission, schon behandeln mich die uniformierten Kollegen weniger respektvoll.

Ein kurzer Weg, Stave wäre ihn gerne zu Fuß gegangen, trotz des miesen Wetters. Doch er wollte Bahr nicht gleich am ersten Tag einen Gefallen ausschlagen, den der ihm tut. Der alte Mercedes rumpelt über die Kaiser-Wilhelm-Straße und passiert Ruinen an der Stadthausbrücke. Die Außenwand eines Hauses ist fortgesprengt. Der Oberinspektor blickt im Vorbeifahren in ein aufgerissenes ehemaliges Büro im ersten Geschoss, in dessen aufgeweichter Wandtapete Regenschlieren seltsame Muster fräsen. Ihm kommt es vor, als würde ihn eine Fratze anlächeln. Zwischen zwei eingestürzten Mauern dreht ein einbeiniger Drehorgelspieler an seiner Kurbel. Der Kripo-Beamte wundert sich, wer ihm bei diesem Regen und an diesem verwüsteten Ort eine Münze spendieren soll. Am Rödingsmarkt unterqueren sie die grauen Stelzen der Hochbahn. Nur eine Station neben dem Baumwall und der Ruine, in der er niedergeschossen worden ist. Denk nicht daran, sagt sich Stave.

Er sieht schon die Nikolaikirche – oder das, was von ihr übrig geblieben ist. Deren schmaler, neogotischer Turm ragte, seit er sich zurückerinnern kann, in Hamburgs Himmel. Eine Zeitlang war das sogar der höchste Kirchturm der Welt gewesen. Nun steht er da wie ein kariöser Zahn: immer noch fast hundert Meter hoch, doch an beiden Seiten aufgerissen, als habe jemand zwei der vier Wände mit Hammer und Meißel abgeklopft. Die Treppen im Innern liegen frei, die Reste eines gewaltigen Glockenspiels glänzen regennass. Vom Kirchenschiff stehen noch drei, vier schwarz vernarbte Wandreste, abgehackte Pfeiler, steinerne Fensterrahmen und Rosetten, aus denen der Feuersturm das Glas weggeschmolzen hat.

Der alte Schupo umkurvt die Kirchenruine. Direkt dahinter führt die Reimersbrücke über das Nikolaifleet. Es ist Ebbe, rissige Spundwände und hölzerne Eichenbalken, vor Generationen in den weichen Boden gerammt, um die Häuser abzustützen, ragen aus dem schlammig braunen, kaum halbmetertiefen Wasser.

»Ich weiß nicht, ob die Brücke das Gewicht des Autos trägt. Ich parke mal davor«, brummt der Polizist und tritt hart auf die Bremse.

Stave murmelt Dankesworte.

»Soll ich hier auf Sie warten, Herr Oberinspektor?«

Der Kripo-Beamte will schon den Kopf schütteln, weil er, wann auch immer er hier fertig sein wird, die paar hundert Meter zurückgehen kann. Doch dann fällt ihm ein, dass es zwischen den Trümmern der Kontorhäuser zu beiden Seiten des Fleets sicher kein Telefon geben wird und es vielleicht nützlich wäre, ein Funkgerät zu haben, falls er einen Spezialisten hinzurufen muss.

»Machen Sie es sich bequem«, antwortet er.

Der Schupo nickt erleichtert. Offenbar ist es ihm ganz recht, untätig im Mercedes zu dösen.

Zwei Uniformierte haben die Reimersbrücke und die weiterführende Straße abgesperrt – was kaum nötig wäre, denn weit und breit ist kein Passant zu sehen. Stave zückt seinen gelben Kripoausweis.

»Ludwig Ramdohr«, stellt sich einer der beiden Schupos vor und salutiert. »Trümmerfrauen haben den Schlamassel entdeckt. Sie haben am Haus gearbeitet, als eine Windböe eine Mauer umgeworfen hat. Können von Glück sagen, dass sie nicht erschlagen worden sind. Als sich der Staub legte, haben sie ein Skelett entdeckt. Und dann noch ein Kunstwerk.«

»Um das Skelett kümmert sich ein Kollege. Mich interessiert nur das Kunstwerk. Was für eines?«

Ein gleichgültiges Achselzucken. »Neumodisches Zeugs.«

Stave denkt an Anna, die ihr Geld damit verdient, Kunstwerke und Antiquitäten aus Ruinen zu bergen, um sie an Engländer und Schwarzhändler zu verhökern. »Geht es präziser? Ein Bild? Eine Statue?« Er klingt schärfer, als es nötig wäre.

»Eine Statue, so wird man das wohl nennen können. Sieht für mich auch nicht schöner aus als das Skelett daneben. Kein Ding, das ich mir ins Wohnzimmer stellen würde.« Oberwachtmeister Ramdohr reibt das Brustschild seiner Uniform: eine kleine Metallspange, auf der oben das Wort »Hamburg« prangt, darunter das Wappen im Kreis, schließlich seine vierstellige Dienstnummer. Er tut das unbewusst, bis er Staves Blick bemerkt, der der Bewegung seiner Rechten folgt.

»Kann mich an diese englische Erfindung nicht gewöhnen«, entschuldigt sich Ramdohr.

»Immerhin glänzt die Marke schön.«

»Anders als das Kunstwerk. Das hätte eine gründliche Politur nötig. Ich führe Sie hin.«

Der Reimershof ist das erste Kontorhaus links hinter der Brücke, oder das, was davon noch übriggeblieben ist. Ursprünglich ein acht Stockwerke hoher Block, einst weiß verputzt. Die ebenfalls zerschmetterten Gebäude zu beiden Seiten waren aus Backstein errichtet worden, der Oberinspektor vermutet, dass der helle Putz ein Zeichen dafür ist, dass dieses Gebäude moderner war als die anderen. Zwanziger Jahre vielleicht, schätzt er, auch wenn das nun gleichgültig ist. In den weißen Putz haben sich braune und gelbe Feuchtigkeitsflecken gegraben, rund um jedes leere Fenster breitet sich ein rußig schwarzer Rand aus. Darüber der Himmel – kein Dach mehr. Volltreffer, denkt Stave. Brandbombe im Dachstuhl, und in der Angriffsnacht niemand da, der sich im Bombenhagel hinausgewagt hätte, um die Flammen zu löschen. Ein Feuer, das den Dachstuhl gefressen hat, bis der auf die Etagen darunter stürzte und alles in einer Lawine aus Holz und Stein und was auch immer dort gelagert gewesen sein mag in die Tiefe stürzte. In Hamburg stehen Hunderte Häuser wie dieses, mit fast intakten Außenmauern, ohne Fenstergläser, ohne Dach, das Innere ein Berg aus Schutt.

Am Eingang, in dem noch verkohlte Reste einer schweren Eichentür in den Angeln hängen, nickt ihm Polizeifotograf Ansgar Kienle zu. »Ich kümmere mich zuerst um den Toten, Herr Oberinspektor«, sagt er entschuldigend. »Dann widme ich mich Ihrem Fall.« Stave blickt ihn an: ein sommersprossiges, fröhliches Gesicht, das aus einer zeltartigen Regenpelerine leuchtet. Er hält den gewachsten Stoff des Umhangs schützend über seine kostbare Vorkriegs-Leica, den einzigen Fotoapparat im Besitz der Hamburger Kriminalpolizei.

»Die Sachen werden mir schon nicht wegrosten«, erwidert er. Der weiß auch schon, dass ich nicht mehr zur Mordkommission gehöre, denkt Stave. Spricht sich ja schnell herum. »Gut«, fährt er fort, »aber ich gehe trotzdem schon zum Fundort. Ich bin vorsichtig und zertrample Ihnen keine Spuren.«

»Das sagen sie alle«, seufzt Kienle und fingert an seiner Leica herum.

»Wo sind die Trümmerfrauen?«

»Hinter dem Reimershof«, antwortet Ramdohr. »Nachdem die Mauer umgekippt ist und sie die Leiche gefunden haben, wollten sie nicht drinnen warten. Sie können Sie befragen, nachdem …« Er zögert.

»Nachdem die Kollegen der Mordkommission ihre Fragen gestellt haben.«

Im Innern des Reimershofes ist es irreal still. Hügel zwischen den Wänden, manche bloß hüfthoch, andere ragen drei, vier Meter weit auf, ein Gebirge aus zertrümmerten Ziegeln, angeschwärzten Balken, verdrehten Kabeln und zersplitterten Fliesen. Gras überzieht einige flachere Stellen, mitten in der Ruine reckt sich eine Birke schon bis zu der Höhe empor, in der früher einmal der Fußboden der zweiten Etage gewesen sein muss. Keine Stelle ist eben, bei jedem Schritt knirscht es unter Staves Sohlen, manchmal rollen Steinchen die Abhänge herunter. Da die Außenmauern den Wind abhalten, fällt der Niesel in feinen, geraden Schleiern herunter, die Trümmer glänzen, es scheint ihm hier stärker zu regnen als draußen.

In der der Reimersbrücke abgewandten Seite klafft eine große Lücke. Dort ist die Wand auf einer Breite von mindestens fünf Metern nach innen gekippt.

»Die Trümmerfrauen standen zum Glück an der Außenseite«, erklärt Ramdohr. Unwillkürlich hat er seine Stimme gesenkt.

Der Oberinspektor nickt und tritt näher. Unter dem Gewicht der herabstürzenden Ziegel ist ein Gewölbe eingebrochen, das zuvor unter Trümmern verborgen gewesen sein muss. Der Keller, vermutet der Kripo-Beamte. An einer Stelle, die vielleicht einmal ein Lagerraum gewesen ist, jetzt aber wie eine Grube aussieht, in die Steine von allen Seiten hereingerutscht sind, stehen mehrere Schupos und ein Kollege in Zivil, den Stave nicht kennt. Er nickt einen flüchtigen Gruß herüber, geht jedoch nicht hinüber. Er kann einen Körper erkennen – eine skelettierte Leiche, Kleidungsreste über Knochen und ledriger Haut, das Grinsen eines Totenschädels. Der liegt nicht erst seit gestern hier, denkt er. Dann schüttelt er den Kopf. Kümmere dich nicht darum.

Der Oberwachtmeister führt ihn zu einer Grube am Rande des Kellereinbruchs, kaum mehr als eine Delle im Schutt.

»Hier ist Ihr Fall, Herr Oberinspektor.«

Stave erkennt zunächst gar nichts, doch als er in die Senke steigt, hält er für einen Moment erschrocken inne, weil er beinahe in ein Gesicht getreten wäre. Ein Kopf, halb verborgen unter pulverisierten, im Regen zu einer schlammigen Masse aufgeweichten Ziegeln. Behutsam wischt der Oberinspektor den Dreck beiseite. Ein Frauenkopf, lebensgroß, aus braunrotem Metall. Bronze, vermutet der Kripo-Beamte, auch wenn er kein Experte ist. Das Metall ist an den meisten Stellen mit Grünspan oder einer dünnen, schorfigen weißen Schicht überzogen, wie Flechten. Trotzdem kann er Züge erkennen: große Augen, eine leicht nach links gebogene Nase, ein lächelnder Mund. Ein Teil des Halsansatzes ist weggebrochen, ansonsten scheint die Büste unbeschädigt zu sein. Moderne Kunst wohl, sagt er sich, auch wenn er diese Skulptur noch nie gesehen hat. Wäre schön, wenn Anna hier wäre. Nicht nur wegen der Kunst. Stave schüttelt den Kopf, unzufrieden mit sich selbst. Das ist dein erster neuer Fall, lass dich nicht ablenken.

»Die Trümmerfrauen hätten uns dieses Zeug hier garantiert nicht gemeldet«, brummt Ramdohr vom Rand der Grube, »sondern unter einem Kittel mitgenommen und an einen Altmetallhändler verhökert. Nur das Skelett da drüben hat ihnen Beine gemacht. Sie haben es mit der Angst bekommen und uns gerufen.«

»Schon gut«, erwidert der Kripo-Mann ungehalten. Kein Grund, den Frauen Vorwürfe zu machen. Er erspart sich die Frage, ob der Oberwachtmeister denn nicht genauso gehandelt hätte.

»Ist übrigens nicht der einzige Schatz in diesem Trümmerhaufen«, sagt der Schupo leichthin und deutet auf eine Stelle etwa einen Meter von der Bronze entfernt.

Stave geht hinüber und stößt einen anerkennenden Pfiff aus. »Sie haben den Expertenblick!«, ruft er und meint das nur halb ironisch.

Drei Fragmente einer Gestalt, eine Frau vielleicht, auch wenn die Nase abgeschlagen und die Wangen aufgescheuert sind und die Fragmente des Oberkörpers wie ein grober Block wirken, sodass er das nicht sicher erkennen kann. Im ersten Augenblick glaubt Stave, eine Art ägyptische Götterskulptur vor sich zu haben, so archaisch wirkt die Form. Hellgrauer Stein, denkt er, doch als er das erste Fragment hochhebt, fühlt sich das Material seltsam vertraut an. »Die ist aus Beton«, murmelt er. Welcher Künstler würde damit arbeiten? Muss ziemlich modern sein.

Nun wühlt er sich systematisch durch den Schutt. Zweimal glaubt er, etwas gefunden zu haben, doch beide Male sind es bloß die silbrig glänzenden Endstücke britischer Stabbrandbomben. Die armlangen, schmalen Waffen sahen harmlos aus, fast wie etwas zu groß geratene Feuerwerkskörper. Zu Tausenden waren sie aus den Flugzeugen herabgeregnet, hatten die Dachpfannen durchschlagen und in den Speichern Phosphorfeuer entzündet, die gelb und rot brannten – flackernde Blumen, die in der verdunkelten Stadt erblühten. Die schweren Bombenendstücke aus Metall hatten am Morgen nach einem Fliegerangriff im Asphalt der Straßen gesteckt und waren von den überlebenden Kindern aus der teerigen Masse gezogen worden.

Nach einer halben Stunde, der durchnässte Schupo wirft ihm immer verdrießlicher werdende Blicke zu, birgt Stave am Rand der Grube noch etwas: die untere Hälfte eines Männerkopfes aus schwarz glasierter Keramik. Die Nase, die Augen, die Haare fehlen, die gezackte Bruchkante ist scharf. Ihn erinnert das an einen eingeschlagenen Schädel, den er als junger Kripo-Beamter bei einem seiner ersten Fälle sehen musste. Sosehr er auch sucht, kann er die obere Hälfte, oder auch nur Fragmente davon, nicht entdecken. Stattdessen gräbt er schließlich noch einige Münzen aus: 1- und 2-Mark-Stücke, Reichsmark aus den dreißiger Jahren, die Oberseiten angeschmolzen. Das Feuer der Brandnacht, denkt er.

»Die Kunstwerke lagen nicht im Keller«, sagt er schließlich zu Ramdohr, als er mühsam aus der Grube steigt. »Wäre alles auf sie draufgestürzt, wären sie noch sehr viel stärker beschädigt worden.« Er deutet auf die Münzen. »Die müssen oben aufbewahrt worden sein, im Dachstuhl oder in einer der höchsten Etagen. Dort hat eine Brandbombe gewütet. Aber die Objekte lagen nicht dort. Die Bronze ist nicht zerschmolzen, der Beton nicht angeschwärzt. Diese Sachen befanden sich mindestens ein, zwei Etagen darunter. Das Feuer oben und vielleicht auch Sprengbomben haben das Kontorhaus so beschädigt, dass schließlich alle Etagen in die Tiefe bis auf den Keller gestürzt sind und diesen eingedrückt haben.«

»Wie ein Stapel Teller, der einem aus den Fingern gleitet«, antwortet Ramdohr. »Beng-beng-beng, die Teller knallen nacheinander auf den Boden, und dann hat man ein großes Durcheinander.«

»Sie sprechen aus Erfahrung?«

»Ich habe zwei linke Hände, klagt meine Frau immer.«

Gut, dass Schupos keine Pistolen tragen dürfen, sagt sich Stave. »Der Reimershof wurde im Sommer 1943 getroffen«, fährt er fort. »Es ist also Kunst aus dieser Zeit oder den Jahren davor.« Kein Versteck eines Hehlers, kein Depot eines Schwarzhändlers, die gerne in Ruinen ihre geheimen Lager einrichten. Aber nicht in diesem Schutt und nicht diese Ware, denkt der Kripo-Beamte. Also eigentlich kein Fall für das Chefamt S, denn was hat das mit dem Schwarzmarkt zu tun? Aber wenn der Schwarzmarkt kollabiert, dann nimmt man, was kommt.

»Sieht nicht sehr wertvoll aus, wenn Sie mich fragen«, sagt der Oberwachtmeister abschätzig.

»Dann werde ich Sie nicht fragen.« Stave kommen Anna und die Reichsmarkbündel in den Sinn, die sie für manche ihrer Ruinenfunde bekommt. Staatsanwalt Ehrlich, der seine von den Nazis geraubte Vorkriegskunstsammlung um jeden Preis zurückhaben will. »Mag sein, dass wir jemanden unverhofft glücklich machen«, murmelt er. »Wir müssen bloß herausfinden, wer im Reimershof bis 1943 Räume gemietet hat.«

Stave bemerkt erstaunt, dass Ramdohr plötzlich eine Art soldatische Haltung annimmt. »Oberinspektor Dönnecke kommt«, zischt er.

Der massige Kollege steigt über den Schutt, gefolgt von drei jüngeren Beamten, die nur mühsam mit ihm Schritt halten können. »Kaum sind Sie nicht mehr auf unserem Flur, schon laufen Sie mir draußen über den Weg, Stave«, brummt er.

»Ihr Toter, meine Kunst.«

»Ihre sogenannte Kunst sieht nicht besser aus als meine alte Leiche.«

»Das eine hat vielleicht mit dem anderen zu tun.«

»Und die Welt ist eine Scheibe, und der Führer hat sich bloß in den Alpen versteckt. Erzählen Sie mir keine Märchen, Kollege. Sie kommen nicht zurück zur Mordkommission, auch nicht durch die Hintertür.«

»Der Tote und diese Objekte liegen im selben Haus.«

»Jetzt, da Sie das sagen, erkenne ich es auch. Wahrscheinlich sind sie sogar von derselben Bombe erwischt worden. Na und? Ich stelle sicher, dass die Todesursache eine Kriegsfolge war und nichts anderes, dann versuche ich herauszufinden, wer der Kerl war. Sie kümmern sich um Ihre Funde. Vielleicht ist meine Leiche wirklich das, was vom Besitzer Ihrer Kunst übriggeblieben ist. Dann heften wir am Ende unsere Akten zusammen und legen sie in die Ablage zur ewigen Vergessenheit. Aber bis dahin kreuzen Sie nicht in meinem Büro auf, ist das klar?«

Ramdohr grinst, bemerkt, dass Stave ihn anstarrt, bringt seine Gesichtszüge wieder in Ordnung. »Immer wieder eine Freude, mit Ihnen zusammenzuarbeiten«, erwidert Stave und gibt dem Schupo ein Zeichen. »Besorgen Sie Kisten oder Kartons. Wenn Kienle mit den Fotos fertig ist, packen wir die Funde ein und bringen sie im Streifenwagen zur Zentrale.«

Er sieht zuerst dem Oberwachtmeister nach, der durch den Mauerspalt verschwindet. Dann ein unauffälliger Blick hinüber zu Dönnecke. Der hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, in die Senke zu steigen, in der die Leiche liegt. Zwei jüngere Beamte schleichen dort langsam und, wie der Oberinspektor findet, etwas ratlos um den Toten herum. Der dritte steht neben seinem Vorgesetzten und hat einen Block gezückt, bereit zum Diktat. Doch offenbar hat Dönnecke nur wenig zu sagen, der angekaute Bleistift bewegt sich kaum. Der tut nicht einmal so, als ob er ernsthaft nachforschen will, denkt Stave, dann zuckt er die Achseln. Warum auch? Zehntausende sind in Hamburg während der Bombenangriffe gestorben. Seit Jahren finden Polizisten überall Leichen und das wird noch viele Jahre so weitergehen. Nicht mehr mein Problem, sagt er sich.

Doktor Czrisini erscheint, der Rechtsmediziner. Er schleppt seinen Arztkoffer, als lägen Bleiplatten darin. Sein ehemals rundlicher Körper ist abgemagert, die Haut im Gesicht schimmert gelblich, die Augen hinter der dicken Hornbrille liegen tief in schwarz umrandeten Höhlen. Nur die Woodbine, die zwischen seinen Lippen glimmt, hat sich nicht verändert.

»Sie sollten eine Kur machen«, begrüßt Stave ihn. »Ein paar Wochen an der Nordsee würden Ihnen guttun.«

»Einen verregneten Sommer kann ich auch in Hamburg haben«, erwidert Czrisini keuchend. Dann senkt er die Stimme: »Habe gehört, Sie gehören nicht mehr zur Truppe?«

»Ich mache jetzt in Kunst und unterschlagener Butter.«

»Der Schwarzmarkt hat keine Zukunft mehr, Stave. Das Chefamt S ist eine Endstation.«

Der Oberinspektor lacht. »Ihre Abteilung ist die Endstation!«

»Nicht für denjenigen, der sich noch auf zwei Beinen halten kann. Sehen Sie es als eine Art ärztlichen Ratschlag: Kehren Sie zur Mordkommission zurück.«

»Damit Sie nicht nur mit Kollegen wie Dönnecke zu tun haben?«

»Um Dönnecke mache ich mir keine Sorgen«, erwidert Czrisini, bevor er sich unter einem Hustenanfall krümmt.

Stave muss nicht sehr lange auf Kienle warten. »Wussten Sie, dass meine Leica mal einem Kriegsberichterstatter gehörte?«, sagt der Fotograf, als er zum Kripo-Beamten in die Grube stolpert. »Frankreichfeldzug, Norwegen, Ostfront, Feindfahrt auf einem U-Boot, sie hat alles klaglos überstanden. Aber dieser verdammte Hamburger Regen wird sie noch ruinieren.«

»Wie sind Sie an die Kamera eines Kriegsberichterstatters gekommen?«

»Ich war dieser Kriegsberichterstatter.« Kienle lacht. »Eines meiner Bilder hat es sogar auf den Titel von ›Signal‹ gebracht! Nach dem Mai 1945 wollten mich die Tommys nicht mehr als Fotografen arbeiten lassen, aber als mir Cuddel Breuer die Stelle bei der Kriminalpolizei anbot, da hatten sie nichts einzuwenden. Verstehe einer die Engländer!«

»Sie haben nicht viele Fotos geschossen, drüben?«

»Bei der Leiche? Nein, ich habe nicht mal einen halben 24er-Film verbraucht. Die letzten Aufnahmen mache ich mit Ihren Funden, dann geht es ab ins Labor. Hoffentlich verwechsle ich die Abzüge später nicht: Diese Schädel sehen auch nicht besser aus als die von dem armen Kerl in der anderen Grube.«

»Ein Bombenopfer?«

»Oberinspektor Dönnecke vermutet das.«

»Und Sie?«

»Ich vermute nichts, ich mache Fotos.«

Stave geht Kienle aus dem Weg und sieht zu, wie der junge Mann um die Objekte schleicht, in die Knie geht, an seiner Leica Einstellungen ändert, manchmal den Auslöser drückt. Er stellt sich stets so auf, dass sein eigener Schatten nicht auf die Kunstwerke fällt. Nur dann reicht das trübe Licht aus, vermutet der Oberinspektor. Kienle will wohl kostbare Blitzlampen einsparen.

Während er dem Klicken des Auslösers lauscht und dem leisen, schabenden Geräusch, das beim Weitertransport des Filmes aus der Leica dringt, fragt sich Stave, warum ihm der Fotograf eben ausgewichen ist. Kienle macht nicht nur Bilder, er ist auch der einzige Spurensicherer der Krimsches, und das weiß er auch. Nach drei Jahren bei der Kriminalpolizei, in der er praktisch jeden Tag Tatorte untersucht hat, ist er ein erfahrener Mann, was auch immer er zuvor gemacht haben mag – erfahrener als viele ältere Beamte, die nur alle paar Wochen die Szenerie eines neuen Verbrechens betrachten. Wäre interessant zu erfahren, was Kienle aufgefallen ist, sagt sich der Oberinspektor. Aber er kennt ihn nicht gut genug, um sich eine vertrauliche Frage herauszunehmen.

Als der Fotograf den Film in seiner Leica zurückspult und aus der Grube klettert, verschwindet Dönnecke gerade mit seinem Gefolge in einem qualmenden Mercedes. Der hat nicht einmal die Trümmerfrauen befragt, fällt Stave auf.

»Kollege Dönnecke wartet nur noch auf meine Abzüge, dann heftet der sie in die Akte und schließt sie für immer. Wieder ein paar Aufnahmen, die nie jemand sehen wird.«

»Sie wollen wieder auf den Titel einer Zeitschrift?«

»Manchmal sehne ich mich nach der guten, alten Zeit.«

»Ich werde Ihre Bilder herumzeigen. Ihre Motive werden den einen oder anderen interessieren.«

»Chefredakteure?« Kienle bemüht sich um einen spöttischen Ton, doch Stave hört ein winziges Korn Hoffnung heraus. Er schüttelt bedauernd den Kopf. »Aber immerhin Kunstexperten«, erwidert er. »Ich möchte gern wissen, was wir hier eigentlich gefunden haben.«

Kienle deutet auf den Frauenkopf aus Bronze. »Die Dame habe ich schon mal irgendwo gesehen.«

»Wo?«

»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht. Nicht in einer Galerie oder in einem Museum. Eher …«, er zögert. »Na, ich meine, dass ich diesen Kopf schon einmal gesehen habe, aber kleiner. Verstehen Sie? Ich habe ihn nicht so lebensgroß in Erinnerung.«

»Eine kleinere Kopie? So eine Art Modell?«

»Nein. Eher, als wenn ich dieses Kunstwerk schon einmal auf einem Foto gesehen hätte. Ich habe ja in meiner Zeit bei der Presse nicht nur selbst Aufnahmen gemacht. Ich weiß nicht, wie viele Bilder ich gesehen habe: Abzüge von Kollegen, stapelweise Bilder, die in Redaktionen auf Tischen liegen, so etwas. Es müssen Tausende gewesen sein. Irgendwo war dieser Kopf mal drauf. Ich weiß nur nicht mehr, wer das Bild gemacht hat. Oder wann.«

»Wenn Sie sich erinnern, dann kommen Sie vorbei. Mein Büro finden Sie jetzt ein Stockwerk tiefer.«

»Ich werde mich nicht verlaufen. Geht ja zurzeit ziemlich ruhig zu im Chefamt S.«

Stave bleibt in der Grube und sieht zu, wie Ramdohr die Kunstwerke nicht sonderlich behutsam in Kisten packt. Er müsste nicht danebenstehen, doch er will noch im zertrümmerten Haus bleiben – bis Doktor Czrisini endlich mit seiner ersten Leichenansicht fertig ist und Träger den Körper auf einer schwarzen Bahre fortschaffen.

»Ist es eines der vielen Bombenopfer?«, fragt er den Rechtsmediziner schließlich und hofft, dabei beiläufig zu klingen.

»Sie können es nicht lassen, was? Nehmen Sie meinen Ratschlag ernst: Morde sind gut für Ihre geistige Gesundheit.«

»Ich bin bloß neugierig.«

»Sie sind mehr als das – Sie haben einen Verdacht.«

Der Oberinspektor lächelt. »Sie sollten Psychiater werden. – Ist es nicht verwunderlich, dass noch Kleidungsreste an dem Toten hängen?«

»Die wenigsten Menschen sterben nackt.«

»Hier sind Brandbomben eingeschlagen«, fährt Stave unbeirrt fort. »Ich habe die Gewichte von mehreren Stabbrandbomben im Schutt gesehen. Dazu eine Handvoll angeschmolzener Münzen. Ich erinnere mich – das muss im Herbst 1943 gewesen sein –, wie ich mit ein paar Kollegen in den Keller eines zerstörten Hauses gerufen wurde. Wir suchten Hehlerware in den Regalen. Wir fanden bloß Dutzende Gläser mit selbst gemachter Marmelade. Aber obwohl der letzte Bombenangriff da schon ein oder zwei Tage her war, hat die Marmelade in den Gläsern immer noch gekocht. Es muss unvorstellbar heiß gewesen sein in diesem Haus.«

»Kochende Marmelade, geschmolzene Münzen«, wiederholt Czrisini versonnen, »doch unser Toter hat noch seine Kleidung an. Keine Hitze. Nicht genug jedenfalls, um ihm das Hemd vom Leib zu brennen.«

»Und die Kunstwerke sind auch nicht geschmolzen. Flammen müssen im Dachstuhl oder im Obergeschoss gelodert haben, die Objekte befanden sich wohl im Erdgeschoss oder vielleicht noch im ersten Stock. Sie sind erst in den Keller gekracht, als alles kollabierte. Aber das muss Stunden nach den Treffern geschehen sein, als die schlimmste Hitze schon wieder vergangen war.«

»Und Sie meinen, dass unser unbekannter Freund sich auch im unteren Teil des Reimershofes aufgehalten hat?«

»Nicht weit von den Kunstwerken. Stabbrandbomben sind tückisch, aber ihre Explosionskraft ist gering, sie sind auch nicht besonders schwer. Sie entzündeten den Dachstuhl. Aber jeder, der sich in tieferen Stockwerken befand, hatte genug Zeit, aus dem Haus zu rennen. Czrisini, Sie wissen selbst, dass damals Leute sogar in die Dachstühle hochgerannt sind, um die Brandbomben mit bloßen Händen aus den Gebäuden zu schleudern oder Sand auf sie zu kippen. Meistens ging das gut.«

»Meistens ist nicht immer.«

»Ja, aber hätte der Unbekannte Pech gehabt, dann wäre er verbrannt. Ist er aber nicht.«

»Nein. Schädelfraktur. Sein Dachstuhl ist auch eingeschlagen worden, aber nicht von einer Brandbombe der Tommys. Ein taubeneigroßes Loch genau in der Sutura sagittalis, der Pfeilnaht ganz oben auf dem Kopf. Ein Loch mit einer sehr markanten, unregelmäßigen Form.«

»Würden Balken oder Betonbrocken eines einstürzenden Hauses eine derartige Verletzung hervorrufen?«

»Nein. Der Größe der Fraktur nach würde ich eher auf einen kleinen Hammer tippen. Die unregelmäßige Form deutet allerdings in eine andere Richtung. Ein Stein? Ich habe nichts im Schädel gefunden, ein Stein würde im Knochen steckenbleiben oder läge im Innern des Kopfes.«

»Es sei denn, jemand zieht ihn nach der Tat heraus.«

»Ich sagte ja, Sie können es nicht lassen. Vielleicht war es ein Stein – oder ein Briefbeschwerer oder ein Tintenfass. Das war hier ein Bürohaus. Das fällt einem nicht zufällig auf den Schädel.« Czrisinis Lachen geht in einen Hustenanfall über.

»Haben Sie mal an die Schweiz gedacht?«, fragt Stave.

»Ich brauche keinen Zauberberg. Das ist keine Tuberkulose. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.«

»Was sagt Dönnecke zu all diesen Indizien?«

»Die Kleidungsreste sind ihm nicht aufgefallen; er hat ihre Bedeutung nicht verstanden oder es war ihm gleichgültig. Zur Fraktur meinte er: ›Typische Splitterverletzung.‹ Splitter von einer Bombe, die neben dem Haus explodierte. Sie seien durch das Fenster geflogen und hätten den Kerl erwischt.«

»Haben Sie ihm erklärt, was Sie mir gerade erklärt haben?«

»Selbstverständlich. Worauf Dönnecke bloß erwiderte, dass in den Bombennächten Splitter aus allen möglichen Richtungen durch die Gegend flogen und Menschen trafen.«

»An den Schläfen vielleicht, im Gesicht, am Hinterkopf. Aber nicht mitten auf dem Schädel. Zischt etwas durch das Fenster, trifft es einen Menschen seitlich – egal, ob der sitzt oder steht. Nicht von oben.«

»Es sei denn, er hätte gelegen, mit dem Kopf zum Fenster.«

»Wer auf einem Bett oder Sofa liegt, liegt unterhalb des Fensterniveaus. Die Splitter hätten ihn gar nicht getroffen.«

»Vielleicht lag er auf einem Schreibtisch.«

»Mit dem Kopf zum Fenster und das während eines Bombenangriffs?« Der Oberinspektor gibt sich keine Mühe, seinen aufwallenden Zorn zu verbergen. Dönnecke ermittelt schlampig, der will bloß rasch die Akte schließen. Aber das ist kein Verkehrsunfall mit Blechschaden, da liegt ein Toter, verdammt.

»Es ist nicht Ihr Fall, Stave«, erwidert der Rechtsmediziner und steckt sich eine neue Woodbine an der alten an. »Aber da Sie so neugierig sind, können Sie heute Abend bei mir im Institut vorbeischauen. Man weiß nie, welche Überraschungen der Seziertisch für einen bereithält.«

»Ich sollte das nicht tun«, antwortet der Oberinspektor. »Wenn Dönnecke das erfährt, gibt es Ärger.«

»Bis später also«, sagt Czrisini und hebt zum Abschied die Hand.

Kurz darauf steht Stave etwa zwanzig Frauen gegenüber, die sich vor dem Regen unter die Betondecke eines fast ganz zerstörten Nachbarhauses geflüchtet haben. Die meisten tragen alte Blusen oder Arbeitskittel in verwaschenen Farben, schwere Schuhe, sie haben sich Kopftücher gegen den Staub umgebunden. Einige tragen Arbeitshandschuhe aus Leder, viele haben sich Schutzbrillen, die früher die Kradmelder der Wehrmacht trugen, während dieser erzwungenen Pause in die Stirn geschoben. Bei der Arbeit schützen sie die Augen vor dem beißenden Steinstaub.

Eine aus ihrem Kreis, die der Kripo-Beamte auf Anfang vierzig schätzt, tritt vor und schüttelt ihm die Hand. Raue Haut, in ihren dunklen Brauen hat sich trotz der Nässe mehliger grauer Staub verfangen.

»Karla Riel«, sagt sie. »Wann dürfen wir weitermachen?«

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Und auch, dass Sie den Toten sehen mussten.«

»Ich habe mehr Tote gesehen als Sie«, erwidert die Frau gleichmütig. »Und wir haben im Bauschutt schon Leichen gefunden, die schlimmer aussahen als dieser Kerl.«

»Am schrecklichsten sind die Kinderkörper«, wirft eine aus der Gruppe ein. Die anderen starren sie an – Stave kann nicht entscheiden, ob warnend oder tadelnd.

»Mich interessieren die Kunstwerke.«

»Dafür kommt extra einer von der Polente her?« Karla Riel schaut ihn überrascht und ein wenig misstrauisch an. »Sie wollen nichts über den Toten wissen?«

»Den Fall bearbeitet mein Kollege.«

»Der überarbeitet sich wohl nicht. Sind die Sachen wertvoll?«

»Warum fragen Sie das?«

»Warum fragen Sie uns sonst? Es kreuzt ja auch nicht jedes Mal ein Wachtmeister auf, wenn wir ein Ofenrohr oder einen Stromzähler aus den Trümmern holen.«

»Ich vermute, die Objekte sind teurer als ein Ofenrohr.«

»Sah ganz schön gruselig aus, dieser Metallkopf im Dreck.« Karla Riel lacht unsicher. »Irgendwie habe ich mich mehr erschrocken, als wenn das ein echter Schädel gewesen wäre. Seltsam, nicht?«

Stave stellt noch ein paar Fragen. Trümmerfrauen schleppen mit bloßen Händen unzählige Kubikmeter Schutt aus der verwüsteten Stadt. Ohne den Müll, den sie fortschaffen, würde Hamburg in seinen Ruinen ersticken – und ohne die Ziegel, die sie mühsam bergen, und ohne die von ihnen freigelegten Rohre, Kabel, Fenster, Türen wäre noch kein einziges Haus wieder aufgebaut. Er hütet sich davor, Karla Riel und ihre Kolleginnen scharf zu verhören. Er bleibt höflich und ist bald sicher, dass ihm die Trümmerfrauen nichts verheimlichen: kein weiteres Bronzestück, das eine von ihnen unter ihrem Kittel wegschmuggeln will. Keinen Hinweis auf den Besitzer, eine Brieftasche etwa, keine Spur, die ihn noch irgendwie weiterbringt. Er notiert ihre Namen und nickt. »Der Reimershof gehört wieder Ihnen. Aber rufen Sie bitte die Polizei, wenn Sie weitere Kunstwerke finden.«

»Diese Sachen werde ich mir garantiert nicht zu Hause auf die Kommode stellen«, antwortet Karla Riel und zieht den Knoten ihres Kopftuchs fester.