Verwundung

Mittwoch, 31. März 1948

Die Pistolenkugel ist schneller als der Schall. Sie trifft Oberinspektor Frank Stave in die Brust, noch bevor er den Knall hört. Ein Schlag unterhalb des Herzens, der ihn rückwärts in die Trümmer einer eingestürzten Ziegelwand schleudert. Kein Schmerz, denkt er, ich spüre keinen Schmerz. Das erschreckt ihn mehr als das Blut, das aus der Wunde über den Bauch strömt, heiß und klebrig. Flach atmen. Der Geschmack von Eisen im Mund. Rauschen in den Ohren. Stave presst die Rechte auf die Einschussstelle. Er liegt auf dem Rücken, starrt nach oben durch einen zerfetzten Dachstuhl in den niedrigen, grauen Himmel. Staubfahnen tanzen in der Luft. Es stinkt nach altem Mörtel und Schimmel. Er wünscht sich, dass der Schmerz ihn endlich überflutet. Doch statt der Qual kommt die Dunkelheit, sein Geist taucht immer tiefer ein in schwarzes Wasser. Bitte, Schmerz, komm endlich. Wenn ich keinen Schmerz spüre, werde ich sterben, denkt Stave, bevor er gar nichts mehr denkt.

Als er wieder aufwacht, ist der Schmerz endlich da: ein Band aus Feuer, das um seine Brust lodert, und eine Messerklinge, die bei jedem Atemzug in seinen Leib fährt. Der Oberinspektor lächelt erleichtert. Weiße Wände, grelles Licht, das sich bis in seinen Hinterkopf frisst, der Geruch nach Lysol. Krankenhaus. Diesmal wehrt er sich nicht, lässt sich fallen. Schlaf.

Mühselige Atemzüge wecken ihn, als schnappe jemand nach Luft, der bis zum Hals in feinem Sand eingegraben ist. Stave öffnet die Augen. Er lauscht dem Röcheln, irgendwo links von ihm. Seine Brust brennt. Vorsichtig betastet er sie: Bandagen, dick wie eine Bettdecke. Er richtet seinen Oberkörper auf. Tausend Nadeln spicken seinen Leib, ihn schwindelt, mühsam unterdrückt er einen Schmerzensschrei, bloß ein schwerer Seufzer quillt ihm aus dem Mund. Die Atemzüge nebenan stocken für einen Moment, setzen wieder ein, mühevoll. Ein Strahl Helligkeit von rechts: Licht, das durch einen Türspalt dringt. Der Flur, vermutet Stave, hinter einer Tür. Ein Krankenhauszimmer. Er macht links die Umrisse eines Paravents aus, der den Schlaf seines gequälten Nachbarn beschirmt.

Stave weiß nicht, in welchem Krankenhaus er liegt. Er weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist seit jenem Schuss. Die Beamten der Mordkommission hatten einen Mann gesucht, der vor ihrer Wohnung in St. Pauli seine Ehefrau erstochen hatte. Ein Maat auf dem Schlachtschiff »Tirpitz«, das 1944 in einem norwegischen Fjord versenkt worden war. Der Unteroffizier überlebte das Unglück, geriet 1945 in Skandinavien in Gefangenschaft, wurde bald wieder freigelassen, kehrte zurück zur Familie in eines der wenigen noch unzerstörten Häuser in St. Pauli – alles in allem jemand, der glimpflich durch den Krieg gekommen war.

Kein offensichtliches Motiv für seine Tat, doch genügend Zeugen, die gesehen hatten, wie er vor der Haustür auf seine Frau eingestochen hatte. Flucht, Fahndung. Ein Anruf am Abend. Jemand hatte den Gesuchten an der Haltestelle Baumwall aus der Straßenbahn der Linie 31 steigen sehen, nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt.

Stave war mit allen erreichbaren Schupos dahin geeilt. Der ehemalige Maat stand tatsächlich noch an der Haltestelle, ziel- und ratlos vielleicht, was er nun tun solle. Er sah jünger aus, als der Oberinspektor gedacht hatte. Erst als er die Peterwagen bemerkte, lief er los und versteckte sich in einem von Bomben zerschmetterten Geschäft für Schiffsausrüstung. Der Oberinspektor ließ die Ruine umstellen und schlich sich vorsichtig in die brandgeschwärzten Räume. Nicht vorsichtig genug. Er hatte einen mit einem Messer bewaffneten Täter erwartet – nicht einen mit einer Schusswaffe.

Er fragt sich, ob der Mörder noch mehr Kollegen getroffen hat. Ob er entkommen ist? Oder von den Polizisten überwältigt wurde? Vielleicht mussten sie ihn niederschießen? Er hofft, dass sie ihn ohne weiteres Blutvergießen verhaftet haben – obwohl das Resultat letztlich dasselbe sein wird: Ein englischer Richter wird den Mörder unters Fallbeil schicken. Möglich sogar, dass sein Freund Staatsanwalt Ehrlich das Plädoyer für die Todesstrafe hält. Stave würde als Zeuge vor Gericht auftreten müssen, seine Aussage würde einen Stein für das Fundament liefern, auf dem Staatsanwalt und Richter ihr Todesurteil errichten würden. Er schließt die Augen und hofft, wieder einzuschlafen.

Doch er ist nun unbezwingbar wach, und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als stundenlang in die Dunkelheit zu starren, gelegentlich seine bandagierte Wunde zu betasten und auf die Atemzüge hinter dem Paravent zu lauschen, die schwächer zu werden scheinen, je länger die Nacht voranschreitet.

Im grauen Morgenlicht wird die Tür geöffnet. Eine junge Krankenschwester tritt ein, ihr hübsches Gesicht schmal unter der hohen, gestärkten Haube. »Stukas« nannten die Wehrmachtssoldaten die Krankenschwestern, weil die Flügel der Haube geknickt sind wie die Tragflächen des Kampfbombers, das hat Stave von seinem Sohn Karl erfahren. Auf einem Schild an der Brust steht ihr Vorname: Franziska. Einen Moment lang wünscht er sich, die junge Frau mit einem Scherz begrüßen zu können, doch ihm will nichts einfallen. »Wo bin ich?«, fragt er stattdessen. Er erschrickt über den matten Klang seiner Stimme.

Sie schenkt ihm bloß ein flüchtiges Lächeln. »Einen Augenblick, bitte«, dann verschwindet sie hinter dem Paravent. Erst jetzt fällt dem Oberinspektor auf, dass er schon lange keine Atemzüge mehr gehört hat. Die Schwester eilt wieder aus dem Zimmer, kommt mit einer zweiten zurück, dann fliegt ein Arzt an Staves Krankenbett vorbei, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Geflüsterte Worte hinter dem Stoff, surreal wie in einem jener modernen Theaterstücke, die man in der braunen Zeit nicht spielen durfte.

Irgendwann wird ein Bett aus dem Raum gerollt. Der Kripo-Beamte erspart sich den Schmerz, den es ihn kosten würde, sich aufzurichten. Jemand faltet den Paravent zusammen, plötzlich flutet Licht vom hohen Fenster bis auf sein Kissen. Der Platz nebenan ist leer.

»Sie haben sich ja mal lange vom Dienst absentiert, Herr Oberinspektor.« Ein älterer Arzt, eisengrauer Bürstenhaarschnitt, Schmiss auf der linken Wange. Ehemaliger Armeearzt, vermutet Stave.

»Wo bin ich?«

»Im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Für Staatsdiener nur das Beste vom Besten. Anderswo hätten Sie mit dieser Verletzung auch nicht überlebt. Steckschuss in der Lunge. Vor ein paar Jahren wäre da nicht viel zu machen gewesen. Aber seither haben wir ja mit Schussverletzungen enorme Erfahrungen gesammelt.«

»Ich bin ein Kriegsgewinnler.«

Der Mediziner lacht. »Sind wir das nicht alle?«

»Wie lange war ich bewusstlos?«

»Sie schwebten zwei Wochen zwischen dieser und der anderen Welt. Es war knapp, aber ich habe schon knappere Fälle gesehen. Falls Sie auf eine Frühpensionierung gehofft haben, muss ich Sie enttäuschen: Sie werden wieder.«

»Ist der Kerl geschnappt worden?«

Der Arzt hebt die Schultern. »Nicht meine Fakultät.«

»Hat er noch Kollegen verletzt oder gar …« Stave vollendet den Satz nicht.

»Zumindest ist kein Polizist mit Ihnen hier eingeliefert worden. Erholen Sie sich jetzt. Schlafen Sie.«

»Ich habe einen halben Monat verschlafen.«

»Das ist ein Befehl.«

Stave blickt dem wehenden weißen Kittel nach, der Richtung Flur davonflattert. Zunächst glaubt er, dass der letzte Satz als Scherz formuliert war, doch dann kommt der Oberinspektor zu dem Schluss, dass der Arzt das ernst gemeint hat.

Am Nachmittag legen sie einen jungen Mann ins Zimmer, fast noch ein Kind, die Stirn dick bandagiert, kaum bei Bewusstsein. Während Schwestern das Bett hineinschieben und den Paravent aufspannen, tritt noch jemand in den Raum: Staves Sohn. Sehr groß, sehr hager, die hellblonden Haare eine Spur zu lang für den Geschmack des Oberinspektors, tiefblaue Augen, Wasserflecken auf dem verblichenen Mantel und Schuhe, die vor Feuchtigkeit auf dem Linoleumboden quietschen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, murmelt Stave und hebt matt die Hand. »Habe es leider verschlafen.«

Karl blickt ihn einen Augenblick überrascht an, lächelt kurz, wird wieder ernst. Am 2. April ist er zwanzig Jahre alt geworden. »Den Geburtstagskuchen essen wir, wenn du wieder draußen bist. Hätte ich gewusst, dass du heute zu dir kommen würdest, hätte ich dir Blumen mitgebracht.«

»Aus deinem Schrebergarten?«

Wieder der Hauch eines Lächelns. »Da gedeihen nur Tabakblätter. Ich hätte Tulpen bei einem Nachbarn mitgehen lassen.«

»Diebesbeute. Das passende Geschenk für einen Krimsche.«

»Ich freue mich, dass es dir wieder besser geht.«

»Morgen bin ich wieder im Einsatz.«

»Lass dir Zeit bis übermorgen.«

Schweigen. Stave blickt seinen Sohn an, der den Schwestern mit linkischen Gesten beim Aufstellen des Paravents helfen will, aber eher im Weg steht, als nützlich zu sein. Was Karl wohl macht? Soweit Stave weiß, verdient sein Sohn, seit er aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden ist, den Lebensunterhalt mit dem Tabak, den er im Schrebergarten zieht. Kaum bin ich wach, mache ich mir Sorgen um ihn, denkt er. Das wird nie aufhören. Er würde seinen Sohn gerne öfter in dessen Schrebergarten sehen, doch irgendwie hat Karl ihn spüren lassen, dass es ihm unangenehm ist, seinen Vater dort zu haben.

Er deutet auf Karls Mantel. »Es regnet?« Überflüssige Frage, doch er will, dass das Schweigen nicht zu lange andauert.

»In diesem Jahr wird niemand in Hamburg verdursten, das ist mal sicher.«

»Ist das gut für den Tabak oder nicht?«

Der Junge zuckt gleichmütig mit den Achseln. »Apropos Tabak«, flüstert er und beugt sich näher zu seinem Vater hin. »Die Stukas nebenan sind wahrscheinlich unglücklich, wenn ich mir eine Zigarette anstecke?«

»Manchmal hilft es schon, wenn man sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen klemmt, aber nicht anzündet. Das beruhigt die Nerven und die Schwestern. Du solltest nicht so viel rauchen. Das ist nicht gut für die Lunge.«

Karl lacht so laut auf, dass Schwester Franziska tatsächlich einen warnenden Blick über den Paravent wirft. »Deine Lunge ist löchriger als meine!«

»Weißt du, ob sie den Täter verhaftet haben?«

»Ja, sie haben den Kerl geschnappt. Der Schuss hat deine Kollegen ganz schön in Aufregung versetzt. Sie haben ihn zwischen den Trümmern überwältigt und …«, Karl zögert kurz, »und ihm eine Abreibung verpasst, nach allem, was man so hört.«

»Eine Abreibung?«

»Der Mann muss zumindest ziemlich übel ausgesehen haben, als er endlich in der Zelle saß. Es gab darüber einen Artikel in der ›Zeit‹. Nur einen, und der war auch kurz«, setzt er hastig hinzu, als er sieht, dass sein Vater die Augen schließt.

Da werde ich Cuddel Breuer einiges zu erklären haben, denkt Stave. Und vielleicht auch Staatsanwalt Ehrlich. Wenn eine Sache schiefgeht, dann geht sie auch richtig schief. Immerhin haben wir den Mörder.

Eine zähe halbe Stunde verrinnt im stockenden Gespräch. Stave würde seinen Sohn gerne vieles fragen: Willst du nicht endlich was Vernünftiges machen? Hast du endlich neue Freunde? Oder gar ein Mädchen? Aber Karl ist immer so abweisend, wenn es um ihn selbst geht. Und dem Oberinspektor fehlt die Kraft, geschickt und vorsichtig nachzuhaken. Der Junge redet bloß Belangloses, erzählt vom schlechten Wetter und von einem Fußballspiel des HSV. Er knetet seine Hände. Nikotingelbe Finger, bemerkt Stave.

»Du kannst ruhig eine rauchen gehen«, sagt er. »Ich brauche ein bisschen Ruhe.«

Karl nickt erleichtert. »Ich komme die nächsten Tage wieder.« Er hebt die Hand, eine linkische Geste, halb ein Winken, beinahe noch so etwas wie der Hitlergruß, dann schließt er die Tür hinter sich.

Der Junge hinter dem Paravent summt eine Melodie. Jazz, denkt Stave, und schließt erschöpft die Augen.

Doch der Schmerz, den er nach dem Schuss so herbeigesehnt hat, lässt ihn nun nicht einschlafen. Seine Gedanken wandern zu Anna. Wie lange hat er sie nicht mehr gesehen? Ein halbes Jahr? Ob sie überhaupt weiß, dass er im Krankenhaus liegt? Kein Selbstmitleid, ermahnt er sich.

Seine Geliebte. Oder seine ehemalige Geliebte. Er erinnert sich daran, wie Anna von Veckinhausen im letzten Sommer für viele Reichsmarkbündel bei einem Juwelier in den Colonnaden einen Ehering ausgelöst hat. Ihren? Er weiß fast nichts über ihr Leben vor dem Krieg und ihrer Flucht nach Hamburg. Vielleicht weiß jemand anderes mehr. Der Oberinspektor denkt an ihr angeregtes Gespräch mit dem Staatsanwalt in einem Café. An den heimlichen Auftrag, den sie für Ehrlich erledigt: seine von den Nazis geraubten Kunstwerke wieder aufzuspüren. Und an die traurigen Worte, die sie an ihn, Stave, gerichtet hat.

Sie waren nur wenige Monate ein Paar gewesen, ein paar Restaurant- und Theaterbesuche zusammen, einige gemeinsame Nächte, seltene Wochenenden in gestohlener Zweisamkeit. Immer hatte er zu viel zu tun. Und dann war auch noch Karl aus dem Krieg zurückgekommen, und Stave schaffte es nicht, den ihm fremd gewordenen Sohn bei sich aufzunehmen und zugleich Anna zu halten. Sie trennten sich, ohne Streit, eher resigniert, wie nach einem verlorenen Kampf.

Er sehnt sich nach Annas Lächeln, nach dem Duft ihres Haares, nach ihrer Haut. Er denkt an Karls belanglose Sätze eben. An die Tage, die er schon in diesem Krankenhaus vergeudet hat und die er sicher noch vergeuden wird, bis er wieder so zusammengeflickt worden ist, dass er gehen kann. An die »Abreibung«, die seine Kollegen dem Täter verpasst haben. An Kripochef Cuddel Breuer, der sicherlich wissen will, was bei dieser Verhaftung alles schiefgelaufen ist.

Alles läuft schief, sagt sich der Oberinspektor, einfach alles. Und ich muss erst mit perforierter Lunge im Krankenhaus liegen, bis mir das klar wird.

Stave zählt jeden Tag, den er im Zimmer verbringt. Graues Licht, das durch das Fenster sickert. Der Geruch nach Lysol, der bis in die Poren der Haut dringt. Die gesummten Melodien hinter dem Paravent. Nie wechselt er ein Wort mit dem Jungen, nie bekommt dieser Besuch, doch seine Melodien klingen, so kommt es ihm vor, nach und nach fröhlicher, kräftiger. Er selbst zwingt sich schon am ersten Tag aus dem Bett. Welcher Triumph, allein bis zur Toilette auf dem Krankenhausflur zu wanken, mit schwindelndem Kopf und brennender Lunge zwar, aber immer noch besser, als sich auf der glänzenden Bettpfanne zu erleichtern und danach zu warten, bis eine Schwester sie fortzieht.

Karl kommt nach vier Tagen wieder vorbei. Sie haben sich nicht viel zu sagen. Am fünften Tag schaut Lieutenant MacDonald herein.

»Ich bringe Ihnen zwei Medikamente«, verkündet der junge Engländer, mit dem Stave schon zwei Fälle gelöst hat, und deutet auf eine braune Papiertüte in seiner Hand. Schwungvoll zieht er eine gewaltige Tafel Schokolade hervor. »Hershey’s. Echte amerikanische Kalorien. Ein Kamerad der US Army hat sie mir spendiert, aber sie sollten besser auf Ihren Rippen landen als auf meinen.« Dann blickt er kurz über den Paravent, senkt verschwörerisch die Stimme und holt eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus der Tüte. »Whiskey, auch vom amerikanischen Offizier. ›Old Tennessee‹, von Eingeweihten liebevoll ›Old Tennisshoes‹ genannt. Ist kein schottischer Single Malt, aber er wird Ihren Puls beschleunigen.«

Stave lächelt matt. »Ein paar Schluck davon und der Arzt wird bei der nächsten Visite seine Diagnose überdenken müssen.«

»Eine Wunderheilung.«

»Wie geht es Erna und dem Kind?« Staves ehemalige Sekretärin hat ein Verhältnis mit dem jungen Lieutenant begonnen, mit ein paar gravierenden Folgen: einer drallen, gesunden Tochter namens Iris, die im vergangenen Sommer geboren wurde. Einem hässlichen Scheidungsprozess, in dem sie das Sorgerecht für ihren achtjährigen Sohn an ihren bisherigen Gatten verloren hat, einen verkrüppelten, verbitterten Wehrmachtsveteranen. Einer Kündigung bei der Kriminalpolizei »in gegenseitigem besten Einvernehmen«, weil sie nach diesem Skandal die Blicke der Kollegen nicht mehr ertrug. Und eine Trauung vor einem britischen Militärkaplan, die sie in »Mrs MacDonald« verwandelt hat.

»Die Kleine zahnt«, antwortet der Offizier und lacht. »Ich sehne mich nach dem Krieg zurück, da waren die Nächte ruhiger.«

»Die Zähne werden schneller kommen als der Frieden.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Dann haben Erna und ich eine Sorge weniger.«

Stave denkt an Karl und an das alte Sprichwort, dass die Sorgen mit den Kindern wachsen, aber er verkneift sich diese Bemerkung.

»Sie müssen bald hier raus«, fährt MacDonald fort, nun wieder ernst. »Wir wollen doch ordentlich Abschied feiern.«

Der Oberinspektor hofft, dass man ihm den Schreck über diese Worte nicht ansieht. »Sie werden abkommandiert?«

»Sieht so aus, als wäre ich diesen Sommer dran. Gerüchte wehen durch den Offiziersclub, dass ich mit einer Versetzung innerhalb Europas rechnen kann.«

»Erna und Iris kommen mit?«

»Selbstverständlich.«

»Und Ernas Sohn?«

»Ich hoffe, es wird ihr nicht das Herz brechen, ihn in Hamburg zurückzulassen.«

»Werden Sie noch einmal einen Versuch starten, sich das Sorgerecht zu erkämpfen?«

»Der Richter war in dieser Frage sehr eindeutig. Meine Vorgesetzten sind es auch. Ein kluger Soldat erkennt, wann er die Schlacht verloren hat.«

Erna MacDonald, ehemals Berg, wird einen sehr hohen Preis für ihr neues Leben zahlen, sagt sich Stave. Aber sie ist ja nicht die erste Person in Hamburg, die einen hohen Preis dafür bezahlt, nach 1945 noch einmal von vorne anfangen zu können.

An einem Tag kommt überraschender Besuch: Hauptpolizist Heinrich Ruge, ein junger Schupo, der ihn schon bei manchen Einsätzen begleitet hat. Stave hätte ihn kaum erkannt, denn er sieht den Kollegen das erste Mal in Zivil – in einem dunklen Anzug, aus dessen viel zu kurzen Jackettärmeln die dünnen Unterarme ragen wie die Holzgliedmaßen einer Marionette.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagt er und schiebt mit verlegener Geste ein in Packpapier eingeschlagenes, schmales Bündel auf den Nachttisch. Schokolade. Ein kleines Vermögen für einen jungen Schupo. Ich muss wirklich mager aussehen, denkt Stave, ist aber seltsam gerührt. Ruge ist der einzige Kollege, der ihn besucht.

Sie plaudern ein wenig. Je länger das Gespräch dauert, desto selbstsicherer wird Ruge. »Schade, dass Frau Berg nicht mehr da ist«, sagt er irgendwann.

»Frau MacDonald nun.«

Ruge wird rot. »Daran muss man sich erst gewöhnen. Das klingt schon anders, als wenn jemand ›Müller‹ oder ›Schmidt‹ heißt.«

»Sie meinen, irgendwie nicht völkisch genug?«, fragt der Oberinspektor mit sanfter Stimme.

Das Gesicht des Schupos färbt sich noch etwas dunkler. »Neue Zeiten, neue Namen. Ich finde das nicht schlimm, im Gegenteil. Der Herr Lieutenant ist …«, er sucht nach dem richtigen Wort, »so weltgewandt. Aber einige ältere Kollegen haben so ihre Schwierigkeiten mit einer Veronika.«

»Mit einer Veronika?«

»So nennt man doch die Mädchen, die mit den Tommys ausgehen: Veronikas.«

»Bloß bei den Krimsches? Oder überall in Hamburg?«

»Überall. Sie wissen ja, wie das ist, Herr Oberinspektor: Plötzlich kommt so ein Name auf, keiner weiß, woher, keiner weiß, von wem das erfunden worden ist. Aber plötzlich kennt das jeder.«

»Ich erinnere mich. Nach 33 gab es plötzlich auch ein paar lustige neue Bezeichnungen für bestimmte Menschen.«

»Ich will übrigens zur Kriminalpolizei«, platzt Ruge heraus. »Ich habe mich schon zur Aufnahmeprüfung beworben.«

Der Oberinspektor blickt ihn lange an. Ob er den jungen Kerl ermutigen soll? »Wer hat dem Mörder vom Baumwall nach der Verhaftung eine Abreibung verpasst?«, fragt er schließlich.

»Oberinspektor Dönnecke.«

Das alte Schlachtschiff. Cäsar Dönnecke, der Mann, der schon seit Kaisers Zeiten bei den Krimsches ist. Der Mann, der in der braunen Zeit manche Einsätze zusammen mit den Kollegen von der Gestapo durchgeführt hat. Und der es irgendwie geschafft hat, den »Säuberungen« der Engländer nach Kriegsende zu entgehen, obwohl die Sieger Männer entlassen hatten, die weniger Dreck am Stecken hatten als er.

»Von dem können Sie lernen, wie man es nicht machen sollte.«

»Ich werde mich vor ihm hüten. Vielleicht kann ich ja bei Ihnen in der Abteilung anfangen.« Ein schüchternes Lächeln, dann wird Ruge wieder rot. »Ich meine, falls man mich überhaupt nimmt.«

Und falls ich bis dahin wieder an Bord bin, denkt Stave, nickt aber bloß stumm.

Später, als sein Besucher gegangen ist, starrt der Oberinspektor zur Decke und denkt nach. Über Erna Berg. Erna MacDonald. Ob sie weiß, wie Kollegen sie nennen? Sicher. Sie wusste immer alles, was bei den Krimsches umging, meist als eine der Ersten. Sie wird es vielleicht noch gehört haben, bevor die Schwangerschaft so weit war, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Eine Veronika, ein Engländerflittchen, das ihren Mann verließ, der im Osten ein Bein verloren hatte. Erna wird vielleicht doch nicht so unglücklich über die Versetzung ihres neuen Mannes sein.

Cäsar Dönnecke. Gestapo-Dönnecke. Der Kollege, der Abreibungen verpassen kann, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

»Ich gehöre da nicht mehr hin«, sagt Stave halblaut. Das Summen hinter dem Paravent hört schlagartig auf. Der Oberinspektor unterdrückt den Fluch, der ihm auch noch auf den Lippen gelegen hat. Er hat einen Entschluss gefasst: Ich muss die Abteilung wechseln, sagt er sich. Die Mordkommission ist nichts mehr für mich.