Ein verschwundener Ehemann

Samstag, 19. Juni 1948

In der Nacht ist Stave dankbar für den Regen, denn die Tropfen, die gegen die Fenster schlagen, kaschieren die lastende Stille in seiner Wohnung. Die leere Hälfte seines Doppelbettes. Das Zimmer, das er für Karl eingerichtet hat, in das sein Sohn aber seit einem Jahr nicht einmal einen Fuß gesetzt hat, geschweige denn, dass er dort je wieder geschlafen hätte. Die karge Küche, in der längst kein Duft nach Kaffee oder frischem Brot mehr in der Luft schwebt.

Er hätte gerne gelesen, das hätte dem ruhelosen Geist ein Ziel gegeben, aber er muss Strom sparen und seine letzte Kerze ist schon vor Wochen niedergebrannt. Und so liegt er im Bett und lauscht dem Regen und seinen Gedanken.

Ich verstehe gar nichts, sagt sich Stave. Nicht meine Arbeit, nicht meine Geliebte, nicht meinen Sohn. Dönnecke ist ein Schwein und ein Kindermörder, aber er hat recht: Ich tauge nichts mehr.

Er schwingt sich aus dem Bett, tastet sich bis ins Wohnzimmer, durch dessen Fenster seit einigen Wochen der Schein der ersten reparierten Laterne in seiner Straße dringt, und beginnt mit Dehnübungen. Liegestützen, bis die Oberarme zittern und sein Oberkörper mit einem dumpfen Knall auf den Linoleumboden schlägt. Kniebeugen. Der Schweiß läuft ihm in die Augen, im Mund der Geschmack nach Eisen. Längst ist er nackt bis auf seine Unterhose. Herzrasen. Er zählt mit, jede Zahl ein Stoßseufzer zwischen gequälten Atemzügen. Schließlich stellt er sich auf sein linkes Bein, hält mit waagerecht ausgestreckten Armen mühsam das Gleichgewicht. Stellt sich hoch auf die Zehenspitzen. Absenken, bis die Ferse fast den Boden berührt. Wieder hoch. Wieder absenken. Sein verkrüppeltes Fußgelenk fühlt sich bei jedem Hochdrücken an, als schlüge jemand von der Innenseite mit einem Hammer dagegen.

Als endlich graues Dämmerlicht hereinkriecht, ist es noch nicht einmal fünf Uhr. Stave steht im Wohnzimmer, auf dem Boden um seinen Körper eine zerlaufene Pfütze aus Schweiß. Die Narbe in seiner Brust schmerzt. Er wankt ins Bad, übergibt sich vor Erschöpfung in die Toilette, steigt mit letzter Kraft in die alte Emaillewanne. Kein Warmwasser, aber das ist auch nicht wichtig. Er legt sich unter den kalten, vom Rost leicht rötlich schimmernden Wasserstrahl, schrubbt sich mit Kernseife die Haut ab, zwingt sich wieder unter das Nass.

Keuchend liegt er irgendwann auf dem Kachelboden zwischen Wanne und Toilette, zitternd, mit blau angelaufenen Fingern und Füßen, zu schwach, um das Handtuch zu sich zu ziehen, das am Haken der Tür hängt. Aber einen Moment lang durchströmt ihn Erleichterung, fast Glück, denn sein Kopf ist endlich leer, sein Geist hat sich ganz dem Schmerz und der Erschöpfung ergeben.

Viel später sitzt er am Tisch, eine Tasse dampfenden Ersatzkaffees in den Fäusten. Feuchtes Graubrot mit Ersatzhonig, einer Masse, die zäh und gelbweißlich ist wie warmer Tapetenleim und auch nicht besser schmeckt, vermutet Stave. Er fühlt sich, als kehrte er nach einer langen Abwesenheit in den eigenen Körper zurück, halb misstrauisch, halb freudig überrascht, wie man seine Wohnung nach einer Weltreise wieder betritt.

Als jemand energisch an seine Tür klopft – es ist noch nicht einmal acht Uhr, wahrscheinlich denkt sein Besucher, er müsse ihn wecken –, springt Stave deshalb erwartungsvoll auf, obwohl durch alle Muskeln ein warmer Schmerz rieselt, seine Brust zieht und sein linkes Fußgelenk angeschwollen ist.

Hauptpolizist Ruge. »Sie sind schon wach?«, ruft er und starrt ihn mit einem Blick an, der Stave verrät, dass das kalte Wasser längst nicht alle Spuren seines nächtlichen Trainings weggewischt hat. Wahrscheinlich sehe ich durchgeprügelt aus, denkt er und ringt sich ein Lächeln ab. »Frühsport«, erklärt er. »Gibt es neue Ergebnisse?«, setzt er hoffnungsvoll hinzu.

»Nur neue Befehle.« Der junge Schupo hebt bedauernd die Hände. »Wir sind von Cuddel Breuer ausgesandt worden, um alle Krimsches zu informieren: Morgen gibt es eine Sonderaktion. Alle Beamten sollen um acht Uhr in der Zentrale sein.«

»Sonderaktion? Klingt wie zu Adolfs Zeiten.«

»Mehr hat man uns nicht gesagt. Wir sind ja bloß Schupos. Aber es ist doch klar, um was es geht.« Er beugt sich näher zu Stave, blickt sich um, ob im Treppenhaus keine Tür einen Spalt weit geöffnet ist, flüstert: »Die Deutsche Mark. Die Geldausgabe. Was soll es sonst sein?« Er hebt die Stimme wieder, nimmt so etwas wie Haltung an. »Ich muss weiter. Habe noch Dutzende Beamte abzuklappern. Sie waren der erste auf meiner Liste.«

»Soll ich das als Kompliment auffassen?«

»Die alleinstehenden Kollegen sind zuerst dran, hat Cuddel Breuer befohlen. Die Familienväter sollen wir noch etwas schlafen lassen«, antwortet Ruge leichthin und tippt zum Abschied mit der Rechten an den Tschako.

Stave zieht sich sein bestes Hemd an, die beste dunkle Hose, den Sommermantel, der für den Dauerregen eigentlich zu leicht ist, der aber eleganter wirkt als alles, was er sich sonst über die Schultern werfen könnte. Zwei wichtige Termine. Er stopft den Zettel mit der Adresse des Fahrradanbieters in die Tasche, schnürt die Schreibmaschine in mehrere Lagen Packpapier und eine zerschlissene Tischdecke, die er sowieso nie aufgelegt hat. Noch nicht einmal neun Uhr, als der Oberinspektor die Tür hinter sich abschließt. Aus der Erdgeschosswohnung von Flasch wehen Grammofonklänge ins Treppenhaus. Jazz. Das hätte ihm früher einen Besuch des Blockwarts und womöglich der Gestapo eingebracht, denkt Stave. Dann schreien zwei Kinder gleichzeitig los, das Brüllen gelangweilter Jungen, die sich vom Regen in ihrer Wohnung eingesperrt und um ihr samstägliches Herumtoben betrogen fühlen. Der Kripo-Beamte lächelt, wünscht seinem Nachbarn im Geiste Kraft für diesen Tag, schlägt den Mantelkragen hoch und marschiert die Ahrensburger Straße hinab.

Er hat es nicht weit, quert den Eichtalpark, die Wiesen sattgrün wie englischer Rasen, die verschlammten Wege verlassen bis auf zwei junge Mütter, die mit Pelerinen verhängte Kinderwagen durch die feuchte Luft schieben. Die Oskarstraße jenseits des Parks ist eher ein Weg als eine echte Straße, übersehen von den alliierten Bombenschützen. Stave sieht zur Rechten Gründerzeithäuser, heller Putz und noch hellere, steinerne Fensterbänke, intakte Dächer, gepflegte Vorgärten. Noch ein Blick auf den inzwischen durchgeweichten Zettel, dann weiß er, dass er sich links halten muss: eine Reihe winziger Häuser, wie aneinandergeklebte Puppenstuben. Aber in einer zerbombten Stadt verwandeln sich selbst solche bescheidenen Bleiben in eine Bastion der Wohlanständigkeit.

Der Kripo-Beamte findet keine Klingel, also klopft er an das Haus Nummer sieben, hoffend, dass er seine schwere Schreibmaschine nicht umsonst geschleppt hat. Er muss einige Minuten lang warten, die ihm endlos vorkommen. Ein Mann im Morgenmantel öffnet ihm, ein Schwall abgestandener Luft wabert ins Freie, Zigarettenqualm und der Dunst nach dem Bier vom Vortag.

Stave stellt sich und sein Anliegen vor, unterdrückt den Impuls, den Polizeiausweis zu zücken. Muss ja nicht jeder wissen, bei Geschäften dieser Art; obwohl offiziell nicht direkt verboten, macht es sich nicht gut, als Krimsche aufzutreten.

»Schindler«, stellt sich der Mann vor. Stave schätzt ihn auf dreißig Jahre, Junggeselle, harter Blick. Den möchte ich nicht zum Nachbarn haben, denkt er.

»Das ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt für ein Geschäft«, fährt Schindler fort, anscheinend unberührt davon, dass sein Besucher im Regen ausharrt, während er im trockenen Eingang steht.

»Soll ich später wiederkommen?«

»Nein. Ich meine, so kurz vor dem neuen Geld. Als ich den Zettel angeheftet habe, konnte ich das ja nicht ahnen. Ich weiß nicht, ob ich das Fahrrad überhaupt noch tauschen soll. Sind so unsichere Zeiten.«

»Die Zeiten werden besser«, erwidert Stave und bemüht sich, seiner Stimme keinen flehenden Klang zu geben. Lass mich jetzt nicht abblitzen, bittet er stumm. Frechheit siegt, überlegt er dann, gibt sich einen Ruck und drängt einfach ungefragt in den schummrigen Flur. Bevor Schindler noch etwas sagen kann, reißt er Decke und Packpapier von der Olympia.

»Tadellose Ware. Vorkriegsqualität«, sagt er.

Der Mann blickt auf die Schreibmaschine und befeuchtet mit der Zungenspitze die Lippen. Ich habe ihn, frohlockt der Kripo-Beamte innerlich, als er die Gier in den Augen des anderen aufblitzen sieht. Zugleich wird er wachsam: Was mag das für ein Fahrrad sein? Wirkt wie ein schlechtes Geschäft.

Schindler zögert eine Weile, als rechne er im Kopf etwas nach. »Gut«, brummt er schließlich. »Bleiben Sie hier. Ich hole das Rad aus dem Schuppen im Garten.« Er verschwindet in einem düsteren, stillen Raum hinter dem Flur. Nach einigen Augenblicken schiebt er ein altes, schwarz lackiertes Tourenrad herein. Beschädigter Ledersattel, das Gummi der hellen Ballonreifen rissig, keine Griffe an der stählernen Lenkstange, kein Licht, nur eine Vorderradbremse.

»Hat noch alle Speichen, das ist das Wichtigste«, murmelt Schindler und klingt dabei, als würde das nicht einmal ihn selbst überzeugen.

Stave beugt sich zum Rahmen, wo ein Firmenzeichen aufgenietet ist. Eine springende Gazelle, darunter »No. 10 Heeren Rijwiel«.

»Mitbringsel aus Amsterdam«, erklärt Schindler ungerührt. »War dort stationiert. Zu irgendwas muss das Landserdasein ja gut sein. Aber ich habe es jetzt am Knie.«

»Nehme ich«, stößt Stave hervor, bevor es sich der Mann noch einmal überlegen kann – und bevor ihn Skrupel überwältigen, diese Plünderungsbeute einzutauschen.

Fünf Minuten später fühlt sich Stave unfassbar jung. Obwohl der Regen inzwischen bis auf seine Schultern und die Oberschenkel dringt, obwohl jeder Muskel noch nach seinem nächtlichen Training schmerzt, obwohl zwei Kettenglieder zusammengerostet sind und die Kette deshalb mit jedem Tritt in die Pedale hakt, obwohl die Vorderradfelge einen Schlag hat, dass der Lenker zittert, und obwohl er ständig fürchtet, die alten Reifen könnten unter ihm platzen, fährt er beschwingt über das Kopfsteinpflaster, umkurvt Ziegelhaufen, Bombenkrater und Brombeerbüsche, die aus dem aufgeplatzten Asphalt der Straßenränder wuchern. Freiheit! Ein kleiner Triumph, eine winzige Rückkehr zur Normalität. Endlich kein Gedanke daran, beim Gehen sein hinkendes Bein zu verbergen. Endlose Wege, bei denen er noch gestern aus lauter Langeweile seine Schritte zählte und irgendwann in den Hunderten aufgab, fliegt er nun hinunter. Er schlingert unbeholfen wie ein Fünfjähriger, weil er so lange nicht mehr auf einem Rad gesessen hat, aber ihn durchströmt auch das gleiche Glück wie ein Kind, das endlich alleine unterwegs ist.

Je näher er der Innenstadt kommt, desto belebter sind die Straßen. Er erschrickt sich, als ihn das erste Mal ein Auto überholt. Andere Fahrradfahrer, jemand klingelt wütend, obwohl er nicht den Grund dafür versteht. Fußgänger auf beiden Seiten, aufgeregt und ziellos. Grüppchen an Straßenecken, in denen Männer gestikulieren. Stimmenfetzen. Immer wieder: »Tag X.« »Neue Mark.« Leere Schaufenster, verhängte Geschäftsräume. Keine Auslagen, keine Preisschilder, kein Paar Schuhe, keine Glühbirne, kein Wollknäuel. Blanke Regale, als wäre die schon lange arme Stadt über Nacht endgültig leergeplündert worden. Gut, dass das Wetter so schlecht ist, denkt Stave, das dämpft die Neigung der Menschen, sich auf den Straßen zusammenzurotten.

Er wird rechtzeitig das Restaurant im Fischereihafen erreichen, kein Grund sich abzuhetzen, ein ganz neues Gefühl. Die Wege in Altona bis zum Elbufer hinunter sind steil, Stave nimmt sich sogar die Zeit, hier abzusteigen und seinen neuen Besitz zu schieben. Das würde ihm noch fehlen, die Vorderradbremse zu ziehen und auf der abschüssigen Straße mit dem Kopf voran über den Lenker zu fliegen.

Mittags ist es im Fischereihafen ruhig: Die Schiffe legen nachts an und verkaufen ihren Fang bis zum frühen Morgen. Nun spritzen die letzten müden Angestellten in Gummischürzen Fischköpfe und Innereien aus den Hallen am steinernen Elbkai in die Gullis am Straßenrand, umlagert von hungrigen Katzen.

Stave fährt bis zum schäbigen Eingang von »Sellmers Kellerwirtschaft«. Erst dort fällt ihm auf, dass er kein Schloss und keine Kette hat, um seinen neuen kostbaren Besitz zu sichern. Ratlos blickt er sich um, zuckt mit den Achseln, hebt das Fahrrad auf die Schulter und tritt ein.

Als ihm ein empörter Kellner entgegentritt, setzt er seine Last behutsam ab und zückt seinen Ausweis. »Polizei. Wo kann ich das Rad unterstellen?«

Der Mann ist viel zu verblüfft, um das absurde Ansinnen abzulehnen. »Hier entlang.« Ein düsterer Flur neben der Küche. Der Oberinspektor schiebt das Fahrrad an eine feuchtigkeitsfleckige Wand, nickt dem Kellner gravitätisch zu, als habe der bei der Ergreifung eines Mörders geholfen, und tritt in den Gästeraum ein.

»Du bist der einzige Mann, der nicht seinen Mantel in der Garderobe aufhängt, sondern sein Fahrrad«, begrüßt ihn Anna.

Sie sitzt an einem kleinen Tisch am Ende des Raums, an einem schlierigen Fenster zur Elbe. Ihren schlanken Körper umspielt ein Kostüm von der Farbe des Flusses, ihre schwarzen Haare werden von einem elfenbeinfarbenen Stoffband gehalten, bis auf eine Strähne, die ihr in die Stirn fällt und mit der sie immer wieder gedankenverloren spielt. Stave muss den Impuls unterdrücken, ihr die Strähne behutsam aus dem Gesicht zu streichen. Auf dem Stuhl neben ihr liegt ein heller Damenmantel über der Lehne, aus dessen Falten noch immer Wasser zu einer kleinen Pfütze auf dem Fußboden hinabtröpfelt. Er setzt sich deshalb auf den Platz ihr gegenüber.

»Gut siehst du aus.«

Sie lächelt, und ihm zieht es das Herz zusammen. »Danke für die Einladung. Du kennst das Restaurant schon?«

»Ich war ein einziges Mal hier. Mit MacDonald«, setzt er rasch hinzu, damit sie nicht denkt, er treffe sich hier mit einer anderen Frau. Absurd.

»Was kannst du empfehlen?«

»Die Scholle wird dich nicht umbringen.« Er winkt einem Kellner und gibt ihre Bestellung auf. Wieder der Trick mit den »vergessenen« Lebensmittelmarken. Warum nicht? Stave hätte sein neues Fahrrad hergegeben, nur um hier bei Anna zu sitzen. Zugleich fürchtet er sich vor dem, was er mit ihr besprechen will.

»Wie bist du an das Rad gekommen?«

Er erzählt es ihr, ausführlicher als notwendig – und glücklich darüber, das Entscheidende noch einige Momente länger ungesagt lassen zu können. Der Fisch. Zu stark gebraten, wie beim letzten Mal, die Kartoffeln matschig, die »Mayonnaise« eine weißliche Quarkpampe. Nun reden sie über das Essen. Doch irgendwann stehen die leeren Teller vor ihnen, der Kellner kommt, Stave bestellt zwei Tassen Ersatzkaffee.

»Also?«, fragt Anna und blickt ihn forschend an. »Was hast du auf dem Herzen?«

Stave fühlt sich durchschaut. Fang jetzt bloß nicht an zu stottern, ermahnt er sich. »Ich wollte dich wiedersehen.«

»Das freut mich.« Sie lächelt wieder, wird dann ernst. »Ich will nicht behaupten, dass ich dich bis in die Tiefe deiner Seele kenne«, fährt sie leise fort, »doch wir …«, sie sucht nach den richtigen Worten, »haben eine gemeinsame Geschichte. Du schaust mich nicht an wie der Mann, der einmal mein Liebhaber war. Sondern so wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Wie ein Polizist beim Verhör.«

»Auch damals war ich schon verliebt.«

»Aber du wolltest etwas herausfinden.«

»Seit ich dich kenne, will ich eigentlich nur eines wissen: Ob du frei bist.« Stave stößt die Worte hervor, hält den Atem an, als habe er einen Stein geschleudert und verfolge nun dessen Flugbahn. Hoffentlich zerstöre ich nichts, fleht er stumm.

Anna blickt aus dem Fenster. Der Regenhimmel ist grau wie der Fluss, die Schauer fallen so dicht, dass die großen Docks von Blohm & Voss auf der anderen Elbseite wie verwaschene Aquarelle wirken. Von irgendwo weht der langgezogene Klagelaut eines Schiffshorns herüber. Stave fällt erst jetzt der ärmliche Geruch im Restaurant auf: alter Fisch, ranziges Fett, kalter Tabak.

»Das Problem ist«, murmelt sie, »dass du unbedingt meine Geschichte erfahren willst. Und dass ich sie unbedingt vergessen will.«

Stave muss an Margarethe denken, die bei einem Bombenangriff in ihrer gemeinsamen Wohnung verbrannte, während er in der Stadt im Einsatz war. An seine Alpträume von Feuer und Hitze. An Karl, der ihm als siebzehnjähriger Kriegsfreiwilliger zum Abschied Verwünschungen entgegenwarf, bevor er mit der Wehrmacht beinahe in den Tod zog. An die endlose Suche nach seinem Sohn auf den Bahnsteigen des Hauptbahnhofes und im Archiv des Suchdienstes. An die Freude und den Schrecken, als Karl eines Tages vor seiner Tür stand. An seine Hilflosigkeit seither. »Ich weiß nicht, ob du mir deine Geschichte erzählen möchtest«, erwidert er behutsam, »aber das eine weiß ich sicher: gleichgültig, wie sehr du deine Geschichte auch vergessen willst – deine Geschichte vergisst dich nicht.«

»Ich bin verheiratet«, sagt sie. Stave versucht ihre Gesichtszüge zu lesen und weiß nicht, ob sie herausfordernd oder flehend sind. Vielleicht beides. »Aber das wirst du schon wissen, das ist dein Beruf.«

»Klaus von Gudow«, murmelt er. »Diplomat. Ich weiß es allerdings noch nicht sehr lange. War ein Zufall.«

»Und diesem Zufall habe ich diese Einladung zum Mittagessen zu verdanken?«

»Jetzt muss ich auch alles wissen. Ich werde sonst verrückt«, gesteht Stave und merkt, wie gequält sich seine Stimme anhört. Gut, dass das Restaurant fast leer ist.

Da beugt sie sich plötzlich über den Tisch und haucht ihm einen Kuss auf die Wange. »Das war, wenn ich es recht bedenke, das schönste Kompliment, das mir je ein Mann gemacht hat.« Anna fingert in einer Tasche ihres Mantels herum – und legt einen goldenen Ehering auf den Tisch. »Meine Geschichte hat mich nicht vergessen, wie du siehst.« Sie blickt aus dem Fenster. »Ich war achtzehn, als ich geheiratet habe. Nicht einmal volljährig. Mein Mann ist zehn Jahre älter. Dass wir heiraten würden, wussten wir schon als Kinder – und unsere Familien wussten es auch, was wichtiger ist, als du dir vielleicht vorstellen kannst.«

»Weil ich ein Bürgerlicher bin, der bei seiner Eheschließung keine dynastischen Rücksichten nehmen muss?«

»Spotte nicht. Weil du keine Familie hast, die uralt ist und riesengroß und sehr geübt darin, sanften Druck auf ihre Mitglieder auszuüben, vor allem die weiblichen.« Sie seufzt. »Ich kann jedenfalls nicht behaupten, dass ich sehr unglücklich war. Mein Mann war Diplomat, wir zogen nach Berlin. Von Ostelbien in die Weltstadt! Als junges Mädchen kann man es schlechter treffen. Wir haben in der Nähe der Friedrichstraße gelebt. Ich habe die Wohnung eingerichtet, Klaus machte Karriere.«

»Eine sehr braune Karriere.«

Anna sieht ihn ernst, fast zornig an. Sie drückt den Arm schützend vor ihren Oberkörper, jene Geste, die er so gut kennt. »Auch wenn es heute absurd klingt, um nicht zu sagen erbärmlich: Ich wusste davon nichts. Mein Mann war Diplomat, studierter Jurist. Ich war stolz auf ihn und seinen Titel, aber von seiner Arbeit habe ich nichts geahnt, ich kümmerte mich auch nicht darum. Er ging morgens ins Ministerium und kam abends wieder nach Hause, wie alle unsere Freunde, wie alle unsere Nachbarn.«

Stave, der nie in der NSDAP gewesen war und der 1933 innerhalb der Kriminalpolizei auf einen unbedeutenden Posten abgeschoben worden war, hatte bei der »Reichskristallnacht« 1938 tatenlos zugesehen, wie die Synagoge brannte. Später hatte er KZ-Häftlinge bewachen müssen, als die nach schweren Angriffen zu gefährlichen Aufräumarbeiten zwischen die Ruinen geschickt worden waren. Und er hatte nicht verhindern können, dass sein eigener Sohn begeistert bei der HJ mitmachte. »Es gibt viele Menschen, denen man mehr Vorwürfe machen kann als dir«, murmelt er.

»Im Herbst 1943 habe ich Berlin verlassen«, fährt Anna fort. »Klaus hat darauf bestanden. Die Fliegerangriffe wurden immer häufiger, es erschien ihm sicherer, mich auf den Familiengutshof zurückzuschicken.« Sie guckt ihn traurig an. »Um den amerikanischen Bombern zu entfliehen, wäre ich beinahe der Roten Armee in die Arme gelaufen. Ich bin gerade eben aus dem Osten entkommen, aber diesen Teil meiner Geschichte kennst du schon.«

»Und dein Gatte ist in Berlin geblieben?« Stave fällt ein, dass sein eigener Sohn vielleicht an der Seite von Annas Mann gekämpft haben könnte.

»Bis zum bitteren Ende. Ich dachte, er wäre im Mai 1945 gestorben. Das hat zumindest ein ehemaliger Kollege aus dem Auswärtigen Amt behauptet. Klaus von Gudow gilt seither offiziell als verschollen, Schicksal unklar, keine Grabstelle.«

»Ein tragisches Schicksal – oder ein praktisches. Wenn man im Judenreferat des Auswärtigen Amtes gearbeitet hat und weiß, dass einen die Alliierten suchen und einem einen Platz unter dem Galgen freihalten würden.«

»Ich habe kurz nach meiner Ankunft in Hamburg tatsächlich einmal Besuch von einem älteren englischen Offizier bekommen. Sehr höflich, sehr taktvoll. Wahrscheinlich ein Kamerad deines Freundes MacDonald. Zuerst dachte ich, er interessiert sich für Antiquitäten.« Sie lacht freudlos auf. »Er interessierte sich für menschliche Antiquitäten. Erst durch seine Fragen ist mir klar geworden, für welche Dinge Klaus verantwortlich war. Ich fühlte mich«, sie ringt um das richtige Wort, »schmutzig, betrogen, entehrt. Ich stand vor diesem höflichen englischen Offizier wie eine Räuberbraut dar. Ich war schlimmer als eine Räuberbraut. Die Gattin eines Massenmörders, eine reichlich naive Person noch dazu. Ich weiß bis heute nicht, ob mich der Offizier eher bemitleidet hat, oder ob er mich wegen meiner Ahnungslosigkeit verachtete. Wie auch immer: Er erkundigte sich nach dem Verbleib meines Mannes. Ich dachte, dass ich Witwe sei, und war deshalb überrascht. Andererseits, was wusste ich schon? Der Engländer ist auf jeden Fall nie wiedergekommen. Ich habe meinen Mädchennamen angenommen und wollte die Geschichte vergessen. Meinen Mann, seine Arbeit, die Zeit in Berlin, alles.«

»Aber die Geschichte vergaß dich nicht.«

Anna nickt bekümmert. »Eines Tages schob jemand einen Zettel unter meine Wohnungstür – kurz nachdem ich die Bleibe in der Röperstraße gefunden hatte. Ich habe nie herausgefunden, wer es war. Es war ein Brief aus einem italienischen Kloster. Von meinem Mann. Er versteckt sich dort, bis er an Bord eines Frachters gehen kann. Nach Argentinien.«

»Wie ist er vom belagerten Berlin in ein italienisches Kloster gekommen?«

»Das hat er nicht geschrieben. Er hat nur ominöse ›Helfer‹ erwähnt – Helfer, die auch mir beistehen würden, wenn ich wollte. Die mich nach Italien schmuggeln würden. Und die eine Schiffspassage gebucht hätten, für eine Frau mit Papieren auf einen neuen Namen, Papieren, in die mein Foto schon eingeklebt sei.«

Stave hält den Atem an. »Wirst du gehen?«

Da lacht sie, schüttelt den Kopf, fasst kurz seine Hand. »Der Brief ist doch schon vor Monaten angekommen. Zu einer Zeit, als ich bereits einen anderen Mann liebte. Einen Mann allerdings, der dann von seiner eigenen Geschichte eingeholt worden ist.«

»Ein Mann, der dich einmal wie ein Spitzel verfolgt und dich dabei beobachtet hat, wie du in einem Juweliergeschäft in den Colonnaden einen Ehering zurückgekauft hast«, gesteht er.

Anna dreht den Ring auf dem Tisch, so vorsichtig, als könnte er jederzeit explodieren. »Ich wäre niemals mit Klaus nach Argentinien geflohen. Selbst wenn ich dich nicht gekannt hätte. Nach allem, was ich jetzt über ihn weiß, möchte ich ihn nie wieder sehen. Allein der Gedanke an ihn lässt mich schaudern. Aber als ich diesen Brief erhalten habe, bekam ich Angst: Ich hatte dem englischen Offizier gesagt, dass ich Klaus für tot hielt. Ich hatte meinen Mädchennamen angenommen, jeder in Hamburg kannte mich nur so. Was, wenn Klaus erwischt wird, auf dem Schiff oder irgendwann in Argentinien? Was, wenn es in Hamburg Spuren gibt, die auf ihn weisen – und damit auch auf mich?«

Stave schließt die Augen. »Was bin ich für ein Idiot«, flüstert er.

Anna schüttelt den Kopf, verwundert über sich selbst. »Ich hatte meinen Ehering längst versetzt. Aber auf der Innenseite steht sein Name eingraviert. Und meiner. Und das Datum unserer Hochzeit. Was hätte ein Lieutenant MacDonald daraus gemacht, wenn er diesen Ring je zufällig entdeckt hätte? Oder ein Staatsanwalt Ehrlich? Ich habe mich so gefürchtet, dass ich mein Geld zusammengekratzt und den Ring zurückgekauft habe. Spuren verwischt.«

»Warum bist du mit diesem Brief nicht einfach zu den Engländern gegangen? Oder zu mir?«

»Auch du bist Polizist. Ich habe mich in dich verliebt, aber ich kannte dich kaum. Je mehr du von mir wissen wolltest, desto bedrängter fühlte ich mich. Wir waren doch gerade erst ein Paar geworden. Ich habe mich gefürchtet, dir zu gestehen, dass ich noch verheiratet bin. Und dazu mit einem gesuchten Verbrecher! Vielleicht wärst du einfach gegangen? Und dann ist dein Sohn aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und die Sache zwischen uns ist noch komplizierter geworden. Zu kompliziert. Ich wollte nichts mehr mit Klaus zu tun haben. Ich wollte meine Vergangenheit verschweigen. Ich wollte hier und jetzt leben.«

»Sehr naiv.«

»So naiv wie mein Leben in Berlin. Ich wünschte, ich wüsste, was zu tun ist.«

»Ich habe eine Idee«, murmelt Stave.

Zehn Minuten später gehen sie zwischen den Schuppen entlang. Der Regen hat sich in eine Art feinen Nebel verwandelt, der sie von allen Seiten umhüllt. Aus den Ziegelwänden der Gebäude schwitzt Fischgestank. Stave führt Anna am letzten Schuppen vorbei bis auf den gepflasterten Kai. Die Kopfsteine glänzen, blankpoliert von den Sohlen Tausender Schauerleute, die nachts Fischkästen von den Schiffen in die Hallen schleppen. Nun aber ist niemand zu sehen.

»Darf ich?«, fragt er und reicht ihr behutsam die Hand hin.

Sie zögert lange, dann lässt sie den Ring in die offene Handfläche fallen.

Stave schließt die Hand zur Faust – und bevor er noch einmal nachdenken kann, bevor noch einmal Zweifel kommen, holt er aus und schleudert den Ring fort. Ein goldener Reflex über dem grauen Elbwasser, ein schmaler Kreis auf den Wogen, kein Laut. Anna atmet tief durch. Halb hätte er erwartet, dass sie vielleicht weinen würde oder sich auf ihn stützen müsste, doch sie steht nur starr da, hoch aufgerichtet, stumm.

»Gehen wir«, sagt sie endlich, und durch Stave flutet eine so grenzenlose Erleichterung, dass er nun beinahe eine stützende Hand nötig gehabt hätte.

 Schweigend wandern sie den Elbhang hoch bis zur düsteren Röperstraße. Anna geht zu seiner Rechten, also schiebt Stave sein Fahrrad mit der linken Hand. Er ist ungeschickt, befürchtet, sein neues Gefährt in einem Schlagloch zu beschädigen, doch er will nichts als Luft zwischen sich und die Frau an seiner Seite lassen. Die Kellerwohnung, die schäbige Wohnungstür. Anna kämpft mit dem verrosteten Schloss, drückt schließlich den Eingang auf.

Stave, den die plötzliche Panik erfüllt, sie könnte ohne ein Wort hinter der Tür verschwinden, fasst ihre Hand. »Sehen wir uns wieder?«

Da lächelt Anna und haucht ihm einen Kuss auf die Wange. »Gib mir ein paar Tage, um mich an meine neue Geschichte zu gewöhnen.«