Tatwaffe

Donnerstag, 24. Juni 1948

Stave hätte nicht gedacht, dass es auf dem Flur des Chefamtes S noch ruhiger zugehen könnte als in den vergangenen zwei Wochen. Doch nun ist es tatsächlich totenstill, als er Paul Michel über den Gang bis zu seinem Büro führt. Ungeduldig hat er auf diesen Augenblick gewartet, hat in den letzten 72 Stunden immer wieder auf die Uhr gesehen, hat sich wie ein eingesperrtes Tier gefühlt. Endlich. Der einbeinige Künstler sieht sich verwundert um, sagt aber nichts. Er trägt einen alten Pappkarton in einem Einkaufsnetz, das um seinen Hals geschlungen ist. Die Knöchel seiner Hände, mit denen er die Krücken umklammert, treten weiß hervor.

»Entspannen Sie sich«, rät ihm der Oberinspektor, während er für ihn die Tür zu seinem Zimmer öffnet. »Sie sind hier, um mir einen Gefallen zu tun, und nicht, weil Sie verhört werden.«

»Es fühlt sich aber genauso an«, gesteht Michel.

»Zeigen Sie mir Ihr Werk.«

Sein Gast lässt sich auf einen Stuhl sinken und hebt den Karton vorsichtig auf den Tisch. »Auch wenn der Ton gebrannt ist, bleibt es ein empfindliches Stück«, erklärt er, während er eine zusammengefaltete alte Zeitung heraushebt. »Ich will nicht, dass jetzt noch etwas abbricht.« Er klappt das Papier auseinander – und präsentiert schließlich ein handgroßes braunes Objekt.

»Perfekt«, murmelt Stave verblüfft. Behutsam nimmt er das Werkstück in die Rechte. Eine Kopie des Silbergriffes von Schramms Gehstock. Er legt Kienles Fotos neben das Tonobjekt auf den Schreibtisch: die gleiche Form, das Muster, mit dem der Griff verziert ist, nachgearbeitet bis in das feinste Relief.

»Es war ein großes Vergnügen«, gesteht Michel mit gerötetem Gesicht. »Endlich habe ich einmal wieder in meinem Metier gearbeitet. Und ganz legal.«

Stave denkt an Oberinspektor Dönnecke, der diesen nachgearbeiteten Griff auf keinen Fall sehen darf, sagt dazu jedoch nichts. »Sie haben sich Ihr Visum für Amerika redlich verdient«, stellt er fest.

»Das war also kein mieser Scherz?«, fragt Michel ungläubig.

Der Kripo-Beamte schreibt MacDonalds Namen und seine Zimmernummer im Gebäude der britischen Zivilverwaltung auf einen Zettel und reicht ihn seinem Gegenüber. »Melden Sie sich bei dem Lieutenant. Er wird Sie und Ihre Familie auf eine lange Reise schicken.«

»Ich bin schon unterwegs!«, ruft der Künstler.

»Nicht so hastig.« Stave erhebt sich. »Ich bringe Sie bis nach unten«, verkündet er – nicht dass Michel in der Zentrale noch einem Kollegen über den Weg läuft und anfängt zu reden.

Direkt im Anschluss steigt Stave auf sein Rad. Die tönerne Kopie des Gehstockgriffes hat er in seiner Manteltasche versteckt, damit niemand sieht, dass er etwas mitnimmt. Er fährt zur Alster. Die feinen Viertel dort sind fast wie ausgestorben – keine Kippensammler mehr, die niedergebrannte Stummel englischer Soldaten vom Bürgersteig klauben, keine Einbeinigen, die in den blechernen Mülleimern der Besatzungssoldaten wühlen. Es geht aufwärts, denkt Stave. Keine Demütigung mehr. In der Neuen Rabenstraße kommt ihm eine Gruppe von Medizinstudenten entgegen, junge Leute, die mit blassen Gesichtern das Gebäude der Rechtsmedizin fluchtartig verlassen.

»Ich habe mit einem der Toten aus Ihrer Sammlung ein Experiment vor«, begrüßt der Oberinspektor Doktor Czrisini.

»Wollen Sie meinen Posten übernehmen? Den können Sie haben.« Der Rechtsmediziner hustet. »Welche Leiche darf es denn sein?«

»Der Tote aus dem Reimershof.«

»Sie sind noch immer auf vermintem Gelände unterwegs? Gehen wir in den Kühlraum. Die Studenten habe ich versorgt, die meisten Kollegen machen gerade Mittagspause. Wir sollten dort allein sein. Zeugen sind Ihnen wahrscheinlich unangenehm.«

»Ich bin Ihnen einen Gefallen schuldig.«

»Dann müssen Sie sich aber beeilen«, murmelt Czrisini.

Der Kripo-Beamte fragt sich beunruhigt, was es mit diesen seltsamen Kommentaren in letzter Zeit auf sich hat, während er hinter dem Arzt die Treppe in den Keller hinabsteigt.

Als Czrisini die Schublade mit den sterblichen Überresten Rolf Rosenthals herauszieht, nimmt Stave das Tonmodell aus der Manteltasche.

Der Rechtsmediziner lächelt dünn. »Verstehe. Ich frage Sie nicht, wie Sie darangekommen sind. Oder wem das gehört.« Behutsam greift er nach der Kopie des Gehstockgriffes und führt sie zum Kopf des Toten. »Das passt«, verkündet er zufrieden. »Sie können diesen Griff genau in das Loch auf dem Schädel einführen: die gleiche Größe, die gleiche L-Form.«

»Stellen Sie sich einen Gehstock mit einem schweren silbernen Griff vor: Hat der diese tödliche Verletzung verursacht?«

»Sprechen Sie im Konjunktiv. Ein Beweis ist das selbstverständlich noch nicht. Schon gar nicht, wenn ich bloß ein Tonmodell dieses ominösen Griffs habe.«

»Aber ein Indiz.«

»Wie aus dem Lehrbuch. Vielleicht wird es ausreichen, um Oberinspektor Dönnecke zu neuen Ermittlungen anzustacheln.«

»Ich dachte weniger an den Kollegen, sondern mehr an den Staatsanwalt«, erklärt Stave.

»Dafür ist das hier zu wenig. Aus einer L-förmigen Schädelfraktur und einem L-förmigen Gehstockgriff zimmern Sie keine Anklage. Und kein Rechtsmediziner würde vor Gericht einen Eid darauf schwören, dass eine Schädelverletzung und ein Gehstockgriff zusammenpassen wie Schloss und Schlüssel. Wenn das anders wäre, könnten Sie jeden Fußlahmen in dieser Stadt des Mordes im Reimershof bezichtigen.«

Auf dem Weg zurück nach oben schüttelt ein schwerer Hustenanfall den Pathologen. Czrisini krümmt sich, seine mageren Hände umklammern das Geländer, als wäre er ein Ertrinkender, der nach einem Balken greift. Er hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Als er sich endlich wieder aufrichtet, glänzen Schweißperlen auf seiner Stirn. Das Taschentuch ist blutrot.

»Sie sollten wirklich zur Kur gehen«, sagt Stave erschrocken.

»Die Kur, die bei Lungenkrebs hilft, muss erst noch erfunden werden«, keucht Czrisini und verzerrt seine bläulichen Lippen zu einer Grimasse, die den Oberinspektor weniger an ein Lächeln erinnert als an die Züge des Toten, die er soeben im Kühlraum gesehen hat.

»Tut mir leid, das zu hören«, stammelt er. Er kommt sich vor wie in einem absurden Traum. Es erscheint ihm würdelos, fast beiläufig in einem schummrigen, schmutzigen Treppenhaus vom Todesurteil eines Mannes zu erfahren, der ihm beinahe so etwas wie ein Freund ist.

»Das ist der Preis der englischen Zigaretten«, stößt der Rechtsmediziner hervor und zwingt sich die nächsten Stufen hoch.

»Vielleicht gibt es in England oder Amerika neue Behandlungsmethoden?«, versucht der Kripo-Mann ihm Mut zu machen. Er denkt an MacDonald. »Ich könnte …«

»Sie können leider gar nichts für mich tun«, unterbricht ihn Czrisini. »So weit sind selbst die Amerikaner noch nicht, dass sie kleine Atombomben in der Lunge zünden, um den Tumor zu zertrümmern. Trotzdem besten Dank für das Angebot.«

Stave folgt ihm schweigend, bis sie das Büro des Rechtsmediziners erreichen. Einstmals quoll es über vor Akten, Berichten und Präparaten. Inzwischen ist es gespenstisch leergeräumt. »Wie viel Zeit bleibt Ihnen noch?«, fragt er stockend.

»Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe«, erwidert Czrisini und zündet sich eine Woodbine an. »Eigentlich erledigt so ein Krebs seine Aufgabe in vier bis sechs Monaten. Ich bin schon längst überfällig. Keine Ahnung, warum er sich bei mir mehr Zeit lässt. Wird interessant sein, meine Lunge anzusehen. Das wird das letzte Post Mortem sein, bei dem ich dabei sein werde.«

»Soll ich Sie nach Hause bringen?« Noch während er dieses Angebot macht, fällt dem Kripo-Mann auf, dass er nicht einmal weiß, wo Czrisini wohnt.

»Ich verbringe so wenig Zeit wie möglich in meinem Haus«, erwidert der Rechtsmediziner. »Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ich so abtrete, wie es sich für einen Mann meines Standes gehört: an meiner Wirkungsstätte. Außerdem müssen die Kollegen dann meinen Körper nicht allzu weit tragen.« Er lacht, bis ihn ein neuer Hustenanfall schüttelt.

Stave weiß nicht, wohin mit seinem Blick, wohin mit seinen Händen. Er möchte Czrisini noch irgendetwas Aufmunterndes sagen. Zugleich drängt es ihn hinaus, fort aus dem verqualmten Büro und dem Hauch des Todes, den er mit jedem Atemzug zu inhalieren glaubt. »Ich melde mich bald wieder bei Ihnen«, sagt er und merkt selbst, wie falsch das klingt.

»Auf Wiedersehen«, erwidert der Rechtsmediziner gleichmütig. »Hier oder an einem anderen Ort.«

Stave schüttelt Doktor Czrisini länger die Hand als sonst. Er weiß, dass es das letzte Mal ist.

Mittags ist er mit MacDonald in »Sellmers Kellerwirtschaft« verabredet. »Das ist das letzte Mal, dass ich Sie einlade«, erklärt der junge Lieutenant munter. »Seit bei euch Deutschen die neue Mark in der Brieftasche klimpert, fühlt man sich mit Britischen Pfund wie der arme Verwandte auf Besuch. Ich frage mich, wer eigentlich den Krieg gewonnen hat.«

Stave studiert die Speisekarte. Kein Kellner mehr, der einem gegen »Pfand« für »vergessene« Marken seine eigenen »leiht«. Die Preise auf der Karte sind die, die man tatsächlich zahlen muss: eine Tasse echter Kaffee für 1,30 DM, ein dreigängiges Mittagsmenü für 3,50 DM.

»Billiger wird das Siegerleben nicht«, murmelt der Kripo-Beamte. Er wird nicht mehr oft ins Restaurant gehen können.

»Das Mittagsmenü besteht immer noch aus der gleichen verbrannten Scholle wie früher«, warnt ihn der Brite.

»Kein Wunder, dass der Raum fast leer ist. Ich lasse mich trotzdem darauf ein. Sonst ist die Scholle umsonst gestorben.«

»Mit dieser Haltung gelingt der Wiederaufbau. Also, lassen wir zwei Schollen nicht umsonst gestorben sein.« MacDonald winkt nach dem Kellner. Danach zieht er einen großen Umschlag aus einer Aktentasche, die neben seinem Fuß steht. Er präsentiert einen grellbunt bemalten Karton.

»Das ist Erna!«, ruft der Oberinspektor verblüfft. Ein Porträt von MacDonalds Frau – Kopf und Oberkörper, große, intensive Augen, blonde Haare wie gelbe Flammen, die fröhlichen runden Gesichtszüge mit groben, schwarzen Pinselstrichen gemalt.

»Sehr modern«, kommentiert Stave vorsichtig.

»Als käme es direkt aus der Weimarer Republik. Man merkt, dass Toni Weber jahrelang nicht mehr expressionistisch arbeiten durfte. Bei diesem Bild hat er richtig Gas gegeben.«

»Hat Erna es schon gesehen?«

»Wirkt es so, als hätte ich eine Ohrfeige kassiert? Ich warte auf die richtigen Umstände, um diesen Schatz meinem Schatz zu präsentieren.«

»Wenn Sie meinen Rat wollen: Warten Sie, bis man Sie nach Kalkutta versetzt und Erna in Europa zurückbleibt.«

»Kluge Idee«, kommentiert der Lieutenant und schiebt das Bild seufzend in den Umschlag zurück. »Sie wird leider an einer Kleinigkeit scheitern. Ich gehe nicht nach Kalkutta: Ich gehe nach Berlin.«

»Dachte ich mir«, erwidert der Oberinspektor, in dem sich Niedergeschlagenheit breitmacht. »Wann?«

»Morgen. Wir fahren von den Landungsbrücken ab.«

»Von den Landungsbrücken? Wie wollen Sie nach Berlin kommen? Mit dem Schiff? Die Roten haben die Stadt eingeschlossen.«

»Lassen Sie sich überraschen. Wir werden den Sowjets eine Nase drehen.«

»Wir? Erna und ihre Tochter kommen mit?«

»Erna war noch nie in Berlin.«

»Sie machen Witze. Eine Million Rotarmisten haben die Stadt umzingelt. Keiner spricht es aus, aber jeder weiß, was die dort schon 1945 angerichtet haben. Und das wollen Sie Frau und Tochter zumuten?«

MacDonald seufzt und lächelt müde. »Am liebsten würde ich Erna mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen, in London zu bleiben. Aber sie war in diesem Punkt«, er sucht nach dem richtigen Wort, »nicht kompromissbereit«, vollendet er und zuckt mit den Schultern. »Sie sagt, sie hat bereits einmal einen Mann in einen Krieg ziehen lassen. Wir wissen, dass diese Geschichte nicht gut ausgegangen ist. Ein zweites Mal soll ihr das nicht passieren. Sie wird mitkommen und in einer britischen Kaserne wohnen. Das Privileg von Offiziersfrauen.«

»Wir werden Ihnen morgen am Kai zum Abschied zuwinken.«

»Wir?«

»Anna und ich.«

Ein breites Lächeln tritt in MacDonalds Gesicht. »Das ehrt mich mehr, als würde ein Dudelsackspieler aufmarschieren.« Er nickt in Richtung des Kellners. »Da kommen unsere Schollen. Hoffen wir das Beste und erwarten wir das Schlimmste. Und während wir den Fisch zersäbeln, erzählen Sie mir von Ihrem Fall. Die Kripo-Ermittlungen werde ich in Berlin wohl am meisten vermissen.«

Kann sein, dass ich die Ermittlungen auch bald vermissen werde, denkt Stave später, als er über den Gang des Chefamtes S schleicht. Er wird sich nicht mehr länger an seinen vielleicht letzten Fall in dieser Abteilung klammern können, denn er hat einen Termin bei der Staatsanwaltschaft. In seinem Büro packt er die Unterlagen zu dem Toten und den Kunstwerken im Reimershof zusammen. Er zögert kurz – und steckt dann auch noch die graue Karteikarte des Gestapo-Mannes Philip Greiner ein. Jene Karte, auf der die alten Ermittlungen gegen Schramm in Kurzform notiert worden sind. Jene Karte, auf der sich der Hinweis findet: »Cäsar Dönnecke, K.z.b.V.«, das »Kommando zur besonderen Verwendung«. Greiners Aussagen über Dönneckes Ermittlungen noch im Februar 1945, die mit zwei Hinrichtungen endeten, hat Stave aus dem Gedächtnis protokolliert. Besser als nichts. Und erst recht Dönneckes Beteiligung an der Ermordung der Kinder aus dem KZ. Stave blickt zur Decke. Im Flur über ihm arbeiten die Kollegen von der Mordkommission. Du wirst es noch bereuen, ein Dossier über mich angelegt zu haben, denkt er.

Eine Viertelstunde später hört sich Ehrlich den Bericht des Oberinspektors an. »Sie und ich haben eine heimliche Abmachung, die gegen ein Dutzend Vorschriften verstößt. Sie haben unter dubiosen, um nicht zu sagen: illegalen Umständen die Kopie eines Gehstockgriffes anfertigen lassen«, fasst der Staatsanwalt schließlich zusammen. »Von einem Mann, der schon einmal in einen Fall von Fälschung verwickelt war. Diese Kopie passt zufälligerweise in das Loch eines Totenschädels, der acht Jahre lang in einem zerbombten Haus lag. Sie erwarten nicht ernsthaft, dass ich daraus eine Anklage konstruiere? Gegen einen angesehenen Bürger, der ein ausgewiesener Gegner der Nazis und Beschützer von Juden war? Sie können übrigens nicht einmal beweisen, dass der Tote tatsächlich Rolf Rosenthal ist. Der Aussage von Doktor Schramm zufolge kann er es nicht sein, denn er verschwand ja schon 1940 aus Hamburg. Und nebenbei: Können Sie auch nur beweisen, dass Schramm schon zur fraglichen Zeit, also 1943, den Gehstock mit dem silbernen Griff benutzte? Es wäre ziemlich peinlich, wenn sich vor Gericht herausstellen würde, dass er ihn erst 1947 gekauft hat.«

»Einen silbernen Griff? So etwas hat man seit 1939 nicht mehr kaufen können.«

Der Staatsanwalt hebt beschwichtigend die Hände. »Der Silbergriff ist nicht das Problem. Aber Ihre ganze Geschichte ist das Problem. Wenn Sie es wirklich wissen wollen: Nicht einmal mich haben Sie überzeugt.«

»Es passt alles zusammen.«

»Wie der Silbergriff ins Schädelloch? In der Tat, eine Kombination, die eines Sherlock Holmes würdig wäre. Doch lassen Sie mich den tumben Watson spielen und Sie fragen: Warum sollte Schramm seinen Prokuristen umgebracht haben? Was ist das Motiv? Der Bankier hat Juden in der Nazizeit geschützt, nicht ihnen den Kopf eingeschlagen.«

»Es muss irgendetwas mit den Kunstwerken zu tun haben, deren Besitz Schramm so hartnäckig leugnet.«

»Und das ist alles, was Sie sagen können, wenn der Richter Sie in den Zeugenstand ruft? ›Irgendetwas mit Kunstwerken‹? Spätestens da würde das Verfahren mit einem glasklaren Freispruch enden – und damit, dass Ihre Karriere ruiniert ist.«

»Sie ist bereits ruiniert.«

»Man kann immer noch etwas tiefer fallen.«

»Sie werden also keine Anklage erheben?«

»Ich möchte nicht mit Ihnen fallen. Das überrascht Sie nicht wirklich, oder?«

»Nein«, gesteht Stave und atmet tief durch. »Wäre ich noch bei der Mordkommission, dann würde ich jetzt trotzdem weiterbohren.«

»Selbst dann würde ich keine einzige Deutsche Mark auf Ihren Erfolg wetten.«

»Ich habe noch etwas für Sie.« Der Kripo-Beamte lächelt dünn. »Sagen wir: Einen Gruß von einem Kollegen.« Er legt Ehrlich die Karteikarte der Gestapo vor, dazu sein Protokoll, und berichtet alles, was er von Dönneckes Vergangenheit in der Nazizeit weiß. »Dieser Gestapo-Agent Greiner«, schließt er, »ist einer von den Kerlen, gegen die Sie ermitteln. Ich denke, dass er gegen Dönnecke aussagen würde, wenn man ihn mit den richtigen Worten darum bittet.«

»Sie meinen, wenn ich ihn vom Haken lasse?«

»Greiner mag ein Schwein sein. Dönnecke ist ein Sadist und ein Mörder.«

»Täter wie er gehen einem selten ins Netz. Sie hinterlassen so wenige Spuren.«

»Dieser hier schon.«

Ehrlich greift nach der alten Karte. »Gibt es davon noch mehr?«

»Wenn ich Greiner richtig verstanden habe, ja.«

Der Staatsanwalt nimmt seine Brille ab und putzt sie umständlich. »Das reicht für eine Anklage gegen Dönnecke.« Sein Tonfall ist sachlich, doch Stave spürt in den Worten eine unbeugsame Entschlossenheit. Sein Herz schlägt schneller: Sie werden Dönnecke unter das Fallbeil bringen!

»Ein Versprechen müssen Sie mir jedoch geben«, fährt Ehrlich fort und deutet mit den Bügeln seiner Brille auf ihn. »Sie müssen vor Gericht erscheinen – als Zeuge der Anklage!«

»Es wird mir ein Vergnügen sein«, verspricht Stave.

Der Oberinspektor schweigt danach lange und denkt über das kommende Verfahren nach. Dönnecke wird der schlimmste Mörder sein, den er je zur Strecke gebracht hat – und das, obwohl er nicht mehr zur Mordkommission gehört.

Schließlich fällt sein Blick zufällig auf die »Zeit«, deren neueste Ausgabe auf einem Ecktisch liegt. »Die Zeitungen sind voll mit Geschichten über Israel«, sagt er. »Der neue Staat in Palästina. Die Utopie. Der sichere Hafen der Juden. Warum tun Sie sich das alles hier an? Sie sind in Hamburg gedemütigt und entlassen worden. Ihre Frau ist hier in den Tod getrieben worden. Ihre Kinder sind längst in England auf Internaten. Sie hören sich Geschichten von einem Kerl an, der bewusstlose Kinder in einem Keller aufknüpft, und werden gegen den Mörder Anklage erheben und sich damit vor Gericht monate- oder sogar jahrelang befassen. Warum gehen Sie nicht und lassen alle Täter in diesem Trümmerhaufen zurück?«

»Sehen Sie mich an«, erwidert Ehrlich in einer Mischung aus Stolz und Trauer. »Sehe ich aus wie ein Zionist, der mit dem Spaten in der einen Faust und einem Gewehr in der anderen einen Kibbuz in der Wüste errichtet? Mein Platz ist in Hamburg – gerade weil ich hier gedemütigt worden bin. Gerade weil meine Frau hier begraben ist. Gerade weil hier Kinder in Kellern ermordet worden sind. Und ein verkrüppelter Prokurist in einem Kontorhaus.«

Stave lächelt. »Schön zu wissen, dass nicht jeder geht. Ich werde Greiner befragen und noch mehr Fakten über Dönnecke zusammentragen. Wenn je eine Anklage wasserdicht ist, dann wird es diese sein.«

»Und Ihre anderen Ermittlungen?«

»Ich werde mich weiter nach Spuren von Rolf Rosenthal umsehen. Nach Spuren, die irgendwann vielleicht doch auf einen gewissen Hamburger Bankier weisen werden. Die Kunstwerke übergebe ich dem Museum. Die Akten wandern in den Schrank.«

»Man kann nicht immer gewinnen.«

Abends hält er Anna in den Armen. Sie verbringt die Nacht bei ihm. Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, ihren Besuch zu verheimlichen. Sollen sich die Nachbarn ruhig daran gewöhnen. Windböen klatschen Regen gegen die Scheiben, es klingt, als schlüge jemand mit einem feuchten Handtuch gegen das Glas. Über die Ahrensburger Straße knattert ein Motorrad, die Fehlzündungen knallen wie Schüsse.

Im Radio bringt der NWDR ein Hörspiel über Schweine, die das Vieh eines Bauernhofes zur Revolution gegen ihren Herren anstacheln und die sich später selbst zu Diktatoren aufschwingen. »Wie die Tiere«, sagt der Sprecher.

Stave ertappt sich dabei, dass er beinahe widersprochen hätte: wie die Menschen. Fang bloß nicht an, mit dem Radio zu diskutieren, ermahnt er sich. Anna ist schon längst eingeschlafen, doch er lauscht noch den Parolen der Schweine und denkt dabei an Krieg und Revolution.

Seine Gedanken wandern zu MacDonald, der mit Frau und Kind in eine belagerte Stadt reist. Ein neuer Krieg? Berlin muss ein Paradies für Agenten sein – eine Stadt, in der man nur die Straßenseite wechseln muss, um in einen anderen Sektor zu gelangen. Eine Stadt, in der die Geister von Mord und Schändung zwischen den Ruinen schweben. In der Männer noch im Inferno Propagandafilme drehen, bis einer sein Bein durch eine Granate verliert. In der man einen Diplomaten namens Klaus von Gudow das letzte Mal lebend gesehen hat. Eine Stadt, die man vor ein paar Tagen noch mit einer zweistündigen Zugfahrt erreichen konnte und die nun so abgeriegelt ist wie Moskau.

Ob Karl wieder in einen Krieg ziehen muss? Ob er selbst wieder in den Ruinen zerbombter Häuser nach Körpern suchen wird? Er hält Anna fester im Arm. Je müder er wird, desto mehr zerfasern seine Überlegungen. Doktor Czrisini, der sich zu Tode hustet und sich nicht in sein leeres Haus traut, der vielleicht genau in dieser Stunde seinen letzten Atemzug tut. Oberinspektor Dönnecke, der möglicherweise genau demselben Hörspiel lauscht. Ob es ihn auch beunruhigt? Oder ob einer wie er immer tief schlafen wird, sicher in dem Glauben, stets auf der richtigen Seite zu stehen? Kurt Flasch von der Landeszentralbank unten im Erdgeschoss. Wird der schlafen können? Oder wird er, nach zwei Tagen Gefängnis aufgrund von Schwarzmarktdelikten entlassen, für immer Angst haben, dass die eine Verfehlung seines Beamtenlebens doch noch irgendwann ans Licht kommen und ihn ruinieren wird? Dass ein paar verdruckte Pfennig-Scheine sein Verhängnis werden können?

Wen kümmern da noch ein paar beschädigte Kunstwerke in einem Trümmerhaus? Wen interessiert ein Toter mit einem seltsamen Loch im Schädel? Was ändert das an den Weltläufen? Man kann nicht immer gewinnen, hat der Staatsanwalt behauptet. Ehrlich muss es wissen.

Um Mitternacht endet das Hörspiel. Keine Hoffnung. Das Ringen zwischen Rebellion und Unterdrückung wird ewig weitergehen. Nichts Schönes ist von Dauer, alles wird verfallen. Stave steht behutsam auf und schleicht sich zum Radio. Er will schon den Knopf ausdrehen, da blickt er sich um: Anna auf dem zerwühlten Bett, schlafend, im gelben Licht der Radioröhre. Da möchte er jauchzen vor Glück, möchte zum Fenster stürzen, es aufreißen und seine Erkenntnis über die verlassene Straße brüllen. Stattdessen gleitet er zurück ins Bett, schließt seine Geliebte wieder in die Arme und haucht ihr ins Ohr, was er nicht zu schreien wagt: »Wir leben nicht umsonst. Wir werden nicht verlieren. Diesmal nicht.«