18

Sie erreichten Eden-House am späten Abend. Die Freude und Erleichterung in den Gesichtern dort wich verstörtem Entsetzen, als ihnen das Fehlen von Robert Masters und die Bedeutung des Fellbündels auf seinem Reitpferd klar wurde. Heather stieß einen spitzen, markerschütternden Schrei aus, drehte sich auf den Fersen um und rannte ins Haus. Mrs. Perkins rang mühsam um Fassung, und Karl schwankte so, dass er sich an der Verandabrüstung abstützen musste.

»Was ist passiert?«, flüsterte Mrs. Perkins heiser. So erschüttert hatte Dorothea die resolute Frau noch nie gesehen.

»Ein Eingeborener hat Robert Masters getötet«, sagte Ian brüsk und schwang sich aus dem Sattel. »Und Sam auch.«

»Aber wieso denn? Wir hatten nie Streit mit ihnen.« Mrs. Perkins sah hilflos von einem zum anderen. »Das ist doch verrückt!«

»Es waren nicht King Georges Leute.« Dorothea ließ sich von Ian von der Pferdekruppe heben und ging steifbeinig auf die Treppe zu. »Es war ein fremder Zauberer. Ich muss mich waschen. Entschuldigt mich bitte.« Erst als sie den Flur zu ihrem Zimmer erreicht hatte, wurde ihr bewusst, dass sie es ganz automatisch Ian überlassen hatte, sich um alles Weitere zu kümmern. Sie hatte ihn nicht einmal darum gebeten! Einen kurzen Moment rang sie mit sich, ob sie noch einmal umkehren sollte, aber sie war zu müde. Die tagelange Anspannung und die körperliche Anstrengung forderten ihren Tribut. Kaum brachte sie es fertig, sich die schmutzstarrenden Kleidungsstücke vom Körper zu reißen. Sich zu waschen erschien ihr als riesige Aufgabe, das Ausbürsten der Haare zu mühsam. Halb ohnmächtig vor Erschöpfung stieg sie in ihr Bett, zog die kühlen, sauberen Laken über sich und war eingeschlafen, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.

Sie erwachte von einem beharrlichen Klopfen und setzte sich verwirrt auf. Im ersten Augenblick war ihr nicht klar, wo sie sich befand. Immer noch erwartete sie, harten Fels unter sich zu fühlen. Stattdessen stieg zarter Lavendelduft in ihre Nase. Das Klopfen verstummte. Die Tür wurde vorsichtig aufgestoßen, und Trixies verweintes Gesicht erschien im Türrahmen.

»Guten Morgen, Ma’am. Mrs. Perkins schickt mich, ob Sie irgendetwas brauchen. Die Beerdigung wäre dann nachmittags, sobald die Sonne nicht mehr so hoch steht.« Sie wischte sich mit der Schürze über die verquollenen Augen.

»Danke, ich komme gleich nach unten. Ist Mr. Rathbone im Haus?«

»O nein, Ma’am! Er und John sind gleich heute Morgen losgezogen, die Gräber auszuheben.« Trixie schniefte ungehemmt. »Er hat gesagt, das duldet keinen Aufschub. Wegen der Temperaturen und so.«

Als Dorothea nur wenig später in die Küche trat, saß dort Mrs. Perkins und umklammerte ihren Teekrug, als gebe er ihr Halt. »Es kommt mir alles so unwirklich vor«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich denke immer, jeden Moment geht die Tür auf und er kommt hereinspaziert.« Dorothea setzte sich ihr gegenüber und streichelte die abgearbeiteten, rauen Hände der Köchin.

»Ich kenne das, Mrs. Perkins. Es ging mir genauso, als mein Vater starb. Kann ich Robert noch einmal sehen?«

Mrs. Perkins schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, Ma’am. Behalten Sie ihn in Erinnerung, wie er war. Das habe ich auch Miss Heather gesagt.«

»Wie geht es ihr?«

Mrs. Perkins zuckte mit den Schultern. »Wie soll es dem armen Kind gehen? Sie hat ihren Vater vergöttert. Nur gut, dass Mr. Rathbone hier ist. Ohne ihn wüsste ich nicht, wie wir das alles …« Sie brach mitten im Satz ab und warf Dorothea einen schuldbewussten Blick zu. Offenbar hatte sie sich gerade daran erinnert, dass sie mit der Witwe sprach.

»Ja, ich bin ihm auch sehr dankbar«, sagte Dorothea. »Sie haben schon recht: Ich bin nicht fähig, wichtige Entscheidungen zu treffen. Zumindest nicht jetzt.« Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch, verbarg das Gesicht in den Händen und versuchte, die Bilder in ihrem Kopf zu verdrängen. Die Bilder von Ian und Robert.

»Verzeihen Sie mir bitte!« Mrs. Perkins klang ehrlich zerknirscht. »Ich wollte eigentlich nur sagen, dass Mr. Rathbone wirklich eine wunderbare Hilfe ist. Sie sollten etwas essen, Ma’am. Sie sehen schrecklich blass aus.«

»Nein danke, ich könnte jetzt doch nichts herunterbringen«, wehrte Dorothea ab. »Ich bin dann bei Heather.«

Das Mädchen war weder in seinem Zimmer noch im Schulzimmer. Sie fand sie schließlich an ihrem Lieblingsplatz, dem Stall. Dort hockte sie in der Box neben ihrer Ponystute. Ihre schmalen Schultern zuckten heftig, der ganze kleine Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.

Dorothea zog die Tür auf. Spontan wollte sie Heather in den Arm nehmen, aber die wehrte sich entschieden. »Geh weg, lass mich in Ruhe!« Das Pony spürte die Unstimmigkeit und begann, mit den Hufen zu scharren und den Kopf hochzuwerfen.

»Komm lieber heraus. Nicht, dass dir noch etwas passiert.« Dorothea wich ängstlich zurück. Immer noch waren Pferde ihr ein wenig unheimlich.

»Das kann dir doch egal sein!«

»Ist es mir aber nicht.«

»Ich hasse dich! Wenn du nicht gewesen wärst, wäre das alles nicht passiert!« Heather war geradezu außer sich vor Zorn und Kummer.

»Ich weiß«, sagte Dorothea sehr leise. »Und es tut mir unendlich leid, dass dein Vater getötet wurde. Aber es war wirklich nicht meine Schuld. Glaubst du mir?«

Eine Zeit lang blieb es ruhig. »Das sagte Ian auch«, bestätigte das Mädchen schließlich widerstrebend, aber nicht mehr so aufgebracht wie zuvor. »Er sagte auch, es wäre der böse Mann gewesen, der uns so Angst eingejagt hat und von dem die anderen glaubten, dass wir ihn uns einbilden würden. Stimmt das?«

Dorothea nickte.

»Ist der böse Mann auch wirklich tot?« Heathers ängstliche Frage ließ Dorothea erschauern. Wieder spürte sie das Wurfmesser zwischen ihren Fingern, die rote Wut in sich, mit der sie es geschleudert hatte. »Das ist er!«, erwiderte sie so entschieden, dass Heather sie erstaunt ansah. Aber Dorothea sagte nur: »Ich dachte, du möchtest mir vielleicht beim Blumensammeln helfen. Damit wir die Gräber schmücken können.«

Die Beerdigungszeremonie war schlicht. Ian, Koar und John hatten unter einer Akaziengruppe auf einer Anhöhe über dem Murray River eine tiefe Grube ausgehoben. Tief genug, dass kein Dingo sich bis zur Sohle durchgraben konnte. Dorthin brachten sie Robert Masters Leichnam und Sams Kopf. Den Boden hatten sie mit Eukalyptusblättern bedeckt, und Eukalyptusblätter häuften sie auch über die beiden in weißes Leinen eingenähten Formen, ehe die Männer sich daranmachten, die Grube zuzuschütten.

Da kein Pastor verfügbar war, hatte Karl eine kurze Andacht vorbereitet. Dorothea und Heather legten ihre Kränze auf den Erdhügel; danach kehrten alle wortkarg und niedergeschlagen ins Haus zurück. John hatte angeboten, zwei Holzkreuze zu schnitzen, die, bis beim Steinmetz in Adelaide zwei Grabsteine bestellt und geliefert worden wären, an Robert Masters und Sam Carpenter erinnern würden.

Außerdem musste man die Behörden in Adelaide informieren. Koar und Karl waren an dem Tag von Dorotheas Entführung glücklicherweise früher als erwartet von ihrem Ausflug zurückgekommen. Koar war sofort nach Adelaide geritten, um Robert Masters zu informieren, während Karl auf Eden-House geblieben war. Dorotheas Mann hatte nicht lange gezögert. Sobald er in Erfahrung gebracht hatte, dass Protector Moorhouse unterwegs und der Gouverneur ebenfalls nicht erreichbar war, hatte er bei Richter Cooper eine Nachricht hinterlassen und war mit Ian und Koar auf eigene Faust aufgebrochen.

Das bedeutete, dass keine amtliche Stelle über den weiteren Verlauf dieser Expedition Bescheid wusste. Da jedoch ein Eingeborener und zwei Engländer, wenn man von den Köpfen der Unbekannten absah, zu Tode gekommen waren, musste es zumindest gemeldet werden. Ob daraufhin eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet würde, musste dann Richter Cooper entscheiden.

Die Ankunft von Protector Moorhouse drei Tage später enthob sie der Entscheidung, wer von den Männern nach Adelaide reiten sollte. Er reagierte äußerst bestürzt auf Ians ersten, knappen Bericht. »Was für eine üble Geschichte!«, bemerkte er. »Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass so etwas hier bei uns in Südaustralien geschieht. Sind Sie ganz sicher, Mrs. Masters – verzeihen Sie meine Impertinenz –, dass dieser Schwarze nicht nur Ihretwegen den Kopf verloren hat?«

Dorothea brauchte ein wenig, um zu verstehen, was Moorhouse andeuten wollte. Dann jedoch stieg Ärger in ihr hoch. »Er war nicht bloß vernarrt in mich. Dafür hätte er ja wohl kaum solch einen makabren Altar gebraucht wie den, den er aus den Köpfen der Seeleute von der Maria aufgebaut hatte!«

Moorhouse war die Skepsis deutlich anzusehen. Zweifelte er etwa an ihrem Geisteszustand? »Fragen Sie ruhig Koar oder Mr. Rathbone. Sie haben es auch gesehen«, bekräftigte sie.

Ian nickte bedächtig. »Ja, da waren Köpfe, sieben Stück. Aber ob es wirklich die von den vermissten Seeleuten waren, da bin ich mir nicht so sicher.« Er sah zu Dorothea hinüber. »Tut mir leid, das finde ich wirklich zu weit hergeholt.«

»Ich denke auch, dass wir diese Spur nicht weiterverfolgen müssen«, meinte Protector Moorhouse sichtlich erleichtert. »Und da Sie, Mr. Rathbone, ja die Höhle endgültig verschlossen haben, wird das auch nie zu klären sein. Nur schade um die Malereien. Die hätte ich gerne gesehen. Sie meinten, es hätte sich um eine Darstellung der Regenbogenschlange gehandelt, Mrs. Masters?«

»Jedenfalls hat er das gesagt.« Dorothea versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern.

»Er sprach davon, dass er mit den Köpfen die Regenbogenschlange dazu bringen könnte, die Weißen alle zu töten und die Gesetze der Traumzeit wieder einzuführen.«

»Hm. Gerüchte über solch einen angeblich ›großen Zauber‹ sind mir verschiedentlich zugetragen worden. Aber ich hatte eher den Eindruck, dass die Informanten sich damit wichtig machen wollten. – Koar, was sagen Sie dazu?«

»Es tut mir leid, Mr. Moorhouse, aber von solchen Dingen weiß ich nichts«, wehrte der ab und knetete nervös seine Finger. »Mein Interesse gilt der Medizin, nicht der Magie. Und schon gar nicht der in Ihrer Sprache schwarze Magie genannten Spielart.«

»Haben Sie einmal einen Blick auf den Kultfelsen an der Straße nach Glenelg geworfen?« Dorothea erinnerte sich plötzlich an die Malerei, die sie damals so erschreckt hatte. »Dort, wo wir die verbrannte Bibel gefunden haben? Der Mann, der mich entführt hatte, trug die gleiche Bemalung wie die Figur dort mit den Köpfen in den Händen. Das muss doch etwas zu bedeuten haben!«

»Natürlich bin ich der Sache so rasch wie möglich nachgegangen.« Protector Moorhouse runzelte die Stirn. »Aber dort waren nur Tierzeichnungen. Nichts Ungewöhnliches, versichere ich Ihnen.«

Dorothea öffnete schon den Mund, als eine Hand ihre Schulter drückte und Karl ihr ins Ohr flüsterte: »Lass die Dinge ruhen! Was soll es bringen? Du siehst doch, dass der Protector es gar nicht wissen will.« Laut sagte er: »Ich glaube, meine Schwester ist erschöpft. Sind Sie mit Ihrer Befragung so weit fertig, dass ich sie auf ihr Zimmer begleiten kann?«

»Natürlich. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie in Ihrer Trauer belästigen musste, Mrs. Masters.« Moorhouse sprang auf und nahm ihre Hand. »Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, zögern Sie nicht, es mich wissen zu lassen. Mary und ich fühlen mit Ihnen.«

Dorothea neigte dankend den Kopf. Sein Mitleid zerrte an ihrer Beherrschung. Warum nur waren Beileidsbekundungen so schwer zu ertragen? Eigentlich sollten sie doch trösten.

»Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?« Karl hatte die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet und sah sie an.

»Nein danke. Lieb von dir, aber ich möchte lieber allein sein.«

Der Wunsch, um Robert trauern zu können, war allmählich gewachsen. Im ersten Schock war ihr der Verlust noch gar nicht richtig bewusst geworden. Danach hatte Heathers Kummer keinen Raum für ihren eigenen gelassen. Bewusst oder unbewusst hatte sie die Bilder in ihrem Kopf verdrängt, die sich nun, nachdem Matthew Moorhouse sie geweckt hatte, nicht länger verdrängen ließen. Roberts schweißüberströmtes, blasses Gesicht. Der Speer, der aus seinem Rücken ragte. Ian, der ihn herauszog, und Ian, wie er sich danach auf dem Boden krümmte wie unter unmenschlichen Schmerzen.

Von den zwei Männern, die sie liebte, hatte einer den anderen getötet. Nicht aus Eifersucht, nicht aus Leidenschaft, sondern weil der ihn darum gebeten hatte. Als letzten Freundschaftsdienst.

Um Robert noch einmal nahe zu sein, ging sie in sein Zimmer. Das Kopfkissen bewahrte noch einen Rest seines Geruchs. Wie der im Arbeitszimmer ihres Vaters würde er jeden Tag schwächer werden, bis er ganz verschwunden war. Dorothea vergrub ihr Gesicht im Kissen und ließ endlich den Tränen freien Lauf. Sie weinte um ihren Vater, um Robert und um das, was hätte sein können, wenn sie ihn so geliebt hätte wie Ian.

Am nächsten Morgen zog Karl sie beiseite. »Gut, dass du endlich geweint hast«, sagte er. »Mama hat es sehr geholfen. – Kann ich offen mit dir sprechen?«

Dorothea war wieder einmal erstaunt über die Beobachtungsgabe ihres jüngeren Bruders. »Natürlich«, erwiderte sie. »Was hast du auf dem Herzen?«

»Nicht hier. Können wir nach draußen gehen?«

Erstaunt folgte sie ihm. »Als Erstes: Mr. Moorhouse hat uns zugesichert, dass er in seinem Bericht schreiben wird, dass er weitere Untersuchungen nicht für erforderlich hält. Ein Verrückter hat dich entführt, und bei der Befreiung sind nicht nur er, sondern auch dein Mann und ein Stallbursche umgekommen.« Er blieb stehen und sah ihr offen ins Gesicht. »Er meinte, es sei unnötig, sämtliche Einzelheiten öffentlich zu machen. Es würde nur Unruhe unter den Kolonisten auslösen, und einen Beweis müssten wir letztendlich schuldig bleiben. Ian und ich haben den Bericht so unterschrieben. Mr. Moorhouse hat mich gebeten, dir zu erklären, dass es auch in deinem Interesse ist, wenn diese Sache möglichst diskret behandelt wird.«

»Das heißt, er möchte es geheim halten?«

»So würde er das sicher nicht ausdrücken, aber ja, ich denke, der Gouverneur kann in der augenblicklichen Situation keine weiteren Komplikationen gebrauchen. Am oberen Murray gärt es immer noch heftig, und Moorhouse berichtete, dass es in den neuen Weidegebieten im Südosten ebenfalls zu Überfällen gekommen ist. Die Eingeborenen dort könnten auf dumme Gedanken kommen, wenn sie von diesem Kopfjäger hören.«

»Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie er zu dem geworden ist, der er war«, sagte Dorothea nachdenklich. »Er erzählte, er wäre eines der Kinder, die von Siedlern der Känguruinsel entführt worden waren. Meinst du, er hat dort so etwas aufgeschnappt?«

»Möglich.« Karls Tonfall nach war er ausgesprochen desinteressiert am früheren Schicksal des Skelettmanns. »Was ich noch mit dir besprechen wollte, ist etwas heikel.« Er räusperte sich mehrmals, ehe er, den Blick fest auf einen Raubvogel hoch oben am Himmel geheftet, sagte: »Gehst du Ian aus dem Weg wegen dem, was in der Höhle geschehen ist?«

Dorothea blieb abrupt stehen.

»Koar hat mir alles erzählt«, fuhr Karl fort. »Er bewundert Ian dafür. Er sagt, er weiß nicht, ob er die Kraft hätte, das Gleiche für mich zu tun, wenn ich ihn darum bäte.«

Dorothea schloss die Augen. Wenn sie nur auch dieses Bild ausschließen könnte, das sich in ihren Kopf gebrannt hatte!

»Ich hatte immer das Gefühl, zwischen dir und Ian bestünde eine besondere Verbindung. Schon auf dem Schiff. Wenn du da mit ihm zusammen warst, haben deine Augen danach gestrahlt. Ich wusste immer, ob du ihn getroffen hattest oder nicht. Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen, aber ich weiß, dass du und Ian … wie soll ich sagen: dass es zwischen euch etwas Besonderes ist.«

»Karl, was soll das?« Dorothea hatte ihre Stimme wiedergefunden. Es sah Karl nicht ähnlich, sich in derart intime Angelegenheiten einzumischen. »Wenn du damit sagen willst, dass du weißt, dass Ian und ich uns lieben … Ja, es stimmt. Aber es stimmt auch, dass ich nie wissen werde, ob er Roberts Wunsch ihm zuliebe oder unseretwegen erfüllt hat. Immer, wenn ich ihn ansehe, frage ich mich das.«

»Vertraust du ihm so wenig?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, erwiderte Dorothea müde.

»Wenn dein Mann ihm vertraut hat, solltest du es auch tun«, sagte Karl entschieden.

Dorothea stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn dieser Zauberer recht hatte, trage ich Roberts Kind unter dem Herzen. Ich habe es ihm nicht einmal mehr sagen können!« Sie wandte sich ab und kämpfte mit den Tränen, die ihr erneut in den Augen brannten.

»Weiß er es?«

Dorothea schüttelte den Kopf. »Ich bin mir ja selbst noch nicht ganz sicher.«

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinanderher.

»Was soll ich tun?«, fragte Dorothea schließlich. »Du bist der Einzige hier, den ich fragen kann. Was rätst du mir?«

»Du willst wirklich wissen, was ich meine?« Karl wirkte etwas überrascht.

Dorothea nickte.

»Ich denke, dass es das Gescheiteste wäre, du würdest so schnell wie möglich Ian heiraten. Wenn du Eden-House halten willst, brauchst du jemanden, der es für dich bewirtschaftet. Und Ian scheint mir dafür die beste Wahl zu sein.« Er fasste sie an der Hand und drückte sie ermutigend. »Ich weiß, es ist taktlos, so etwas so kurz nach seinem Tod zu sagen. Ich mochte Robert auch sehr gern. Er war ein prima Kerl, und deswegen bin ich mir sicher, er hätte das auch gewollt. Eden-House lag ihm sehr am Herzen.«

Sie waren auf dem Pfad angelangt, den sie immer mit Robert entlangspaziert war. »Und wenn Ian das gar nicht will?«, wandte Dorothea ein.

»Ich denke nicht, dass er Nein sagen wird. Koar meinte, er war derjenige, der die Pferde bis zur Erschöpfung gehetzt hat.«

»Ich kann ihm doch keinen Antrag machen!« Dorothea bückte sich, pflückte eine gelbe Blume und begann, sie gedankenlos zu zerzupfen.

»Du erwartest doch wohl nicht, dass er dir einen macht!« Karl riss schockiert die Augen auf. »Einer Frau, die gerade Witwe geworden ist! Du wirst ihn schon selber fragen müssen.«

»Ich werde es mir überlegen«, versprach Dorothea.

»Aber warte nicht zu lange damit«, warnte ihr Bruder. »Die Sache ist für Ian nicht einfach.«

Er schüttelte mitfühlend den Kopf, verfolgte das Thema jedoch nicht weiter.

Dorothea musste zugeben, dass Karls Argumentation durchaus Sinn ergab. Ein Gut wie Eden-House brauchte einen Herrn. Warum nicht Ian? Es wäre sicher das Beste, jemanden zu wählen, dem Roberts Vermächtnis etwas bedeutete. Jemanden, der von allen akzeptiert und gemocht wurde.

Das meinte auch ihre Mutter. Kaum dass sie von Protector Moorhouse erfahren hatte, was sich abgespielt hatte, hatte sie Lischen einer Nachbarin anvertraut, eine Droschke gemietet und sich umgehend auf den Weg gemacht. Da Lady Chatwick davon überzeugt war, auf Eden-House dringend gebraucht zu werden, hatte sie sich ihr angeschlossen.

»Dorchen, Kind«, sagte ihre Mutter nur und schloss sie fest in die Arme. Es war eine beruhigende, tröstliche Berührung. Dorothea spürte, wie in ihrem Inneren etwas nachgab. Am liebsten hätte sie sich wie früher in die Arme ihrer Mutter geschmiegt und sich in den Schlaf wiegen lassen. Für einen Moment lehnte sie ihre Stirn an die warme Schulter unter dem steifen, schwarzen Atlas, ehe sie sich Lady Chatwick zuwandte.

»Ach Gott, Liebes, das ist alles so schrecklich«, seufzte die und ließ achtlos ihr zerknülltes, nasses Taschentuch fallen, während sie Dorothea ebenfalls umarmte. »Was für ein Unglück! Wie nimmt Heather es auf? Das arme Kind. Nun auch noch den Vater zu verlieren! – Und du?« Mit beiden Händen hob sie den Schleier von ihrem Hut, schlug ihn zurück und betrachtete Dorothea aufmerksam. »Du bist eine sehr tapfere Frau, Dorothy! Robert wäre stolz auf dich.« Sie bekräftigte das mit einem Nicken, bevor sie erklärte, umgehend nach Heather sehen zu wollen. Geschäftig eilte sie davon.

»Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich sie mitgebracht habe«, sagte Mutter Schumann und sah ihr hinterher. »Aber wie hätte ich es ihr verbieten können? Schließlich ist das hier ihr Zuhause.«

»Mach dir keine Gedanken deswegen, Mama.« Dorothea lächelte schwach. »Hauptsache, du bist da!«

Ihre Mutter erwies sich als perfekte Zuhörerin. Nicht ein Mal unterbrach sie Dorothea, als diese ihr am nächsten Tag alles berichtete. Alles, auch das, was sie Protector Moorhouse verschwiegen hatten. »Mir scheint, dieser arme Mann war tatsächlich irrsinnig«, sagte sie schließlich bedächtig. »Es kommt manchmal vor, dass Menschen, die übermäßig schlecht behandelt werden, den Verstand verlieren.« Damit waren der Skelettmann und sein großer Zauber für sie erledigt. Mutter Schumann konnte mit Mythen und Fantasiegestalten nicht viel anfangen. »Aber ich muss sagen, von Mr. Rathbone bin ich zutiefst enttäuscht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, er wäre ein anständiger Christenmensch. Wie konnte er sich nur so versündigen?«

Angesichts der Kritik ihrer Mutter fühlte Dorothea sich bemüßigt, Ian zu verteidigen. »Was hätte er denn tun sollen? Jeden Moment konnten feindliche Eingeborene eintreffen. Roberts Verwundung war tödlich, er war nicht mehr zu retten. Hätten wir ihn sterbend und hilflos zurücklassen sollen? – Und Robert hat Ian darum gebeten!«

»Ich weiß. Trotzdem – es ist eine schwere Schuld, die er auf sich geladen hat.« Mutter Schumanns Stimme klang anklagend.

»Glaubst du, das ist ihm nicht bewusst? Ich habe seine Verzweiflung miterlebt. Robert war sein Freund, sein einziger Freund.« Dorothea sah hinaus in die hitzedurchglühte Landschaft, und in ihren Ohren klang wieder das schreckliche, herzzerreißende Schluchzen eines Menschen, der es nicht gewohnt war zu weinen. Ihre Hände verkrampften sich um die Stuhllehnen. »Mama, was soll ich nur tun? Karl meint, das Beste wäre, ich würde Ian heiraten.«

Mutter Schumann senkte den Blick auf die Häkeltasche, die sie gerade reparierte. »Das Beste für Eden-House mag es sein. Aber ist es auch das Beste für dich?« Sie sah auf, und in ihren hellen Augen war deutlich Verständnis für Dorotheas Dilemma zu lesen. »Ich weiß, dass ihr beide euch zueinander hingezogen fühlt. Das war nicht zu übersehen. Und nicht nur ich dürfte es bemerkt haben. Du wirst also mit bösen Zungen zu rechnen haben, sobald es bekannt wird.«

»Das macht mir nichts aus«, erwiderte Dorothea trotzig. »Ich habe es so satt, mir Sorgen darüber zu machen, was andere Leute denken mögen. Robert wäre sicher einverstanden.«

»Das denke ich auch. Er hätte allem zugestimmt, was dir Freude macht«, sagte Mutter Schumann sehr leise. »Er liebte dich über alles.«

»Ich liebte ihn auch.« Dorothea hörte selbst, wie falsch das klang. Dabei war es doch die Wahrheit: Sie hatte Robert wirklich geliebt – nur nicht so, wie man einen Ehemann liebte. Oder wie sie Ian liebte.

»Auf jeden Fall würde ich die Testamentseröffnung abwarten«, sagte Mutter Schumann und biss routiniert einen Faden ab. »Vielleicht hat er ja eigene Vorkehrungen getroffen.«

Darauf war Dorothea noch gar nicht gekommen. Erst jetzt wurde ihr unangenehm bewusst, dass es durchaus möglich war, dass Robert seine eigenen Pläne gehabt haben könnte. So begrüßte sie Sir Charles Mann mit mühsam unterdrückter Nervosität, als der einige Tage später nach Eden-House kam. Würdevoll und eloquent sprach er der Witwe sein Beileid aus und bat alle Hausbewohner in den großen Salon.

»Das Testament des verstorbenen Robert William Masters wurde bei mir hinterlegt, beglaubigt und versiegelt am 1. Dezember des Jahres 1841.« Er hob das Schriftstück hoch, damit alle sich davon überzeugen konnten, dass das Siegel unversehrt war. »Es ist sehr kurz und unmissverständlich«, fuhr er fort, während er mit einem Taschenmesser das Siegel aufbrach und den Bogen entfaltete.

»Ich hinterlasse alle meine weltlichen Güter meiner geliebten Frau Dorothy«, las er. »Es steht ihr frei, darüber ganz nach ihren Wünschen zu verfügen. Einzige Ausnahmen sind folgende Legate …« Es folgten großzügige Summen für die Angestellten und Lady Chatwick sowie eine mehr als großzügige Mitgift für Heather.

»Außerdem hat Mr. Masters mir einen Brief für Sie übergeben, Mr. Rathbone«, sagte er, nachdem er das Testament sorgfältig wieder zusammengefaltet und in seinem Portefeuille verstaut hatte.

»Danke«, brummte Ian, nahm ihn so vorsichtig entgegen, als enthielte er Schwarzpulver, und verschwand umgehend.

Nachdem der Rechtsanwalt wieder abgereist war, wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, ein klärendes Gespräch mit Ian zu führen. Aus unerfindlichen Gründen kam Dorothea nicht dazu. Zudem schien er ihr absichtlich aus dem Weg zu gehen. Er war in Sams Kammer gezogen, und wenn sie zum Frühstück herunterkam, war er stets schon unterwegs. Da er zwei Männer ersetzen musste, gab es genug zu tun, um sich nur selten im Haus blicken zu lassen.

Trotz der überraschenden finanziellen Unabhängigkeit hatte keiner Eden-House den Rücken gekehrt. »Das wäre ja noch schöner: Master Robert hätte von uns erwartet, dass wir sie nicht im Stich lassen!«, hatte Mrs. Perkins erklärt, als Dorothea ihnen angeboten hatte, sie mit besten Referenzen auszustatten.

Es war die Abreise ihrer Familie, die sie schließlich dazu brachte, Ian durch Trixie um eine Unterredung bitten zu lassen. »Es ist höchste Zeit, dem Mann endlich reinen Wein einzuschenken«, hatte Karl sie ermahnt. »So oder so – du musst dich entscheiden. Sonst ist er weg.« Und auch ihre Mutter war der Ansicht, dass das Leben weiterzugehen hatte. »Als dein lieber Vater starb, wollte ich auch nicht mehr weiterleben«, hatte sie Dorothea mit stockender Stimme gestanden. »Ich wollte nichts anderes, als ihm nachzufolgen. Aber dann träumte ich von ihm: Theodor schimpfte mit mir und sagte, dass das Geschenk des Lebens zu kostbar wäre, um es zu missachten. Wenn es Gottes Wille wäre, würden wir wieder vereint werden, aber bis dahin sollte ich mich gefälligst nicht wie eine Närrin benehmen. – Am nächsten Tag bin ich zufällig an der Schneiderei vorbeigekommen. Und weißt du was? Es macht mir Spaß, schöne Kleider zu entwerfen und zu nähen! Wenn du spürst, dass er der Richtige ist, dann zögere nicht zu lange, sondern sag ihm bald, dass du ihn noch liebst. Sonst ist es zu spät …«

Während sie im Kontor saß und auf Ian wartete, gestand sie sich ein, dass sie diese Aussprache absichtlich hinausgeschoben hatte. Inzwischen wusste sie, dass sie tatsächlich ein Kind erwartete. Roberts Kind.

Würde Ian sich daran stören?

Karls Vorschlag würde vermutlich funktionieren: Alle mochten Ian. Selbst Lady Chatwick. Nur sie war sich nicht sicher, ob eine Ehe mit Ian den Erinnerungen standhalten würde. Dabei war es besser geworden: Sie sah nicht mehr jede Nacht Roberts gequältes Gesicht vor sich, hörte nicht mehr seinen rasselnden Atem, während er im Sterben lag. Die Tritte schwerer Reitstiefel, die sich dem Kontor näherten, ließen sie nervös die Hände verkrampfen.

»Du wolltest mich sprechen?« Ian sah müde aus. Dunkle Schatten unter den Augen sprachen von zu wenig Schlaf, die Wangenknochen zeichneten sich scharf unter der tief gebräunten Haut ab.

»Ja, ich dachte, wir sollten uns einmal unterhalten, wie es weitergehen soll.« Dorothea sah auf die Papiere vor sich. »Karl sagte, du hättest ihn gebeten, sich in Adelaide nach geeigneten Männern umzuhören?«

Ian nickte. »Du brauchst einen tüchtigen Verwalter. Keine Sorge, ich werde ihn auf Herz und Nieren prüfen.«

»Du willst nicht bleiben?«

Ian biss die Zähne so fest zusammen, bis die Wangenmuskeln deutlich hervortraten. »Ich kann es nicht, Dorothy. Ich ertrage es nicht, tagtäglich deinen Hass und deine Verachtung zu spüren! Nicht einmal um Roberts willen.«

Dorothea erschrak zutiefst. Glaubte Ian im Ernst, sie könnte ihn hassen?

»Nein, Ian, ich hasse dich nicht«, stammelte sie erschüttert. »Wieso sollte ich?«

Er ballte die Hände zu Fäusten. »Du siehst in mir Roberts Mörder. Das hast du ja klar genug gesagt in der Höhle! Aber lass dir gesagt sein, wenn ich erneut vor der gleichen Entscheidung stünde, ich würde wieder dasselbe tun! Verdammt, er war mein Freund!«

»Das weiß ich doch«, flüsterte Dorothea und hätte weinen können vor Erleichterung. Der letzte, kleine Zweifel an seinen Motiven löste sich angesichts seines Ausbruchs in Luft auf. »Ich hatte einfach nicht den Mut, mit dir darüber zu sprechen.« Sie holte tief Luft und stieß rasch, ehe sie es sich anders überlegen konnte, hervor: »Ian, könntest du dir vorstellen, Herr von Eden-House zu sein?«

»Wie bitte?« Er sah sie verblüfft an. Dorothea wich seinem Blick aus, errötete und schob ziellos die Papiere vor sich hin und her. Das war schwieriger als erwartet!

»Du hast einmal gesagt, du hättest mich zur Frau haben wollen. Hast du es dir inzwischen anders überlegt?«

»Du meinst …?« Ians Gesicht strahlte plötzlich auf. Mit ein paar raschen Schritten umrundete er den Schreibtisch und ergriff ihre Hände. »Dorothy, ist es dein Ernst? Du willst mich heiraten? O Gott …« Er zog sie an sich und umarmte sie so stürmisch, dass sie energisch die Hände gegen seine Brust stemmte.

»Ian, ich muss dir noch etwas sagen: Ich bin schwanger mit Roberts Kind.«

Einen Augenblick stutzte er, dann jedoch glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Das freut mich«, sagte er. »Ein Teil von Robert wird also doch weiterleben. Ich will alles tun, um dem Kind ein so guter Vater zu sein, wie Robert es gewesen wäre.«

»Ian, ich liebe dich.« Dorothea kämpfte mit den Tränen. »Du bist wunderbar.«

»Und ich liebe dich.« Plötzlich wurde er ernst, griff in seine Westentasche und holte einen schmalen Goldreif hervor. »Den konnte ich dir bisher nicht geben. Ich habe ihn von meinem ersten eigenen Geld anfertigen lassen.«

Dorothea drehte ihn so, dass sie die Gravur im Inneren lesen konnte: »Dorothy & Ian, auf immer«. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. »Auf immer«, wiederholte sie leise und streifte ihn über ihren Ringfinger.