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Sie gewöhnten sich überraschend schnell an die veränderten Lebensumstände auf dem Schiff. Morgens um halb sieben weckte das durchdringende Scheppern der Schiffsglocke alle eventuellen Langschläfer. Kurz darauf wurden den Schumanns zwei Eimer heißes Wasser zum Waschen gebracht. Ein Privileg der zahlenden Kabinenpassagiere, das vor allem Lischen sehr zu schätzen wusste.

Gegen halb acht kam das Frühstückstablett mit Tee und Porridge, einer Art Haferbrei, den keiner mochte. »Schweinefutter ist das«, murrte August, wenn er lustlos darin herumrührte. Mittags gab es meist eine Art Suppe oder einen Eintopf, ähnlich dem, der ihnen am ersten Abend so gut geschmeckt hatte, und abends das Gleiche. Offenbar hielt der Koch es für ausreichend, ein Gericht pro Tag zu produzieren.

»Es ist sicher schwierig, so viele Münder satt zu bekommen«, meinte Mutter Schumann und betrachtete in stiller Resignation den inzwischen wohlbekannten Hammeleintopf mit Kohl. »Wenigstens müssen wir nicht hungern, und wir sind alle gesund. Was will man mehr?«

»Oh, da wüsste ich so einiges«, murmelte August Dorothea zu. »Kommst du nachher mit an Deck? Jim will uns ein neues Lied beibringen.«

Dorothea zögerte. Wie es seine Art war, hatte August schnell mit den übrigen Mitreisenden im Bug Freundschaft geschlossen. Darunter waren allerdings auch einige Männer, die ihr nicht ganz geheuer waren. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, was an ihnen sie irritierte. Waren es die Seitenblicke, die sie ihr zuwarfen, wenn August abgelenkt war? Die übertriebene Höflichkeit, die fast schon an Spott grenzte? Oder das unverständliche Kauderwelsch, in dem sie sich über sie zu unterhalten schienen? Es waren Waliser. Ehemalige Bergleute, hatte August ihr erzählt, die in der neu eröffneten Mine von Glen Osmond bei Adelaide arbeiten würden.

Auch Jim gehörte zu ihnen. Und bei den Liedern, die er August und den höchst interessierten Matrosen beizubringen pflegte, handelte es sich meistens um recht schlüpfrige Texte. Absolut unpassend für eine junge Dame. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen, wenn sie davon gewusst hätte. Aber genau das war es, was Dorothea so faszinierte. Eine neue Welt hatte sich ihr eröffnet. So ganz anders als alles, was sie gewohnt war. Sie konnte einfach nicht widerstehen, sie zu entdecken. Und an Augusts Seite konnte ihr ja nichts geschehen.

Außerdem hoffte sie immer noch, endlich mit dem Lockenkopf zusammenzutreffen. Jetzt waren sie eine Woche unterwegs, und sosehr sie auch nach ihm Ausschau gehalten hatte – er schien wie vom Schiffsrumpf verschluckt. Vielleicht hatte sie heute endlich Glück? Also stimmte sie zu.

Es war ein windiger Tag. Über ihnen knatterten die Segel so laut, als wollten sie gegen die steife Brise protestieren. Dorothea band ihre Haube fester und folgte August zu dem etwas windgeschützteren Winkel des Oberdecks, an dem sich die Passagiere zu treffen pflegten. Nicht nur Jim und seine Freunde drängten sich dort bereits zusammen, sondern auch einige der Frauenzimmer, die Mr. Gibbs mit einem kaum wahrnehmbaren Naserümpfen als »die Ladys für Tasmanien« bezeichnet hatte. Augusts Bekannte waren weniger zurückhaltend gewesen und hatten ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass es sich bei den schrill gekleideten und ziemlich selbstbewusst auftretenden Frauen um »streetwhores« handelte, wie sie sie nannten. Die Straßenmädchen hatten sich bereit erklärt, ans andere Ende der Welt verschifft zu werden, um nicht in eines der gefürchteten Londoner Arbeitshäuser gesteckt zu werden. »Will meinte, wenn sie Glück hätten, würden sie dort sogar geheiratet«, hatte August nachdenklich gesagt. »Es scheint, als wäre dort alles ganz anders, viel freier.«

Dorothea wusste wenig über solche Dinge. Wenn es in Dresden Straßenmädchen gegeben hatte, waren sie zumindest nicht so in Erscheinung getreten, dass man sie hätte bemerken müssen. Es war einfach kein Thema gewesen. Jetzt machte sie sich erstmals Gedanken darüber, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn ein Mann »einem zu nahe trat«, wie es in den Romanen, die sie sich aus der privaten Leihbücherei hinter dem Marktplatz hier und da geholt hatte, geheimnisvoll umschrieben wurde. Meist in Zusammenhang mit einem schrecklichen Erlebnis der jeweiligen Heldin, die danach wochenlang mit einem Nervenfieber das Bett hüten musste.

Diese Frauen machten nicht im Geringsten den Eindruck, unter schrecklichen Erlebnissen zu leiden. Im Gegenteil: Selten hatte Dorothea dermaßen selbstbewusste Frauen erlebt. Kein grober Scherz, den sie nicht zurückgaben. Sie hätte sie zu gerne ausgefragt. Ob sie sie auslachen würden? Bisher hatte Dorothea noch nicht den Mut aufgebracht, eine von ihnen direkt anzusprechen.

Entsprechend scheu hielt sie jetzt auch gebührenden Abstand zu den drei Frauen mit dem schrecklich ordinär klingenden Englisch. Während August sich zu Jim durchdrängte, umklammerte sie die Reling und tat so, als ob der Anblick der unendlichen Wasserwüste sie brennend interessierte.

»Na komm, Schätzchen, du frierst dir da ja noch deinen hübschen, kleinen Hintern ab«, rief die Jüngste von den dreien ihr zu. Einladend hob sie ihr Schultertuch. »Wenn wir eng zusammenstehen, ist es wärmer.« Tatsächlich fröstelte Dorothea bereits. Der strahlende Sonnenschein täuschte darüber hinweg, dass der Nordwestwind, der die Segel blähte, nicht nur kräftig, sondern auch ausnehmend kalt war. Abgesehen von ihrer Profession schien sie eine nette Person zu sein, und so schob Dorothea alle Zweifel beiseite und schmiegte sich dankbar an ihre Seite. »Ist es so nicht besser?«, fragte die junge Frau und zwinkerte fröhlich, während sie den zigfach geflickten Wollschal enger um sie beide zog. »Einer von den Seeleuten hat gesagt, es würde jetzt jeden Tag wärmer«, fügte sie hinzu. »Je näher wir der Linie kommen.«

»Versprich der Kleinen nicht zu viel, Rosie«, mischte die zweite sich ein. »Danach wird es stetig wieder kälter. Ich habe gehört, kurz vor Australien soll es sogar Eisberge geben.«

»Ach, Nell, du alte Schwarzseherin! Bis dahin ist es noch lange hin«, gab Rosie gut gelaunt zurück. »Und vorher kommt die Neptuntaufe. Da freu ich mich jetzt schon drauf. Dabei soll es mächtig hoch hergehen.«

»Na, ob das der Käp’tn erlauben wird? Mit solch frommen Mitreisenden …« Nell und die dritte, die bisher zu allem geschwiegen hatte, warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

»Wieso? Was hat es mit der Neptuntaufe für eine Bewandtnis?« Dorothea war nur zu klar, dass mit den frommen Mitreisenden ihre Familie gemeint war.

»Es ist eine Art Mummenschanz. Die Matrosen verkleiden sich als Meeresgeister und tauchen alle Passagiere in ein großes Wasserfass«, erklärte Rosie bereitwillig. »Danach gibt es Grog und Tanz und …«

»Belästigen die Weibsbilder Sie etwa, Miss Schumann?«, ertönte plötzlich ein harter Bariton dicht hinter ihnen. Dorothea fuhr herum und sah in das Gesicht des Schiffsarztes, Dr. Miller, der sich mit finsterer Miene vor ihnen aufgebaut hatte. »Du da, nimm deinen verlausten Umhang von den Schultern der jungen Lady und halte gefälligst Abstand. – Miss Schumann, erlauben Sie mir, Sie in Ihre Kabine zu begleiten.« Unmissverständlich hielt er Dorothea einen Arm hin. Dabei strahlte er eine solche Überheblichkeit aus, dass die ursprüngliche Höflichkeit der Geste zur Farce wurde. In Dorothea, die gespürt hatte, wie die junge Frau bei den barschen Worten zusammengezuckt war, stieg heißer Ärger auf. Der Doktor war ihr schon vorher unsympathisch gewesen. Er erinnerte sie an eine der Krähen an den Landungsstegen bei den Fischerbooten. Als Kind hatte sie schreckliche Angst vor den großen schwarzen Vögeln gehabt, die mit misstönendem Geschrei nach jedem hackten, von dem sie glaubten, dass er ihnen das Futter streitig machen könnte. Wenn er auf Deck spazierte, die Hände auf dem Rücken, fehlte nur noch der Schnabel. Mehr als einmal schon hatte Mr. Gibbs, der Quartiermeister, eingreifen müssen. Doktor Miller pflegte nämlich oft und gerne mit seinem dünnen Malakka-Spazierstock um sich zu schlagen. Das kam weder bei den Seeleuten noch bei anderen Passagieren, die das Pech hatten, ihm im Weg zu stehen, gut an. Wenn er als Schiffsarzt nicht gewisse Privilegien genossen hätte, hätte er wohl schon längst mit dem Kabelgatt, der behelfsmäßigen Arrestzelle auf einem Schiff, Bekanntschaft gemacht.

»Danke sehr«, sagte Dorothea mit kalter Stimme. »Ich fühle mich hier äußerst wohl und gedenke noch eine Weile zu bleiben.«

Dr. Miller zog übertrieben erstaunt die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? – Nun ja, da Sie sich schon bald unter Wilden aufhalten werden, ist es vielleicht ganz vorausschauend, die Nase abzuhärten. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt, wenn die Läuse auf Ihnen tanzen.«

Rosie schnaufte empört auf. »Wir haben uns alle von Kopf bis Fuß gewaschen, bevor wir hier auf das Schiff sind!«, rief sie. »Wie können Sie da behaupten, dass wir stinken? – Und Läuse haben wir schon gar nicht. Das hat uns der Herr Amtsarzt sogar schriftlich gegeben. Hier, da können Sie es selber lesen.« Hastig förderte sie aus den Tiefen ihres Rocks ein zerknülltes Stück Papier hervor und machte Anstalten, es Dr. Miller vor die Nase zu halten.

»Halt, Weibsbild, bleib mir ja vom Leib!« Sein Malakka-Stock schnellte nach vorn und traf Rosie am rechten Arm. Mit einem schrillen Schmerzensschrei ließ diese das Zeugnis des Amtsarztes fallen. Augenblicklich wirbelte der Wind es um die Kajütecke, die Reling entlang. Ohne nachzudenken, stürzte Dorothea dem hellen Flecken nach. Versuchte, ihn keinen Moment aus den Augen zu verlieren, als könnte sie ihn dadurch davon abhalten, unwiederbringlich aufs Meer hinausgeweht zu werden. Der Wind trieb es von einer Seite des Decks zur anderen, hob es leicht an, ließ es dann wieder los, und es lag reglos, bis sie es fast greifen konnte. Fast hatten ihre Finger es berührt, da packte ein Wirbel es erneut und ließ es verspielt übers Deck tanzen.

Etwas sauste durch die Luft, bohrte sich mit einem dumpfen Aufprall durch das Papier hindurch in die Deckplanken und blieb zitternd stecken. Ein seltsam geformtes Messer hatte Rosies kostbare Bescheinigung nur eine Handbreit von einer der Lücken in der Reling entfernt festgenagelt.

»Danke.« Dorothea keuchte und versuchte, durch die losen Haarsträhnen, die ihre Sicht behinderten, zu erkennen, wer ihr da so buchstäblich in letzter Sekunde zu Hilfe gekommen war.

»Keine Ursache«, erwiderte ein junger Mann. Der unbekannte Helfer bückte sich, zog die Klinge aus dem Holz und reichte ihr mit einer höflichen Verbeugung das inzwischen ziemlich mitgenommene Blatt. Das war er! Um ein Haar hätte sie es sofort wieder fallen gelassen. Es war kein Zweifel möglich, vor ihr stand der dunkelhaarige Lockenkopf aus der Gruppe vom Pier.

»Hallo, ich bin Dorothy«, sagte sie schüchtern. »Und wie heißt du?«

»Ian.«

»Du bist sehr geschickt mit dem Messer.« Sie musterte neugierig die extrem dicke, kurze Klinge. »Das ist kein normales Messer, nicht wahr?«

»Nein.«

Besonders gesprächig war er nicht. Sie zermarterte sich den Kopf, was sie ihn noch fragen könnte, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

»Ich habe dich noch nie hier auf Deck gesehen«, sagte sie schließlich. »Du warst doch nicht etwa im Kabelgatt eingeschlossen?« Angesichts seiner unheimlichen Gewandtheit mit dem seltsamen Wurfmesser schien ihr das eine mögliche Erklärung für seine Abwesenheit zu sein.

»Das war ich nicht!« Er errötete. Zuerst vermutete sie aus Ärger, aber es war wohl eher aus Verlegenheit, denn er fuhr fort: »Ich war krank. Ich habe den Seegang nicht vertragen.«

»Geht es dir jetzt wieder besser?« Dorothea bemühte sich, mitfühlend zu klingen. Sie selbst und ihre Familie hatten nicht darunter gelitten, aber Mr. Gibbs hatte ihnen erzählt, dass es Menschen gab, die selbst den leichtesten Wellengang nicht vertrugen. »Armselige Landratten«, hatte er sie genannt.

»Ja.« Er schien zu spüren, dass sie mehr erwartete, und so fügte er hinzu: »Ich helfe jetzt dem Zimmermann. Mr. Gibbs meinte, ich wäre an der frischen Luft am besten aufgehoben. Falls es wieder losgeht …«

»Thea, du kannst doch nicht einfach so davonrennen!« August und die anderen waren ihr gefolgt. Rosie stürzte mit einem Freudenschrei auf Dorothea zu. »Du hast es! Danke, vielen Dank«, stammelte sie, faltete den Bogen sorgfältig und schob ihn wieder in die Tasche.

»Ich hätte es nicht geschafft, wenn Ian es nicht aufgehalten hätte«, wehrte Dorothea Rosies Dankbarkeit ab und wies auf den Jungen, der, ohne die Zuschauer zu beachten, gelassen das Messer in seinem Stiefelschaft verstaute. »Er verdient deinen Dank viel mehr als ich.« Der Anblick des Messers hatte eine eigentümliche Wirkung auf die Umstehenden. Rosie wich ängstlich zurück, und einige der Männer warfen Ian fast feindselige Blicke zu.

Augusts Augen hingegen wurden groß wie Untertassen. »Du kannst Messer werfen?«, fragte er. Seine Stimme war voller Bewunderung. Dorothea erinnerte sich, dass er, nachdem eine Zigeunertruppe in Dresden ihre Kunststücke vorgeführt hatte, einige Wochen lang davon geträumt hatte, sich ihnen anzuschließen. Besonders der Messerwerfer und seine Künste hatten es ihm damals angetan. Deswegen war sie nicht überrascht, als ihr Bruder bat: »Würdest du es mir beibringen?«

Ian richtete sich auf und musterte ihn mit undurchdringlichem Ausdruck. Er war noch recht jung. Dorothea schätzte, dass er etwa ihr Alter haben dürfte. Aber in seinen Augen lag mehr Lebenserfahrung, als es den Jahren entsprochen hätte. »Was bietest du mir dafür?«, erwiderte er bedächtig.

»Wie bitte?« August zwinkerte verblüfft.

»Was würdest du mir dafür geben, wenn ich dir zeige, wie man mit einem Messer wirft?«

»Ähm …« Ihr Bruder warf ihr Hilfe suchend einen Blick zu. So viel Geschäftstüchtigkeit überforderte August, der es gewohnt war, alles mit einem Lächeln oder einem Scherz zu regeln. »Ich habe leider kein Geld.«

Ian machte eine wegwerfende Bewegung. »Ich will kein Geld.«

»Was denn dann?« Jetzt war August völlig verwirrt. »Ich habe nichts, das ich dir anbieten könnte.«

Über Ians Gesicht glitt ein trauriges Lächeln. Auf einmal wirkte er sehr jung und ein bisschen verloren. »O doch. Das hast du«, sagte er mit einer Entschiedenheit, die Dorothea aufhorchen ließ. »Du kannst lesen und schreiben, nicht wahr?«

»Natürlich.«

»So natürlich ist das nicht. – Ich möchte, dass du es mir beibringst.«

»Ist das dein Ernst?« August sah sich unsicher um. Die anderen Deckspaziergänger hatten sich bereits wieder in die windgeschützte Ecke zurückgezogen und warfen ihnen nur hier und da neugierige Blicke zu. Dr. Miller war verschwunden. Sehr zu Dorotheas Erleichterung, die hoffte, dass er das auch blieb. Nur zu gut konnte sie sich seine herablassende Miene und die ätzenden Bemerkungen vorstellen.

»Absolut.« Ian hob fragend die Brauen. »Der Handel gilt?« Er streckte August die Hand hin.

»Ich bin kein guter Lehrer, aber ich will mein Bestes tun.« August hob schon die Hand, um einzuschlagen, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. »Moment mal. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin …« Er wies auf Dorothea. »Meine Schwester wäre viel besser dazu geeignet. Sie hat oft genug in der Sonntagsschule ausgeholfen. Was hältst du davon, Thea? Du hast dich doch die letzten Tage ständig über Langeweile beklagt. Wenn du Ian unterrichten würdest, hättest du eine vernünftige Beschäftigung.«

Dorothea überlegte keine Sekunde. »Wenn Ian einverstanden ist, mache ich es gerne«, sagte sie und wäre ihrem Bruder am liebsten um den Hals gefallen. »Bist du einverstanden, Ian?«

Ian runzelte die Stirn. »Ich denke schon«, erwiderte er in seinem gedehnten Tonfall. »Morgen um die gleiche Zeit hier?«

Am nächsten Tag konnte Dorothea es kaum abwarten, dass die Schiffsglocke endlich die tägliche Deckstunde für die Passagiere ankündigte. Alles lag für die erste Unterrichtsstunde bereit: ein Blatt Papier, auf dem sie in ausgesucht schöner Schrift das Alphabet in Groß- und Kleinbuchstaben aufgemalt hatte, und eine Schiefertafel mit Lappen und Kreidestift aus der für die Missionsschule bestimmten Kiste im Frachtraum. Es hatte sie einige Überredung gekostet, bis Mr. Gibbs ihr die Holzkiste geöffnet und wieder vernagelt hatte. So konnte Ian ausgiebig üben, ohne kostbares Papier zu verschwenden.

Ihre Mutter war nicht allzu begeistert gewesen, als sie ihr von dem Handel erzählt hatten. »Ich weiß nicht so recht, ob es wirklich eine gute Idee ist, Messerwerfen zu lernen«, hatte sie missbilligend bemerkt. »Eine solche Kunst ist nutzlos, wenn man nicht im Zirkus auftreten will. Du solltest lieber deine Studien wieder aufnehmen, August, anstatt deine Schwester in solche dubiosen Unternehmen zu verwickeln.«

»Ach, Mutter, sei nicht so schrecklich streng mit uns«, hatte ihr Bruder erwidert. »Gönn uns doch ein wenig Zerstreuung. Das Schiffsleben ist eintönig genug, da ist man für jede Ablenkung dankbar.«

»Ian ist wirklich ein sehr netter Junge«, hatte Dorothea ihrer Mutter eiligst versichert. »Sehr wissbegierig und fleißig. Vater würde sicher wollen, dass wir ihm helfen. Er würde sagen, es sei unsere Christenpflicht. Ob wir jetzt den Heidenkindern etwas beibringen oder einem Engländer, ist doch fast dasselbe.«

Das gab den Ausschlag. »Also gut. In Gottes Namen«, entschied Mutter Schumann. »Aber seid vorsichtig. Nicht, dass wir Dr. Miller rufen müssen! Das wäre mir sehr unangenehm.«

Spontan schloss Dorothea ihre Mutter in die Arme: »Keine Sorge, Mama. Ian hat mit dem Zimmermann gesprochen. Wir dürfen auf dem Vorderdeck üben. Da kommt niemand zu Schaden.«

Ian erwartete sie, lässig an den Fockmast gelehnt. »Bereit?«, fragte er mit breitem Grinsen, bevor er sich umdrehte und ihnen mit einer tiefen Verbeugung das Gatter aufhielt, das diesen Bereich des Oberdecks vom Hauptdeck trennte. Dorothea sah sich neugierig um. Hinter der Back, wie die Hütte genannt wurde, in der die Seeleute ihre freie Zeit verbrachten und ihre Mahlzeiten einnahmen, lagen Taurollen, Stapel von Ersatz-Segeltuch und ein jetzt zu Beginn der Reise noch recht eindrucksvoller Brennholzvorrat für die Kombüse. Ian wies auf die hintere Wand der Back. Auf dem von der Sonne fast hellgrau gebleichten Holz hatte er mit Teer eine Art Zielscheibe gemalt. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog er das Messer aus dem Stiefelschaft und schleuderte es durch die Luft. Die ganze Aktion lief so rasant ab, dass Dorotheas Augen die Flugbahn nicht verfolgen konnten. Ein kaum wahrnehmbares Pfeifen, fast zeitgleich ein leiser, dumpfer Aufprall – und da steckte die Klinge schon zitternd mitten im innersten Kreis.

»Sapperlott!« Mehr brachte August nicht heraus. Er starrte auf das Messer, dann wanderte sein Blick zu Ian. »Wo hast du so werfen gelernt?«

»Von einem Freund«, antwortete Ian ausweichend, schlenderte zur Zielscheibe, zog sein Messer heraus und hielt es August hin. »Du hältst es an der Spitze – nicht am Heft.« Er demonstrierte es. »Und dann wirfst du aus dem Handgelenk, nicht mit dem ganzen Arm. Pass auf, ich mach es langsam vor.« Auch diesmal traf er mitten ins Ziel.

August hatte weniger Erfolg. Beim ersten Versuch prallte das Messer von dem Holz ab, beim zweiten warf er es fast an der Back vorbei. Auch der dritte und vierte waren nicht wesentlich näher am Ziel. »Es hat keinen Zweck. Das lerne ich nie!«, seufzte er.

Ian verzog spöttisch das Gesicht, sagte aber nur: »Es ist nicht so einfach, wie es aussieht. Deine Haltung ist gut so. Übe weiter.«

»Meinst du, ich werde es jemals schaffen, so gut wie du zu sein?«

Ian zuckte mit den Achseln. »Das kann man nicht im Voraus sagen.« Er überließ August seinen Übungen und wandte sich Dorothea zu, die auf einer der Taurollen Platz genommen hatte. »Du willst mich doch nicht auf dieser Kindertafel schreiben lassen?«, fragte er und runzelte unwillig die Stirn, sobald er ihre Ausrüstung in Augenschein genommen hatte.

»Warum nicht? Ich habe nicht genug Papier. Es ist doch nur zum Üben. Und dafür ist es sehr praktisch, weil man einfach alles wieder abwischen kann, was man schon geschrieben hat«, versuchte Dorothea ihm das unliebsame Gerät schmackhaft zu machen.

Ganz überzeugt war er nicht, aber er nickte und sagte: »Na gut, dann muss es wohl so sein. Und was ist das da?« Er zeigte auf das Blatt mit dem Alphabet.

»Das ist das Alphabet. Die Buchstaben. Man lernt sie zuerst einzeln, und dann setzt man sie zu Wörtern zusammen«, erläuterte Dorothea. Fasziniert beobachtete sie, wie er die Zeichen mit den Augen aufzusaugen schien. »Lies sie mir vor«, verlangte er und deutete auf das große A. »Eines nach dem anderen.«

Dorothea tat wie geheißen und bemühte sich in Erinnerung an ihre eigene Schulzimmerzeit, jeweils passende Worte dazu zu finden. A wie apple, B wie bee, C wie cat, D wie dog, E wie egg. Ian lauschte aufmerksam und wiederholte alles mehrfach, um es sich einzuprägen. Dorothea hatte den Eindruck, dass er alles mit einer fast schon unheimlichen Konzentration in sich aufnahm. »F wie family. Hast du eine Familie, Ian?« Dorothea musste es einfach fragen.

Ian antwortete nicht, starrte nur auf das Blatt.

»Eltern, Geschwister …« Ian schüttelte langsam und stumm den Kopf. Dorothea schluckte. Bei der Vorstellung, dass er tatsächlich mutterseelenallein in der Welt zurechtkommen musste, wurde ihre Kehle eng. »Wenigstens einen Onkel oder eine Tante irgendwo?«

»Nicht dass ich wüsste.« Das klang hart, abschließend. Offensichtlich wollte er nicht ausgefragt werden. Mühsam unterdrückte Dorothea ihre Neugier. Zu gern hätte sie gewusst, wie er aufgewachsen war. Dieser seltsame Handel: Lesen und Schreiben gegen Messerwerfen! Wo hatte Ian diese Kunstfertigkeit gelernt, die im Allgemeinen bloß unter Zigeunern verbreitet war? Seine schwarzen Locken, die gebräunte Haut hätten durchaus zu einem von ihnen gepasst. Seine kornblumenblauen Augen sprachen allerdings dagegen. Konnte es sein, dass er ein von Zigeunern entführtes Kind war? Unter ihnen aufgewachsen und dann von den britischen Behörden befreit? Die Witwe Klingefeld hatte einmal so eine ähnliche Geschichte erzählt. Dorothea konnte sich nicht mehr genau erinnern, aber es war auch um ein entführtes Grafenkind gegangen, das erst Jahre später wiedergefunden worden war.

»G wie glass«, sagte sie hastig. Auf keinen Fall wollte sie, dass Ian sie für aufdringlich hielt. »H wie house.« Oder home. At home. Zu Hause. Würde Ian in Australien ein Zuhause haben? Vermutlich nicht. Sie hatte Mr. Gibbs ein wenig ausgefragt. Als Hilfskraft auf einer Farm warteten vor allem harte Arbeit und ein entbehrungsreicher Alltag auf ihn.

»Ich denke, das reicht jetzt für die erste Stunde«, sagte sie schließlich, als sie bei Z wie zero angelangt waren. »Morgen fangen wir dann mit ersten Schreibübungen an.«

»Warum bist du eigentlich so scharf drauf?«, fragte August in seiner unbedarften Art. »Ich meine, du bist bis jetzt doch gut zurechtgekommen. Oder?«

»Ich will nicht mein ganzes Leben lang ein Bediensteter sein«, sagte Ian ein wenig herablassend. »Man sollte immer auf alles gefasst sein. Deswegen werde ich auch Dorothy zeigen, wie man wirft.« Er stand auf, streckte seine vom Sitzen steifen Glieder und wandte sich dann zu Dorothea um. »Probier es.« Er hielt ihr das Messer hin.

»Aber das ist doch nichts für Mädchen«, protestierte August. »Thea, untersteh dich!«

»Warum eigentlich nicht?« Halb aus Übermut, halb aus dem Gefühl heraus, Ians Angebot nicht zurückweisen zu dürfen, griff Dorothea nach dem Messer. Es wog mehr, als sie erwartet hatte. Vergleichbar dem schweren Hackmesser, mit dem ihre Mutter das Geflügel zerteilte. »Geh beiseite, August!«

Sie fasste es genauso, wie Ian es vorgemacht hatte, versuchte es auszubalancieren und warf. Nicht nur zu ihrer eigenen Überraschung landete es im äußeren Ring der Zielscheibe. Das hatte August erst am Ende der Übungsstunde fertiggebracht.

»Ein Zufall. Das muss Anfängerglück gewesen sein.« Der Stolz ihres Bruders war empfindlich getroffen.

»Noch einmal.« Ian schlenderte zur Wand, zog das Messer aus dem Holz und drückte es Dorothea erneut in die Hand. Diesmal traf es sogar noch zwei Fingerbreit näher am Zentrum auf. »Du hast die richtige Hand dafür.« Ians nüchterne Feststellung kam einem Lob so nahe, dass sie vor Freude errötete.

»Das gibt es doch nicht!« August starrte fassungslos auf die Bretterwand. »Bitte seid so freundlich, das für euch zu behalten, ja?«

Ihr Bruder war zu gutmütig, um lange zu grollen. Sein Eifer, die Kunst des Messerwerfens zu erlernen, hatte jedoch deutlich nachgelassen. Anfangs absolvierte er noch seine Übungsstunden, während Ian unter Dorotheas Anleitung verbissen auf der Schiefertafel kritzelte. Nach und nach jedoch entschuldigte er sich immer häufiger mit anderen Verabredungen. Niemandem von ihnen kam es in den Sinn, dass die Unterrichtsstunden ohne seine Anwesenheit vielleicht als unschicklich empfunden werden könnten. Die zwischen Ian und Dorothea gewachsene Vertrautheit ließ sie gar nicht darüber nachdenken, zumal Ian nie auch nur im Ansatz hätte durchblicken lassen, an Dorothea als weiblichem Wesen interessiert zu sein.

Überhaupt war er nicht sehr mitteilsam. Seine Herkunft und Vergangenheit blieben für sie ein unzugänglicher Bereich, nur selten blitzte hier und da doch etwas hervor. Wie die beiläufige Erwähnung, dass er gelernt hatte, Hasen und Rehe in Fallen zu fangen und auszuweiden. Oder dass er sich mit Pferden gut auskannte. Spuren zu lesen wusste und über erstaunliche Kenntnisse im Freihandel verfügte.

Sie hatte sich angewöhnt, diese Bemerkungen in ihrem Notizbuch aufzuschreiben, um sie nicht zu vergessen. Neben: »7. Juli: Steife Brise, viele fliegende Fische gesehen«, stand dann: »Hat von einem kleinen Hund gesprochen, der ihm einmal gehört hat. Bagster o. Ä.«

Oder: »11. August: mittags schon wieder Fischsuppe. I. nach englischen Kinderreimen gefragt. Sagte, er kenne keine.«

Inzwischen war es tatsächlich heiß und wieder kalt geworden, wie Rosie und Nell es vorausgesagt hatten. Seit gut zwei Monaten waren sie jetzt unterwegs, und Dorothea begann, das Meer zu verabscheuen. Es sah nur unendlich aus, in Wahrheit hielt es sie alle auf engstem Raum gefangen. »Ich wünschte, wir wären endlich da!«, sagte sie und seufzte. Dann zog sie das Messer nach ihrem letzten Wurf aus dem Holz und schlang fröstelnd ihr Tuch enger um die Schultern. »Wünschst du dir das auch, Ian, oder würdest du lieber auf dem Schiff bleiben?«

»Es ist unerheblich, was ich möchte«, gab er zurück, zog sie dicht neben sich und legte ihr einen Arm um die Schultern, um sie zu wärmen. »Die nächsten Jahre werde ich damit beschäftigt sein, meine Überfahrt abzuarbeiten.«

»Vielleicht können wir uns ja in Adelaide weiter sehen«, sagte Dorothea hoffnungsvoll. »Du könntest deinem Patron doch sagen, dass du bei mir Unterricht nimmst.«

Ian machte sich nicht die Mühe zu antworten, schüttelte nur leicht den Kopf. Stumm saßen sie eine Weile auf der Taurolle und verfolgten die halsbrecherischen Flugmanöver der Seevögel, die hier in der Nähe des Kaps der Guten Hoffnung in Scharen unterwegs waren, um unvorsichtige Fische zu erbeuten.

Beide hatten in den vergangenen Wochen gute Fortschritte gemacht. Ian konnte inzwischen leicht stockend, aber problemlos lesen und einigermaßen leserlich schreiben, was Dorothea ihm diktierte. Ihre Fertigkeiten im Messerwerfen konnten sich ebenfalls sehen lassen. Nahezu jeder Wurf traf in den innersten Ring. Ian hatte sie so lange üben lassen, bis sie auch aus größerer Entfernung absolut treffsicher geworden war. Seine Beharrlichkeit als Lehrer war ihr nicht ganz verständlich. Vermutlich war es eine Art Stolz, die es ihm verbot, etwas ohne Gegenleistung anzunehmen. Deshalb hatte sie auch dann noch weitergemacht, als der Reiz der ungewöhnlichen Übung schon längst verflogen war.

Eine lautstarke Auseinandersetzung auf dem Oberdeck ließ sie beide aufhorchen. Nicht nur Dorothea machte die Enge zu schaffen, auch die meisten anderen Passagiere reagierten zunehmend gereizt auf den kleinsten Anlass.

Streitereien um den besten Platz zum Wäschelüften, die größere Essensportion, vermeintliche Kränkungen – nichts war zu unwichtig, um sich nicht darüber in die Haare zu geraten. Auch jetzt vermengten sich Männer- und Frauenstimmen zu einem Chor der Disharmonie.

»Damn you, bloody bigot!«, kreischte ein schriller Sopran. »Show ’em what a good englishman can!«, schrie eine andere.

»Langsam, Leute, nicht so schnell. Was ist denn überhaupt los?« Das war Augusts Stimme, aus der nichts als Unverständnis sprach. »Bleib hier«, befahl Ian schroff und schlich an die Ecke der Back, von der aus man einen ganz guten Überblick auf das Oberdeck hatte. Natürlich folgte Dorothea ihm. Ihr Bruder stand umringt von finster blickenden Seeleuten vor dem Hauptmast und sah zunehmend besorgt in die Runde. Neben ihm stand die Kleine aus Ians Gruppe, vor deren Berührung Theas Bruder am ersten Abend noch zurückgezuckt war.

Spätestens seit der Neptuntaufe hatte er jedoch an ihrer Gegenwart nichts mehr auszusetzen gehabt, erinnerte Dorothea sich. Sie selbst hatte das Spektakel mit ihrer Mutter, den jüngeren Geschwistern, dem Kapitän und Dr. Miller vom Achterdeck aus verfolgen müssen. Obwohl August und sie die Mutter tagelang bestürmt hatten, war sie in diesem Punkt hart geblieben. »Ein junges Mädchen aus gutem Haus hat bei so etwas nichts verloren!«

Voller Neid hatte sie zugesehen, wie alle anderen von den in aberwitzigen Kostümen steckenden Seeleuten in einen großen Bottich mit Seewasser getaucht wurden, während ihr der Schweiß in Strömen den Rücken herunterlief. Die triefend nassen Täuflinge hatten sich danach nicht sofort umgezogen. In der durch die Extraportion Rum angefeuerten Stimmung hatte sich dort unten im Nu ein ausgelassenes Tanzvergnügen entwickelt. Alles wirbelte wild durcheinander, und August als einer der wenigen gut aussehenden, jüngeren Männer war überaus begehrt als Partner gewesen. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, worum sie ihn mehr beneidet hatte: um das kühle Bad in der schwülen Mittagshitze oder um den Spaß, den er hatte, während sie höfliche Konversation mit dem grässlichen Dr. Miller und dem Kapitän machen musste. Wenn sie wenigstens wie Karl die Möglichkeit gehabt hätte, sich hinter einem Zeichenblock zu verstecken!

Sie hatte nach Ian Ausschau gehalten, ihn aber unter den Tänzern nicht entdecken können. Dafür war ihr aufgefallen, dass August und das Mädchen sich plötzlich ausnehmend gut zu verstehen schienen.

Jetzt umklammerte das Mädchen mit der schief sitzenden Haube trotzig Augusts Arm und beschimpfte ebenso lautstark wie unverständlich einen der Männer. Es war ein bärenstarker Kerl mit fettigen Haaren, verfilztem Bart und braunen Lippen, die davon rührten, dass er ständig Priem kaute. Er sah ziemlich gefährlich aus, wie er breitbeinig dastand, die bloßen Füße fest auf den Planken, die muskulösen Arme über der Brust verschränkt.

Dorothea wollte an Ian vorbeischlüpfen, um ihrem Bruder beizustehen, aber Ian streckte einen Arm aus und hielt sie zurück.

»Bleib hier, hab ich gesagt«, zischte er. »Vielleicht kriegt Millie das hin. Sie ist nicht auf den Mund gefallen.«

Um sich aus seinem überraschend festen Griff zu lösen, hätte sie mehr Kraft aufwenden müssen, als sie hatte. Also blieb sie stehen und beobachtete ängstlich, wie der Kreis sich um August schloss. Etwas braute sich dort zusammen, das sie nicht verstand. Was hatte ihr Bruder getan, um die Männer dermaßen gegen sich aufzubringen?

Ohne Vorwarnung legte der Mann mit dem Priem den Kopf in den Nacken und spuckte August zielsicher mitten ins Gesicht. Dorothea riss die Augen auf. Auch ihr Bruder schien von der Attacke völlig überrascht. Wie versteinert stand er da, während der braune Speichel über seine Wange rann, auf seine weiße Hemdbrust tropfte und dort hässliche Flecken hinterließ. Erst das verächtliche Grinsen und eine höhnische Bemerkung des Herausforderers brachen die Erstarrung. Neben sich hörte Dorothea Ian leise zischend einatmen, als ihr Bruder bis zu den Haarwurzeln errötete, das Mädchen zur Seite stieß und mit geballten Fäusten vorwärts stürmte.

Begeisterte Ausrufe zeigten, dass dies genau das Ergebnis war, auf das man gehofft hatte. Angefeuert von seinen Kumpanen konnte der bärtige Riese zwei oder drei Treffer landen, ehe August sich auf seine Boxstunden besann. Plötzlich wendete sich das Blatt. Nun war er es, der seinen Kontrahenten über die Deckplanken taumeln ließ. Der Seemann war zwar kräftiger und größer, August jedoch war deutlich wendiger und der bloßen Kraft technisch überlegen. Er wusste genau, wohin er schlagen musste.

Millie kreischte vor Entzücken. Wenn Dorothea sie richtig verstand, dann forderte sie August auf, »das Schwein zu Brei zu schlagen«. Die übrigen Zuschauer waren weniger angetan von der Entwicklung des Zweikampfs. Speziell einer von ihnen, der zuvor besonders laut geschrien hatte, verschwand unauffällig. Zuerst dachte Dorothea, er wolle nur Augusts Sieg nicht mit ansehen müssen. Dann aber sah sie ihn wieder auftauchen, wobei er ein längliches Holzstück notdürftig hinter seinem Rücken verbarg. Mit verschlagenem Grinsen schlich er um die beiden Kämpfer herum, immer auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit, seine provisorische Waffe einsetzen zu können.

Auf einmal ging alles so schnell, dass in Dorotheas Erinnerung nachher alles miteinander verwoben war: Der Mann hob das Scheit, als August in seine Reichweite kam, holte aus – und im selben Moment sah sie aus den Augenwinkeln einen Blitz durch die Luft fahren. Der hinterhältige Kerl stieß einen Schrei aus und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand, die eben noch das Holzstück geschwungen hatte.

»Darf ich fragen, was hier los ist?« Der Kapitän klang ausgesprochen verärgert. Der nachlässig zugeknöpfte Rock und der fehlende Hut wiesen darauf hin, dass er in aller Hast seine Kajüte verlassen hatte. Offensichtlich von Mr. Gibbs alarmiert, der sich dicht hinter ihm hielt und die Szene zu überblicken versuchte. Ehe irgendjemand seine Frage beantworten konnte, drängte Millie sich zu ihm durch, stemmte die Arme in die Seiten und legte los: »Der Mistkerl da hat mich belästigt, wie ich gerade ganz harmlos mit dem Herrn dort an Deck spazierte«, zeterte sie. »Hat behauptet, ich wäre ihm noch einen Tanz schuldig, und den Herrn angespuckt. Da hat der es ihm aber gezeigt.« Sie lächelte selig bei der Erinnerung an die Schlägerei. »Und dann, grad, wie Sie gekommen sind, hat der da«, sie wies auf den Mann, der immer noch sein Handgelenk umklammerte, »der da hat ihm eins mit dem Prügel da überziehen wollen. Aber irgendwas hat’s ihm aus der Hand geschlagen.«

Wie im Theater wanderten die Blicke aller Anwesenden zu dem Holzstück, das gut sichtbar vor dem Niedergang zum Achterdeck lag. Niemandem entging das Wurfmesser, das immer noch darin feststeckte.

»Ich dulde keine Messerstechereien auf meinem Schiff.« So kalt hatte die Stimme des Kapitäns noch nie geklungen. »Wem gehört es?«

»Mir.« Ian schob Dorothea sanft zur Seite und trat aus ihrem Versteck.

»Wer zum Teufel bist du denn, Bursche?« Ungehalten musterte der Kapitän ihn von Kopf bis Fuß. Offensichtlich wusste er nicht so recht, was er von dieser Entwicklung halten sollte. »Und was hast du mit dieser Sache zu schaffen?«

»Nichts. Jedenfalls nicht direkt.« Ian machte Anstalten, sein Messer zurückzuholen.

»Halt!« Der barsche Befehl ließ ihn innehalten. »Mr. Gibbs«, wandte der Kapitän sich an den Quartiermeister. »Seien Sie so gut und nehmen Sie sowohl den Holzprügel als auch das Messer in Verwahrung, bis diese Angelegenheit geklärt ist. Mr. Schumann – ich erwarte Sie in meiner Kajüte, sobald Sie Ihr Äußeres wieder in einen präsentablen Zustand gebracht haben.«

Kleinlaut wie ein gescholtener Schuljunge nickte August und verschwand.

»Und jetzt zu Ihnen!« Der Blick des Kapitäns verfinsterte sich bedrohlich, als er sich dem Bärtigen und dessen Komplizen zuwandte. »Es ist absolut unakzeptabel, dass Mitglieder der Crew Passagiere attackieren. Ab sofort werden Sie nur noch unter Deck Dienst tun, und sollten mir irgendwelche Klagen, egal worüber, zu Ohren kommen, lasse ich Sie beide für den Rest der Reise in Eisen legen. Ist das klar?«

Beide nickten und schlurften davon. Auch der Rest der Zuschauer versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu verdrücken.

»Sie, Miss, werden sich in Zukunft ebenfalls allergrößter Zurückhaltung befleißigen«, wurde Millie in etwas milderem Ton abgekanzelt. »Wenn meine Männer sich Ihretwegen noch einmal in die Haare geraten, werde ich die Deckstunden streichen.«

Nun doch leicht eingeschüchtert knickste Millie und beeilte sich, den Niedergang ins Zwischendeck hinunterzuklettern.

»Damit wären wir bei Ihnen, junger Mann!« Der Kapitän musterte Ian ernst, doch nicht unfreundlich. »Sie haben großes Glück, dass niemand verletzt wurde. Wussten Sie, dass man vor gar nicht langer Zeit Leute, die auf See ein Messer einsetzten, mit der Hand an den Mast genagelt hat?«

Dorothea hielt es nicht mehr in ihrem Versteck. »Ian hat verhindert, dass der Mann meinen Bruder mit dem Prügel niederschlug«, sagte sie hastig. »Bitte, Herr Kapitän, er wollte doch nur helfen.«

»Wo kommen Sie denn jetzt her? Haben Sie etwa alles mit angesehen?« Sowohl den Kapitän als auch Mr. Gibbs schien diese Möglichkeit ziemlich zu schockieren.

»Na ja, sozusagen. Ian und ich haben hinter der Back gerade Messerwerfen geübt«, gab Dorothea zu und sah flehentlich zum Kapitän auf. »Ian hat dann den Mann entwaffnet. Er wollte ihn nicht verletzen.«

»Wenn ich ihn hätte treffen wollen, hätte ich ihn getroffen«, bekräftigte Ian ruhig.

Die beiden Männer wechselten einen langen Blick, den Dorothea nicht deuten konnte. Dann schüttelte der Kapitän leicht den Kopf und sagte: »Ich werde von einer Sanktion bezüglich des Messerangriffs absehen. Es scheint sich ja tatsächlich eher um eine Notlage gehandelt zu haben. Mr. Gibbs, Sie können ihm die Waffe wieder aushändigen.« Er nickte ihnen abschließend zu, und Dorothea konnte hören, was er im Weggehen vor sich hinmurmelte: »Messerwerfen! Beim Jupiter, Missionarstöchter sind auch nicht mehr, was sie mal waren!«