15

Bei Lacy’s herrschte gerade Hochbetrieb. Erstaunlich, wie viele sich diesen Luxus gönnten, dachte Dorothea und bestaunte das reich bestückte Kuchenbüfett. Sie hatte eben zum ersten Mal ihren Fuß in das vornehme Etablissement gesetzt, denn das Café hatte erst eröffnet, als sie schon auf Eden-House lebte. Die hohen Räume in dem zweistöckigen Steinhaus in bester Lage waren nach der neuesten Mode eingerichtet. Vermutete sie, denn diese Art von Dekoration hatte sie noch nie gesehen. Ein Künstler hatte sämtliche Wände mit Motiven aus dem englischen Landleben bemalt, und zwar so geschickt, dass man meinte, die pittoreske Szenerie durch ein geöffnetes Fenster oder eine offen stehende Tür zu betrachten. Die echten Fenstertüren waren von hauchzarten Tüllgardinen verdeckt, die zwar das Tageslicht hereinließen, Insekten aber wirkungsvoll aussperrten. Geflochtene Korbmöbel, blau-weiß gemustertes Steingutgeschirr und der mit gebrannten Ziegeln gepflasterte Boden schafften eine gemütliche, ländlich anmutende Atmosphäre.

Eine als Milchmädchen verkleidete Bedienung empfing sie mit einem tiefen Knicks an der Tür und führte sie quer durch das Lokal in den hinteren Raum, wo gerade noch ein Tisch frei war. Ian bestellte Tee für die Erwachsenen und Schokolade für die Kinder, und während das Gewünschte geholt wurde, gingen sie alle zur Kuchentheke. Nicht nur Lischen konnte sich lange nicht entscheiden. Die Auswahl war einfach zu überwältigend: Schokoladenkuchen, diverse Obstkuchen, Cremetörtchen, Biskuitrouladen, Savarins, Eclairs … Es war nicht einfach, da eine Wahl zu treffen. Dorothea schwankte gerade zwischen einem Stück Aprikosenkuchen und einem Nugatbaiser, als eine bekannte Stimme dicht hinter ihr ertönte.

»Mrs. Masters? Ehemals Miss Schumann?«

Dorothea drehte sich zu einer zierlichen Frauengestalt um.

Mary Kilner lächelte erfreut und streckte ihr die Hand entgegen. »Das ist aber eine nette Überraschung, Sie hier zu treffen! Ist Robert auch in der Stadt?«

Ihr Blick streifte kaum merklich Ian, der gerade in eine lebhafte Diskussion mit Heather und Lischen über die Vorzüge der diversen Köstlichkeiten verwickelt war.

»Nein, Robert konnte sich leider nicht freimachen«, erwiderte Dorothea höflich. »Darf ich Sie mit Mr. Ian Rathbone bekannt machen? Er ist ein alter Freund von Robert. Wir haben ihn gerade in der Leihbücherei getroffen.«

»Guten Tag, Mr. Rathbone. Ich freue mich sehr, einen Freund von Robert kennenzulernen«, begrüßte Miss Kilner ihn herzlich. »Wollen Sie nicht heute Abend an seiner Stelle zu unserer Sitzung der Literarischen Gesellschaft kommen? Sie natürlich auch, Mrs. Masters. Mein lieber Matthew will von seiner letzten Reise die Küste herunter bis Cap Jervis berichten. Er hat dort einige höchst interessante Eingeborenenkultplätze entdeckt, die zu einer Art Mythos gehören.« Sie zog die Stirn kraus in dem Bemühen, sich zu erinnern. »Wie hieß er nur? – Ach ja, der Tjilbruke-Gesang. Es geht da um Mord und Totschlag und einen alten Mann, der sich in einen Ibis verwandelt. Oder so ähnlich.«

»Das klingt wirklich höchst interessant. Ich fürchte nur, ich bin heute Abend verhindert«, sagte Ian mit einem Bedauern, dem auch für einen unbedarften Beobachter jeglicher Enthusiasmus fehlte. »Aber ich bin sicher, Mrs. Masters wird es ein Vergnügen sein.«

»O ja, Sie müssen unbedingt kommen.« Mary Kilner griff beschwörend nach Dorotheas Hand. »Matthew muss übermorgen bereits wieder nach Port Lincoln aufbrechen und würde es sehr bedauern, Sie nicht getroffen zu haben.« Sie lächelte und entschuldigte sich. »Meine Mutter winkt mir. Ein andermal habe ich hoffentlich mehr Zeit zum Plaudern. Sind Sie öfter in der Leihbücherei?« Sie klopfte auf den Beutel an ihrem Arm. »Ich habe mir gerade Oliver Twist von Charles Dickens geholt. Es soll sich dabei ja um eine wahre Geschichte handeln!« Mary schüttelte den Kopf. »Man kann es sich kaum vorstellen, dass es in London solche schrecklichen Menschen gibt. Stellen Sie sich vor: elternlose Waisen zu Dieben abzurichten! Welche Verkommenheit!«

Immer noch entrüstet verabschiedete sie sich und bahnte sich den Weg zu einer in schwarzen Taft gekleideten Matrone, mit der sie verschwand.

»Sie würde sich wundern, wie es in den Gassen von Whitechapel zugeht«, bemerkte Ian leise. »Das ist also die Person, die euch verkuppelt hat. Ich könnte ihr den Hals umdrehen!«

»Sie hat nur versucht zu helfen«, verteidigte Dorothea sie. »Außerdem ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, das zu diskutieren.« Sie warf einen sprechenden Blick auf die beiden Mädchen, die sich anscheinend entschieden hatten.

Nicht nur Ian hatte anderweitige Verpflichtungen vorgeschoben. Auch August hob abwehrend die Hände, als sie ihm vorschlug, sie zu dem Vortrag zu begleiten. Und ihre Mutter erklärte, zu müde zu sein, um noch in Gesellschaft zu gehen. Dorothea jedoch war fest entschlossen, dem Protector endlich die verbrannte Bibel zu zeigen, die sie am Heiligtum in der Asche gefunden hatten. Bisher hatte es sich einfach nicht ergeben, aber dies schien ihr eine günstige Gelegenheit. Koar war das Ritual dahinter völlig unbekannt gewesen. Er hatte allerdings gemeint, dass es mit Sicherheit nichts Gutes zu bedeuten hätte. Jedem Aborigine sei bewusst, dass die Bibel als heiliges Buch galt. Sie zu zerstören deute auf großen Hass gegen die Europäer.

Glücklicherweise war es in Adelaide kein Problem, als Frau allein unterwegs zu sein. Also wickelte Dorothea die immer noch brenzlig riechenden Reste in ein altes Leinentuch, setzte einen zu der dunkelblauen Samtpelerine passenden Hut auf und verabschiedete sich mit den Worten: »Wartet nicht auf mich mit dem Zubettgehen, es kann spät werden, wenn Mr. Moorhouse sein Steckenpferd reitet.«

An der Kreuzung zur Morphett Street wäre sie fast mit einem hochgewachsenen, mageren Gentleman zusammengestoßen. »Mr. Stevenson!« Überrascht sah sie zu ihrem ehemaligen Chef auf. »Was machen Sie denn hier?«

»Dasselbe könnte ich Sie fragen, Mrs. Masters. Ich wähnte Sie glücklich verheiratet an den lieblichen Ufern des Murray River. Der Ehe schon überdrüssig?« Sein Spott war noch beißender geworden, die Falten um die Mundwinkel tiefer.

Automatisch registrierte Dorothea, dass die Armsäume seines Gehrocks abgestoßen, der Zylinder ungebürstet war. Es war nicht zu übersehen, dass er wenig Sorge auf sein Äußeres verwandte. »Nein, ich bin nur bei meiner Mutter zu Besuch. Wie geht es im Register?«, fragte sie und war überrascht von der Heftigkeit seiner Antwort.

»Ein einziger Misthaufen ist das hier!«, polterte er in altgewohnter Offenheit. »Wäre ich nicht Stadtrat, hätte Grey mich vermutlich schon längst aus der Stadt vertrieben. Aber ich denke nicht daran, klein beizugeben! Selbst wenn sie mir den Register wegnehmen – ich finde ein anderes Sprachrohr, um die Missstände der Verwaltung anzuprangern!«

»Sie gehen doch sicher auch zu dem Vortrag der Literarischen Gesellschaft? Dann sollten wir nicht länger trödeln«, sagte Dorothea und beobachtete leicht nervös, wie in der Nachbarschaft Vorhänge zurückgezogen wurden, um der Ursache des lauten Wortwechsels auf den Grund zu gehen. »Kommen Sie, Mr. Stevenson.«

Die Räumlichkeiten der Gesellschaft waren bereits hell erleuchtet, obwohl die Sonne noch gar nicht untergegangen war. Kaum hatten Dorothea und ihr Begleiter das Foyer betreten, als auch schon Mary Kilner auf sie zueilte, um sie zu begrüßen. »Es sind so viele Gäste da, dass wir kaum genügend Stühle haben«, verriet sie strahlend vor Stolz über den öffentlichen Zuspruch. »Darf ich Sie zu den reservierten Plätzen führen?«

Auf dem Weg dorthin begrüßten sie einige Bekannte Miss Kilners und Mr. Stevensons. Als sie eine Gruppe schwarz gekleideter Matronen passierten, hörte Dorothea eine von ihnen zischeln: »Das ist die Neue von diesem Masters. Der Mann könnte einem ja echt leidtun: nicht besser als die Erste. Heute Vormittag erst hat sie mit einem äußerst windigen jungen Mann bei Lacy’s geflirtet – ich habe es genau gesehen –, und jetzt kokettiert sie mit diesem Freigeist Stevenson. Also, wenn ich ihre Mutter wäre …« Sie verfiel in Flüsterton, der nicht mehr bis zu Dorothea trug. Die versuchte zwar, das Gehörte zu ignorieren, aber es war doch genug Wahrheitsgehalt in dem bösartigen Geschwätz, dass es sie beunruhigte. Hatte sie wirklich mit Ian geflirtet? Ihrem Gefühl nach war ihr Betragen einwandfrei gewesen. Diese alte Hexe war doch nur missgünstig.

»Mrs. Masters!« Matthew Moorhouse lächelte sie so herzlich an, dass ihr unterschwelliges Unbehagen augenblicklich verflog. »Und Mr. Stevenson. Dürfen wir uns vielleicht auf eine neue Artikelreihe über die weibliche Welt der Stämme am Murray freuen?« Er hob die Brauen, während er von einem zum anderen sah. Dorothea schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein. Die Ngarrindjeri sind nicht so zugänglich wie die Kaurna hier um Adelaide. Sie bleiben lieber für sich. Weder Frauen noch Kinder dürfen auch nur in unsere Nähe. Der Einzige, der sich regelmäßig auf Eden-House blicken lässt, ist ihr alter Häuptling, King George.«

»Ja, ich habe auch gehört, dass die Ngarrindjeri uns Europäern wesentlich ablehnender gegenüberstehen als andere Stämme. Es soll damit zusammenhängen, dass sie schon früh sehr schlechte Erfahrungen mit den Walfängern auf Kangaroo-Island machen mussten. Die Männer haben Frauen und Kinder der Ngarrindjeri entführt und dort als Sklaven gehalten. Das ist nicht vergessen«, bestätigte Stevenson.

»Dabei ist gar nicht klar, wo es den Frauen schlechter erging«, murmelte Dorothea und dachte an die beiläufige Grausamkeit von King George gegenüber seiner jüngsten Frau. »Für manche mag es sogar eine Verbesserung ihrer Lage gewesen sein!«

Moorhouse nickte etwas widerstrebend. »Leider muss ich Ihnen da zustimmen. Auf meiner letzten Reise habe ich auch so einiges gehört und gesehen, was ich nicht gutheißen kann. Die Leute von der neuen Missionsstation tun ihr Bestes, aber der Pastor predigt tauben Ohren.«

»Vielleicht hat das etwas damit zu tun«, sagte Dorothea und hielt ihm das Päckchen hin.

»Was ist das?« Moorhouse schnupperte unauffällig. Aus dem Stoff stieg immer noch ein starker Rauchgeruch auf.

»Eine Bibel. Wir haben sie bei diesem Heiligtum an der Straße nach Glenelg in einer Feuerstelle gefunden«, erklärte Dorothea. »Offenbar wurde versucht, sie zu verbrennen. Ich dachte, Sie sollten darüber Bescheid wissen.«

Moorhouse betrachtete das Päckchen mit gerunzelter Stirn. »Ich werde es Reverend Howard und den deutschen Missionaren zeigen. Soweit ich weiß, ist so etwas noch nie vorgekommen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. – Entschuldigen Sie mich, der Vorsitzende winkt mir.«

Als Matthew Moorhouse neben den Vorsitzenden ans Sprecherpult trat, schob Dorothea alle unschönen Gedanken weit weg und konzentrierte sich auf seinen Vortrag. Schon bald war sie von seiner sonoren Stimme und der lebhaften Erzählweise gebannt. Jedem Satz merkte man an, wie fasziniert er von der fremden Kultur seiner Schützlinge war, wie er sich bemühte, ihre oft abstoßenden Verhaltensweisen speziell den Frauen gegenüber mit den harten Lebensumständen, den rigiden Sitten zu erklären. »Dass sie ihre Frauen schlimmer als Vieh behandeln, haben sie mit den niederen Klassen in Europa gemein. Auch dort haben die armen Frauenzimmer die Hauptlast des Elends zu tragen. Es ist dies also kein Vorrecht primitiver Völker. Aber es ist meine feste Überzeugung, dass mit der richtigen Anleitung und der Vermittlung unserer überlegenen Kultur, wozu ich auch den christlichen Glauben zähle, dieser hässliche Fleck auf ihrem Wesen zum Verschwinden gebracht werden kann. Gibt es doch genug Beispiele aus anderen Kolonien, wo den Frauen durchaus eine unseren Maßstäben entsprechende Hochachtung entgegengebracht wird. Im Kosmos der australischen Eingeborenen ist kein Platz für Schwache, Schutzbedürftige. Das Recht des Stärkeren ist in ihren Augen zugleich göttliches Recht. Ein gutes Beispiel dafür ist die wichtigste Traumgeschichte der südlichen Kaurna, eine vielschichtige Geschichte von Schöpfung, Gesetz und menschlichen Beziehungen. Es ist die Geschichte von Tjilbruke.«

Moorhouse räusperte sich, trank einen Schluck und begann, den eindringlichen Singsang der Eingeborenen treffsicher kopierend: »In der Traumzeit, vor vielen, vielen Sommern, lebte Tjilbruke, ein Meister im Feuermachen und ein großer Jäger. Eines Tages erlegte sein Lieblingsneffe Kulultuwi, der Sohn seiner Schwester, einen Kari, einen männlichen Emu. Das war ein schweres Vergehen, denn Tjilbruke war der Einzige, dem die Jagd auf Karis erlaubt war. Aber da er Kulultuwi über alles liebte, verzieh er ihm. Kulultuwi hatte zwei Brüder, Jurawi und Tetjawi, die ihn hassten, weil er von seinem Onkel ihnen immer vorgezogen wurde. Sie dachten, sie könnten sich bei ihm beliebt machen, wenn sie Kulultuwi für sein Verbrechen bestraften. Also töteten sie ihn.

Tjilbruke als Bewahrer der Gesetze der Ahnen musste nun darüber richten, ob er zu Recht getötet worden war. Immerhin hatte er ein Tabu gebrochen, und das wurde nach den Sitten der Ahnen mit dem Tode bestraft.

Tjilbruke entschied jedoch, dass Kulultuwi ermordet worden wäre. Er selbst tötete seine beiden Neffen mit dem Speer und verbrannte sie. Ihren Staub verstreute er in alle Winde. Das geschah bei dem Ort Warriparinga, südlich von Adelaide.

Dann nahm er den noch nicht fertig im Rauch getrockneten Körper seines geliebten Neffen Kulultuwi auf die Arme und trug ihn zuerst zu der Quelle Tulukudank, bei Kingston Park an der Küste, wo er die Trocknung vollendete. Sobald der Körper Kulultuwis leicht wie eine Feder war, trug er ihn bis zu der Höhle Patparno, wo er ihn endgültig bestatten wollte. Auf seiner Reise die Küste hinunter rastete er, von Trauer übermannt, an verschiedenen Plätzen. Und wo immer er rastete, entsprang, gespeist von seinen Tränen, eine Süßwasserquelle.

Zu Tode betrübt durch die Ereignisse wollte Tjilbruke nicht länger als Mensch leben. Sein Geist wurde ein Vogel, ein Ibis, und sein Körper verwandelte sich in eine Steinsäule.«

Moorhouse hob eine Hand und zeigte den Zuhörern einen braunroten Brocken: »Dies ist ein Stück Ocker aus Karkungga, einem der Orte, an denen Tjilbruke gerastet haben soll. Ein ganz besonders kostbarer Ocker, weil er die Kraft von Tjilbruke überträgt. Er wird nur zu ganz besonderen Ritualen benutzt. Leider habe ich nicht in Erfahrung bringen können, welche das sind. Da wurde der Häuptling auf einmal sehr wortkarg und verstand kein Englisch mehr.«

Begleitet von leisem Gemurmel wanderte der Gesteinsbrocken von Hand zu Hand.

»Er wird schon einen Grund gehabt haben, wieso er es nicht verraten wollte«, bemerkte ein Mann hinter Dorothea spöttisch. »Wahrscheinlich einen, der zivilisierte Menschen abstoßen würde.«

Als der Brocken endlich in Dorotheas Hand lag, musste sie sofort an die Felsmalereien am Kultplatz denken: Die Gedärme der Tiere waren in haargenau dem gleichen Farbton ausgeführt worden. Und auch der Körper des Skelettmanns. Die hellen Striche, welche die Knochen darstellen sollten, hatten sich deutlich davon abgehoben. Stand er für Blut? Für Leben?

Gerne hätte sie den Protector nach seiner Meinung gefragt, aber er war so umlagert, dass sie darauf verzichtete, sich zu ihm durchzudrängen. Also schloss sie sich einem Ehepaar an, das in die gleiche Richtung wie sie nach Hause ging. Der Mond schien so hell, dass man keine Laterne brauchte. Die Tavernen, an denen sie vorbeikamen, waren noch gut frequentiert. Aus dem Inneren drangen lautes Gelächter und hier und da ein Schwall Tabakrauch und Bierdunst zu ihnen nach draußen. Die meisten Fenster der Wohnhäuser waren bereits dunkel. Kerzen waren teuer, da ging man lieber zu Bett, sobald es dämmerte. An der letzten Kreuzung verabschiedete Dorothea sich von den beiden. Die Straße war menschenleer, es war unnötig, dass das freundliche Paar sie auch noch bis zum Gartentor begleitete. Dort tastete sie in ihrem Beutel nach dem Schlüssel für die Pforte, als sie sich plötzlich von starken Armen umfangen und an eine Männerbrust gedrückt fühlte. August hatte ihr noch in Dresden eine sehr wirkungsvolle Methode gezeigt, wie sie unerwünschte Aufmerksamkeiten zurückweisen könnte. Die kam ihr jetzt glücklicherweise in den Sinn: Anstatt um Hilfe zu rufen oder erschreckt gegen den Griff anzukämpfen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schlug ihre Stirn kräftig gegen die Nase des Angreifers.

»Autsch, bist du wahnsinnig?« Die Stimme klang belegt und nicht ganz klar. Aber es war einwandfrei die von Ian. Er hatte sie tatsächlich sofort losgelassen, wie August es ihr damals prophezeit hatte, und betastete jetzt sein malträtiertes Körperteil. »Was ist in dich gefahren, du Megäre?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen, du Idiot«, zischte Dorothea aufgebracht. Sie fand den Schlüssel, öffnete die Pforte und zog ihn hinter sich in den Garten, ehe noch einer der Nachbarn aufmerksam wurde. »Was hast du dir dabei gedacht, mir hier mitten in der Nacht aufzulauern wie ein Wegelagerer?«

»Ich wollte dir nur Gutnacht sagen«, nuschelte er undeutlich. »Das tut verflucht weh. Woher kennst du diesen miesen Trick?«

»Das hast du verdient, dass es wehtut«, fuhr sie ihn an, den plötzlichen Lachreiz unterdrückend. »Du bist betrunken, Ian.«

»Vielleicht ein bisschen. Ein ganz kleines bisschen«, gab er zu. »Aber das ist doch kein Grund, mir den Schädel einzuschlagen.«

»Übertreib nicht! Und außerdem hast du es dir selber zuzuschreiben. Was erschreckst du mich auch zu Tode!«

»Wollte dich nicht erschrecken, wollte dir nur Gutnacht sagen.« Er betastete wehleidig seinen Nasenrücken. »Irgendwie schien es mir eine gute Idee.«

»Es war keine gute Idee«, sagte Dorothea bestimmt. »Bleib hier sitzen, ich hole ein nasses Tuch für deine Nase.«

Als sie mit einem Leintuch und einer Schüssel Wasser zurückkam, lehnte Ian leise schnarchend an der Mauer. Sie schüttelte den Kopf, wrang das Tuch aus und tupfte vorsichtig das Blut ab, das ihm aus einem Nasenloch sickerte. Ihre Erfahrung mit betrunkenen Männern war beschränkt. Ihr Vater hatte zwar einen guten Tropfen zu schätzen gewusst, aber niemals über den Durst getrunken. Auch Robert hatte sie noch nie in einem solchen Zustand gesehen. Gut, August hatte hier und da ein Glas, besser einen Bierkrug zu viel getrunken, und von daher waren ihr die Begleiterscheinungen von zu viel Alkohol bekannt. Aber weder verlangte Ian nach einem Eimer, noch beschwerte er sich lautstark über die schlechte Qualität des ausgeschenkten Gerstensafts. Stattdessen schnarchte er inzwischen, als ob er im bequemsten Bett läge. Es tropfte kein neues Blut nach, also war der Schaden, den sie angerichtet hatte, sicher nicht groß. Im Schlaf wirkte er ungewohnt verletzlich. Sie konnte nicht widerstehen. Mit einer zärtlichen Geste strich sie ihm die in die Stirn gefallenen Haare zurück, beugte sich über ihn und küsste ihn leicht auf die Lippen. Sie schmeckten nach Branntwein, was nicht überraschend war, wenn man den schalen Tavernendunst bedachte, der von ihm ausging. Dennoch war sie nicht abgestoßen, wie sie es hätte sein sollen. Stattdessen schloss sie die Augen und genoss das berauschende Gefühl, das die einfache Berührung in ihr auslöste. So versunken, dass sie nicht einmal mitbekam, wie Ian aufseufzte und seine Hände zart über ihre Hüften und Taille wandern ließ. Erst als sie ihre Hinterbacken berührten und genießerisch zu kneten begannen, zuckte sie zurück.

»Hör nicht auf«, murmelte er träumerisch. »Du riechst so gut. Wie Apfelkuchen mit Sahne …«

»Was man von dir nicht gerade behaupten kann!« Dorothea rümpfte die Nase. »In welcher Spelunke hast du dich bloß herumgetrieben, dass du in einem solchen Zustand bist?«

»Weiß nicht, in mehreren. Hier und da.«

»He, wach bleiben! Hier kannst du auf keinen Fall deinen Rausch ausschlafen«, sagte Dorothea energisch, als er den Kopf nach hinten sinken ließ und die Augen schloss, als wollte er gleich wieder in Schlummer versinken. Sie tunkte das Tuch ins Wasser und klatschte es ihm ins Gesicht. Prustend fuhr Ian hoch. »Schaffst du es allein in deinen Gasthof, oder soll ich die Jungen wecken, dass sie dir helfen?« Dorothea griff nach dem Tuch und machte Anstalten, die Behandlung zu wiederholen.

»Lass das sein!« Ian hob abwehrend beide Hände. »Ich geh ja schon.« Leicht schwankend streckte er sich und steuerte auf die Gartenpforte zu. »Gute Nacht, Liebling!« Ehe sie reagieren konnte, hatte er sie gepackt und ihr einen herzhaften Kuss auf den Mund gedrückt. »Schlaf schön und träum von mir.« Im nächsten Moment war er hinausgeschlüpft und torkelte leise vor sich hin summend die Straße hinunter. Kopfschüttelnd sah Dorothea ihm nach. Diese Seite von Ian hatte sie noch nicht gekannt. Ob er oft in Tavernen ging? Irgendwie passte es nicht zu ihm.

Kurz nach Mittag am folgenden Tag brachte ein Bote ihr eine Karte samt einem geschmackvoll gebundenen Bukett. »Ich entschuldige mich für alles, was ich getan habe. Da ich mich nicht mehr erinnere, kann ich nur hoffen, dass du mir vergibst – was auch immer es war.« Unwillkürlich musste sie bei dem Gedanken an das nächtliche, wenig romantische Stelldichein lächeln. Ian musste wirklich schwer betrunken gewesen sein, wenn er sich nicht mehr erinnerte. Vermutlich ging diese Gedächtnislücke mit einem mächtigen Brummschädel einher!

»Richten Sie ihm bitte aus, dass kein Anlass zur Sorge besteht«, sagte sie zu dem Mann, der geduldig gewartet hatte, und gab ihm einen Shilling. »Genau in diesen Worten.«

Von da an ergab es sich irgendwie, dass sie ständig irgendwo aufeinandertrafen. Sei es in der Leihbücherei, sei es am Markt, beim Schuster, bei der Hutmacherin oder in der Kirche. Es war fast, als hätte Ian es darauf abgesehen, ihr über den Weg zu laufen. »Hat Mr. Rathbone eigentlich auch noch eine andere Beschäftigung, außer deine Einkäufe und deinen Sonnenschirm zu tragen?«, bemerkte August bissig, als er ihm wieder einmal an der Haustür begegnete. »Ständig stolpert man über ihn. Hat er schon gefragt, ob er bei Schumanns einziehen kann?«

»Er ist nur so oft hier, weil wir Messerwerfen üben«, verteidigte Dorothea ihn. »Nach dem Vorfall mit dem Skorpion will Heather nicht mehr in den Busch, deswegen hat Mama uns erlaubt, den Garten zu benutzen.«

»Das ist auch so etwas! Es geht mich ja nichts an, wenn du meinst, deine Stieftochter müsse solche Gauklerkunststücke beherrschen. Aber müsst ihr auch noch Lischen solche Flausen in den Kopf setzen? Neulich hat sie mir erklärt, sie würde nicht heiraten, sondern als Zirkuskünstlerin durch die Welt ziehen und sich von niemandem etwas sagen lassen.«

»Das hat sie doch nicht ernst gemeint! Das hat sie nur gesagt, weil du sie ›gefräßig‹ genannt hast.«

»Mag sein. Trotzdem finde ich, dass Mr. Rathbone uns ein wenig zu häufig besucht. Und nicht nur ich bin dieser Meinung. Du brauchst mich gar nicht so anzublitzen! Glaubst du, es macht mir Spaß, den Moralapostel zu spielen? Aber als verheiratete Frau kannst du einfach nicht mehr so unbekümmert sein. Die Klatschbasen wetzen bereits ihre Zungen.«

»Seit wann achtest du auf so etwas? Ich habe mir nichts vorzuwerfen, und ich wüsste nicht, wieso ich auf die Gesellschaft von Ian verzichten sollte, nur weil ein paar missgünstige alte Weiber mit einer hässlichen Fantasie es mir nicht gönnen!« Dorothea drehte sich auf dem Absatz herum und marschierte hoch erhobenen Hauptes in die Küche. »Damit betrachte ich das Thema als erledigt. Hast du die Schweinebacke bekommen, die du besorgen solltest?«

Am Vorabend des Maskenballs befürchtete Dorothea schon, Ian hätte seine Einladung vergessen. Seit jenem Nachmittag im Busch war er mit keinem Wort erneut darauf zu sprechen gekommen. Hatte er seine Meinung geändert und entschieden, dass es doch nicht das Richtige war? Eine Art von Stolz hielt sie davon ab, ihn zu erinnern. Wenn er nicht mit ihr dorthin gehen wollte, würde sie nicht drängen. Aber ihre Stimmung wurde zunehmend gereizter, als eine Dame nach der anderen ihr bestelltes Kostüm abholte. »Wenn ich noch einmal den Satz hören muss: ›Wie schade, dass Sie nicht auch kommen können‹, dann schreie ich«, murmelte sie zu sich selber, als sie die Haustür hinter einer weiteren zufriedenen Kundin ihrer Mutter ins Schloss fallen ließ.

»Das solltest du lieber nicht tun. Es könnte zu peinlichen Nachfragen kommen.«

Sie fuhr herum. »Ian, wo kommst du denn her?«

»Ich habe die Gartenpforte benutzt«, erklärte er ungeniert. »In deinem Zimmer liegt ein Paket für dich bereit. Um acht Uhr hole ich dich dann ab, einverstanden?«

Nun wurde ihr doch ein wenig mulmig zumute. »Ich weiß nicht, Ian. Was soll ich meiner Mutter sagen? Und wenn uns jemand sieht?«

»Dir wird schon etwas einfallen«, sagte er leichthin. »Und niemand wird uns sehen, wenn wir den Umweg über die East Terrace nehmen. Da stehen fast alle Häuser leer.«

»Hast du denn überhaupt eine Einladung?«, fiel Dorothea ein. »Du stehst bestimmt nicht auf der Gästeliste des Gouverneurs.«

Ian grinste. »Das tue ich auch nicht. Aber zufällig kenne ich jemanden, den ich überreden konnte, mir eine Einladungskarte zu beschaffen.«

Dorothea musste lachen. »Ian, du bist unmöglich!«

»Aber das magst du doch gerade an mir«, erwiderte er, plötzlich ernst. »Wenn du mich pfeifen hörst, kommst du heraus. Bis morgen Abend.« Er drehte sich um und verschwand auf demselben Weg, auf dem er bereits ungesehen hereingekommen war.

Das Kostüm war relativ schlicht: weite Pumphosen aus locker gewebtem, dunkelblauem Baumwollstoff, dazu ein eng geschnürtes Oberteil in der gleichen Farbe, dessen trompetenförmige Ärmel mit goldfarbenen Rankenmustern bestickt waren. Ein dichter Gesichtsschleier aus schwarzem Chiffon würde sicherstellen, dass niemand sie erkannte. Samtpantöffelchen mit aufgebogenen Spitzen vervollständigten die orientalische Note. Es war bei Weitem nicht so prächtig wie die Kostüme ihrer Mutter, aber vermutlich war es klüger, so wenig wie möglich aufzufallen.

Nach einigem Überlegen hatte sie entschieden, sich kurz vor dem Abendessen mit Kopfschmerzen zu entschuldigen und in ihr Zimmer zurückzuziehen. Wenn sie darum bat, in Ruhe gelassen zu werden, würde ihre Mutter schon dafür sorgen, dass dieser Wunsch respektiert werden würde. Sobald alle Übrigen sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, konnte sie hinausschleichen und durch die Gartenpforte ungesehen das Anwesen verlassen.

Ihr Plan funktionierte wie vorgesehen.

»Natürlich, schlaf dich gesund«, sagte ihre Mutter bloß, als sie darum bat, nicht gestört zu werden. »Wenn es morgen allerdings nicht besser ist, sollten wir vielleicht doch Dr. Woodforde kommen lassen.« Seit dem Skorpionstich hielt sie große Stücke auf den alten Arzt.

In ihrem Zimmer legte Dorothea mit fiebrigen Fingern die ungewohnte Kleidung an. Die Hose wurde nur von einem Band in der Taille gehalten. Es ist ein seltsames Gefühl – so ganz ohne Unterröcke, dachte sie, als sie sorgfältig die Schleife band. Nicht auszudenken, wenn sie sich löste! Sie kam sich ein wenig verrucht vor, als sie das Oberteil über ihren nackten Oberkörper zog. Ihr Hemd hatte sie ausziehen müssen, weil der Schnitt keine Unterkleidung zuließ. Fertig geschnürt saß es wie angegossen, und auch der tiefe Ausschnitt überließ nur wenig der Fantasie. Aber dank des Schleiers würde ja niemand wissen, wer es war, der da so offenherzig sein Dekolleté zur Schau stellte.

Allmählich begann sie, sich wirklich auf das Abenteuer zu freuen. Ungeduldig wartete sie auf das verabredete Zeichen. Als Ian endlich leise pfiff, schlich sie auf Zehenspitzen durch die Hintertür und in den Garten hinaus. Die Samtpantoffeln verursachten nicht das geringste Geräusch.

»Alles klar?« Er musterte sie prüfend. »Das Zeug steht dir. Man muss diesen Osmanen lassen, dass sie wissen, wie sie ihre Frauen anziehen.«

»Was man bei der Männertracht nicht unbedingt sagen kann«, erwiderte sie spöttisch. »Du siehst aus wie eine Jahrmarktsfigur.« Tatsächlich wirkte er in den roten, weiten Hosen, der gemusterten Schärpe mit der Säbelattrappe, dem Fes und einem wilden Schnurrbart eher wie ein Kinderschreck. »Findest du?« Seine Zähne blitzten inmitten der schwarzen Wolle, aus der der Bart gefertigt war. »Dann mal los, Madame Suleika.«

Es traf sich gut, dass Neumond war. Selbst wenn jemand aus dem Fenster schauen sollte, würde er im pechschwarzen Häuserschatten allenfalls Umrisse ausmachen können. Aber wie von Ian vorhergesagt, begegneten sie erst auf der North Terrace anderen Menschen, die alle in die gleiche Richtung strebten. Von der Residenz her klangen bereits leise Geigenklänge durch die Abenddämmerung. Fackeln erleuchteten den Weg und tauchten den Park in ein warmes, rötliches Licht. Der Festsaal und die Salons waren schon gut gefüllt. Offenbar hatte die Gesellschaft von Adelaide diese Einladung nur zu gerne wahrgenommen.

Am Eingang begrüßten Gouverneur Grey und ein grobschlächtiger Mann mit riesigem Turban die Ankömmlinge. »Das ist Morphett«, flüsterte Ian Dorothea zu. »Ein Viehbaron. Es heißt, er wäre der eigentliche Gastgeber. Und er ist nicht gerade als Kostverächter bekannt. Zieh den Schleier besser so tief herunter wie möglich!«

Trotzdem schien es ihr, als schafften seine tiefliegenden Augen es, ihn zu durchdringen. Er grinste unverschämt, und seine fleischigen Hände hielten ihre deutlich zu lange, während er versuchte, so viel wie möglich von ihrem Busen zu erkennen. »Was für ein ekelhafter Mensch«, flüsterte sie Ian zu, als sie in die hinteren Räume schlenderten. »Warum lässt Grey sich darauf ein?«

»Er ist ein sparsamer Mann«, bemerkte Ian trocken.

»Und was hat dieser schreckliche Mensch von einem Maskenball? – Außer dass er in jede Menge Ausschnitte glotzen kann.«

»Morphett verspricht sich davon Stimmen für die nächste Stadtratswahl«, erklärte Ian mit gedämpfter Stimme. »Achte darauf, dass du flüsterst, wenn du angesprochen wirst. Die meisten Menschen, die sich verkleiden, denken nicht daran, dass der Klang ihrer Stimme sie meistens sofort verrät.«

Tatsächlich konnte Dorothea schon von Weitem zwei Damen der Literarischen Gesellschaft identifizieren, auch wenn diese sich hinter ihren eher andalusisch anmutenden Spitzenschleiern inkognito fühlten. Auch einige Kostüme aus der Werkstatt ihrer Mutter erkannte sie wieder, darunter das nilgrüne von Mary Kilner. Der hochgewachsene Mann neben ihr, der wie ein Wegelagerer aussah, musste Matthew Moorhouse sein! Sicherheitshalber achteten sie darauf, zu dieser Gruppe Abstand zu halten.

Es machte Dorothea mehr Spaß, als sie erwartet hätte, hinter ihrem Schleier versteckt die anderen Gäste zu beobachten und zu raten, wer sich unter den mehr oder weniger gelungenen Kostümen verbarg. Die meisten Gäste kannte sie nicht, aber einige Stimmen schienen ihr noch aus ihrer Zeit beim Register vertraut. Damals war sie mit Miles Somerhill gemeinsam ja fast bei jedem gesellschaftlichen Ereignis zugegen gewesen.

Major O’Halloran mit seiner dröhnenden Stimme, die immer klang, als ob er gerade eine Kompagnie befehligte, Richter Cooper, der sich notdürftig als Derwisch maskiert hatte, und Sir Charles Mann, der selbst im Sultanskostüm unverwechselbar war. Ihnen allen war leicht auszuweichen. Hier und da streifte sie ein neugieriger Blick, aber da niemand mit Ian bekannt war, machte auch niemand Anstalten, sich ihnen zu nähern.

»Ich habe so Hunger!«, klagte Dorothea nach einem Blick auf das üppige Büfett. »Ich konnte ja angeblich nichts essen. Und jetzt stehe ich vor diesem Schlaraffenland und weiß nicht, wie ich es bewerkstelligen soll. Wie machen es nur diese Muselmaninnen, dass sie nicht verhungern?«

»Soviel ich gehört habe, tragen sie nicht ständig einen Schleier, sondern nur, wenn sie aus dem Haus gehen oder in Anwesenheit fremder Männer«, sagte Ian amüsiert. »Warte hier, ich hole dir einen Teller und halte dann deinen Schleier, während du isst.«

Umsichtig hatte er Speisen gewählt, die nicht allzu ungeeignet waren, wie Krebsschwänze, Scheiben von diversen Pasteten und Wildragout.

»Nicht nur ihr Frauen habt Probleme«, sagte Ian und wies auf Richter Cooper, der sich verzweifelt bemühte, eine Gabel voll Muschelsalat zwischen seinem struppigen Kunstbart hindurchzulavieren. »Ich wette, das hat er nicht bedacht.« Selbstzufrieden strich er über seinen mit Schuhwichse steif geformten Schnauzbart.

Ians Methode funktionierte bestens. Mit einem zufriedenen Seufzer schluckte Dorothea den letzten Bissen herunter und reichte ihm den leeren Teller zurück. Während er sich verköstigte, beobachtete sie fasziniert die anderen Gäste. Nicht nur sie schien die ungewöhnliche Atmosphäre zu genießen, welche die Anonymität den meisten bot. Ungläubig verfolgte sie, wie unverfroren manche der Anwesenden, versteckt hinter Schleiern und Bärten, flirteten.

Ein Maskenball ließ die Leute nicht nur anders aussehen – sie benahmen sich auch anders. Oder wäre es unter normalen Bedingungen auch nur vorstellbar gewesen, dass die durch und durch korrekte Mary Kilner nicht nur ihren Verlobten mit koketten Augenaufschlägen bedachte?

Vielleicht lag es auch an dem indischen Punsch, der so reichlich ausgeschenkt wurde? Er wurde in Henkelbechern serviert, mit einem Strohhalm, der nicht nur das Trinken an sich erleichterte, sondern auch dazu animierte, mehr von dem Getränk zu konsumieren, als man es unter anderen Umständen getan hätte. Es schmeckte wirklich ausgezeichnet: genau richtig ausbalanciert zwischen säuerlich und süß, mit einer exotischen Note, die Dorothea sehr zusagte. »Ich glaube, das reicht fürs Erste«, sagte Ian, als sie ihm zum dritten Mal ihren leeren Becher hinhielt, um ihn erneut füllen zu lassen. »Was hältst du von Tanzen?«

»Kannst du denn tanzen?« Aus einem der hinteren Säle drangen die Klänge einiger Geiger, schmelzend und mitreißend. Dorothea hatte mit August früher öfter Walzer geübt. Nach anfänglichen Bedenken der Obrigkeit wegen der zu großen Freizügigkeit hatte der Tanz aus Österreich dann doch die öffentlichen Tanzsäle in Dresden erobert. Ihr Bruder war ein begeisterter und guter Tänzer. Aber Ian?

»Ich werde mir die Sache anschauen und dann einfach nachmachen. So schwer wird es schon nicht sein«, meinte Ian zuversichtlich. Tatsächlich studierte er eine Weile die Bewegungen der bunt gekleideten Tänzer mit zusammengezogenen Brauen. Dann nickte er, sagte: »Ich denke, ich hab’s«, und zog sie in seine Arme. Zu Dorotheas Überraschung erwies er sich als geborener Tänzer. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Ian zum ersten Mal einen Fuß in einen Tanzsaal gesetzt hatte. Er wirbelte sie derart schwungvoll herum, dass sie sich an seiner Schulter festklammern musste. Es war, als wären sie zwei allein auf der Welt. Um sie herum verschwamm alles zu einem Kaleidoskop aus Farbsplittern, während sie sich ganz der Melodie hingab. Der Melodie und Ian, der sie führte. Dorothea reagierte auf jeden Druck seiner Hand in ihrem Rücken mit einer Selbstverständlichkeit, als seien ihre Körper seit Jahren miteinander vertraut.

Als der Tanz zu Ende war, war ihr schwindlig, und sie rang nach Atem, aber sie war zutiefst glücklich. »Ich hatte nicht gedacht, dass Tanzen so viel Spaß machen kann!«, stieß sie leise aus. »Ich auch nicht«, stimmte Ian zu und grinste. »Wir haben sie alle vom Parkett gefegt! Aber ich glaube, ich brauche jetzt etwas zu trinken. Du auch?«

Fast hätten sie die Zeit vergessen. Zwischen den Tänzen pausierten sie nur, wenn auch die Kapelle eine kurze Verschnaufpause einlegte. Dann gingen sie nach draußen auf die Veranda, wo eine kühle Brise die erhitzten Körper kühlte, und Ian besorgte Nachschub von dem indischen Punsch. Als Dorotheas Blick zufällig auf die Glassturzuhr neben dem Porträt Königin Victorias fiel, erschrak sie. Es konnte doch nicht wirklich schon zehn Minuten vor Mitternacht sein? Sie zupfte Ian am Ärmel. »Ich fürchte, wir müssen jetzt verschwinden«, raunte sie. »Wie sollen wir das anstellen?« An der einzigen Treppe der Veranda, die direkt in den Garten hinunterführte, stand ein bulliger Wachmann.

»Nichts leichter als das!« In Ians Augen blitzte der Schalk. »Schwank ein bisschen und vergiss nicht, leise vor dich hin zu stöhnen!« Ehe Dorothea protestieren konnte, hatte er sie fest am Arm gepackt und zog sie hinter sich her. »Die Dame hat ein bisschen zu viel von dem Punsch getrunken, fürchte ich«, sagte er zu dem Wachmann. »Es wäre wohl das Beste, wenn ich sie, möglichst ohne Aufsehen zu erregen, nach Hause bringe.«

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte der Mann nicht allzu begeistert, während er sich beeilte, den Weg freizugeben.

»Nein danke. Ich denke, ich schaffe es alleine«, sagte Ian. »Gute Nacht.«

Sie tauchten gerade in den Schatten der Bäume, als es vom Kirchturm der Trinity Church zwölfmal schlug und drinnen in der Residenz eine Kakofonie der Stimmen losbrach.

»Das war knapp.« Ian lachte und riss sich mit einem schmerzlichen Stöhnen den falschen Schnauzbart ab.

»War es wirklich nötig, dem Mann vorzumachen, ich wäre betrunken?«, fragte Dorothea und zog sich den Schleier vom Kopf, um ihn erbost anzublitzen. »Ich war noch nie so froh, diesen albernen Schleier zu tragen wie in dem Augenblick. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt!«

»Er hat doch keine Ahnung, wer du bist. Was macht es also aus?«, gab Ian gleichmütig zurück. Er verzog leicht die Mundwinkel. »Und du musst zugeben: Es hat wunderbar funktioniert. War es nicht furchtbar komisch, wie er sich davor fürchtete, dass dich noch in seiner Gegenwart das Unwohlsein überkommen würde?« Er kicherte so albern vor sich hin, dass Dorothea ihm verärgert einen Rippenstoß versetzte. Er griff nach ihren Händen, um sie von weiteren Attacken abzuhalten. Sie versuchte sich loszureißen, was nur dazu führte, dass sein Griff sich verstärkte, und ehe sie es sich versah, hatte er sie so fest an sich gepresst, dass sie kaum noch atmen konnte.

»Ian«, keuchte sie und sah zu ihm auf, um ihn zur Vernunft zu bringen.

Im nächsten Augenblick pressten sich seine Lippen auf ihre. Und anstatt ihn wegzuschieben, sich loszureißen, erwiderte sie den Kuss mit einer Leidenschaft, die sie beide überraschte. Um Ian noch näher zu sein, schlang sie ihre Arme um seine Taille und presste sich, so fest sie konnte, gegen ihn. Seine Reaktion darauf war ein unterdrücktes Stöhnen, und er vertiefte den Kuss. Keiner von beiden wollte ihn enden lassen. Sie klammerten sich aneinander wie Ertrinkende, als müssten sie sterben, wenn sie sich lösten.

Es war Dorothea, die zu Boden sank und ihn mit sich auf das Gras zog. Wie wahnsinnig zerrte sie an seinem Hemd, riss es auf, um endlich seine warme, nackte Haut unter ihren Fingern zu spüren. Gierig glitten ihre Hände über seine behaarte Brust, tiefer, zögerten kurz, ehe sie nach dem Verschluss der Hose tasteten.

»Nicht …«, wehrte Ian halbherzig ab, ehe auch ihn jegliche Beherrschung verließ.

Als der Sturm sich verzogen hatte, tastete Dorothea nach ihm. Doch sie fand keinen warmen Körper, sondern nur zerdrücktes, feuchtes Gras. Ernüchtert öffnete sie die Augen und richtete sich halb auf den Ellenbogen auf. Ian stand ein paar Schritte entfernt, die Stirn gegen einen Baum gelehnt, und hämmerte mit den Fäusten gegen die Rinde.

Seine stumme Verzweiflung ließ die rosige Blase, in der sie sich eben noch befunden hatte, platzen. Mein Gott, was war nur in sie gefahren?

Die warme Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen ließ sie unwillkürlich erschauern. Nein, das durfte nicht sein. Nicht noch einmal! Wie hatte sie sich nur so vergessen können? Hatte sie nicht geschworen, Robert eine gute Ehefrau zu sein? Ekel vor sich selbst packte sie, sie schmeckte den bitteren Geschmack von Galle. Mit aller Selbstbeherrschung, die sie noch aufbringen konnte, kämpfte sie die Übelkeit nieder. Ihre Beine trugen sie kaum, als sie sich aufrichtete, um die zerrissene Hose ihres Kostüms hochzuziehen und wieder zuzubinden. Mit zitternden Knien wankte sie zu Ian. »Robert darf nie davon erfahren«, sagte sie. »Hörst du? Er darf niemals davon erfahren.«

»Natürlich nicht!« Ian streifte ihre Hand von seinem Unterarm wie ein lästiges Insekt und drehte sich zu ihr um, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Wofür hältst du mich? Glaubst du, ich würde mit der Frau meines besten Freundes … Und es ihm danach brühwarm erzählen?«

»Es tut mir so leid.« Dorothea wischte die aufsteigenden Tränen mit dem Handrücken aus den Augenwinkeln. »Das habe ich wirklich nicht gewollt.«

»Ich auch nicht.« Ians Stimme klang dumpf vor Verzweiflung. »Ich dachte, ich hätte es im Griff, aber das war wohl nicht der Fall.«

»Was meinst du damit?«, fragte Dorothea.

»Ich liebe dich. Seit damals auf dem Schiff. Weißt du das nicht? Ich dachte, eine Frau spürt so etwas«, gestand er niedergeschlagen. »Ich wollte reich werden und dann zurückkommen und um deine Hand anhalten. Und als ich dich zufällig wiedersehe, bist du schon verheiratet. Ausgerechnet mit Robert Masters.« Er lachte auf. Ein bitteres Lachen. »Welche Ironie des Schicksals! – Warum konntest du nicht auf mich warten?«

Dorothea hätte es ihm sagen und seine wilden Schuldgefühle damit vielleicht ein wenig mildern können. Aber sie schwieg. Es gab Geheimnisse, die musste man für sich behalten, auch wenn sie einen zu ersticken drohten.

»Wir sollten uns besser die nächste Zeit nicht sehen«, sagte sie müde.

»Nein, das sollten wir wirklich besser nicht«, gab Ian ihr recht. »Wird es Folgen haben?«

Im ersten Moment verstand sie nicht, was er meinte. Dann jedoch erinnerte sie sich, dass er ja Viehzüchter war. Wie Robert. Und Viehzüchter wussten recht gut Bescheid über Empfängnis und Fruchtbarkeit. »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.« Am liebsten hätte sie sich zusammengerollt und wäre in Tränen ausgebrochen. Aber das half jetzt auch nichts mehr.

»Die Eingeborenen sollen Kräuter für solche Zwecke haben«, meinte Ian leise. »Soll ich dir welche besorgen?«

Noch ein totes Kind? Und diesmal von seiner eigenen Mutter getötet? Alles in ihr sträubte sich gegen diese Vorstellung. Hatte sie nicht schon genug Sünden auf ihre Seele geladen?

Es war zu viel. Sie konnte das jetzt einfach nicht entscheiden. »Ich werde mich darum kümmern, wenn es so weit ist.« Dorothea schluckte krampfhaft und versuchte, nicht daran zu denken, wie es sich anfühlen würde, wenn sie sich zu Hause auf Eden-House im Spiegel betrachtete.

Die Reue kam zu spät. Sie wandte sich ab und begann mit hängenden Schultern Richtung East Terrace zu gehen. »Warte, ich bringe dich nach Hause.« Ian und sie gingen nebeneinander, wobei sie sich krampfhaft bemühten, jegliche zufällige Berührung zu vermeiden. Es gab nichts mehr zu sagen. Kurz vor der Gartenpforte blieb er stehen und flüsterte rau: »Ich werde in den Norden gehen. Leb wohl.« Er hob die Hände, als wolle er sie ein letztes Mal an sich ziehen, aber mitten in der Bewegung ließ er sie wieder fallen, wandte sich ab und verschwand mit großen Schritten in der Dunkelheit. Dorothea biss sich auf die Unterlippe, bis sie schmerzte, während sie so leise wie möglich durch den Garten ins Haus schlich. In ihrem Zimmer riss sie sich die zerdrückten, vom Tau feuchten Kleidungsstücke vom Leibe, rollte sie zu einem Bündel zusammen und schob es tief unter das Bett, um sie bei nächster Gelegenheit zu verbrennen.

Erst nachdem sie sich gründlich mit Wurzelbürste und Seife abgeschrubbt hatte, zog sie ihr Nachthemd über und schlüpfte unter die glatten Laken. Trotz ihrer Erschöpfung konnte sie nicht einschlafen. Sobald sie sich hinlegte und die Augen schloss, begann alles sich in einem wahnsinnigen Tanz zu drehen, als wäre sie immer noch mit Ian im Ballsaal. Erst in der Morgendämmerung fiel sie in einen leichten, unruhigen Schlaf, der zu früh von einem Klopfen an der Tür beendet wurde. »Geht es dir heute besser, Kind?« Die Stimme ihrer Mutter klang besorgt. »Oder soll ich Lischen zu Dr. Woodforde schicken?«

»Nein, ich komme gleich«, rief sie und zuckte beim Klang ihrer eigenen Stimme zusammen. Ihr Kopf schien von einem Heer Zwerge bevölkert, die sich einen Spaß daraus machten, dort ihr Bergwerk zu bearbeiten. Und ihre Zunge war so pelzig und schal wie ein alter Spüllappen. Vorsichtig richtete sie sich auf und taumelte zum Waschtisch. Nach ihrer nächtlichen Waschorgie war kaum noch Wasser im Krug. Mit den Resten spülte sie sich so gut es ging den Mund aus und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Im Spiegel sah sie fast aus wie immer. Nur die dunklen Schatten unter den Augen und die ungewöhnliche Blässe waren anders. Dorothea kniff sich energisch in die Wangen, bis sie eine gesunde Färbung aufwiesen, und ging in die Küche.

»Du hättest noch nicht aufstehen sollen« war das Erste, was ihre Mutter sagte, sobald sie einen Blick auf sie geworfen hatte. »Leg dich wieder hin, ich bringe dir einen Tee.« Mit dem Tablett brachte sie ihr einen Umschlag, auf dem in Ians unverkennbarere Handschrift »Mrs. Masters, persönlich« gekritzelt stand.

»Das hat ein Bote am frühen Morgen gebracht«, sagte sie in neutralem Ton. »Wenn es das ist, was ich vermute, kann ich ihm nur beipflichten. Du wirst sehen, du wirst bald darüber hinwegkommen.« Sie stellte das Tablett ab und strich ihrer Tochter mitfühlend über den Kopf. »Ach, Dorchen, du warst immer schon so wild und ungestüm. Damit verletzt man sich und andere nur unnötig.«

»Schon gut, Mama. Ich werde Ian nicht wiedersehen.« Dorothea ballte die Hände zu Fäusten und drehte sich zur Wand, damit ihre Mutter die Tränen nicht sah, die ihr in die Augen stiegen. »Wenn ich nur die Zeit zurückdrehen könnte!«

Statt einer Erwiderung darauf sagte ihre Mutter nur: »Ich werde mit den Mädchen in den neuen botanischen Garten gehen. Bis später.«

Sobald ihre Schritte verklungen waren, riss Dorothea mit klopfendem Herzen den Brief auf: »Wenn Du mit mir in Kontakt treten willst, wende Dich an Mr. Hastings von der Bank. Er weiß, wie ich zu erreichen bin. Mit den besten Wünschen für Dein weiteres Leben, Ian.«

Nichts weiter. Enttäuscht ließ sie ihn sinken. Was hatte sie erwartet? Dass Ian ihr seine unendliche Liebe schwören würde? Das konnte er ja nicht gut.

Dorothea ließ sich aufs Bett fallen und starrte blicklos an die Zimmerdecke. Offensichtlich ging ihre Mutter davon aus, dass ihre gestrigen Kopfschmerzen auf die notwendige Trennung zurückgingen. Wie entsetzt wäre sie, wenn sie die Wahrheit kennen würde!

Dabei hatte es sich so richtig angefühlt. Als wären Ian und sie füreinander bestimmt. Auch wenn es Robert gegenüber über die Maßen schäbig gewesen war – solange sie allein ihren Gefühlen gefolgt war, war ihr alles richtig und natürlich erschienen. So richtig und natürlich, wie es weder mit Miles Somerhill noch mit Robert gewesen war. Einerseits bedauerte sie, dass sie nun wusste, was sie in Zukunft vermissen würde. Andererseits hätte sie diese berauschende Erfahrung um keinen Preis missen wollen. Wie hieß es so schön: Jedes Ding hat seinen Preis. Sie würde so bald wie möglich nach Eden-House zurückkehren.