13

Zwei Tage später hatte Dorothea sich so weit eingelebt, dass sie nicht mehr ständig das Bedürfnis empfand, in den Garten hinauszulaufen, um wieder frei atmen zu können. Der von mannshohen Mauern umschlossene Hinterhof legte die Vermutung nahe, dass der Vorbesitzer ein leidenschaftlicher Gärtner gewesen war: Zwischen Spalieren, an denen sich knorrige Reben emporrankten, wuchsen prächtige Orangen- und Zitronenbäume. Und in der Mitte des Gevierts stand ein Mandelbaum, dessen blassrosa Blütenmeer eine reichliche Ernte versprach.

Dennoch blieb der alte Korbstuhl unter dem Küchenfenster ihr Lieblingsplatz. Hier verschlang sie gerade die neueste Ausgabe des Register, die sie auf dem Rückweg vom Markt einem Zeitungsjungen abgekauft hatte, als ihr eine dick gedruckte Überschrift ins Auge sprang.

Steht ein Aufstand der Eingeborenen bevor?

Wer die traurigen Gestalten kennt, die um Almosen bettelnd durch die staubigen Straßen von Adelaide schleichen, wird diesen Verdacht mit schallendem Gelächter von sich weisen. Auch wir sind der Ansicht, dass dergleichen Befürchtungen eher von Viehzüchtern gestreut werden, die sich dadurch einen besseren Schutz für ihre Viehtriebe zu verschaffen hoffen. Dennoch wollen wir aus Gründen der journalistischen Fairness unseren Lesern nicht vorenthalten, dass in Port Lincoln ein dort gut bekannter Eingeborener, Lincoln-Bay-Peter genannt, seit Längerem Erzählungen von einem Zauberer verbreitet, der angeblich die Stämme der Ngarrindjeri zu Mord und Totschlag gegen alle Weißen aufhetze.

Sowohl die Ermordung der Schiffbrüchigen auf dem Coorong als auch die Überfälle am Rufus River seien von ihm in die Wege geleitet worden. Sein Ziel sei die Vernichtung oder Vertreibung aller Europäer.

Nun ist jedem einigermaßen der Topografie kundigen Leser sofort klar, dass die beiden Orte viel zu weit auseinanderliegen, um in einem solchen Zusammenhang zu stehen.

Die Maraura am oberen Murray sind bekannt für ihre wilde, kriegerische Art. In Verbindung mit den bereits mehrfach erwähnten Übergriffen auf Maraura-Frauen ist es kein Wunder, dass die dortigen Stämme keine Freunde der Weißen sind. Von einem organisierten Aufstand sind sie allerdings noch weit entfernt. Ihre Feindseligkeit beschränkt sich auf sporadische Überfälle.

Die Stämme am Great Murray River machen eher durch gelegentliche Diebstähle als durch ernsthafte Bedrohung der Siedler in ihrem Gebiet auf sich aufmerksam. Außer einem Walfänger, der, wie mehrfach berichtet wurde, sein Schicksal selbst herausgefordert hat, und den Schiffbrüchigen der Maria sind keine weiteren Todesfälle zu beklagen.

Unserer Ansicht nach war das Letztere ein tragisches Missverständnis, für das die Regierung unter dem damaligen Gouverneur Gawler rechtswidrig das Kriegsrecht angewandt und vermutlich Unschuldige hingerichtet hat. Es besteht also nicht der geringste Grund, vor den hiesigen Eingeborenen Furcht zu empfinden, und noch weniger, ihnen voller Misstrauen entgegenzutreten.

Der Schreiber dieser Zeilen möchte auf das Missverhältnis hinweisen, wonach bis zum heutigen Tag in Südaustralien kein einziger Europäer wegen eines Verbrechens gegen Leib und Leben eines Eingeborenen hingerichtet wurde, wohingegen das Hohe Gericht rasch bereit ist, über einen des gleichen Verbrechens gegenüber einem Weißen beschuldigten Schwarzen das Todesurteil zu verhängen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die Eingeborenen den Status britischer Staatsbürger haben. Das kann angesichts der wachsenden feindseligen Stimmung unter den Siedlern nicht oft genug betont werden.

Chefredakteur Stevenson führte auch kurz vor dem Untergang noch eine spitze Feder, dachte sie anerkennend. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass der Register praktisch bankrott war. »Als Schneiderin erfährt man mehr, als man wissen möchte«, hatte sie ironisch bemerkt, während sie zusammen in der Nähstube saßen und die zahllosen Unterröcke für Miss Mary Kilners Hochzeitsrobe säumten.

Anfang Januar sollten die beiden endlich ein Paar werden. »Ich freue mich so für sie. Stell dir vor: Mr. Moorhouse hat sich extra die Mühe gemacht, hier bei mir vorzusprechen, nur um mich von Jane zu grüßen!«

»Wie geht es ihr?« Des Öfteren hatte Dorothea schon bedauert, dass ihre Freundin so weit nach Norden gezogen war. Sie zweifelte nicht daran, dass das Land, das ihr zugesprochen worden war und das sie nun mit ihrem Tim bewirtschaftete, vom Protector äußerst sorgfältig ausgewählt worden war. Aber hatte es so weit weg sein müssen?

»Mit ihrer Gesundheit steht es nicht zum Besten«, sagte ihre Mutter betrübt. »Sie hat vor ein paar Monaten einem kleinen Mädchen das Leben geschenkt und ist immer noch sehr schwach. Mr. Moorhouse hat durchblicken lassen, dass er wenig Hoffnung hat, dass sie sich wieder völlig erholt. Für harte Feldarbeit ist sie nicht geschaffen. Und dieser Ehemann von ihr scheint ein rechter Taugenichts zu sein.«

»Ob man sie wohl überreden könnte, ihn zu verlassen?«, überlegte Dorothea spontan. Robert hätte vermutlich nichts dagegen, sie aufzunehmen, wenn sie ihn darum bäte. Der Gedanke an die lustige, lebenssprühende Jane machte ihr bewusst, wie sehr ihr eine gleichaltrige Freundin fehlte.

»Ich glaube, Mr. Moorhouse hat das schon getan«, sagte ihre Mutter, ohne den Kopf zu heben. »Aber Jane nimmt ihr Eheversprechen sehr ernst. Bewundernswert, wenn man bedenkt, wie sie aufgewachsen ist. – Nicht so große Stiche, Kind, sonst reißen die Rüschen gleich ab.«

Heute nun würde Ian also zum Abendessen kommen. Dorothea ließ die Zeitung sinken und fixierte verträumt das Spalier an der gegenüberliegenden Wand. Auch er hatte seine Vergangenheit anscheinend abgestreift wie einen alten Mantel. Sie vergegenwärtigte sich seine Erscheinung auf dem Schiff: ein ungelenker, schweigsamer Junge in abgetragenen Sachen. Schweigsam schien er immer noch zu sein, aber seine Kleidung war beste Qualität. Das hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Und ungelenk war er auch nicht. Wie lässig er die schwere Kiste geschultert hatte! Er musste überaus kräftig sein. Vermutlich wurde man das bei einem Leben wie dem, das er geführt hatte.

Ob es eine Frau in seinem Leben gab? Dieser Gedanke versetzte ihr einen leichten Stich. Wie albern! Ärgerlich auf sich selbst faltete sie die Zeitung zusammen und ging in die Küche, um ihrer Mutter bei den Vorbereitungen zu helfen.

Als Ian Rathbone pünktlich um sieben Uhr den Klingelzug an der Haustür betätigte, trug er einen schwarz schimmernden Zylinder, einen Anzug aus feinstem Merinowollstoff und ein sorgfältig gebundenes Halstuch aus schneeweißem Batist. Unter den Gamaschen blitzten blank polierte Abendschuhe, und in den Händen hielt er ein äußerst geschmackvoll gebundenes Bukett aus weißen Rosen und gelben Lilien.

»Meine Güte, hast du dich herausgeputzt, alter Junge«, begrüßte August ihn, während er ihm herzlich die Hand schüttelte. »Du bist ja kaum wiederzuerkennen. Wie Doro das geschafft hat, ist mir ein Rätsel.«

»Vielleicht hat sie auf andere Dinge geachtet als die Kleidung«, erwiderte Ian mit seiner melodischen Stimme und verbeugte sich tief vor seiner Gastgeberin. »Mrs. Schumann, darf ich Ihnen mein tief empfundenes Mitgefühl aussprechen? Leider habe ich erst vor Kurzem von Ihrem Verlust erfahren. Umso mehr weiß ich Ihre freundliche Einladung zu schätzen.« Er überreichte ihr den Blumenstrauß, bevor er sich langsam, fast zögernd Dorothea zuwandte.

»Mrs. Masters? Robert hat in seinem letzten Brief von Ihnen geschwärmt, aber ich wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass du, Verzeihung, … dass Sie es sind.«

»Im Hinblick auf mich übertreibt Robert gerne«, sagte sie äußerlich unbewegt. »Und lass das Mrs. Masters, Ian. Ich bin sicher, Robert würde nicht von uns erwarten, dass wir unsere alte Freundschaft hinter Förmlichkeiten verstecken.« Etwas in ihr drängte sie, auf ihn zuzugehen und ihre Arme um ihn zu schlingen, wie sie es damals beim Abschied getan hatte. Damals hatte er es stocksteif über sich ergehen lassen. Ob er immer noch so reagieren würde? Wie sein Körper sich wohl jetzt anfühlen mochte?

Doch sie unterdrückte den Impuls und streckte die Rechte aus. »Herzlich willkommen. Ich hoffe doch, wir werden uns in nächster Zeit häufiger sehen.« Sein Händedruck fiel recht flüchtig aus. Als scheute er davor zurück, sie zu berühren. Und so schnell wie möglich wandte er sich den übrigen Familienmitgliedern zu.

Die Jungen hatten auf Bitten der Mutter den großen Tisch in den Garten getragen. Die bunten Lampions, die Lischen und Heather dort in den nahen Ästen befestigt hatten, verliehen dem Ganzen einen Hauch von Sommernachtsfest. »Wir haben überlegt, als Vorspeise diesen entsetzlichen Porridge zu kochen, den es immer zum Frühstück gab – weißt du noch? –, aber wir haben uns dann doch lieber für etwas anderes entschieden«, sagte August und grinste breit. »Die Schiffskost war wirklich eine harte Prüfung.«

»Ich fand’s schon gut, dass es dreimal am Tag zu essen gab«, sagte Ian leise und neigte den Kopf über die gefalteten Hände, während Mutter Schumann das Tischgebet sprach. »Im Arbeitshaus war das nicht selbstverständlich.«

»Du warst in einem Arbeitshaus?« Lischen sah ihn aus großen Augen an. »Ist es wirklich so schrecklich dort, wie es heißt?«

»Ich war nicht lange dort, aber ein angenehmer Aufenthalt ist es nicht«, erwiderte Ian erstaunlich gleichmütig. »Bevor die Constabler mich von meinen Leuten wegholten, war ich jedenfalls besser dran, auch wenn ich nicht jeden Tag satt wurde.«

Dorothea erinnerte sich, dass er jeder ihrer Fragen nach seiner Familie stets ausgewichen war. Sie wusste nur, dass er von jemandem im Messerwerfen unterrichtet worden war, einen kleinen Hund namens Bagster besessen hatte und weder lesen noch schreiben gelernt hatte. Plötzlich gaben die Puzzleteile einen Sinn: Die Behörden steckten Zigeunerkinder, die aufgegriffen wurden, manchmal in Arbeitshäuser. Aber Ian Rathbone war kein Zigeunername.

»Was hat dein Vater gearbeitet?«, bohrte Lischen bereits nach, während Dorothea noch darüber nachdachte, wie er zu diesem Namen gekommen war.

»Sei nicht so impertinent!«, sagte Mutter Schumann mit deutlichem Tadel in der Stimme. »Unser Gast muss sich ja vorkommen wie bei einem Verhör. Möchten Sie noch von den grünen Bohnen, Mr. Rathbone?«

»Danke, gern.« Ian wandte den Kopf so, dass er Dorothea direkt ins Gesicht sah. Es kam ihr vor, als spräche er nur zu ihr. »Ich weiß nicht einmal, wer meine Eltern waren. Die einzigen Erinnerungen, die ich habe, sind die an den Gypsie-Clan, bei dem ich aufwuchs.«

»Wie aufregend«, hauchte Lischen. »Kannst du Feuer spucken?«

Die Anspannung wich aus seinem Gesicht, als er in herzhaftes Gelächter ausbrach. Fasziniert beobachtete Dorothea die Veränderung an ihm: Alles Düstere war von ihm abgefallen. Geradezu kindlich wirkte er in seiner ungehemmten Fröhlichkeit. »Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen«, sagte er. »Solche Künste beherrschen nur die besten unter den Gauklern.«

»Dafür warst du ein wahrer Meister mit dem Wurfmesser«, warf August ein, lehnte sich zurück und musterte ihn nachdenklich. »Ian hat auf zwölf Yards das As einer Spielkarte getroffen!« Er grinste spitzbübisch. »Das hat Doro nie geschafft.«

»Inzwischen schafft sie es.« Heathers Feststellung sorgte für verblüfftes Schweigen in der Runde.

»Du hast mir nachspioniert!« Dorotheas Ausruf war halb Frage, halb Anklage. Heather nickte ungerührt. »Sam auch. Wir wollten sehen, was du hinter den Ställen zu schaffen hast. Sam meinte, es sei zwar nicht das Richtige für eine Lady, aber wir sollten es für uns behalten.«

»Sam auch? Das wird ja immer schöner!« Dorothea war peinlich berührt, dass der Stallknecht ihre anfänglich keineswegs bühnenreifen Übungsstunden verfolgt hatte. Wahrscheinlich hatte er sich im Stillen köstlich amüsiert.

»Du hast wirklich noch mein altes Messer? Ich hätte nicht gedacht, dass du es so lange aufheben würdest.« Ian klang überrascht. »Und noch weniger, dass du in Übung bleiben würdest.«

»Sonst hätte es ja wohl wenig Sinn«, gab Dorothea eine Spur patzig zurück. »Schließlich hast du mir doch eindringlich geraten, mein Handgelenk geschmeidig zu halten.«

»Ja, aber ich hätte nicht erwartet, dass du meinen Rat auch befolgst«, sagte er und schmunzelte. »Ich dachte, du würdest es zu deinen Taschentüchern legen, und irgendwann würde es als Brieföffner enden.«

Dorothea musste lachen. »Ich habe es tatsächlich zu meinen Taschentüchern gelegt. Aber als Brieföffner habe ich es nie benutzt.« Sie sah ihn an. »War es eigentlich schwierig für dich, dir ein neues zu beschaffen? Dort, wo du damals hingingst?«

»Es dauerte nur ein bisschen«, sagte Ian ausweichend.

»Komm schon, heraus mit der Sprache: Wie ist es dir dort im Norden ergangen bei diesem deinem Viehzüchter?« August stützte die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »So, wie du aussiehst, würde ich sagen: Du hast dein Glück gemacht. Stimmt’s?«

»Man kann es wohl so sagen«, erwiderte Ian bedächtig.

»Na los, Mann, lass dir nicht alle Würmer einzeln aus der Nase ziehen! Merkst du nicht, wie neugierig wir alle sind?«

Ehrlich erstaunt sah Ian von einem zum anderen. »Ihr interessiert euch wirklich dafür?«

»Natürlich«, bestätigte Dorothea, reichte ihm eine gefüllte Teetasse und nickte ihm zu. »Und sei gewarnt: Wir erwarten einige aufregende Geschichten von dir!«

Ian sah sie unsicher an, ehe er anfangs stockend, dann immer lebhafter von seinem Leben als Viehhirte erzählte. Der Besitz des Viehzüchters lag am Darling River, nahe der Route, auf der die Herden von der Ostküste nach Südaustralien getrieben wurden. Auf dieser abgelegenen Station mitten im Busch ging es ziemlich rau zu. Meist teilten sich zwei Männer die Verantwortung für eine Schafherde: Einer begleitete sie tagsüber zu den Weideplätzen und passte auf, dass sich dort nicht etwa ein hungriger Dingo oder Aborigine an ihnen vergriff; der andere hielt nachts Wache an der Koppel, in welche die Tiere bei Einbruch der Dunkelheit getrieben wurden. Die Schutzhütte für die Hirten diente auch gleichzeitig als Unterstand für Mutterschafe und Lämmer, die zu schwach oder kränklich waren, um frei laufen zu dürfen. »Manchmal war es ziemlich eng«, bemerkte Ian trocken. »Und einmal bin ich davon aufgewacht, dass eines der Lämmer verzweifelt an meinen Zehen saugte. Aber wenigstens fror man auf die Art nicht.«

Die harte, einsame Arbeit wurde bloß unterbrochen von den Wochen der Schafschur und wenn der Monatslohn ausgezahlt wurde. Die meisten Männer gaben ihn sofort für Tabak und Branntwein aus. Beides verkaufte ihnen der Viehzüchter gerne aus seinen Vorräten. Auf diese Art floss der größte Teil der Lohngelder sofort wieder in seine Taschen zurück.

Ian selbst rauchte und trank nicht, sondern sparte eisern für seine Freiheit. Allerdings scheiterte seine ursprüngliche Idee, sich vom Kontrakt freizukaufen und nach Adelaide zurückzukehren, am Widerstand seines Arbeitgebers, der sich weigerte, einen seiner zuverlässigsten Männer gehen zu lassen. Von Ians Geld hätte er weniger als von seiner Arbeit, erklärte er dem Jungen unverblümt. Also müsse er die vollen fünf Jahre ableisten.

»Ich überlegte schon ernsthaft, einfach zu verschwinden«, gestand Ian mit schiefem Lächeln. »Nur der Gedanke, dass ich dann vermutlich steckbrieflich gesucht werden würde und niemals einen Fuß in die Stadt setzen könnte, hielt mich zurück.«

»Was für ein ekelhafter Mensch!«, rief Mutter Schumann empört aus. »Aber irgendwie haben Sie es ja wohl doch geschafft. Sonst wären Sie nicht hier.«

»Das verdanke ich Robert. Robert Masters wurde auf mich aufmerksam, als wir uns beim Wollhändler in Port Adelaide über den Weg liefen. Wir kamen ins Gespräch, und er bot mir eine Teilhaberschaft für einen Viehtrieb an. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, Mr. Higgins zu überreden – aber am nächsten Tag drückte er mir meine Kontraktauflösung in die Hand, und ehe ich es mich versah, war ich auf dem Schiff nach Sydney. Dort übernahm ich die Herde und brachte sie über die Südroute nach Wellington.« Er lehnte sich zurück und sah mit offenem Stolz in die Runde. »Wir haben kein einziges Stück Vieh verloren auf dem Treck!«

Mit einem kurzen Seitenblick streifte er Koar, ehe er fortfuhr: »Dass wir von Überfällen verschont blieben, soll auf die Coorong-Strafexpedition zurückzuführen sein, sagte man mir. Aber es war wirklich seltsam: Obwohl ich während der ganzen Zeit das Gefühl nicht loswurde, beobachtet zu werden, haben wir nicht einen einzigen Eingeborenen zu Gesicht bekommen. O’Halloran scheint ihnen wirklich Respekt eingebläut zu haben.«

»Da konntet ihr von Glück sagen! In der Stadt gehen Gerüchte um, dass es unter den Stämmen am Great Murray River gewaltig gären soll. Angeblich soll ein Zauberer dahinterstecken.« August lächelte herablassend. »Ein Zauberer! Was für ein Hokuspokus!«

»Ein Zauberer ist ein überaus gefährlicher Mann«, widersprach Koar ihm leise, jedoch umso entschiedener. »Selbst die stärksten Jäger fürchten sie, weil sie einen aus der Ferne töten können.«

Da er die ganze Zeit geschwiegen hatte, wie er es immer tat, wenn Fremde anwesend waren, sahen ihn alle erstaunt an. »Wirklich?«, sagte August etwas unsicher. »Ich dachte immer, eure Zauberer wären so eine Art männliche Kräuterhexen.«

»Weil du nie richtig zuhörst, wenn es um andere Dinge als Steine und Dreck geht«, murmelte Karl und sah Koar auffordernd an. »Erzähl ihm, was ein Zauberer alles kann!«

»Das würde mich auch interessieren.« Ian betrachtete Koar aufmerksam. »Du kennst dich damit aus?«

»Ich war sozusagen schon Zauberlehrling – um es in eurer Sprache auszudrücken«, erwiderte Koar. »Mein Großvater, der große Tenberry, hat mich so gut es ging unterrichtet. Leider starb er, als ich noch recht klein war.«

»Aber du weißt, was ein Zauberer so tut?«, fragte Ian.

Koar zuckte mit den Schultern. »Es gibt verschiedene Zauberer. Alle kennen sie die Mythen und Geschichten der Regenbogenzeit. Sie können Kontakt zu den Ahnengeistern aufnehmen. Und sie befragen Verstorbene, wer ihren Tod verursacht hat, damit der Mörder bestraft werden kann. Sie heilen schwere Krankheiten, die von bösen Geistern verursacht wurden. Aber sie können ihre Macht auch einsetzen, um anderen zu schaden.« Koar verstummte.

»Wie beispielsweise, sie aus der Ferne zu töten?« Ian runzelte die Stirn. »Funktioniert das wirklich?«

»Ja«, sagte Koar lakonisch.

»Und wie? Benutzen sie dazu magische Beschwörungsformeln oder so etwas?«

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Tenberry meinte, das sei ein Missbrauch der Gabe. Sie sei ein Geschenk der Ahnengeister, dazu bestimmt, den Menschen zu helfen, nicht, ihnen zu schaden. Deswegen hat er auch nie den höchsten Grad angestrebt.« Es schien Koar zu widerstreben weiterzusprechen.

»Jetzt hast du uns so neugierig gemacht, jetzt musst du uns den Rest auch noch verraten«, drängte August ihn. »Was hat es für eine Bewandtnis mit dem höchsten Grad?«

»Ein solcher Zauberer kann Menschen allein kraft seines Willens töten«, sagte Koar. »Aber um diese Kraft freizusetzen, muss er Menschenfleisch essen.«

Es folgte ein entsetztes Schweigen, in dem man eine Nähnadel hätte zu Boden fallen hören.

»Das ist ja grauenhaft«, hauchte schließlich Mutter Schumann und warf einen besorgten Blick auf die beiden Mädchen, die Koar mit aufgerissenen Augen anstarrten. »Tun sie das immer noch? Ich meine, das haben sie vielleicht früher getan, aber doch nicht heute!« Es klang geradezu beschwörend. »So etwas würde der Gouverneur doch sicher strengstens verbieten.«

Koar schwieg verlegen. Man sah ihm an, dass er es bereute, sein Wissen preisgegeben zu haben. Also entschied Dorothea, ihn erst später wegen des Skelettmanns zu fragen. Dieses Familiendinner war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. »Mutter erzählte mir, dass du gerne Medizin studieren würdest, Koar«, sagte sie in dem Versuch, das Gesprächsthema zu wechseln. »Hat dich Mr. Moorhouse auf den Gedanken gebracht?« Der Protector hatte in England als Landarzt praktiziert, ehe er seinen Posten hier angenommen hatte.

Karl kam Koar mit einer Antwort zuvor und erzählte von dem Anatomiebuch, anhand dessen er die Körperproportionen hatte üben wollen. Koar hingegen war weniger an den Proportionen als an den Funktionen interessiert. Karls Kenntnisse hierüber waren äußerst beschränkt. Also hatte er dem Freund, halb im Scherz, geraten, bei Dr. Woodforde vorzusprechen und ihn um entsprechende Lehrbücher zu bitten. Und der alte Herr war nur zu gerne bereit gewesen, dem jungen Aborigine im Austausch gegen seine Kenntnisse der einheimischen Heilkräuter medizinische Werke auszuleihen. »In der Lateinklasse ist Koar inzwischen unter den Besten«, berichtete Karl stolz. »Und Dr. Woodforde hat neulich angeboten, ihm Empfehlungsschreiben für all seine alten Bekannten in London mitzugeben. Wir müssen nur noch einen Gönner finden, der bereit ist, für das Studium aufzukommen.«

Ganz so einfach, wie Karl es sich vorstellte, würde es nicht werden. Obwohl Dorothea keine Ahnung von den Gepflogenheiten der Universitäten hatte, bezweifelte sie doch, dass die ehrwürdige Londoner Fakultät ohne größere Umstände einen Aborigine als Studenten annehmen würde. Aber vielleicht gab es andere Möglichkeiten. Sie würde Robert um Rat fragen.

»Würden Sie mich auch Messerwerfen lehren, Mr. Rathbone?« Heathers atemlos hervorgestoßene Frage ließ alle verblüfft aufhorchen.

»Sicher. Wenn deine Mutter, ich meine Dorothy, nichts dagegen einzuwenden hat.« Ian wirkte im Gegensatz zu allen Übrigen nicht im Geringsten irritiert. Im Gegenteil: Er schien die ungewöhnliche Bitte für ein ganz normales Anliegen zu halten.

»Ich auch!« Ehe Dorothea etwas hatte äußern können, war ihre kleine Schwester bereits damit herausgeplatzt. Lischen sah ihre Mutter bittend an. »Bitte, Mama, erlaube es! Wenn Doro und Heather es tun, will ich es auch.«

»Es ist nicht gerade ein passender Zeitvertreib für junge, wohlerzogene Damen«, sagte Mutter Schumann streng. »Und ich bin fast sicher, dass Mr. Masters es ebenfalls missbilligen würde.«

»Er muss es ja nicht wissen.« Heather warf ihrer Stiefmutter einen verschlagenen Blick zu. »Wenn du es vor ihm geheim halten kannst, kann ich es auch. Zu zweit ist es leichter, ein Geheimnis zu bewahren.« Dorothea war mit ihrer Stieftochter inzwischen vertraut genug, um die versteckte Drohung als solche zu erkennen. Dieses kleine Biest!

»Messerwerfen ist doch nichts für kleine Mädchen. Bleibt lieber bei euren Puppen und Stickübungen.« August lächelte gönnerhaft, und dieses Lächeln voll männlicher Herablassung gab den Ausschlag zu einem plötzlichen Sinneswandel: Eben noch hatte Dorothea trotz der versuchten Erpressung ihrer Mutter recht geben wollen, jetzt hörte sie sich sagen: »Man weiß doch nie, was einem in der Wildnis nützlich sein kann. Ich denke nicht, dass Robert etwas dagegen haben würde, solange wir nicht in aller Öffentlichkeit damit hausieren gehen.« Sie wandte sich an Ian: »Vielleicht könnten wir im Garten üben.«

»Nein, das kommt nicht infrage.« Mutter Schumanns Stimme verriet jedem, der sie kannte, dass es keinen Sinn hätte, sie umstimmen zu wollen. »Nicht in meinen vier Wänden! Das wäre ja noch schöner, dass man hier im Haus nicht mehr seines Lebens sicher ist.«

»Mrs. Schumann hat vollkommen recht«, sagte Ian eilig und deutete eine kleine Verneigung an. »Es wäre nicht passend. Aber was hielten Sie davon, wenn ich die jungen Damen und Mrs. Masters zu einem Picknick einlüde? Im Busch könnten wir völlig ohne Gefahr für jeden Unbeteiligten ein wenig üben, und dabei dürfte sich die Begeisterung für diese Betätigung dann schnell verflüchtigen.« Er lächelte übermütig in die Runde. »Vielleicht möchten sich uns ja noch mehr Teilnehmer anschließen?«

August und die Jungen lehnten dankend ab. Mutter Schumann erklärte, momentan wirklich keine Zeit erübrigen zu können. »Aber ein Ausflug wäre sicher eine nette Abwechslung für die Mädchen. Wenn es nicht zu anstrengend wird …« Sie sprach nicht weiter, aber alle außer Ian wussten auch so, was sie meinte.

»Bist du nicht ein bisschen überängstlich, Mama?«, sagte Dorothea eilig und versuchte, den Ärger zu ignorieren, der in ihr aufstieg. Wie lange denn noch würden sie alle als Invalidin behandeln? »Ian wird schon auf uns achtgeben. Nicht wahr, Ian?«

»Ja«, erwiderte er schlicht, wobei es ihm Mühe zu bereiten schien, ihrem Blick standzuhalten.

Einige Tage später hielt ein schicker modischer Gig, gezogen von einem lebhaften Braunen, vor der Tür.

»Er ist da, er ist da!« Lischen und Heather, die aus dem vorderen Schaufenster gespäht hatten, kamen in die Küche gerannt, wo Dorothea und ihre Mutter damit beschäftigt waren, den Picknickkorb zu packen.

»Lauft schon vor und sagt ihm, ich wäre gleich so weit«, sagte Dorothea und spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Wieso war sie so nervös? Mit fahrigen Fingern zupfte sie noch ein letztes Mal den kecken Strohhut zurecht, den sie am Tag zuvor bei der neuen Modistin um die Ecke erstanden hatte, ehe sie den Henkelkorb aufnahm und sich rasch von ihrer Mutter verabschiedete. »Bis heute Abend, Mama.«

Ian hatte das Pferd am Terrassengeländer festgebunden und war gerade damit beschäftigt, den beiden Mädchen in den Wagen zu helfen, als er sie kommen hörte. Eilig drehte er sich um. In legerer Kleidung sah er beinahe noch besser aus als im Abendanzug. Der Buschläuferhut und die derben Drillichhosen verliehen ihm das Aussehen eines Abenteurers. Um der Formlosigkeit die Krone aufzusetzen, hatte er auch auf ein Halstuch verzichtet, und so blieb im Ausschnitt des Hemds aus kariertem Cambraystoff ein Teil seiner gebräunten Brust sichtbar. Dorotheas Augen hingen wie gebannt an diesem Flecken Haut.

»Entschuldige, ich habe gedacht, für einen Ausflug in den Busch muss ich meine guten Sachen nicht einstauben lassen«, sagte er, während er leicht errötete. »Aber wir können am Gasthaus halten, und ich kleide mich schnell um.«

»Ach, Unsinn«, wehrte sie ab und drückte ihm den Korb in die Hand. »Ich werde es sicher bereuen, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, meine neue Garderobe auszuführen. Deine Kleidung dürfte sehr viel passender für den Anlass sein.«

Tatsächlich hatte sie sich große Mühe gegeben, modisch auf dem neuesten Stand zu sein. Ihr Kleid aus narzissengelbem Batist mit moosgrünen Falbeln hatte sie noch in der Nacht fertig gesäumt. Dazu trug sie Knöpfstiefel aus feinem Veloursleder, eine leichte Samtpelerine und eben den Strohhut mit der schmalen, gebogenen Schute, von dem die Modistin versichert hatte, er wäre dernier cri in Paris.

Ians bewundernder Blick, als er sie auf den Bock hob, sagte ihr, dass es sich gelohnt hatte.

»Wo fahren wir hin?«, erkundigte sie sich, während er den Wagen geschickt die King William Street entlanglenkte.

»Ich habe mir sagen lassen, es gibt auf dem Weg nach Glenelg einen Ort, der früher ein Heiligtum der Eingeborenen gewesen sein soll. Dort gibt es nicht nur eine ganze Reihe Quellen, sondern auch Felsen voller geheimnisvoller Zeichen, und man kann seltsam bemalte Steine und Kiesel finden.« Seine Zähne blitzten, als er leise, damit die Mädchen auf dem Rücksitz ihn nicht hören konnten, hinzufügte: »Das wird sie beschäftigen, wenn sie merken, dass Messerwerfen zu üben eine recht langweilige Angelegenheit ist.«

Es versprach ein perfekter Tag zu werden: Die Sonne schien von einem azurblauen Himmel, ein leichter Wind vom Meer her hielt die Temperatur angenehm – Dorothea fühlte sich auf einmal wieder so jung und übermütig wie damals auf dem Schiff, als die Zukunft voller Versprechungen gewesen war. Vielleicht lag es an Ians Gegenwart, dass sie sich wie ein Fohlen auf der Frühjahrsweide vorkam. Er erwartete nicht von ihr, dass sie sich vernünftig und erwachsen benahm – er nahm sie hin, wie sie war. Sie musste bei ihm keine Rolle spielen.

»Weißt du noch, die unanständigen Lieder, die die Matrosen auf dem Schiff immer sangen?« Und schon stimmte sie eines davon an. Wann immer sie stockte, weil sie den Text vergessen hatte, fiel Ian mit seiner klangvollen Stimme ein. »Du kannst sie ja doch alle auswendig«, sagte sie vorwurfsvoll, als er zum wiederholten Male soufflierte. »Warum hast du immer so getan, als kenntest du sie nicht?«

»Ich hatte Angst, wenn es herauskäme, würde deine Mutter dir den Umgang mit mir verbieten«, sagte Ian schlicht. »Ich wusste ja, dass ihr eine Missionarsfamilie seid. Und kirchliche Leute sind da verflixt eigen.«

»Du hättest auch einfach sagen können, dass ich meiner Mutter nichts davon erzählen sollte«, widersprach Dorothea und dachte unwillkürlich an ihre Stieftochter, die keinerlei Hemmungen hatte, mit solchen kleinen Tricks zu arbeiten.

»Das hätte ich wohl.« Mehr äußerte er nicht dazu, sondern zeigte mit der Peitsche auf ein paar Kängurus, die neugierig zu ihnen herüberspähten. »Seht ihr, Kinder, sie haben alle Junge im Beutel!«

Während Lischen vor Begeisterung über das malerische Bild fast außer sich geriet, blieb Heather stumm. Dorothea fragte sich, ob sie ebenfalls an den grausigen Fund auf dem Latrinenbrett denken musste, den sie beide in jener denkwürdigen Nacht gemacht hatten. Um sich und Heather abzulenken, schlug sie rasch das Spiel vor: »Ich sehe was, was du nicht siehst.« Und tatsächlich quiekten bald beide Mädchen vor Vergnügen, wenn die Erwachsenen einfach nicht auf den zu ratenden Gegenstand kommen wollten.

Und es gab viel zu raten in dieser abwechslungsreichen Landschaft. Die Parklands in der Umgebung von Adelaide trugen ihren Namen zu Recht: Kein Gartenarchitekt hätte sie geschickter planen können, als sie von Natur aus gewachsen waren. Wie zufällig angeordnete Baumgruppen wechselten sich ab mit lichten Waldungen und blumenübersäten Wiesen. Hier und da stiegen kreischende Kakaduschwärme gen Himmel, von einer Schlange oder einem kleinen Raubtier aufgescheucht. Die bunten Vögel sahen aus wie eine Wolke aus Blütenblättern, die der Wind aufwirbelte.

Selbst das Kutschpferd schien die Fahrt zu genießen, jedenfalls brauchte Ian es nicht ein einziges Mal mit der Peitsche anzutreiben. Nach etwa zwei Stunden sah er sich um. »Hier muss es sein«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Ah ja, dahinten.« Und schon lenkte er das Pferd zwischen zwei markanten Eukalyptusbäumen hindurch. »Da ist es«, verkündete er und wies auf einen auffallend geformten Hügel, der sich in etwa zwei Kilometer Entfernung mitten im Mallee aus dem kniehohen Gestrüpp erhob.

»Das da soll ein Heiligtum der Eingeborenen sein?« Abgrundtiefe Enttäuschung sprach aus Lischens Stimme. »Sie haben doch gesagt, es gäbe Quellen und Felsbilder dort. Aber ich sehe nichts in der Art.«

»Abwarten«, empfahl Ian gut gelaunt. »Manches erschließt sich erst auf den zweiten Blick.«

»Ich glaube, da ist so etwas wie ein Fels«, rief Heather und reckte den Hals. »Dort, hinter dem Busch mit den roten Blüten.«

Dorothea kniff die Augen zusammen. Tatsächlich: Zwischen den locker belaubten Zweigen schimmerte hellgrauer Stein. Als sie näher kamen, wurde immer deutlicher, dass der Hügel nicht einfach nur ein Hügel war. Dafür war seine Form zu regelmäßig. Menschenhände hatten vorstehende Kanten begradigt, Lücken aufgefüllt und Felsvorsprünge abgeschlagen. Auf einer glatten, senkrecht stehenden Felsplatte konnte sie fremdartige Figuren in Rot, Weiß und Gelb erkennen.

Rund um den Hügel war alles Gras säuberlich niedergebrannt worden, sodass er von einem schwarzen Ring umgeben war. In der dunklen Asche erkannte man deutlich die Abdrücke nackter Füße. Unwillkürlich überlief Dorothea ein Schauer des Unbehagens, und sie musterte die Umgebung auf Anzeichen von Eingeborenen. Die Vorstellung, plötzlich von einem Haufen finster blickender Schwarzer mit Speeren und Keulen umzingelt zu werden, verursachte ihr eine Gänsehaut. Dass weit und breit keiner zu sehen war, besagte wenig. Hatte Robert nicht erzählt, sie könnten sich so gut wie unsichtbar machen?

»Was ist mit dir? Du bist auf einmal so blass.«

Ians besorgte Stimme riss sie aus ihren Überlegungen. Sollte sie ihre Bedenken mit ihm teilen? Nein, entschied sie rasch. Er musste ja denken, sie sei hysterisch. Also zwang sie sich zu einem Lächeln und sagte betont munter: »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur ordentlich Hunger. Ihr nicht?«

Kaum waren sie abgestiegen, als die Mädchen auch schon losliefen, den seltsamen Platz zu erkunden. »Ich hoffe, die hiesigen Eingeborenen werden keinen Anstoß daran nehmen, dass wir hier picknicken«, bemerkte sie, während sie den beiden nachsah, unschlüssig, ob sie sie zurückrufen sollte. »Bist du sicher, dass es ungefährlich ist, hier herumzustreifen?«

»Sonst hätte ich euch wohl kaum hierhergebracht«, gab er eine Spur ungehalten zurück. »Denkst du, ich würde euch leichtsinnig einer Gefahr aussetzen?« Über einem Arm den Stapel Decken, über dem anderen den Henkelkorb, stapfte er ihr voraus zu einer etwas abseits liegenden Baumgruppe, wo das Gras noch frisch und grün war. »Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, dass Robert mir den Kopf abreißen würde, wenn euch etwas zustieße, und ich kann dir versichern: Ich bin nicht lebensmüde!« Ian stellte den Korb ab und machte sich daran, die Decken auszubreiten.

»Entschuldige«, sagte Dorothea kleinlaut. »Ich muss dir schrecklich kleinmütig vorkommen. Es ist nur so, dass sie mir seit einiger Zeit unheimlich sind. Besonders einer bei uns draußen …«

»Hast du deswegen wieder begonnen, mit dem Messer zu werfen?«, fragte Ian hellsichtig.

Dorothea nickte und spielte mit der Seidentroddel am Griff ihres Sonnenschirms, um ihn nicht ansehen zu müssen. »Ich wollte mich notfalls verteidigen können«, sagte sie. »Und Heather geht es ähnlich. Dieser Kerl ängstigt sie zu Tode, indem er nachts ums Haus schleicht.« Sie schauderte. »Du hättest ihn sehen sollen: angemalt wie ein Skelett. Ein wirklich furchterregender Anblick!«

»Was für eine Frechheit! – Ich verstehe nur nicht, wieso Robert ihm nicht eine Ladung Schrot hinterherjagt oder wenigstens eine tüchtige Tracht Prügel verpasst.« Ian schüttelte verständnislos den Kopf. »Alle Stationsbesitzer tun das mit gutem Erfolg. Wenn die Kerle erst einmal zur Räson gebracht worden sind, ist ganz schnell Ruhe.«

»Meistens ist Robert nicht auf Eden-House, wenn er sich zeigt«, erklärte Dorothea. »Er scheint zu wissen, wann es gefahrlos möglich ist und wann nicht.«

Ian runzelte finster die Brauen. »Dem Kerl würde ich zu gerne einmal begegnen!« Er ballte die Hände zu Fäusten und genoss sichtlich die Vorstellung eines Zweikampfs.

Dorothea schwankte gerade, ob sie ihm auch von dem zerfetzten Wallabyjungen und dem seltsamen Schlangentanz erzählen sollte, als die Mädchen, die den Hügel umrundet hatten, wieder zu ihnen stießen. Ein andermal, dachte sie.

»Schaut mal, was wir gefunden haben!« Lischen schwenkte einen Stecken mit einem Puff aus flauschigen Schwanenfedern. »Ist das nicht hübsch? Ich denke, ich werde es Mama mitbringen.«

»Es gibt noch viel mehr davon an der Stelle«, sagte Heather herablassend. »Aber ich fand Staubwedel nicht so interessant.«

Dorothea betrachtete den Gegenstand genauer. Er erinnerte sie an die Büschel, welche die Tänzer bei dem palti im Garten des Gouverneurs auf dem Kopf getragen hatten. »Ich weiß nicht, ob du das einfach mitnehmen solltest«, sagte sie zweifelnd. »Er sieht nicht so aus, als ob er schon länger hier gelegen hätte. Vielleicht hat er eine besondere Bedeutung. Bring ihn lieber wieder zurück.«

Der Picknickkorb enthielt außer gebratenen Hühnerbeinen, Butterbroten und frischem Obst auch zwei Flaschen Limonade. Während sie die vorsichtig in die mitgebrachten Steingutbecher goss, war Dorothea sich nur zu bewusst, dass Ians Augen an ihr hingen. »Schade, dass Koar nicht mitgekommen ist. Er hätte uns sicher sagen können, was diese Dinge zu bedeuten haben«, bemerkte sie leichthin, um ihre Befangenheit zu überspielen. »Ich bin schon sehr gespannt, was wir hier noch zu sehen bekommen.«

Da auch die Mädchen begierig waren, ihre Erkundungen wieder aufzunehmen, war das Picknick nur von kurzer Dauer. Kaum waren die Hühnerbeine abgenagt, die Butterbrote verspeist, stürmten Lischen und Heather schon wieder los. Dorothea und Ian folgten gemächlicher. »Was für eine seltsame Art zu zeichnen«, entfuhr es ihr, sobald sie vor dem ersten Felsbild standen. Man erkannte ohne jede Schwierigkeit ein Opossum, ein Känguru, einen Emu und ein Wombat. Die Umrisse waren mit sicherer Strichführung in gelbem Ocker auf den Stein gemalt worden. Was verwirrte, waren die Striche, Punkte und Spiralen, mit denen die Figuren ausgemalt worden waren. »Es sieht fast so aus, als sehe man die Eingeweide und Knochen im Inneren der Tiere. Das da zum Beispiel …« Mit dem Zeigefinger fuhr sie die braunroten Schlingen nach, die sich vom Kopf bis zum Schwanz eines Baumopossums wanden wie ein mäandernder Wasserlauf. »Man denkt sofort an die Kaldaunen.«

»Hier scheinen sie einen Menschen gemalt zu haben.« Ian war schon vorausgeschlendert und stand nun vor einem weiteren glatten Felsen. »So etwas habe ich schon einmal gesehen.« Er runzelte die Stirn und starrte angestrengt auf die Zeichnung in weißer Farbe. »Jetzt hab ich’s! Das sind fast genau die Muster, die ich auf den Maraura gesehen habe, als sie uns überfielen.«

Kaum hatte Dorothea einen Blick auf die Malerei geworfen, als sie spürte, wie ihr Atem stockte und die Härchen in ihrem Nacken sich sträubten. Das war er: der Skelettmann von Eden-House!

Er war geradezu unheimlich gut getroffen: als würde er jeden Moment aus dem Felsen heraustreten. Abgestoßen und zugleich fasziniert hing Dorotheas Blick an seinem Konterfei. In der Nacht hatte sie ihn nur undeutlich sehen können, jetzt, im hellen Licht der Mittagssonne, war jede Einzelheit klar zu erkennen. Und trotz der lieblichen Umgebung ging von dem Bild etwas seltsam Bedrohliches aus. Es schien sie aus dunklen Augenhöhlen anzustarren, ihr eine Botschaft vermitteln zu wollen. Hinter dieser Figur steckte mehr als nur ein skurril bemalter Eingeborener.

»Was hat er da eigentlich in der linken Hand? Es sieht fast aus, als wären das Menschenköpfe …« Ians Stimme riss sie aus ihrer Erstarrung. »Und in der rechten – ist das ein Kängurubein oder ein waddy?« Dorothea löste sich mit einiger Anstrengung aus der hypnotischen Anziehungskraft des gespenstischen Totenschädels. Tatsächlich war das, was er in Händen trug, nicht weniger grausig als seine Erscheinung. Die Köpfe waren in ihrer plastischen Darstellung grauenhaft naturgetreu: Die eingetrockneten Augenhöhlen hatten sich zu Schlitzen verengt, dafür hingen die Unterkiefer schlaff herunter und vermittelten dadurch den Eindruck, als seien die Münder zu schrecklichen Schreien aufgerissen. Und was Ian anscheinend nicht aufgefallen war: Die Köpfe waren alle weiß.

»Komm weiter, das ist wirklich kein schöner Anblick«, sagte Ian im gleichen Moment. »Manchmal muss man sich schon wundern, was in diesen Traumgeschichten von ihnen alles an Scheußlichkeiten vorkommt.«

Die übrigen Felsbilder zeigten ausnahmslos Tiere der Umgebung, keine Menschen. Dennoch spürte Dorothea ein wachsendes Unbehagen. Sie mochte diesen Ort nicht. Etwas an ihm verursachte ihr Gänsehaut. War es das Felsbild des Skelettmanns? Die frische, von Fußspuren durchzogene Asche? Am liebsten wäre sie schleunigst nach Adelaide zurückgekehrt.

Aber das hätte zu empörten Protesten geführt. Heather und Lischen hatten den Hügel mehrfach umrundet und dabei in versteckten Felsnischen einiges gefunden: besonders schöne Schneckenhäuser und Muschelschalen, fein gewirkte Körbchen aus Gras, geheimnisvoll bemalte Kiesel und Flintsteine. Die von Heather als »Staubwedel« bezeichneten Federbüsche hatten rund um eine frische Feuerstelle am westlichen Ende gelegen.

»Vermutlich haben sie hier vor Kurzem ein palti abgehalten«, vermutete Ian und warf einen gleichgültigen Blick auf den grau-weißen Aschekegel. Ein plötzlicher Windstoß blies eine Staubwolke auf und legte etwas frei, das seine Aufmerksamkeit erregte. »Was ist denn das?« Er kniff die Augen zusammen und ging in die Hocke, um vorsichtig nach dem verkohlten Gegenstand zu greifen. Alle vier sahen verblüfft auf das dicke, schwarze Buch mit den vom Feuer angefressenen Ecken. Als Ian es vorsichtig aufschlug, sah man, dass die Flammen es nur äußerlich versengt hatten – die Seiten waren zwar an den Rändern bräunlich verfärbt, aber noch einwandfrei lesbar. »Es ist eine Bibel«, stellte Ian verwundert fest. »Warum zum Teufel verbrennen sie eine Bibel?«

Diese Frage ließ Dorothea nicht mehr los. Sie hatten sie in Blätter eingeschlagen und in den Picknickkorb gelegt. In Adelaide würden sie sie Mr. Moorhouse bringen. Er sollte entscheiden, ob und was er gegen diese Blasphemie unternehmen wollte. Die heitere Stimmung des Morgens war irgendwie verflogen, aber als hätten sie sich darauf verständigt, es nicht wahrhaben zu wollen, agierten sie alle mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit, die Dorothea an das Verhalten bei einem Kranken erinnerte, dem man Zuversicht vorspielt, wo in Wahrheit keine Hoffnung mehr besteht.