12

Als Dorothea die Augen wieder aufschlug, sah sie als Erstes in die Gesichter von Lady Chatwick und Mrs. Perkins. »Sie kommt zu sich«, bemerkte Lady Chatwick überflüssigerweise und schenkte ein Glas Wein ein. »Hier, Liebes. Ein gutes Schlückchen ist nie verkehrt, um wieder zu Kräften zu kommen.«

Mrs. Perkins sagte nichts, kniff nur die Lippen zusammen und schob das gefüllte Glas mit einer Entschiedenheit beiseite, dass es fast übergeschwappt wäre.

»Wenn Sie uns einen Moment allein lassen würden, Lady Chatwick, damit ich mich um Madam kümmern kann!« Es war weniger eine Bitte als ein Befehl, und die ältere Dame beeilte sich, ihn zu befolgen.

Die resoluten Köchinnenhände waren überraschend geschickt beim Wechsel der Vorlagen. »Nur gut, dass Madam jung und gesund sind«, bemerkte sie mit gerunzelter Stirn, ohne Dorothea anzusehen. »Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber was haben Sie eigentlich mitten in der Nacht draußen zu schaffen gehabt?«

»Ich wollte Heather beweisen, dass ihre Angst vor diesem bösen Mann unbegründet ist.«

»Indem Sie mitten in der Nacht mit ihr draußen herumspazieren?« Mrs. Perkins sah auf und schüttelte über so viel Unvernunft den Kopf. »Madam, die Wilden mögen ja nachts keine Gefahr sein, aber flüchtige Sträflinge kommen immer wieder über die Grenze zu uns herüber.

Bisher haben sie sich zwar in unserer Gegend nicht blicken lassen, aber nur um der Kleinen ihre fixe Idee auszutreiben …«

»So war es nicht.« Dorothea fühlte sich gedrängt, sich zu rechtfertigen. »Heather hatte mich geweckt, weil sie glaubte, etwas gesehen zu haben. Wir sind dann nachschauen gegangen. – Hat man eigentlich dieses grässliche Gemetzel vor dem Latrinensitz entfernt?«

»Welches Gemetzel?« Mrs. Perkins sah Dorothea entgeistert an.

»Das zerfetzte Wallaby-Junge.«

»Da war nichts, Madam. Trixie hätte es mir gesagt, wenn sie dort etwas so Scheußliches gefunden hätte.«

Dort war nichts? Nur zu deutlich erinnerte sie sich an den schaurigen Anblick. Wenn sie die Lider schloss, erstand jede Einzelheit davon vor ihrem inneren Auge.

»Hat Heather nichts von dem erzählt, was vorher geschehen ist? Sie hat ja wohl Alarm geschlagen. Sonst hätte man mich nicht gesucht.«

Mrs. Perkins nickte grimmig. »Aufgeführt hat sie sich wie eine Irre! Hat immerzu geschrien, dass der böse Mann Ihnen etwas antun wollte. Zuerst dachte ich ja, es wäre der Vollmond.« Etwas wie Verlegenheit zeichnete sich auf ihren Zügen ab. »Ich habe es nicht ernst genommen. Sie fantasiert doch ständig von diesem Geist, und es ist Vollmond, Madam: Da sehen viele Menschen Dinge, die es nicht gibt. In meinem Heimatdorf gab es eine alte Lady, die hatte dann immer ihre verstorbenen Verwandten zu Besuch.«

»Ich habe Heathers schwarzen Mann auch gesehen«, sagte Dorothea leise. »Er war von Kopf bis Fuß bemalt wie ein Skelett und tanzte auf dem Platz zwischen der Waschküche und der Latrine.«

»Wirklich?« Mrs. Perkins’ Skepsis war immer noch offenkundig. »Na ja, schließlich ließ ich mich von der Kleinen breitschlagen, und als ich dann den halben Ärmel von Ihrem Morgenrock dort in den Büschen hängen sah, habe ich Sam geweckt. Aber wir haben niemanden gesehen. Weder einen als Skelett bemalten Schwarzen noch sonst jemand!«

»Er war da und wollte mich töten. Deswegen bin ich ja in den Busch geflüchtet.«

»Aber das Haus wäre doch viel näher gewesen«, wandte die Köchin ein. Dorothea verschwieg, dass Heather in ihrer Panik die Tür hinter sich verriegelt hatte. »Er versperrte mir den Weg«, sagte sie nur leise. »Und ich hatte solche Angst, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich bin nur noch gerannt.«

»Also, was auch immer Sie gesehen haben mögen – Sam und John haben nicht die geringste Spur gefunden, außer einigen Fetzen von Ihrem Morgenrock. Die Hunde haben auch nicht angeschlagen, und Schwarze wagen sich vor Morgengrauen nie aus ihren Lagern. Sind Sie sicher, dass Sie nicht irgendwelche Schatten genarrt haben?« Es war der Köchin anzusehen, dass sie für sich diese Erklärung bevorzugte. »Das kommt davon, wenn man solche unchristlichen Geschichten liest.« Sie war kein Freund von Edgar Allan Poe.

»Ich habe mir nichts eingebildet!«, beharrte Dorothea gekränkt.

Mrs. Perkins machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. »Der arme Master Robert!«, murmelte sie vor sich hin. »Wo er sich so auf das Kind gefreut hat!« Sie nahm die Waschschüssel auf, packte den Haufen nasser, verschmutzter Tücher und schickte sich mit der Ankündigung, für Dorothea gleich eine kräftige Brühe aufzusetzen, zum Gehen an.

»Wie geht es Heather?«, rief Dorothea ihr noch hinterher, bevor die Tür sich hinter ihr schloss. »Ist sie in Ordnung?«

Mrs. Perkins nickte. »Soweit ich es beurteilen kann. Im Augenblick ist sie noch ein wenig verstört, aber Kinder vergessen rasch.«

»Kann ich sie sehen?«

Die Köchin musterte sie, ehe sie nickte und sagte: »Ich schicke sie Ihnen nachher hoch. Sie kann Trixie tragen helfen.«

Sobald Dorothea allein war, sank sie in die Kissen zurück. So schrecklich diese Fehlgeburt auch gewesen war – sie hatte doch ihr Gutes! Sie würde nicht ständig durch sein Kind an Miles und seine schäbige Rache erinnert werden. Sie schämte sich für die Erleichterung, die sie bei diesem Gedanken empfand. Und es ging ja nicht nur um sie: Robert würde nicht erneut, wenn auch ohne sein Wissen, eine Vaterrolle ausüben müssen, die auf Betrug basierte. Besser, er trauerte jetzt aufrichtig um das Ungeborene, als in späteren Jahren vielleicht doch Verdacht zu schöpfen, wenn das Kind ihm so überhaupt nicht ähnelte.

Sie würde so rasch wie möglich wieder schwanger werden. Und dann würde es auch wirklich sein Kind sein, das sie zur Welt brachte.

Es war wohl nicht angebracht, Gott für eine Fehlgeburt zu danken. Obwohl: Woher sollte sie wissen, ob dieser unheimliche Eingeborene nicht doch sein Werkzeug gewesen war? Nein, das war Blasphemie, verwarf sie diesen ungeheuerlichen Gedanken wieder. Andererseits: Hatte nicht sogar ihre Mutter gemeint, dass manchmal aus Schlechtem Gutes entstünde?

Sie erschauerte bei der Erinnerung an die grauenhaften Stunden – waren es überhaupt Stunden gewesen? Ihr Zeitgefühl war ihr während der Flucht vollständig abhandengekommen. Die bange Zeit im Baum war ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Hatte der Skelettmann sie derweil belauert? Wie ein Raubtier seine Beute?

Jetzt, bei hellem Tageslicht und sicher in ihrem Bett, schien ihr die nächtliche Verfolgung eher wie ein Albtraum. So unglaublich, dass sie selbst für einen Moment zweifelte. War es wirklich geschehen? Mrs. Perkins hatte vollkommen recht: Die Eingeborenen würden niemals ihre sicheren Lagerfeuer verlassen. Zu groß war ihre Angst vor dem kuinyo, einem Dämon, der jeden tötete, dessen er nachts außerhalb des Feuerscheins habhaft wurde. Wurde der kuinyo nicht als Skelett beschrieben?

War es wirklich ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, den sie gesehen hatte?

Sie erschauerte, als ihr die Konsequenz dessen, was sie da eben gedacht hatte, bewusst wurde. Dieser Geist existierte nur als Aberglaube der Ngarrindjeri. Es war absolut unmöglich, dass sie ihn gesehen hatte. Es musste ein realer Mensch gewesen sein – und wenn Mrs. Perkins noch so ungläubig die Brauen hochzog! Auch Koar hatte keine Angst vor der Nacht gehabt. Es gab also einzelne Eingeborene, die sich im Dunkeln herumtrieben. Vielleicht sollte sie ihre Abneigung überwinden und doch einmal King George aufsuchen. Sie erinnerte sich nicht mehr an den genauen Wortlaut jener schockierenden Erzählung von Heather, wonach der alte Häuptling die Köchin vor einem bösen Zauberer gewarnt hatte. Wie alle anderen hatte sie es als kindliche Fantasterei eingestuft. Vielleicht war an der wüsten Geschichte doch mehr gewesen, als sie geglaubt hatte.

Ein kaum hörbares Kratzen an der Tür ließ sie aufmerken. Mit gesenktem Blick schob sich Heather ins Zimmer.

»Es tut mir leid«, platzte sie heraus, wobei sie immer noch vermied, Dorothea ins Gesicht zu sehen. »Ich wollte nicht, dass dir etwas geschieht. Wirklich nicht. Bist du sehr böse?«

»Auf dich? – Nein, Heather. Es war ja meine Dummheit, nachts nach draußen zu gehen.« Sie streckte die Hand aus, um dem Mädchen über die glänzenden Flechten zu streichen. »Mach dir keine Gedanken mehr darüber. Ich bin nur ordentlich zerkratzt«, sie hob zur Demonstration die von roten, entzündeten Kratzern übersäten Hände. »Außerdem bin ich ungeschickt gefallen und habe mir dabei wehgetan.« Absichtlich vermied sie jede Erwähnung des unheimlichen Schwarzen. Hatte Heather ihn bei ihrer überstürzten Flucht ins Haus überhaupt bemerkt?

»Bist du jetzt sehr krank?« Die dunklen Wimpern hoben sich, und sie sah Dorothea scheu an.

»Nicht sehr«, antwortete die betont zuversichtlich. »Ich bin sicher bald wieder auf den Beinen.«

»Was ist ein Abort?«

»Wieso fragst du das?«

»Tante Bella und Mrs. Perkins haben sich darüber unterhalten«, flüsterte Heather bedrückt. »Ist das etwas Schlimmes?«

Unsicher sah Dorothea in die Augen ihrer Stieftochter. Wie sollte sie einer Sechsjährigen eine Fehlgeburt erklären? Ganz kurz spielte sie mit dem Gedanken, Heather mit ihrer Frage zu Lady Chatwick zu schicken. Aber sie hatte sie gefragt. Also räusperte sie sich und sagte: »Du weißt doch, dass in meinem Bauch ein Geschwisterchen gewachsen ist? Wenn ein Kind zu früh zur Welt kommt – wenn es noch nicht an der Zeit ist –, dann nennt man das einen Abort oder eine Fehlgeburt.«

»Wie bei den Kühen? Wenn sie das giftige Gras gefressen haben?« Es war Heather anzusehen, dass es in ihrem Kopf heftig arbeitete, deshalb sagte Dorothea rasch: »Würdest du so lieb sein und Mrs. Perkins fragen, ob die Brühe fertig ist? Ich habe schrecklichen Hunger.«

Das war zwar gelogen, in Wirklichkeit bereitete ihr schon der bloße Gedanke an Essen Übelkeit, aber sie fühlte sich einfach nicht imstande, gerade jetzt Heathers bohrende Fragen zu den Analogien zwischen Kühen und Menschen zu beantworten.

Ihr Mann reagierte erwartungsgemäß zutiefst betrübt. Obwohl er sich nach Kräften bemühte, es zumindest Dorothea gegenüber nicht zu zeigen, spürte sie seine tiefe Trauer über den Verlust. Er schien davon auszugehen, dass ihre Trauer naturgemäß noch größer sein musste, und stürzte Dorothea damit in tiefste Verlegenheit. Sie hatte dem Kind sowieso ambivalent gegenübergestanden: Einerseits hatte Roberts Vorfreude sie gerührt, andererseits war dies Kind ihr immer als eine Art Fremdkörper in ihrem eigenen erschienen. Ihm eingepflanzt ohne ihre Einwilligung. Es war ihr unmöglich gewesen, es als Geschenk Gottes anzusehen. Aber die Erleichterung, die sie jetzt empfand, durfte sie auf keinen Fall zeigen. Ein weiteres Geheimnis, das ihr einiges an Verstellung abverlangte.

»Die arme, kleine Madam ist so tapfer«, hörte sie Trixie einmal sagen. »Ich weiß nicht – ich glaube, ich würde immerzu weinen, wenn mir so etwas passiert wäre.«

»Beim Nächsten wird Master Robert schon darauf achten, dass sie es nicht verliert«, meinte Mrs. Perkins darauf. »Sie werden noch viele Kinder bekommen, warte nur ab.«

Etwas Ähnliches äußerte auch Lady Chatwick bei einem ihrer Krankenbesuche. »Nur gut, dass du so schnell wieder zu Kräften kommst«, stellte sie zufrieden fest und musterte Dorothea so ungeniert, als sei diese ein Pferd auf dem Markt. »Es hätte dem armen Robert schwer zu schaffen gemacht, wenn du jetzt auch kränklich geworden wärst wie …« Als ihr einfiel, dass es wohl nicht sehr taktvoll war, jetzt Roberts erste Frau zu erwähnen, schlug sie die Hand vor den Mund und sah Dorothea schuldbewusst an. »Entschuldige, ich plappere wieder so gedankenlos vor mich hin. Du bist ja vollkommen anders als sie. Deshalb trägt er dich ja auch auf Händen.«

Tatsächlich war er so besorgt um Dorothea, dass sie es allmählich als einengend empfand. Das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, machte sie ganz nervös. Vielleicht tat es ihr gut, einen Spazierritt zum Lager des Nachbarstammes zu machen. Insgeheim hoffte sie, dort etwas über den Skelettmann zu erfahren.

Doch so bereitwillig Robert allen bisherigen Wünschen entgegengekommen war, ihre Ankündigung, King George in seinem Lager besuchen zu wollen, stieß auf seine entschiedene Ablehnung. »Wozu soll das gut sein? Du willst ihn doch nicht noch in seinem Aberglauben bestärken, indem du ihm von deinen Traumgespinsten erzählst?«

Leicht verärgert, dass er sie durchschaut hatte, erwiderte Dorothea patzig: »Wieso glaubst du, dass ich nichts anderes mit ihm zu besprechen haben könnte? Mr. Stevenson vom Register war durchaus interessiert an weiteren Berichten über die Eingeborenen. Vor allem über das Leben der Frauen ist nur wenig bekannt, weil man sich nicht die Mühe gemacht hat, mit ihnen zu sprechen.«

»Und wie willst du dich mit ihnen unterhalten? Du sprichst ihre Sprache nicht. Von dem ganzen Stamm ist King George der Einzige, der sich auf Englisch einigermaßen verständigen kann, und ob er der Richtige ist, um dir zu dolmetschen, wage ich zu bezweifeln. Die Frauen wagen ohne seine Erlaubnis nicht einmal, auch nur den Mund aufzumachen, und selbst wenn: Wie willst du sicher sein, dass sie das gesagt haben, was er dir übersetzt?«

Robert hatte recht. Es war für sie nahezu unmöglich, mit den Ngarrindjeri-Frauen in Kontakt zu kommen. Anders als die Kaurna, von denen zumindest diejenigen, die sich in der Umgebung von Adelaide aufhielten, mehr oder weniger Englisch verstanden und sprachen, hatten die Ngarrindjeri am Murray River wenig Kontakt mit Weißen.

»Also gut«, gab sie nach. »Vielleicht sollte ich zuerst ihre Sprache erlernen. Aber auch dazu müsste ich in ihr Lager.«

»Das kommt gar nicht infrage. Zurzeit kann ich niemanden abstellen, um dich zu begleiten, und außerdem ist es noch viel zu früh für dich, wieder mit dem Reiten anzufangen. Tante Arabella meinte, mindestens sechs Wochen solltest du alle Erschütterungen wie Reiten und Kutschfahrten vermeiden.«

»Offenbar ist mir völlig entgangen, dass Lady Chatwick eine medizinische Kapazität ist«, sagte Dorothea mürrisch. »Ich bin keineswegs krank – auch wenn alle so tun als ob. Mrs. Perkins kocht mir ständig ihre grässlichen Suppen, Trixie schleicht mit feuchten Hundeaugen um mich herum, und selbst Heather ist so brav, dass es langsam unheimlich wird. Wann werdet ihr endlich aufhören, mich zu betütteln?«

»Ich verstehe, dass es für dich ziemlich langweilig sein muss, ans Haus gefesselt zu sein.« Robert rieb sich geistesabwesend die Augen. »Es tut mir sehr leid, dass ich mich nicht mehr um dich kümmern kann. Aber zurzeit geht es wirklich nicht.« Wie alle auf Eden-House wusste auch Dorothea, dass die Schafschur absolute Priorität hatte. In den letzten Tagen war ihr Mann in Begleitung Sams von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht unterwegs gewesen. Wenn er danach völlig verdreckt und übermüdet ins Bett fiel, konnte sie nur noch seinem leisen Schnarchen lauschen. Auch jetzt konnte er kaum noch die Augen offen halten. Die dunklen Schatten der Müdigkeit waren unübersehbar. Schwerfällig hinkte er zum Waschtisch. Er war kaum noch fähig, sich auf den Beinen zu halten.

Auf einmal schämte Dorothea sich. Der arme Robert war am Ende seiner Kräfte, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als ihre Unzufriedenheit an ihm auszulassen. »Setz dich. Ich helfe dir mit den Stiefeln«, sagte sie leise und drückte ihn auf die Bettkante. »Und dann hole ich dir dein Essen.« Da er nie zu den üblichen Dinnerzeiten anwesend war, stand für ihn stets ein liebevoll zubereiteter Imbiss in der Speisekammer bereit. Mrs. Perkins hatte sich bereits für die Nacht zurückgezogen, aber Dorothea kannte sich inzwischen in ihrer geheiligten Küche gut genug aus, um rasch noch einen Krug Ale zu zapfen, ehe sie das nächtliche Essen hinauftrug. Als sie das Zimmer wieder betrat, lag ihr Mann rücklings auf dem Bett ausgestreckt und schlief wie ein Toter. Er wachte nicht einmal auf, als sie ihn bequemer bettete und die Steppdecke über ihn zog. Dorothea drückte impulsiv einen Kuss auf seine stopplige Wange, deckte die Serviette über das kalte Roastbeef und ging auf Zehenspitzen hinüber in ihr Zimmer.

Am nächsten Morgen war er verschwunden, ebenso das Fleisch und das Brot. Nicht einmal das abgestandene Bier hatte er verschmäht.

Um sich abzulenken und zu beschäftigen, hatte sie begonnen, das einzige Abendkleid Claires, das ihr gefiel, für sich umzunähen: eine schlichte, überaus elegante Robe aus nachtblauer Seide. Wann sie sie tragen sollte, wusste sie selbst noch nicht. Aber es machte ihr Freude, dabei von Tanzgesellschaften zu träumen. Wie sie sich im Kerzenschein wiegte, Komplimente erhielt und vielleicht ein bisschen flirtete. Nur ein bisschen. Ein ganz kleines bisschen. Gerade so, dass sie wieder ein wenig Herzklopfen verspürte.

Robert war der rücksichtsvollste, beste Ehemann, den man sich vorstellen konnte. Seit dem Unfall, wie er genannt wurde, schliefen sie getrennt, jeder in seinem Zimmer. Zärtlichkeiten erschöpften sich in einem keuschen Kuss auf die Stirn. Sie sollte ihm für seine Zurückhaltung dankbar sein. Nur wenige Frauen hatten ein solches Glück wie sie. Warum nur fühlte sie sich in seiner Gegenwart zunehmend gereizt?

Aus dem Mangel an passenden Gesprächspartnern heraus hatte sie begonnen, Tagebuch zu führen. In eines der schmucklosen Hamburger Hefte, die sie damals von ihrem ersten Honorar erstanden hatte, schrieb sie jetzt alles, was sie bewegte, und stellte sich dabei vor, zu Jane zu sprechen. Jane in ihrer absoluten Schamlosigkeit war die Einzige, der sie hätte anvertrauen können, dass sie die körperlichen Intimitäten so schmerzlich vermisste, dass sie launisch und unbeherrscht wurde. Immer häufiger ertappte sie sich dabei, dass sie die arme Trixie grundlos harsch anfuhr oder Heather für etwas tadelte, das eigentlich nicht der Rede wert war.

Weder der jedes Mal danach gefasste Vorsatz, sich zu bessern, noch ausgiebige Bibellektüre verhalfen ihr zu mehr Ausgeglichenheit. Umso erfreuter begrüßte sie den unerwarteten Besuch, den Trixie ihr mit den Worten ankündigte: »Ein überaus hübscher junger Mann möchte Sie sehen, Ma’am. Er sagte, er wäre Ihr Bruder.«

»August!« Sie sprang auf und rannte auf die hochgewachsene Gestalt in der Tür zu. »Was machst du denn hier?«

»Was für eine Frage! Dich besuchen natürlich, du Gans!« In brüderlicher Zuneigung erwiderte er ihre Umarmung. »Mutter meinte, jemand von der Familie sollte nach dir sehen. Also habe ich mich am Institut beurlauben lassen – und da bin ich.«

»Wie geht es Mutter? Und den anderen?« Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie Trixie, die immer noch August anstarrte. Offensichtlich war auch sie nicht unempfindlich gegenüber seiner Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht. »Ach, Trixie, bringen Sie meinem Bruder doch bitte einen Imbiss. – Du bist sicher halb verhungert, August, oder?«

»Das könnte man schon so bezeichnen. Ich bin ordentlich marschiert«, gab der ihr recht und warf Trixie einen treuherzigen Blick zu. »Wäre es möglich, Miss? Nur wenn es keine Mühe macht.«

»D… das macht überhaupt keine Mühe«, stammelte das Hausmädchen, wobei es bis an die Haarwurzeln errötete. »Ich bringe es Ihnen sofort.«

»Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen«, sagte Dorothea und seufzte, während er sich am Waschtisch in ihrem Ankleidezimmer Gesicht und Hände wusch. »Die letzte Zeit habe ich euch schrecklich vermisst.«

»Wir dich auch«, erwiderte er schlicht. »Mutter macht sich große Sorgen. In der Stadt gehen Gerüchte, unter den Murray-Stämmen gäre es nach den Zwischenfällen am Rufus River gewaltig. Angeblich exerziert O’Halloran deshalb so eifrig, weil er mit einer Frühjahrsoffensive rechnet.«

»Hier? Bei uns?«

»Keine Ahnung. Aber ich hoffe, ihr seid vorsichtig.«

»Das sind wir«, versicherte Dorothea. Tatsächlich hatte Robert vor einigen Tagen angeordnet, dass die Hunde nachts frei laufen sollten und jeder der Männer stets ein geladenes Gewehr in Griffweite neben sich zu halten hatte. Allerdings hatte das weniger mit ihrem Skelettmann zu tun als mit den sich häufenden Viehdiebstählen. King George hatte eine Beteiligung daran für sich und seine Männer vehement abgestritten. Das bedeutete, wenn man ihm glaubte, dass es fremde Jäger sein mussten. Bisher waren nur Schafe verschwunden, aber Robert hegte die Befürchtung, dass ihre Erfolge sie zunehmend kühner werden ließen. Und der Verlust eines Pferds oder einer Kuh wäre deutlich schwerer zu verschmerzen.

»Mutter hatte die Idee, du und deine Stieftochter, ihr könntet uns für ein paar Wochen besuchen kommen. Was hältst du davon?«

»Das würde ich schrecklich gerne«, sagte Dorothea sehnsüchtig. »Es kommt mir wie eine wahre Ewigkeit vor, dass ich Vorträge und Konzerte besucht habe. – Apropos Vortrag: Was macht eigentlich dein Professor Menge?«

Augusts Augen glänzten plötzlich wie im Fieber. »Er hat mir angeboten, auf seine Sommerexpedition in den Norden mitzukommen. Er glaubt, dass es dort noch jede Menge Metallvorkommen zu entdecken gibt. Stell dir vor, Doro, wir würden dort Gold finden! Gold!« Vor lauter Begeisterung überschlug sich seine Stimme beinahe. »Wäre das nicht wunderbar? Ich könnte dann ein Haus in der Nordstadt kaufen, ein richtig mondänes mit Marmorsäulen vorn am Eingang und Granitstufen; nicht so ein armseliges wie das in der Angas Street.«

August haderte immer noch damit, dass die Schumanns für den Nachfolger von Pastor Teichelmann das geräumige Haus an der Missionsschule hatten räumen müssen. Da konnte es ihn auch nicht versöhnen, dass sie durch die Vermittlung von Robert Masters und Matthew Moorhouse äußerst günstig eine neue Bleibe im deutschen Viertel gefunden hatten. Der Vorbesitzer, ein Herrenschneider, hatte seine komplette Werkstatt mit verkauft, und so hatte es nur geringer Änderungen bedurft, um Mutter Schumanns Plan einer eigenen Damenschneiderei zu verwirklichen.

Aus den Beschreibungen ihres Mannes wusste Dorothea, dass es zwar nicht gerade ein Palast, aber auch keineswegs armselig war. Zudem lag es nahe am Laden einer derzeit äußerst gefragten Hutmacherin. »Mit etwas Glück dürfte deine Mutter sich bald vor Kundschaft nicht mehr retten können«, hatte Robert prophezeit. »Sie hat mir ein paar ihrer Entwürfe gezeigt, und soweit ich es als Mann beurteilen kann, sind sie bei aller Schlichtheit äußerst elegant. Ich wusste gar nicht, dass sie so ein gutes Auge für Modedinge hat.«

Auch Dorothea hatte es nicht gewusst. Zwar hatte Mutter Schumann sämtliche Kleidung der Familie selbst angefertigt, aber ihre Kinder hatten das mehr als Gebot der Sparsamkeit aufgefasst. Erst bei dieser Bemerkung ihres Mannes erinnerte Dorothea sich plötzlich, dass ihre Mutter beim Nähen immer besonders gut gelaunt gewesen war. Einmal hatte sie davon gesprochen, dass sie als junges Mädchen unbedingt Modistin hatte werden wollen. Dorothea konnte sich nicht mehr genau erinnern, woran dieser Wunsch gescheitert war. Für die Frau eines Pastors wäre es später sowieso nicht passend gewesen.

Erst im Nachhinein wurde ihr bewusst, wie stark ihre Mutter sich selbst und ihre Bedürfnisse zurückgestellt hatte. Der Vater als Familienoberhaupt und Mittelpunkt war in dieser Rolle so selbstverständlich gewesen, dass keines der Kinder auch nur auf den Gedanken gekommen war, diese Konstellation zu hinterfragen.

»Ich werde Robert schon dazu überreden können, dass er mir erlaubt, dich nach Adelaide zu begleiten. Er muss einfach zustimmen!« Dorothea verspürte plötzlich eine überwältigende Sehnsucht danach, wieder in die Rolle der Tochter zu schlüpfen. Verglichen mit anderen Frauen trug sie nicht allzu viel Verantwortung, aber schon dieses bisschen lastete momentan schwer auf ihren Schultern. Ob das an den Nachwirkungen der Fehlgeburt lag? Lady Chatwick hatte schon einmal angedeutet, im Anschluss an ein solches Ereignis könne sich Melancholie und Schwermut einstellen. Wenn sie ihrem Mann entsprechende Andeutungen machte, würde er sie gehen lassen. Ungern zwar, aber das Versprechen, Dr. Woodforde aufzusuchen, würde ihm sicher die Entscheidung erleichtern.

Tatsächlich erhielt sie Unterstützung von unerwarteter Seite. »Ach bitte, Daddy, erlaube es uns! Ich würde zu gerne Dorothys Familie kennenlernen«, bettelte Heather, kaum dass Dorothea den Plan zur Sprache gebracht hatte. Ob es die vereinten Bitten seiner Frau und Tochter waren oder vielleicht doch die stille Angst, an den Gerüchten über drohende Aufstände sei etwas Wahres – Robert Masters gab seine Zustimmung zu der Reise.

»Unter einer Bedingung!«

»Welche?«

»Dass ihr beiden euch nach Kräften amüsiert.« Er lächelte seine Frau liebevoll an und griff nach ihrer Rechten. »Derzeit ist es hier nicht gerade unterhaltsam. Es wird dir guttun, einmal wieder Stadtluft zu schnuppern. Und für Heather wäre es schön, wenn sie eine Freundin in ihrem Alter fände. Ich denke, sie und Lischen werden sich gut verstehen.«

»Na, dann wäre das ja geklärt«, sagte August und zwinkerte Dorothea zu. »Meinst du, wir könnten dein Gig nehmen, Schwager?«

»Dein Mann ist ein feiner Kerl«, stellte August drei Tage später fest, nachdem sie das letzte Mal die hellen Mauern von Eden-House hinter sich aufblitzen gesehen hatten. »Das ist ein ganz anderes Reisen als auf Schusters Rappen!«

Dorothea sagte nichts. Während sie durch lichte Baumgruppen betäubend duftender Akazien fuhren, spürte sie immer noch den Schrecken, den sie bei der plötzlichen Erkenntnis über die Erleichterung, Eden-House und Robert hinter sich zu lassen, empfunden hatte.

War sie ein schlechter Mensch?

Nein, beruhigte sie sich selbst. Sie liebte Robert. Dass sie das Gefühl hatte, in seiner Gegenwart nicht mehr frei atmen zu können, würde sicher wieder vergehen, wenn sie ein wenig Abstand voneinander hätten. Bis dahin war sie fest entschlossen, ihre wiedergewonnene Freiheit nach Kräften auszunutzen. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, stieg ihre Vorfreude. Die violetten Baumorchideen, die zartgelben Blütenteppiche auf den Lichtungen – alles schien ihr strahlender, farbenprächtiger als je zuvor. Und nachdem sie sich fest vorgenommen hatte, Robert in Zukunft die sanfte, fügsame Ehefrau zu sein, die er verdiente, schob sie alle trüben Gedanken beiseite und stimmte einen Gassenhauer an, der im Januar der letzte Schrei gewesen war.

Als sie vor dem Haus in der Angas Street hielten und ihre Mutter und Lischen ihnen zur Begrüßung entgegeneilten, musste sie sich zusammennehmen, um nicht wie ihre kleine Schwester hin und her zu hüpfen.

»Mama, Lischen – das ist Heather.«

»Willst du meine Puppe sehen?«, fragte Lischen, sobald Heather artig ihre Gastgeberin begrüßt hatte. »Sie hat ein neues Bett bekommen. Ich auch. Du kannst in meinem alten schlafen.« Und schon zog sie sie mit sich in das dämmrige Hausinnere.

»Du siehst etwas blass um die Nase aus«, stellte Mutter Schumann fest und betrachtete ihre Älteste mit mütterlicher Sorge. »War die Reise sehr anstrengend?« Zutiefst erleichtert konstatierte Dorothea, dass ihre Mutter zu ihrer gewohnten, energischen Art zurückgefunden hatte. Sosehr der Verlust des Vaters sie geschmerzt hatte, fast noch mehr hatte sie die Verwandlung der Mutter verstört.

»Überhaupt nicht«, kam August Dorotheas Antwort zuvor und hievte unter theatralischem Ächzen die Reisekisten vom Gig. »Sie hat ja keinen Finger rühren müssen. Wo sind die verflixten Jungs? Sie könnten hier ruhig mit anpacken.«

»Wenn es Ihnen recht ist, könnte ich Ihnen stattdessen meine Hilfe anbieten«, ertönte da eine auffallend melodische Männerstimme.

Der Gentleman, dem sie gehörte, war gerade um die Hausecke gebogen und hob nun höflich seinen Zylinder. Dorotheas Kopf flog herum. Diese Stimme kannte sie gut!

Allerdings hatte Ian sich so verändert, dass es kein Wunder war, dass August und ihre Mutter ihn nicht sofort wiedererkannten. Auf dem Schiff war Ian ein magerer, hochgewachsener Junge gewesen. Nun war er ein Mann. Ein äußerst attraktiver und unter dem feinen Wollstoff seines Gehrocks auffallend muskulöser Mann. Sein tief gebräuntes Gesicht unter den schwarzen Locken zeugte von häufigen Aufenthalten im Freien. »Meine Verehrung.« Er verbeugte sich galant in Richtung Dorothea und ihrer Mutter. »Wo sollen sie denn hin?«

Schon griff er nach einer der Kisten, hob sie anscheinend mühelos auf eine Schulter und sah Dorothea fragend an.

Dorothea starrte ihn immer noch an wie eine Erscheinung. Ihre Mutter, die ihn offensichtlich nicht wiedererkannt hatte, sagte nur erfreut: »Überaus freundlich von Ihnen, Sir. Wenn Sie mir folgen wollen, zeige ich Ihnen den Weg.«

Sobald die beiden im hinteren Teil des Hauses verschwunden waren, wandte Dorothea sich ihrem Bruder zu, der leise vor sich hin schimpfte und an den Riemen der zweiten Kiste nestelte.

»Hast du ihn erkannt?«, zischte sie.

»Wen denn?«

»Den Gentleman eben. Das war doch Ian vom Schiff.«

August ließ die Schnalle los und wandte sich stirnrunzelnd um. »Bist du dir sicher? Derselbe Bursche, dem du Lesen und Schreiben beigebracht hast?«

»Und der dir zu Hilfe kam, als du dich mit deiner Tändelei wieder mal in Schwierigkeiten gebracht hast«, erinnerte Dorothea ihren Bruder ungeduldig. »Ja, ich bin mir sicher. Er hat sich sehr verändert, aber die Stimme und die Augen würde ich unter Hunderten erkennen.«

»Ich dachte, er wäre an den oberen Murray gegangen.« August schien immer noch zu zweifeln.

»Sollte er nicht als Stallbursche bei einem reichen Viehbaron arbeiten? Dieser Herr macht mir nicht den Eindruck, als würde er seine Zeit im Stall verbringen.«

»Das tut er auch nicht.«

»Woher weißt du das?«

»Von Robert. Die beiden sind befreundet.« Es ging ihren Bruder ja nichts an, dass sie diese Information aus einem heimlich gelesenen Brief hatte. August stieß einen scharfen Pfiff aus, als seine Mutter und Ian gerade wieder aus dem Haus traten. »Kennen wir uns vielleicht, Mr. …?«, fragte er ungeniert.

»Rathbone. Ian Rathbone«, erwiderte Ian kurz angebunden.

»Du bist es tatsächlich!«, platzte Dorothea heraus. »Entschuldigen Sie – Mr. Rathbone.«

Als er ihre ausgestreckte Hand ergriff, durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag. Seine Rechte war schwielig, fest und warm. Sie umfasste ihre mit einer Behutsamkeit, als hielte er etwas sehr Kostbares und Zerbrechliches. Nur zögernd, fast widerwillig, ließ er sie los, um ihre Mutter und August ebenfalls mit Handschlag zu begrüßen.

»Sind Sie hier zu Besuch?«, erkundigte Mutter Schumann sich freundlich. »Wenn Sie hier lebten, wären wir uns doch wohl schon längst über den Weg gelaufen?«

»Ich habe einige Geschäfte zu erledigen.« Ian mochte zwar wie ein Gentleman gekleidet sein, seine Umgangsformen jedoch entbehrten immer noch der oberflächlichen Verbindlichkeit, die einen solchen auszeichnete. Mit einigen geschickten Handgriffen löste er die Riemen der zweiten Kiste, schulterte sie ohne ein weiteres Wort und trug sie der ersten hinterher.

»Sollten wir ihn nicht einmal zum Essen einladen?«, schlug Mutter Schumann mit gedämpfter Stimme vor. »Er macht einen überaus soliden Eindruck. Ich finde es erfreulich, dass zumindest eines der armen Geschöpfe es zu etwas gebracht hat.«

Dorothea war mehr als einverstanden, und auch August brummte seine Zustimmung, sodass eine Einladung für den übernächsten Abend ausgesprochen wurde. Ian Rathbone akzeptierte sie mit unbewegter Miene, zog den Zylinder und ging mit raschen Schritten davon.

»Jetzt komm endlich ins Haus, Kind«, sagte Mutter Schumann und hakte sich bei ihrer Tochter unter. »Ich bin schon so gespannt, wie du unser neues Heim findest.«

Das Haus war, wie die meisten im Viertel, nur einstöckig, aber solide gebaut. Zur Straße hin lagen die mit besonders großen Fenstern ausgestattete Schneiderwerkstatt und eine Art Salon, in dem die Kundinnen empfangen wurden. Dahinter schlossen sich einige kleinere Zimmer an: Mutter Schumann schlief in einer winzigen Kammer unmittelbar hinter der Werkstatt, Lischen und die Jungen bewohnten etwas größere Räume. Ein Esszimmer wie in der Mission gab es nicht. »Wir essen sowieso immer in der Küche. Das ist viel praktischer«, sagte Dorotheas Mutter nüchtern. »Sonntags oder wenn wir Besuch haben, benutzen wir den Salon vorn.« Kam Dorothea alles nur so schrecklich beengt vor, weil sie inzwischen Eden-House gewöhnt war? Mein Ankleidezimmer ist ja größer!, schoss ihr durch den Kopf, während sie sich bemühte, Interesse für die geblümten Chintzgardinen vor den Fenstern und die Flickenteppiche zu heucheln, mit denen ihre Mutter eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen versucht hatte. August würde für die Dauer ihres Besuchs ins Mechanische Institut ziehen, wo auch Professor Menge zu nächtigen pflegte, wenn er nicht das Land durchstreifte. Mit Rücksicht auf seine Angewohnheit, zuweilen spät nachts erst nach Hause zu kommen, lag sein Zimmer gegenüber der Küche, unmittelbar neben der Tür, die zum Garten hinausführte. Durch eine Pforte in der Gartenmauer konnte der Nachtschwärmer kommen und gehen, wie es ihm beliebte.

»Verstehst du jetzt, wieso ich unbedingt mit dem Professor gehen möchte?«, raunte August ihr zu. Die Geschwister wechselten einen Blick stillen Einverständnisses. Offenbar hatte er ihre Gedanken erraten.

»Danke, dass du mir dein Zimmer überlässt«, sagte Dorothea rasch. August nickte bloß und begann, Kleidungsstücke in eine abgewetzte Reisetasche zu werfen.

Dorothea folgte ihrer Mutter in die Küche, wo sie am Spülstein notdürftig Gesicht und Hände vom Reisestaub reinigte. Zu Hause auf Eden-House hätte sie Trixie die Zinkbadewanne füllen lassen, aber sie ging nicht davon aus, dass dieser bescheidene Haushalt über einen solchen Luxus verfügte – geschweige denn über ein Dienstmädchen.

»Zwischen dir und deinem Mann ist alles in Ordnung?«, erkundigte Mutter Schumann sich beiläufig, während sie geschäftig mit dem Geschirr klapperte.

»Wir sind sehr glücklich miteinander«, erwiderte Dorothea steif. »Robert ist sehr besorgt um mich und schlägt mir keinen Wunsch ab.«

»Dann ist es ja gut.« Mehr sagte ihre Mutter nicht. Einem ahnungslosen Zuhörer wäre der tiefere Sinn dieses Wortwechsels verborgen geblieben. Nur Dorothea wusste, ohne dass es ausgesprochen worden wäre, was ihrer Mutter Sorgen bereitet hatte.

»Und du, Mama? Wie geht es dir?«, fragte Dorothea fast ängstlich. Die Eltern hatten für sie immer als Einheit fungiert, ein untrennbares Paar wie Pfeffer und Salz. Dass jetzt alles anders war, verunsicherte sie mehr, als ihr, weit weg auf Eden-House, bewusst gewesen war.

»Wir kommen besser zurecht, als ich befürchtet hatte.« Mutter Schumann lächelte wehmütig. »Dein lieber Vater fehlt mir sehr, aber in gewisser Weise ist er immer bei uns.« Sie umfasste das Medaillon an ihrem Hals und sah zu der gerahmten Zeichnung über dem Esstisch auf. Dorothea folgte ihrem Blick und atmete überrascht ein: Karl hatte das amüsierte Schmunzeln ihres Vaters so lebensecht eingefangen, als säße er hier und beobachte wohlwollend seine Familie. Wie gebannt starrte sie auf das Porträt und spürte, wie es anfing in ihren Augen zu brennen.

»Wer ist das? Der Mann auf dem Bild.«

Dorothea blinzelte und drehte sich zu ihrer Stieftochter um. »Mein Vater«, sagte sie heiser, in gewisser Weise dankbar für die Ablenkung. »Mein Bruder hat ihn gezeichnet.«

Heather legte den Kopf schief und betrachtete die Bleistiftzeichnung aufmerksam. »Meinst du, er würde mir zeigen, wie es geht?«

»Ich denke schon. Aber es gehört viel Übung dazu, bis man so gut ist wie Karl. Das lernt man nicht von heute auf morgen«, sagte Mutter Schumann, und man hörte den Stolz in ihrer Stimme mitschwingen.

»Ach, wie schade.« Heathers Enttäuschung war so deutlich erkennbar, dass Dorothea neugierig nachfragte: »Wieso möchtest du denn überhaupt auf einmal zeichnen lernen?« Das Mädchen hatte bisher wenig Neigung zu künstlerischer Betätigung gezeigt. Aber vielleicht hatte das auch daran gelegen, dass Dorotheas Kenntnisse sich auf Handarbeiten wie Sticken und Häkeln beschränkten, was nur im weitesten Sinne als künstlerisch zu bezeichnen war.

»Wenn ich das könnte, könnte ich den bösen Mann malen, und mein Vater würde uns endlich glauben, dass es ihn gibt«, antwortete Heather schlicht. Dorothea erstarrte. Ihre Mutter musterte Heather scharf, als versuche sie, sich darüber klar zu werden, ob das Mädchen es ernst meinte.

»Du glaubst noch an den bösen Mann?« Lischens helles Lachen unterbrach die Stille. »Weißt du nicht, dass nur Babys das tun?«

»Du bist so dumm!«, fuhr Heather sie so heftig an, dass Lischen erschreckt zurückwich. »Was glaubst du denn, wer schuld an diesem, diesem … Abort von Dorothy war?«

Dorothea spürte den Blick ihrer Mutter auf sich, deswegen sagte sie streng: »Es reicht, Heather. Ob dieser seltsame Schwarze wirklich böse ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht war ich einfach nur dumm. Und jetzt wascht euch die Hände. Es ist Zeit fürs Abendbrot.«