8

Zwei Wochen waren für die Erkundungsreise angesetzt worden. Zwei Wochen, in denen Dorothea sich darüber klar werden musste, wie es weitergehen sollte. »Wenn ich wiederkomme, müssen wir uns ernsthaft über deine Zukunft unterhalten, Dorchen«, hatte ihr Vater mit leichtem Schmunzeln angekündigt. »Ich habe da einige sehr schmeichelhafte Anfragen erhalten.«

»Papa!« Fast ärgerlich sah sie von dem Pastetenteig auf, den sie gerade knetete. »Bitte verschone mich damit. Ich will nicht heiraten. Ich will schreiben.«

»Papperlapapp«, gab er vergnügt zurück, während er sich unauffällig einige Rosinen aus der Schüssel daneben fischte. »Jede Frau will heiraten und ihrem eigenen Haushalt vorstehen.«

»Ich nicht!«

»Das besprechen wir dann in aller Ruhe, wenn ich wieder zu Hause bin, mein Kind«, sagte er, von ihrer strikten Weigerung nicht im Mindesten beeindruckt.

Kurz nach seiner Abreise war etwas geschehen, oder besser war nicht geschehen, das Dorotheas Welt auf den Kopf stellte. Ihre Monatsblutung war überfällig!

Es war ihr erst aufgefallen, als sie sich eines Morgens beim Anblick der säuberlich gefalteten Binden in ihrer Schublade gefragt hatte, wann sie sie eigentlich das letzte Mal benutzt hatte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, weil es die Woche vor dem Eintreffen des neuen Gouverneurs am 10. Mai gewesen war. Und nun war der 20. Juni!

Das war einfach nicht möglich! Sie musste sich verrechnet haben. Oder es gab eine andere harmlose Erklärung dafür? Miles hatte ihr doch versichert, er wisse, was zu tun sei, damit sie keinesfalls schwanger würde. Panik stieg in ihr auf, schiere Panik. Nein, das konnte nicht sein, das durfte einfach nicht passiert sein. Sie brauchte lange, um zu akzeptieren, dass es eben doch passiert war. Im Anatomiebuch waren auf äußerst präzisen Stichen sämtliche Phasen der Schwangerschaft abgebildet, und irgendwie zweifelte sie nicht mehr daran, dass sie in sich bereits diesen kleinen Ball aus Fleisch und Blut trug, aus dem sich später ein Kind entwickeln würde. Miles’ Kind.

Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Unwillkürlich kamen ihr die Gerüchte über die sogenannten Engelmacherinnen in den Sinn. In Dresden hatte sie einmal einen Wortwechsel zweier Dienstmädchen aufgeschnappt. Die eine hatte nach der Adresse einer »Engelmacherin« gefragt, um »ein Kind wegmachen zu lassen«, und die andere hatte sie sofort hinter die nächste Hausecke gezogen. Dorothea hatte völlig arglos ihre Mutter gefragt, was es damit auf sich hätte und wie man ein Kind »wegmachte«. Es war ihr rätselhaft erschienen, wieso jemand Gottes Geschenk, wie es immer in den Geburtsanzeigen hieß, nicht haben wollte.

Ihre Mutter hatte sie seltsam angesehen und dann ruhig erklärt, dass nur sehr schlechte Menschen so etwas täten. Es sei eine schwere Sünde, die man damit auf seine Seele lade. Sie hatte dabei so ernst gewirkt, dass Dorothea nicht gewagt hatte, weiter nachzufragen. Aber es hatte sie noch wochenlang beschäftigt, wie man dabei vorging. Schnitt man den Frauen dafür den Bauch auf? Sie hatte sich fest vorgenommen, das Dienstmädchen abzupassen und danach zu fragen, aber die junge Frau tauchte nicht wieder auf. Nach einigen Wochen hatten andere Themen die Frage nach den Engelmacherinnen in den Hintergrund treten lassen. Dorothea hatte – bis jetzt – nicht mehr daran gedacht.

Aber gab es solche Frauen überhaupt hier in Adelaide? Und wenn, wie sollte sie sie finden?

Das Gesicht ihrer Mutter in dem Moment, als sie von der schweren Sünde gesprochen hatte, vor Augen, schob sie diesen Gedanken rasch von sich. Nein, das wollte sie nicht.

Aber was blieben ihr sonst für Möglichkeiten?

Die Gedanken rasten in ihrem Kopf, ohne dass sie einer Lösung auch nur ansatzweise näher gekommen wäre. Wenn Miles noch hier in Adelaide wäre, müsste er sie jetzt, unter diesen Umständen, selbstverständlich heiraten. Aber er war auf See. Wenn sie ihm eine Nachricht hinterherschickte, konnte die ihn – wenn überhaupt – frühestens in einigen Monaten erreichen. Falls er dann noch in Singapur war. Auf jeden Fall wäre es zu spät, um noch vor der Geburt heiraten zu können. Und wollte sie ihn überhaupt heiraten? Hatte sie sich nicht geschworen, ihn aus ihrem Leben und ihrer Erinnerung zu streichen? Sie lachte bitter auf, als ihr bewusst wurde, dass sein Kind sie immerzu an ihn erinnern würde. Tag für Tag.

In den folgenden Tagen fielen ihr fehlender Appetit, die dunklen Ringe unter den Augen und ihre Niedergeschlagenheit sogar Lischen auf. Als Einzige sprach sie aus, was alle anderen nur dachten: »Bist du traurig, weil du dich mit Mr. Somerhill gezankt hast?«

»Wie kommst du denn darauf?« Überrascht sah Dorothea von ihrem Teller hoch, auf dem sie gedankenverloren die Bissen hin und her geschoben hatte.

»Na, weil er gar nicht mehr kommt. Und du machst immerzu ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.«

»Lischen«, mahnte die Mutter.

»Aber es stimmt doch«, beharrte die Kleine. »Außerdem habe ich Karl noch zu August sagen hören, dass dieser Laffe Somerhill Doros Kummer gar nicht wert wäre. Und August sagte darauf, dass Frauenzimmer eben manchmal ziemlich dämlich wären, und … Autsch!« Sie verstummte erschreckt, als einer ihrer Brüder sie offensichtlich heftig vors Schienbein getreten hatte. Karl war rot bis über beide Ohren, und auch Augusts Wangen wiesen eine gesunde Färbung auf.

»Schäm dich, Lischen! Man belauscht nicht anderer Leute Unterhaltung«, sagte Mutter Schumann streng. »Koar, sei so gut und reich mir bitte die Bohnen herüber.«

Auch Koar war kein willkommenes Kind gewesen, dachte Dorothea. Ohne das Eingreifen des greisen Zauberers wäre sein Leben sehr, sehr kurz gewesen. Aber ohne ihn wäre Karl jetzt nicht mehr am Leben. Gab es so etwas wie eine Bestimmung? Dann hätte auch ihr Kind eine. Es war ein seltsam tröstlicher Gedanke, der ihr Mut gab. Sie würde es irgendwie schaffen. Schließlich lebten hier in der Kolonie Witwen, die sogar mehr als ein Kind ernähren mussten. Und sie hatte ihre Familie. Sie war nicht allein wie diese armen Frauen.

Sobald ihr Vater wieder da war, würde sie sich den Eltern anvertrauen. Sie würden nicht gerade in Jubel ausbrechen, so viel war klar. Aber sie war sich sicher, dass sie sie nicht im Stich lassen würden.

Zwei Tage später beendete Mr. Moorhouses Besuch alle Zukunftspläne. Noch bevor sie den schwarzen Flor am Ärmel bemerkte, fiel ihr sein ernster Gesichtsausdruck auf. Sie hatte den Eindruck, dass er nur zögernd der Einladung ihrer Mutter in den Salon folgte, in dem die Familie gerade beim Frühstück saß. »Ich habe Ihnen leider eine traurige Nachricht zu überbringen«, begann er tonlos, die Finger um die Hutkrempe verkrampft. Vor Schreck setzte Dorotheas Herzschlag aus. »Jane …?«, flüsterte sie rau. Die letzten Tage hatte sie manchmal an ihre Freundin gedacht. Hatte dieser Tim Burton ihr etwas angetan?

Moorhouse schüttelte den Kopf. »Nicht Jane, Ihr Vater …« Dorothea hörte die Worte, aber irgendetwas hinderte sie daran, sie zu begreifen. Wie durch eine Fensterscheibe hindurch sah sie, wie jegliche Farbe aus dem Gesicht ihrer Mutter wich. Wie August die Tasse aus den Fingern glitt und auf dem Boden zersprang. Wie Karl aufsprang, so heftig, dass sein Stuhl umstürzte, und rief: »Nein, das ist nicht wahr!«

Mr. Moorhouse senkte in stummem Mitgefühl den Kopf.

»Wie … Ich meine, was ist geschehen?« Die Stimme ihrer Mutter klang unnatürlich ruhig. Immer noch totenbleich saß sie dennoch aufrecht wie stets und fixierte den Protector, als sei er das Einzige, das im Augenblick von Wichtigkeit war.

»Das Boot ist gekentert, mit dem sie bei Encounter Bay an Land rudern wollten. Pastor Schumann fiel so unglücklich, dass er bewusstlos wurde und unterging, ehe man ihm zu Hilfe kommen konnte. Die See war zu dem Zeitpunkt sehr rau.« Moorhouse bemühte sich sichtlich, die Vorgänge möglichst schonend darzustellen. »Ich bin sicher, er hat nicht gelitten.«

»Hat man seine … Leiche bergen können?« Nur mit äußerster Selbstbeherrschung war es Mutter Schumann gelungen, diesen Ausdruck über ihre Lippen zu bringen.

»Ja, aber erst am folgenden Tag«, sagte Moorhouse bedrückt.

»Ich möchte ihn sehen.«

»Das wird leider nicht möglich sein, Madam.«

»Warum nicht?« Mutter Schumann sah fast flehend zu ihm auf. »Wir waren zweiundzwanzig Jahre verheiratet. Sie können mir nicht verbieten, von ihm Abschied zu nehmen.«

Moorhouse räusperte sich vor Verlegenheit. »Es ist keine Frage des Wollens, Mrs. Schumann. Verstehen Sie doch: Sein Körper war nach mehr als zwölf Stunden in der Brandung nicht mehr unversehrt. Wir mussten ihn dort auf dem Friedhof von Encounter Bay bestatten.«

Friedhof. Bestatten.

Schlagartig fiel die Erstarrung von Dorothea ab. Ihr Vater war tot! Er würde nie wieder durch die Tür treten und fröhlich fragen: »Na, was gibt es denn heute Feines?«

Nie wieder würde sie ihn über eine vorlaute Bemerkung Lischens schmunzeln, über eine von ihr oder August nachdenklich die Lippen verziehen sehen.

Nie wieder würde sie von ihm getröstet werden wie bei den zahllosen Malen, wenn sie sich in kindlichem Kummer in seine Umarmung geflüchtet hatte. Sie konnte immer noch den kratzigen Stoff an ihrer Wange spüren, den vertrauten Geruch nach Pfeifentabak und Lavendel riechen.

Nie wieder würde das geschehen, denn er war tot.

Die Wucht, mit der die Erkenntnis der brutalen Wahrheit sie traf, spürte sie fast körperlich. Nie wieder. Bloß zwei dürre, kurze Worte. Aber welch grauenhafte Worte, wenn es dabei um einen geliebten Menschen ging.

August trat neben die Mutter und legte in einer hilflosen Geste die Hand auf ihre Schulter. Sie reagierte nicht. Sie schien wie eine Puppe aus Glas, die jeden Augenblick zerspringen konnte, sobald man sie nur ein wenig heftiger anstieß.

»Wenn Papa im Himmel ist – was wird denn jetzt aus uns?«, flüsterte Lischen kaum hörbar. Sie umklammerte ihre Puppe und sah von einem zum anderen. »Müssen wir jetzt in ein Asyl für Waisenkinder?«

»Nein, Kleines«, beruhigte Moorhouse sie. »Ihr bleibt erst mal hier in eurem Haus wohnen wie bisher.«

»Geht das denn?« August hatte genug vom Ruf des neuen Gouverneurs gehört, um besorgt auszusehen. »Wird Gouverneur Grey nicht verlangen, dass wir sofort ausziehen?«

Moorhouse schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich bitte darüber keine Sorgen! – Ich würde vorschlagen, dass ich in einigen Tagen wiederkomme, um mit Ihnen und Mrs. Schumann zu besprechen, wie es weitergehen soll.« Er griff in seine Brusttasche und holte ein in Ölpapier geschlagenes Päckchen hervor. Unentschlossen wanderte sein Blick einige Augenblicke zwischen Mutter Schumann und August hin und her, ehe er es vor der Witwe auf den Tisch legte und leise sagte: »Seine Uhr und ein Medaillon, das er am Herzen trug. Die Kleidung war leider zu sehr in Mitleidenschaft gezogen. – Wenn ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein kann, zögern Sie bitte nicht, es zu sagen.«

»Danke, sehr freundlich von Ihnen«, sagte Mutter Schumann mit dünner Stimme, während sie das schlichte Päckchen an sich drückte, als sei es die größte Kostbarkeit. »Aber wir kommen schon zurecht.«

Tatsächlich kam es Dorothea so vor, als befände sie sich in einer Art Traum: Sie aßen und sie schliefen, jedenfalls taten alle so. Wenn es auch nur war, um sich gegenseitig eine Normalität vorzugaukeln, die es nicht mehr gab. Die es niemals mehr so geben würde.

Nach einer Nacht, in der sie immer wieder hochgeschreckt war, weil sie glaubte, die Schritte ihres Vaters auf der Treppe zu hören, hielt es sie nicht mehr im Bett. Sobald es hell genug war, stand sie leise auf, zog sich an und ging nach unten, um den Küchenherd anzuheizen.

Das war keine Arbeit, nach der sie sich gewöhnlich drängte, aber untätig herumzusitzen schien ihr geradezu unerträglich.

Aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters drang unterdrücktes Schluchzen. Leise drückte sie die Klinke herunter. Es war nicht ihre Mutter, wie sie angenommen hatte, die dort ihrem Kummer freien Lauf ließ. Es war Karl, der im lederbezogenen Ohrensessel kauerte und sie aus verquollenen Augen anblickte. Er wirkte so unglücklich, so verloren, dass sie spontan auf ihn zulief und ihn fest in die Arme schloss. Zuerst versteifte er sich, doch dann überlief ihn ein Zittern, und er erwiderte ihre Umarmung mit einer verzweifelten Kraft, deren Intensität Dorothea überraschte.

»Konntest du auch nicht mehr schlafen?«, fragte sie und spürte überrascht, wie es sie selber tröstete, ihn im Arm zu halten. »Sitzt du schon länger hier?«

»Seit ein paar Stunden«, erwiderte er und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Ich wollte Papa nahe sein, und hier …« Er schniefte verlegen, während er sich aus ihren Armen löste. »Hast du vielleicht ein Taschentuch?«

Wortlos reichte sie ihm ihres, und er ließ es in seiner Rocktasche verschwinden, nachdem er mehrmals kräftig geschnäuzt hatte. »Sag, hast du nicht auch das Gefühl, dass er immer noch hier ist?« Er hob den Kopf und schnüffelte wie ein Jagdhund. »Ich kann ihn sogar noch riechen.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie traurig. »Aber wir werden uns daran gewöhnen müssen, ohne Papa auszukommen. Der Geruch wird verfliegen, und dann gibt es nichts mehr, das von ihm noch übrig ist.« Ihr Blick glitt über die Bücherreihen, die die Wände bedeckten. Hier und da steckten Zettel dazwischen mit Notizen oder Skizzen. Vielleicht war es dieser Anblick, der sie auf den Gedanken brachte: »Du musst ihn zeichnen, Karl!«

»Wozu?« Er schaute sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Zur Erinnerung. Damit wir sein Gesicht nicht vergessen«, erklärte sie ihm. »Schau, du kannst so wunderbare Porträts zeichnen. Du hast einen Blick für das Wesentliche, was ein Gesicht ausmacht. Ich bin sicher, Mama würde sehr gerne ein Bild von Papa zur Erinnerung haben. Und wir anderen auch.« Da sie Karls unausgesprochene Vorbehalte spürte, fragte sie: »Du könntest es doch, oder?«

»Jaaa«, erwiderte er gedehnt. »Aber ich bin nicht sicher, ob es ihm recht wäre. Weißt du nicht mehr, wie Papa immer über den Totenkult der Papisten gespottet hat?«

»Das ist doch etwas ganz anderes«, gab Dorothea ungeduldig zurück. »Ich will ja nicht, dass wir Papas Bild auf einen Altar stellen. Nur eine Skizze, wie du sie nennst. Du könntest jedem von uns Papa zeichnen, wie er uns immer angesehen hat. Verstehst du, was ich meine? Für Mama diesen Blick, wenn er sie geneckt hat. Und für mich …«, sie musste schlucken, weil ihr die Kehle eng wurde, »für mich diesen Ausdruck, wenn er gedacht hat: ›Halt, mein Kind, jetzt gehen gerade die Pferde mit dir durch!‹«

Karl lächelte schwach. »Ich weiß. Sag nichts mehr.« Er schloss die Augen, und auf seiner Stirn erschienen Falten der Konzentration. »Ich sehe es vor mir.«

Ihre Mutter strahlte eine unheimliche Ruhe aus, als sie kurz danach die Küche betrat. Sie trug Schwarz. Von den Schuhspitzen bis zu der Haube. Dorothea hatte gar nicht gewusst, dass sie so viele schwarze Kleidungsstücke besaß. Scheu musterte sie die dunklen Ringe unter den Augen, die geröteten Lider. Ihre Mutter sah nicht aus, als hätte sie auch nur eine Minute geschlafen. Die strenge Trauerkleidung ließ sie so abweisend erscheinen, dass Dorothea sich nicht überwinden konnte, sie einfach in den Arm zu nehmen. Zu groß war ihre Scheu.

Die Stimme jedoch war fest wie immer, als sie Dorothea anwies, den Schulraum, in dem ihr Vater immer die Andachten abgehalten hatte, herzurichten. Sie wollte, dass die Familie im engsten Kreis gemeinsam vom Vater Abschied nahm.

Von den Schülern und Eltern war nichts zu sehen. Sicher hatte sich der Unglücksfall herumgesprochen. Es war nicht damit zu rechnen, dass sie in nächster Zeit hier wieder auftauchen würden. Nur Koar schlüpfte plötzlich durch den Seiteneingang und setzte sich in Karls Nähe auf den Boden. Im Unterschied zu seinen Stammesmitgliedern schien er Todesfällen gegenüber nicht das panische Entsetzen zu empfinden, das sie selbst nähere Hinterbliebene meiden ließ, als hätten diese eine ansteckende Krankheit.

In Ermangelung eines Sargs hatte Mutter Schumann die Taschenuhr und das goldene Medaillon mit den ersten Haarlocken jedes Kindes auf den Behelfsaltar gelegt. Beim Anblick des Schmuckstücks kämpfte Dorothea mit den Tränen. Mehr als alles andere verkörperte es die hingebungsvolle Liebe, die Pastor Schumann seinen Kindern entgegengebracht hatte.

Sie alle kannten die Gebete und Lieder anlässlich eines Gedenkgottesdienstes. Aber noch nie war es Dorothea so schwergefallen, die Worte über die Lippen zu bringen. Besonders die Stellen, an denen von Gottes Weisheit und Güte die Rede war, reizten sie zu wütendem Widerspruch. Was war gütig oder weise an diesem schrecklichen Unglück? Es gab so viele Menschen, die ihrer Ansicht nach keine größere Lücke hinterlassen hätten. Warum hatte Gott nicht einen solchen sterben lassen? Warum ausgerechnet Papa?

Sie war unendlich erleichtert, als das letzte »Amen« verklang.

Fünf Tage später kam Mr. Moorhouse in Begleitung Miss Mary Kilners zu seinem angekündigten Besuch. Da die Kondolenzbesucher sich in den letzten Tagen die Klinke praktisch in die Hand gegeben hatten, verwunderte das niemanden. Inzwischen waren sie alle ganz gut darin, mit höflicher Miene die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen, auch wenn August nicht nur einmal mit zusammengebissenen Zähnen geknurrt hatte: »Am liebsten würde ich ihnen sagen, sie sollten uns einfach in Ruhe lassen!« Allmählich hatte sich ein gewisser Abstumpfungseffekt eingestellt. Nur Karl zog es noch immer vor, tagsüber mit Koar im Busch zu verschwinden, weil er »diesen Haufen schwarzer Krähen, die über einem Leichnam kreisen«, wie er es nannte, nicht ertrug.

Nachdem Miss Kilner in angemessener Weise ihr Mitgefühl ausgedrückt hatte, wandte sie sich an Dorothea und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen. Es war zu kalt, um draußen auf der Terrasse zu sitzen, also gingen die beiden jungen Frauen in das Arbeitszimmer von Pastor Schumann. Der Geruch nach Pfeifentabak und Lavendel war inzwischen so schwach geworden, dass man ihn kaum noch wahrnahm, aber für Dorothea war es immer noch der Raum, in dem sie sich ihrem Vater am nächsten fühlte. Miss Kilner nahm etwas umständlich auf dem Ohrensessel Platz, während Dorothea sich den Besucherstuhl zurechtrückte. »Sie möchten etwas mit mir besprechen?«, ermutigte sie Mr. Moorhouses Verlobte, die sichtlich verlegen nach Worten suchte.

»Ich weiß, dass ich Ihnen jetzt ziemlich herzlos vorkommen muss«, sagte sie schließlich. »Und ich bitte Sie aufrichtig um Verzeihung für meine Impertinenz, so mit der Tür ins Haus zu fallen.« Sie blickte auf ihre in schwarzen Häkelhandschuhen steckenden Finger, mit denen sie nervös an den Bändern ihres Retiküls zupfte. »Erinnern Sie sich noch an den Nachmittag, an dem wir vom Haus des Gouverneurs aus den Kängurutanz verfolgten?«

Dorothea nickte und wartete ungeduldig darauf, dass Miss Kilner endlich zur Sache käme. Sie wollte so rasch wie möglich zurück in den Salon und zu den Gesprächen über ihr zukünftiges Leben.

»Damals sagte ich Ihnen voraus, dass Sie bald umworben würden. Nun, soviel ich weiß, sind Sie noch nicht versprochen?«

»Nein«, erwiderte Dorothea brüsk. »Und ich gedenke auch nicht zu heiraten.« Dass eine Fremde an das letzte Gespräch, das sie mit ihrem Vater geführt hatte, anknüpfte, tat erstaunlich weh.

»Wirklich nicht?« Miss Kilner wirkte überaus erstaunt. »Wie schade. Dann erübrigt sich alles Weitere. Ich bitte nochmals um Entschuldigung.«

Jetzt hatte sie doch Dorotheas stets wache Neugierde geweckt. Konnte es sein, dass Miss Kilner sich hier als Kupplerin versuchte?

»Andererseits, wenn ich es recht bedenke, wäre es unter den gegebenen Umständen vielleicht angebracht, meine Haltung zu überdenken«, lenkte sie ein. »Sie verstehen sicher, dass ich mir darüber jetzt keine weiteren Gedanken gemacht habe.«

»Natürlich. Das ist absolut verständlich«, sagte Miss Kilner verständnisvoll. »Und ich hätte auch niemals zu diesem Zeitpunkt davon gesprochen, wenn sich nicht – wie soll ich sagen? – die Dinge gerade überschlagen würden.«

»Bitte reden Sie ganz offen«, bat Dorothea.

»Ich glaube, Sie haben Mr. Masters kennengelernt? Auf der Soiree anlässlich des Vortrags von Professor Menge?«

Der Viehzüchter vom Murray River! Nur zu gut erinnerte Dorothea sich an den durch ihn verursachten gesellschaftlichen Eklat. Hatte Miles nicht sogar behauptet, man hätte ihn verdächtigt, am Tod seiner Frau zumindest nicht gänzlich unbeteiligt gewesen zu sein? Jane hatte das allerdings mit Empörung zurückgewiesen, als sie darauf zu sprechen gekommen war. Miss Kilner hob die Hand, um sie am Sprechen zu hindern. »Ich sehe, die hässlichen Gerüchte wurden Ihnen bereits zugetragen. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass sie völlig aus der Luft gegriffen sind? Ich kenne Robert seit vielen Jahren, und er wäre absolut außerstande, einer Frau auch nur ein Haar zu krümmen.«

Robert Masters hatte auf Dorothea einen äußerst sympathischen Eindruck gemacht. Zudem traute sie Janes Menschenkenntnis. Also nickte sie. »Ja, ich glaube Ihnen. Aber Sie wollen doch nicht andeuten, dass Mr. Masters sich für mich interessiert? Wir sind uns nur ein einziges Mal begegnet.«

Miss Kilners Wangen färbten sich leicht rosa. »Ich muss zugeben, dass ich es war, die ihn auf Sie aufmerksam machte. Sie müssen wissen, dass er eine sechsjährige Tochter hat. Heather. Roberts Tante, Lady Arabella Chatwick, hat bisher Mutterstelle an ihr vertreten, aber sie ist nicht mehr die Jüngste. Das Kind entgleitet ihr täglich mehr. Es braucht dringend Führung und Anleitung durch eine Person, die Heathers Ungestüm gewachsen ist.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe: Sucht er jetzt eine Gouvernante für das Kind oder eine neue Ehefrau?«

»Beides in einer Person.« Miss Kilner senkte erneut leicht verlegen den Blick. »Robert bat mich um Rat. Er suchte eine junge Frau, die selbstbewusst genug sein sollte, es mit Heather und Lady Chatwick aufzunehmen. Von ausreichender geistiger Beweglichkeit, um sich mit ihr über mehr als Banalitäten unterhalten zu können, sowie genug Mut, um sich dort draußen nicht zu fürchten.« Dorothea musste bei dieser Stellenbeschreibung unwillkürlich lächeln. Miss Kilner erwiderte das Lächeln fast komplizenhaft und fügte hinzu: »Ich weiß wirklich nicht, wieso ich sofort an Sie dachte.«

Dorothea unterdrückte den ersten Impuls, das nicht gerade romantische Angebot abzulehnen.

Bei näherer Betrachtung verdiente es zumindest ernsthafte Überlegung. Natürlich war es nicht das, was sie sich als junges Mädchen erträumt hatte. Aber hatte sie nicht sowieso mit einer Ehe aus Liebe abgeschlossen?

Soweit sie wusste, war Masters ausgesprochen wohlhabend. Ein guter Fang, wie man zu sagen pflegte. Als seine Ehefrau würde es ihr an nichts fehlen, und sie könnte, statt ihrer Mutter eine zusätzliche Bürde zu sein, ihrer Familie hilfreich unter die Arme greifen. Dorothea war pragmatisch genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass das Leben für Witwen und Waisen alles andere als erfreulich war. Meist vegetierten sie am Rande des Existenzminimums dahin, oft genug abhängig von der Güte und Großzügigkeit anderer.

Den Ausweg einer zweiten Ehe würde ihre Mutter ganz sicher von sich weisen. Also blieb nur sie, Dorothea.

»Kann ich darüber nachdenken?«

»Selbstverständlich«, beeilte Miss Kilner sich zu sagen. »Robert – Mr. Masters – ist für ein paar Tage im Hotel in der King William Street abgestiegen. Darf ich ihm sagen, dass er morgen hier vorsprechen und sich seine Antwort holen soll? Oder benötigen Sie mehr Bedenkzeit?«

Insgeheim hatte Dorothea sich bereits entschlossen, Mr. Masters nüchternen Antrag, oder besser: Stellenangebot, anzunehmen. Langes Zaudern und Abwägen war ihre Sache nicht. Im Grunde ist es eine Arbeit wie jede andere, dachte sie ironisch. Vielleicht mit etwas mehr Renommee – zumindest in diesem Fall. Sie holte tief Luft und richtete sich auf: »Nein, das passt mir ausgezeichnet«, ließ sie Miss Kilner wissen. »Ich möchte Sie nur bitten, die Sache nicht vor meiner Familie zu erwähnen.«

»Selbstverständlich nicht!« Miss Kilner schien geradezu schockiert. »Übrigens: Auch mein lieber Matthew ist nicht eingeweiht. Sie, Mr. Masters und ich sind die einzigen Menschen, die davon wissen. Robert wollte seine Suche nicht publik werden lassen.«

Angesichts der teilweise unverblümt feindseligen Reaktionen der Menschen war das nicht unverständlich, fand Dorothea.

Am Abend fragte sie ihre Mutter, ob sie ein paar Minuten Zeit für sie hätte. Nachdem sie das Problem überdacht hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, sich ihr anzuvertrauen und sie um Rat zu fragen.

»Was ist denn, Kind?« Ihre Mutter sah so müde aus, dass Dorothea kurz mit sich kämpfte. Aber sie brauchte die Lebenserfahrung einer Älteren.

»Ich habe einen Heiratsantrag bekommen, Mama«, platzte sie heraus. Ihre Mutter reagierte nicht wie erwartet. Anstatt sich zu freuen, runzelte sie die Stirn. »Von wem denn? Du hast doch gesagt, dein Mr. Somerhill wäre verreist?«

»Nicht von Miles. Miles denkt gar nicht daran, mich oder sonst jemanden zu heiraten. Von Mr. Robert Masters.«

»Und wer ist Mr. Robert Masters? Ich kann mich nicht an jemanden dieses Namens erinnern.«

»Er war auf dem Vortrag von Professor Menge, zu dem ich vor ein paar Wochen mit Jane und August gegangen bin. Er ist Viehzüchter am Murray River bei Wellington. Ein sehr wohlhabender Viehzüchter. Um nicht zu sagen: steinreich.«

»Gut, dass dein lieber Vater dich nicht so reden hört«, seufzte Mutter Schumann. »Aber davon abgesehen: Magst du ihn?«

»Er machte auf mich einen sehr netten Eindruck«, sagte Dorothea ausweichend. »Und Jane hält große Stücke auf ihn. Wärst du einverstanden, wenn ich ihm zusagte?«

»Wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, es ginge um die Einladung zu einem Ball! Eine Ehe sollte aber mehr sein. Ich hatte gehofft, du würdest jemanden finden, mit dem du so glücklich sein könntest, wie dein Vater und ich es waren.« Ihre Mutter sah sie traurig an. »Dorchen, mein Kind, ich bin nicht sicher, ob es klug ist, in diesen Tagen eine so wichtige Entscheidung zu treffen. Du solltest damit zumindest ein paar Wochen warten.«

»Das kann ich nicht!«

»Wieso nicht?« Ihre Mutter musterte sie scharf. Unter ihrem inquisitorischen Blick senkte Dorothea die Augen.

»Es eilt ihm. Seine erste Frau ist gestorben, und er braucht jemanden für das Kind und seine kranke Tante.«

»Das tut mir leid für ihn. Aber ich sehe immer noch keinen Grund, dass du dich kopflos in diese Ehe stürzt. Ich dachte immer, du und Mr. Somerhill, ihr würdet ein Paar.« Mutter Schumann kniff die Augen zusammen und nahm ihre Älteste noch einmal genau ins Visier. »Kann es sein, dass diese Entscheidung etwas mit der unerwarteten Abreise dieses jungen Herrn zu tun hat?« Als Dorothea darauf nicht antwortete, fuhr sie fort: »Gekränkte Eitelkeit ist keine gute Basis für eine Ehe, Kind.«

»Es geht nicht um meine Eitelkeit, Mama.« Dorothea ballte die Hände zu Fäusten und wappnete sich innerlich für das Geständnis, das sie gleich machen musste. »Ich muss ihn so rasch wie möglich heiraten, weil ich ein Kind von Miles erwarte.«

Das Schweigen währte so lange, dass Dorothea sich fragte, ob ihre Mutter sie gehört hatte. Ihre erschlafften Züge ließen keine Gefühlsregung erkennen. Schließlich sagte sie mit tonloser Stimme: »Dann musst du tun, was du für richtig hältst. Ich kann dir keinen Rat geben.« Sie erhob sich und schlurfte gebeugt wie eine alte Frau aus dem Raum.

Robert W. Masters erschien am nächsten Tag gegen elf Uhr. »Schon wieder einer«, stöhnte Karl, als das Getrappel der Pferdehufe vor dem Haus verstummte. »Nimmt das denn kein Ende?« Er reckte den Hals, um durch die Musselingardinen einen Blick auf den Neuankömmling zu werfen. »Wer ist das? Er sieht aus wie einer von den feinen Pinkeln aus dem Club in der King William Street. Und sogar ein Bukett hat er dabei! Komm, Koar, lass uns verschwinden!« Während die beiden Jungen, gefolgt von Lischen, ihre Worte in die Tat umsetzten, erhob August sich und warf ebenfalls einen Blick auf den unwillkommenen Besucher.

»Den Mann habe ich schon einmal gesehen«, bemerkte August und verfolgte ohne größere Anteilnahme, wie Masters, behindert durch sein steifes Bein, umständlich vom Bock des Gigs kletterte. »Schau mal, Doro, ist das nicht dieser seltsame Mann, der sich uns selber vorgestellt hat?«

»Wenn es Mr. Masters ist, dann will er vor allem zu mir«, sagte Dorothea, ohne von ihrer Näharbeit aufzusehen. »Wir haben etwas zu besprechen.«

»Was hast du mit einem wildfremden Mann zu besprechen?« August sah sie völlig perplex an. »Du hast mit ihm keine zwei Worte gewechselt!«

Mutter Schumann hatte bereits die Haustür geöffnet und nahm in stoischer Ruhe die Beileidsbekundung entgegen. Sie hörten, wie sie sagte: »Ich bitte, mich zurückziehen zu dürfen. Mir ist nicht ganz wohl. Dorothea ist im Salon. August, hilfst du mir bitte auf mein Zimmer?«

Dorothea warf ihrem Bruder einen warnenden Blick zu und zischte: »Na los, geh schon! Und versuch, nicht ganz so belämmert dreinzuschauen!« Gehorsam tat er wie geheißen, und nach ein paar Worten zwischen den beiden Männern war sie mit ihrem zukünftigen Ehegatten allein.

Von ihrem kurzen Aufeinandertreffen hatte sie ihn als gepflegte Erscheinung in Erinnerung. Tatsächlich war er mehr als das. Bei näherer Betrachtung war nicht zu übersehen, dass die elegant geschnittenen Stiefel aus feinstem Leder gefertigt waren, der Anzug faltenlos den gut proportionierten Körper umspannte. Zwar stützte er sich auf einen Stock mit Silberknauf, aber dennoch wirkte er nicht im Mindesten gebrechlich. Ohne das leichte Hinken hätte man den Stock für ein modisches Accessoire gehalten.

Das leicht gebräunte Gesicht, die Körperspannung, die Vitalität, die er ausstrahlte, ließen vermuten, dass er sich viel im Freien aufhielt. Bei einem Viehzüchter war das ja auch zu erwarten. Sicher war er viel unterwegs …

»Prüfung bestanden?«, murmelte er und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. Er trat auf sie zu, um ihr ein exquisit gebundenes Bukett aus weißen Rosen, zartrosafarbenen Nelken und silbernen Eukalyptuszweigen zu überreichen. »Miss Schumann, lassen Sie mich mein ehrliches Bedauern darüber ausdrücken, dass ich meine Werbung zu einem so unpassenden Zeitpunkt vortragen muss! Ich bin mir der Tatsache vollkommen bewusst, welch eine Zumutung es für Sie sein muss, sich jetzt mit meinen vergleichsweise lächerlichen Problemen abgeben zu müssen. Umso größer ist meine Dankbarkeit, dass Sie bereit waren, mich zu empfangen. Darf ich das als ein Ja auffassen?«

Dorothea nickte, weil ihr jetzt doch etwas beklommen zumute war. Obwohl sie es in einer langen Nacht geschafft hatte, ihre Zweifel, ob sie richtig handelte, zu zerstreuen, verlangte dieser letzte, endgültige Schritt ihr einiges an Überwindung ab.

»Wie schnell können wir heiraten – Robert?«, fragte sie so forsch, dass sie selber über sich erschrak.

Wenn Masters über die Ungeduld der Braut erstaunt sein sollte, ließ er sich nichts anmerken. »Ich denke, dass ich Reverend Howard überzeugen könnte, das Aufgebot auf ein paar Tage zu beschränken«, erwiderte er gelassen. »Wenn deine Familie keine Einwände erhebt, dass alles so – überhastet – abläuft …«

»Eine Hochzeitsfeier wie die von Jane wäre jetzt sowieso nicht angebracht. Und Miss Kilner hat angedeutet, dass du dringend auf die Hilfe einer Frau angewiesen wärst.«

Seine dunklen Brauen hoben sich. »So, hat sie das? Ich fürchte, die gute, alte Mary ist da etwas über das Ziel hinausgeschossen. Natürlich wäre eine lange Verlobungszeit in meiner augenblicklichen Lage eher unpraktisch; aber so prekär, dass ich meine zukünftige Frau praktisch vor den Altar zerren müsste, ist sie nicht. Auf ein paar Wochen kommt es mir nicht an. Ich möchte nicht, dass du dich überrumpelt fühlst.«

Dorothea fühlte Panik in sich aufsteigen: Eine längere Verlobungszeit würde all ihre raffinierten Planungen über den Haufen werfen. Sie hatte einfach nicht mehr genug Zeit. Sie wusste nicht, ab wann ein Ehemann die Schwangerschaft seiner Frau bemerkte, aber dieser Robert Masters war kein Dummkopf. Wenn sie ihm weismachen wollte, dass ihr Kind von ihm war, musste die Hochzeitsnacht sehr bald stattfinden. Also suchte sie Zuflucht bei dem weiblichen Trick, den sie immer aufs Tiefste verabscheut hatte: Sie griff nach einem Taschentuch und vergrub ihr Gesicht darin. »Es ist so bedrückend hier«, stammelte sie. »Ich schäme mich, es zu sagen, aber als Miss Kilner von einer möglichst raschen Hochzeit sprach, war das ein gewichtiger Grund, deinen Antrag anzunehmen. Bitte, zwing mich nicht, noch lange in diesem Trauerhaus auszuharren!«

Sie musste einen Nerv bei ihm getroffen haben, denn er trat neben sie und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Die Wärme, die seine Handfläche ausstrahlte, schien sich in ihre Haut zu brennen. »Ich verstehe dich besser, als du denkst«, sagte er leise. »Weine nicht, Dorothy, wenn es wirklich dein Wunsch ist, werde ich die nötigen Formalitäten so rasch wie möglich erledigen. Nächste Woche müssten wir Adelaide dann schon als Mann und Frau verlassen können.«

Dorothea ließ das Tuch sinken und lächelte ihn an. »Danke, Robert!«

»Ich habe dir zu danken. Mary behauptete, du wärest die perfekte Frau für mich, und sie hatte – wie immer – recht. Ich freue mich schon darauf, dir alles auf Eden-House zu zeigen.«

»Ich freue mich auch darauf«, sagte Dorothea höflich, doch in ihrem Innersten kämpfte sie mit dem Unbehagen, es auf so hinterhältige Weise bewerkstelligt zu haben. Quasi als Wiedergutmachung war sie fest entschlossen, ihrer neuen Rolle, so gut es irgend ging, gerecht zu werden. Robert Masters sollte es nicht bedauern, um sie angehalten zu haben! Um ihm zu zeigen, dass sie ihre zukünftigen Pflichten als Stiefmutter sehr ernst nahm, erkundigte sie sich nach seiner Tochter.

»Heather ist ein bisschen ungebärdig«, gab Masters zu. »Sie braucht eine feste Hand. Umso mehr, als Tante Arabella ihr meist ihren Willen gelassen hat. Ich verstehe nichts von Kindererziehung, aber ein sechsjähriges Mädchen sollte nicht wie ein Stallbursche fluchen, wenn es sich über etwas ärgert. Ich hoffe, das wirst du ihr bald abgewöhnen.«

Dorothea hoffte das auch. Jetzt schon sah sie der Begegnung mit ihrer Stieftochter voller Nervosität entgegen.

»Und deine Tante?«

Robert lächelte, ein warmes Lächeln, das sein Gesicht auf einmal jung und unbekümmert aussehen ließ. »Du wirst Tante Arabella mögen! Sie ist ein Schatz. Vielleicht ein bisschen verschroben – sie besteht immer noch auf der Mode ihrer Jugend und pflegt auch sonst ein paar harmlose Marotten –, aber daran gewöhnt man sich rasch.«

Ehe Dorothea sich näher nach den sogenannten Marotten erkundigen konnte, hüstelte August vor der Tür zum Salon. Der Beschützerinstinkt ihres Bruders konnte manchmal etwas lästig werden. »Robert hat mir einen Antrag gemacht, und ich habe ihn angenommen«, informierte sie ihn, kaum dass er den Raum betreten hatte. »Wir werden so bald wie möglich heiraten.«

August fehlten sichtlich die Worte. Robert Masters trat ein paar Schritte auf ihn zu und sagte halblaut: »Tut mir leid, ich hätte natürlich vorher mit Ihnen sprechen müssen. Aber die besonderen Umstände … Ich hoffe doch, Sie haben keine Einwände?«

»Einwände? Nein, nein, welche denn?«, stammelte August völlig verwirrt. »Aber Sie kennen Doro doch gar nicht. Ich meine, wie können Sie ihr da gleich einen Antrag machen? Ich dachte immer …«

Ehe ihr Bruder weitersprechen konnte, griff Dorothea ein. »Miss Kilner hat die Verlobung vermittelt.« Sie stellte sich neben Robert Masters und griff nach seinem Arm. »Willst du uns nicht gratulieren?«

»Natürlich.« August wurde rot bis unter die Haarwurzeln. »Bin nur so überrascht. Ich wünsche dir alles Gute, Doro!« Er umarmte sie kurz und heftig. Dann streckte er seinem zukünftigen Schwager die Hand hin: »Herzlichen Glückwunsch, Mr. Masters.«

»Robert, bitte. Wir sind ja jetzt bald verwandt.«

»Sehr bald«, bestätigte Dorothea. »Wir werden diese oder spätestens nächste Woche heiraten. Robert kann seine Tochter nicht lange alleine in Eden-House lassen.«

Diesmal fehlten August nicht nur die Worte. Er starrte sie lediglich an und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Ich weiß, es ist absolut gegen jede Konvention«, sagte Robert Masters. »Aber die Trauerzeit abzuwarten würde bedeuten, dass Heather noch ein halbes Jahr ohne mütterliche Aufsicht bleiben muss. Daher bin ich Dorothea zutiefst dankbar, dass sie sich bereit erklärt hat, sofort und ganz im Stillen zu heiraten.«

»Es gefällt mir trotzdem nicht«, sagte August und sah nicht gerade glücklich drein. »Bei diesen überstürzten Heiraten gibt es immer jede Menge bösartigen Klatsch. Ich möchte nicht, dass es von meiner Schwester heißt, sie hätte heiraten müssen.«

»August, was fällt dir ein!«, fauchte Dorothea, zutiefst entsetzt darüber, wie nahe ihr ahnungsloser Bruder der Wahrheit gekommen war.

»Ich denke, diese Art von Tratsch dürfte unsere geringste Sorge sein«, murmelte Masters ironisch. »Aber Miss Kilner ist sicher gerne bereit, die Sache klarzustellen und meine familiäre Notlage als Begründung publik zu machen.«

Noch nicht völlig überzeugt, brachte August keine weiteren Einwände vor. Erst als Masters sich mit einem keuschen Kuss auf Dorotheas Stirn verabschiedet hatte, brach es aus ihm heraus: »Was ist nur in dich gefahren? Wir werden es schon irgendwie schaffen, auch ohne Papa. Wir werden uns einschränken müssen, ja, aber so verzweifelt ist unsere finanzielle Lage nun auch wieder nicht, dass du dich meistbietend verkaufen musst!«

»Halt den Mund!«, fuhr sie ihn an. Ihre Nerven lagen nach einer durchwachten Nacht nahezu blank, und Augusts unerwarteter Widerstand reizte sie bis aufs Blut. »Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich ihn heiraten will?«

»Aber warum? Er ist alt und hat nicht gerade den besten Ruf, um mich vorsichtig auszudrücken. Wieso solltest du ihn heiraten wollen?«

»Er ist reich, und ich mag ihn ganz gern. Ist das nicht genug?«

»Nein, es ist nicht genug!« August packte sie an den Oberarmen, um sie zu zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich versteh dich nicht mehr. Du hast dich doch immer über diese Frauenzimmer lustig gemacht, die nur darauf aus sind, sich einen reichen Ehemann zu angeln. Und jetzt machst du es selber.«

»Man wird älter und vernünftiger«, gab sie schnippisch zurück und riss sich los. »Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten. Ich weiß schon, was ich tue!«

»Ich hoffe, dass du das wirklich weißt.« Er wandte sich ab und ging verärgert aus dem Zimmer.