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Der erste Anblick von Adelaide enttäuschte Dorothea zutiefst. Sie hatte zumindest eine Stadt wie Dresden erwartet, nicht aber diese jämmerliche Ansammlung halb verfallener Häuser. Die Straßen waren ja noch nicht einmal gepflastert! Das Ochsengespann, mit dem ihr Vater sie abgeholt hatte, versank immer wieder bis zu den Radnaben im gelblichen Schlamm des Weges. Dann mussten sie alle absteigen und so lange zu Fuß gehen, bis die Räder wieder festeren Untergrund hatten. Ihre Schuhe waren inzwischen total durchweicht, die nassen Rocksäume schlugen bei jedem Schritt schwer und kalt gegen ihre Waden.

Missmutig glitt ihr Blick über die regennassen Büsche am Wegrand. Da waren sie endlich auf dem »trockenen Land« und dann das!

Die letzten Wochen auf dem Schiff hatte sie fast unerträglich gefunden. Nach dem sogenannten »Zwischenfall« hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass sie und August während der Deckstunden bei der übrigen Familie auf dem abgeschiedenen Kajütdeck blieben. Dorthin hatten die anderen Passagiere keinen Zutritt. Während ihr Bruder nicht unzufrieden mit diesem Arrangement schien, hatte sie die Stunden mit Ian schmerzlich vermisst. Statt mit ihm auf dem Achterdeck so etwas wie Freiheit zu genießen, musste sie nun mit Lischen und ihrer Mutter »Schwarzer Peter« oder andere alberne Kindereien spielen. Nur äußerst selten war es ihr gelungen, sich davonzuschleichen. Und meist war dann Ian gerade nicht zu sehen.

In Port Adelaide hatten sie kaum ein paar Minuten gehabt, um sich zu verabschieden. Im allgemeinen Aufruhr hatte er sie hinter den Aufbau der Back gezogen, ihr sein kostbares Messer in die Hand gedrückt und gesagt: »Hier, nimm es. Ich habe sonst nichts, was ich dir als Andenken schenken könnte.«

»Das kann ich nicht annehmen«, hatte sie geflüstert, weil sie ihrer Stimme nicht so recht traute. »Ich weiß doch, wie wichtig es dir ist.«

»Ich möchte aber, dass du es hast. Ich kann mir ein neues besorgen. Vielleicht ist es dir eines Tages noch nützlich. Es ist immer gut, sich verteidigen zu können.«

Das war typisch Ian! Unter seiner abweisenden Schale verbarg er recht gut eine überraschend fürsorgliche Natur.

»Danke, ich werde gut darauf aufpassen«, hatte Dorothea gestammelt und ihm vom Abschiedsschmerz überwältigt die Arme um den Hals geworfen. Als sie ihn auf die raue Wange geküsst hatte, war er seltsam erstarrt, ehe er sich hastig losgerissen hatte. »Vergiss nicht zu üben, um dein Handgelenk geschmeidig zu halten«, hatte er ihr noch zugerufen, dann sein Bündel gepackt und war ohne einen Blick zurück auf den vierschrötigen Viehzüchter aus Neu-Südwales zugegangen, bei dem er seine Überfahrt abarbeiten sollte.

So viel zu ihrem schönen Plan, die Unterrichtsstunden fortzusetzen! Der Viehzüchter hatte seine Ländereien am Oberlauf des Murray River. Gewissermaßen am Ende der Welt, wie August ihr mithilfe einer von ihm grob skizzierten Karte Südaustraliens verdeutlicht hatte. Oder »hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen«, wie Lischen es unerwartet poetisch in den Worten ihres Lieblingsmärchens ausdrückte.

»Da vorn ist es!« Die Stimme ihres Vaters riss sie aus ihren trübsinnigen Betrachtungen. Die Mission samt dem Haus, in dem sie von nun an alle wohnen würden, lag außerhalb von Adelaide. Obwohl das Wetter alles in einen feuchten Nebelschleier hüllte, war doch zu erkennen, dass die »Native Location«, wie sie genannt wurde, ausgesprochen idyllisch am Nordufer des Torrens River gelegen war. Neben einigen flachen Bauten aus Lehm und mit Schilf gedeckten Dächern stand ein solide gemauertes, zweistöckiges Steinhaus mit umlaufender Terrasse und rotem Ziegeldach.

»Willkommen zu Hause, meine Lieben«, rief ihr Vater, sobald der Wagen direkt vor der großen Vordertreppe zum Stillstand gekommen war. »Ach, was habe ich meine Familie vermisst!« Mit glücklich strahlendem Gesicht bot er seiner Frau den Arm. »Darf ich bitten, gnädige Frau?«

So feierlich, als geleite er sie in eine fürstliche Residenz, führte er sie die Treppe hinauf und öffnete ihr die Vordertür. »Nun, was sagt ihr dazu? Ist das nicht ein großartiges Haus?«

Großartig war vielleicht übertrieben, aber verglichen mit der Kajüte, die monatelang ihre beengte Unterkunft gewesen war, erschien es ihnen allen geräumig, hell und luftig. Im Untergeschoss trat man rechts von der Eingangstür in den zukünftigen Salon. »Ich dachte mir, dass du ihn sicher lieber selber einrichten möchtest, Liebste«, erklärte der Vater die gähnende Leere. Linker Hand, im Esszimmer, zeigte er stolz auf eine Einrichtung aus englischer Eiche. »Das alles – Tisch, Stühle, Vertiko und Anrichte – habe ich äußerst günstig erstanden. Der arme Mann hatte sein ganzes Geld verspekuliert und musste seine Möbel verkaufen, um die Passage zurück nach London zahlen zu können.«

Im hinteren Teil lagen das Arbeitszimmer mit all seinen geliebten Büchern und einem bequemen Ohrensessel, Küche und Speisekammer.

Im Obergeschoss gab es neben dem Elternschlafzimmer mit separatem Ankleidezimmer drei weitere Räume und eine Wäschekammer.

Dorothea wählte das Zimmer über der Küche, weil es den besten Ausblick auf den Torrens River bot, August dasjenige unmittelbar neben der Treppe, um niemanden unnötig zu stören, wenn er abends noch ausginge. Lischen wurde im sogenannten Ankleidezimmer mit der Verbindungstür zum Elternschlafzimmer untergebracht, und Karl bezog, wie immer still und ohne Murren, das letzte freie zwischen der Wäschekammer und Dorotheas Raum.

Wie im Untergeschoss war auch hier die Möblierung noch ziemlich spartanisch. Nach der monatelangen Beengtheit der Kajüte störte sich allerdings niemand von ihnen daran. »Es ist direkt ungewohnt, nirgends anzustoßen«, stellte August fest, als er zusammen mit dem Ochsenknecht alle Reisekisten ablud und auf die Zimmer verteilte. »Und irgendwie kommt es mir seltsam vor, dass der Boden unter meinen Füßen nicht mehr ständig schaukelt.«

Daran musste Dorothea denken, als sie am nächsten Morgen erwachte und für einige Augenblicke orientierungslos war. Auch sie hatte sich so an den beständigen Seegang gewöhnt gehabt, dass der feste Untergrund sie irritierte. Mit dem leicht schwankenden Gang, den sie sich alle angewöhnt hatten, ging sie zum Fenster. Die Wolken hatten sich verzogen. Nur noch ein leichter Dunstschleier hing über dem Wasser des Torrens River, auf dem die Morgensonne glitzerte wie Blattgold. In den Bäumen lärmten Vögel, die ganz anders klangen als die heimischen Finken und Meisen. Sie kniff die Augen gegen das blendende Licht zusammen und versuchte, sie genauer zu betrachten. Bunt schienen sie zu sein. Ausgesprochen bunt. Die Äste waren übersät mit Unmengen kanariengelber und himmelblauer Farbtupfer. Es sah aus wie ein Blütenmeer. Bis auf ein unmerkliches Signal hin der ganze Schwarm aufflog und zwischen den Baumwipfeln verschwand.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, Adelaide und die Umgebung näher zu erkunden, aber kaum hatte die Familie sich zum ersten gemeinsamen Frühstück, das zur allgemeinen Erleichterung nicht mehr aus dem gewohnten Porridge, sondern aus frisch gebackenem Brot, Butter und Honig bestand, versammelt, da erschienen bereits die ersten Besucher.

»Oh, das wird der gute Teichelmann sein«, sagte ihr Vater, als von draußen Stimmengewirr zu hören war, und stellte behutsam die Tasse Tee ab, die seine Frau ihm soeben eingeschenkt hatte. »Er will euch wohl seine Aufwartung machen.«

»So früh am Tag?« Ihre Mutter runzelte ungehalten die Stirn.

»Er ist ein wenig verwildert«, gab der Vater zu. »Aber ein herzensguter Mensch. Du wirst schon sehen.«

»So wie es sich anhört, bringt er einen ganzen Hofstaat mit«, bemerkte August launig und erhob sich, um aus dem Vorderfenster zu spähen. »Ach, du lieber Himmel …«

»Er hat die Schüler und einige Eltern dabei«, erklärte ihr Vater und ging schon zur Haustür, um den frühen Gast willkommen zu heißen. »Gestern hatte ich ihnen freigegeben, damit sie ihre Familien besuchen konnten, und nun haben die sie wiederum hierher begleitet.«

»Bitte, Theodor, wir müssen sie doch nicht etwa alle hereinbitten?« Das kaum verhohlene Entsetzen in der Stimme ihrer Mutter war verständlich, fand Dorothea, angesichts der laut schnatternden Menge, die dort draußen durcheinanderwuselte. Bisher hatte sie noch keine australischen Eingeborenen aus der Nähe gesehen. Jetzt nutzte sie die Gelegenheit, sie genau zu betrachten. Es waren mindestens zwanzig Kinder und ebenso viele Erwachsene. Allesamt ebenholzbraun, mager und sehnig, mit üppigem, schwarzem Kraushaar. Auf den ersten Blick schienen sie erschreckend hässlich; ein Eindruck, der durch die zerrissenen, verdreckten Kleidungsstücke noch verstärkt wurde. Nicht einmal die Bettler in Dresden hätten solche Lumpen noch angezogen. Weder trugen sie irgendeine Art von Kopfbedeckung noch Schuhe oder Sandalen.

»Beruhige dich, Liebste.« Theodor Schumann tätschelte ihre Hand, mit der sie seinen Jackenärmel gepackt hatte. »Das würden sie gar nicht wollen. Aber es ist eine gute Gelegenheit, euch alle miteinander bekannt zu machen. Kommt.«

Dorothea griff nach Lischens Hand und zog sie hinter sich mit hinaus. August und Karl folgten ihnen. Mitten unter den Eingeborenen ragte ein hochgewachsener, barhäuptiger Mann auf wie ein Turm: Missionar Christian Teichelmann, von dem ihr Vater nur in Worten höchster Bewunderung geschrieben hatte. Deutlich jünger als Theodor Schumann hatte er nur zu gerne die Reisen zu den Gruppen im Hinterland übernommen und sich dabei ein immenses Wissen über die Eingeborenen der Umgebung angeeignet.

Eben hatte er ihren Vater oben an der Treppe gesehen und hob die Hand, um ihm zuzuwinken. »Gott zum Gruß«, rief er. »Wie freue ich mich, endlich die Familie meines werten Kollegen kennenzulernen! Gnädige Frau, Ihr Diener.«

Die Schwarzen wichen ein wenig zurück und schienen äußerst interessiert zu beobachten, wie Familie Schumann und Missionar Teichelmann sich begrüßten. Er verbeugte sich formvollendet vor ihrer Mutter, machte den guten Eindruck jedoch in Windeseile wieder zunichte, indem er ihr ein abgehäutetes Tier hinhielt. Auguste Schumann war nicht übermäßig empfindsam. Als Hausfrau war sie den Anblick toter Tiere durchaus gewöhnt. Dies jedoch ließ sie angeekelt zurückzucken. »Ein Wallaby«, erklärte er, ohne ihren Abscheu zu realisieren. »Die guten Leute haben es heute bei Sonnenaufgang als Willkommensgeschenk für Sie erlegt.«

Es war offensichtlich, dass ihre Mutter es nicht über sich bringen konnte, die schlaffe, seltsam deformiert wirkende Form anzufassen. Also nahm Dorothea sich ein Herz, trat vor, knickste, sagte: »Vielen Dank«, und fasste das unwillkommene Geschenk mit spitzen Fingern an den Hinterläufen. Vorsichtig, um sich nicht mit Blut zu beschmieren, trug sie es in die Küche und legte es erst einmal in den Spülstein. Dort konnte man es später genauer inspizieren und eventuell in den Fluss entsorgen. Ein seltsames Tier. Die Bilder, die sie von Kängurus gesehen hatte, hatten aufrecht auf zwei großen Hinterläufen hockende Kreaturen gezeigt mit winzigen Vorderbeinen und einem Kopf wie ein Reh. Dies hier war vielleicht so groß wie ein Feldhase. Aber die Proportionen waren ähnlich. Wenn sie wenigstens den Kopf abgeschnitten hätten! Die dunklen, blinden Augen schienen sie vorwurfsvoll anzustarren. Dorothea erschauerte unwillkürlich, warf ein Tuch darüber und ging zurück zu den anderen.

Dort stellte ihr Vater gerade seine Zöglinge vor. »Das ist Koar, mein Musterschüler. Er liest nicht nur mühelos mehrsilbige Wörter und schreibt nach Diktat nahezu fehlerlos, er beherrscht auch alle Grundrechenarten, kann das Vaterunser und die Zehn Gebote aufsagen und ist sehr gut in Geografie.«

Dem Jungen war nicht anzusehen, ob er überhaupt verstand, dass sein Lehrer über ihn sprach. Irgendetwas an ihm war anders als bei seinen Mitschülern. War es seine so betont zur Schau getragene Gleichgültigkeit, während die anderen vor Ungeduld, endlich ihren Knicks oder Diener vor Auguste Schumann machen zu dürfen, mit den Füßen scharrten? Oder die Aura von Einsamkeit, die ihn umgab? Hielt er sich absichtlich abseits von den anderen? Warum war er als anscheinend Einziger nicht in Begleitung eines Verwandten?

Die Reihe rückte weiter vor, und sie erwiderte automatisch das scheue, freche oder neugierige Lächeln in einem Gesicht nach dem anderen.

Während die Eingeborenen nach der Begrüßung alle zu der Feuerstelle vor der Lehmhütte schlurften, in der die Kinder untergebracht waren, und dort ihre mitgebrachten Essensvorräte auspackten, zogen Familie Schumann und Missionar Teichelmann sich wieder ins Speisezimmer zurück.

»Herr im Himmel, welch ein Anblick: Tee und Honigbrot!« Teichelmann rieb sich vor Freude die Hände. »Ein wahres Festmahl nach all dem, was ich die letzten Wochen im Busch zwischen die Zähne bekommen habe.«

»Was denn so zum Beispiel?«, wollte Lischen es genauer wissen.

»Lass mich nachdenken: Gestern war es eine Eidechse, vorgestern ein Flughörnchen mit Birirablättern, vorvorgestern …«

»Sie ziehen mich auf! So was isst man doch nicht.«

»O doch, es gibt kaum etwas, was die Eingeborenen nicht essen. Als ich hier neu war, habe ich oft an ihren Mahlzeiten teilgenommen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Dabei habe ich Bekanntschaft mit diversen Maden, Insekten und anderen nach unseren Maßstäben nicht essbaren Dingen gemacht, die du mir nicht glauben würdest.«

»Das ist ja eklig«, hauchte Lischen sichtlich erschüttert. »Wieso können sie nicht normal essen wie wir?«

Teichelmanns Gesicht wurde ernst. »Für sie ist es normal. Schließlich sind sie es nicht anders gewöhnt. Wenn du seit deiner frühen Kindheit Regenwürmer und Engerlinge gegessen hättest, fändest du sie auch nicht eklig.«

»Igitt, Engerlinge«, Lischen schüttelte sich bei der Vorstellung, und auch Dorothea musste schlucken. Sie sah, wie ihre Eltern einen Blick wechselten. Ihr Vater nickte, räusperte sich und sagte: »Bitte, Kollege Teichelmann, könnten wir vielleicht das Thema wechseln?«

Teichelmann sah einen Augenblick verwirrt drein, dann verstand er und lächelte reumütig. »Verzeihung, ich fürchte, ich bin tatsächlich ein wenig verroht. Aber gut, dass Sie mich daran erinnern: Es gibt da etwas Wichtiges, das ich mit Ihnen zu besprechen hätte.« Er leerte seine Tasse mit einem einzigen Schluck und lehnte sich zurück. »Gestern Abend hatte ich eine Unterredung mit Gouverneur Gawler und Mr. Moorhouse. Beide Herren haben nochmals ihr Interesse daran bekräftigt, dass diese Schule erhalten bleibt. Sie wissen ja, dass ich in Kürze zum amtlichen Dolmetscher berufen werde und damit dann nicht mehr als Lehrer zur Verfügung stehe. Kurz und gut, die Herren haben meinem Vorschlag zugestimmt, Ihrem ältesten Sohn ein Salär von dreiunddreißig Pfund per annum als Hilfslehrer zuzugestehen. Ich weiß, Sie hatten andere Pläne, aber wären Sie unter diesen Umständen bereit, das Angebot zu akzeptieren, bis Dresden Ersatz für mich schickt?«

August fiel beinahe sein Honigbrötchen aus der Hand. »Aber ich kann ihre Sprache gar nicht«, wandte er ein. »Wie sollte ich mich ihnen denn verständlich machen?«

Teichelmann lächelte beruhigend. »Sie können doch Englisch. Das Gouvernement möchte sowieso, dass der Unterricht verstärkt auf Englisch gehalten wird. Man ist zu der Ansicht gelangt, dass es nicht sinnvoll sei, ihnen Lesen und Schreiben in einer Sprache beizubringen, in der sie diese Fertigkeiten aller Wahrscheinlichkeit nach niemals anwenden werden.«

»Das finde ich sehr vernünftig«, mischte sich überraschend Auguste Schumann ein. »Um in Australien bestehen zu können, muss man der englischen Sprache mächtig sein. Alles ist doch auf Englisch: die Gesetze, die Zeitungen, der Handel. Ein einheimischer Dialekt, so schön und ehrwürdig er auch sein mag, hilft einem keinen Schritt weiter.«

Dorothea erinnerte sich, wie ihre Mutter darüber geschimpft hatte, dass sie gezwungen sein würde, ihre Muttersprache zugunsten der englischen Sprache aufzugeben. Dass sie jetzt so entschieden dafür sprach, wunderte sie. Ob es damit zusammenhing, dass die Finanzen der Familie ziemlich angespannt waren und ein zusätzliches Einkommen ihr daher sehr willkommen war?

»Ich will das nicht für dich entscheiden, August. Du bist inzwischen alt genug, das selber zu tun«, sagte Vater Schumann leise. »Was meinst du dazu?«

August errötete vor Verlegenheit und warf Dorothea einen hilfesuchenden Blick zu. »Meine Schwester ist viel begabter als ich. Sie hat auf dem Schiff einem Jungen Lesen und Schreiben beigebracht. Kann sie nicht an meiner Stelle Lehrerin sein?«

»Unmöglich.« Teichelmann schüttelte heftig den Kopf. »Die Eingeborenen betrachten Frauen als inferiore Wesen. In ihren Augen wäre es eine Beleidigung, und sie würden sofort alle Kinder aus der Schule nehmen.«

»Ich bin sicher, dass August der Aufgabe mehr als gewachsen ist«, sagte Dorothea mit Entschiedenheit, wobei sie versuchte, ihrem Bruder mit den Augen zu signalisieren, sich gefälligst nicht so zu zieren. »Du bist viel zu bescheiden, Lieber!« Dreiunddreißig englische Pfund waren ja wohl ein gutes Argument.

»Wenn ihr meint, dass ich es kann …«

»Dann betrachte ich es als abgemacht.« Teichelmann streckte August die Hand entgegen. »Gratulation, Herr Hilfslehrer Schumann!«

Lange hielt er sich nicht mehr auf, bevor er sich verabschiedete. Draußen wurde er sofort von den Eingeborenen umringt und plauderte angeregt in ihrer Sprache mit ihnen, ehe er Richtung Adelaide verschwand.

»Was für ein ungewöhnlicher Mensch«, sagte August und sah ihm vom Fenster aus nach. »Er scheint sich glänzend mit ihnen zu verstehen.«

»Das tut er«, bestätigte sein Vater. »Es gibt wohl kaum jemanden, der ihre Sprache besser beherrscht oder mehr über ihre Mythen und Sagen wüsste. Er und Kollege Schürmann haben bereits eine Grammatik und Vokabelsammlung der Kaurna-Sprache veröffentlicht. Nur schade, dass die Eingeborenen so gar keine Bereitschaft zeigen, die Errungenschaften der Zivilisation anzunehmen! Teichelmann hatte große Hoffnungen auf eine Musterfarm gesetzt. Aber sie wollen einfach keinen Ackerbau betreiben. Lieber streifen sie durch den Busch und sammeln, was sie an Essbarem finden.«

»Das ganze Jahr über? Auch im Winter?« Dorothea grauste es bei der Vorstellung.

»Die Winter sind hier nicht wie in Deutschland«, sagte ihr Vater. »Es friert so gut wie nie. Hauptsächlich regnet es, und der Wind kann ziemlich unangenehm werden. Deshalb ziehen sie dann in die Bergregionen und bauen dort etwas festere Hütten. Im Frühling kommen sie dann wieder hier in die Ebene und an die Küste zurück.«

»Die Missionsschüler auch?«

Theodor Schumann lächelte ein wenig traurig. »Eigentlich sollten sie das ganze Jahr über hier sein. Aber das tun die wenigsten. Wenn ihre Familien in der Nähe kampieren, zieht es sie hinaus. Manche kommen wieder, manche nicht. Das unstete Wanderleben liegt ihnen wohl im Blut.« Er erhob sich und klopfte August auf die Schulter. »Komm mit, mein Sohn, damit ich dich deinen zukünftigen Schülern vorstelle!«

Die folgenden Tage waren angefüllt mit häuslichen Verrichtungen. Ihre Mutter bestand darauf, sämtliches Leinen auf den Wiesen hinter dem Haus auszulegen. Die lange Lagerzeit im Unterdeck war ihm nicht gut bekommen. Immer wieder mussten sie es mit Sodalauge besprengen, bis die Stockflecken ausblichen.

Der Tischler und seine Gesellen gingen ständig ein und aus. Zudem hatte ihre Mutter eine Näherin kommen lassen, die ihnen helfen sollte, die Musselingardinen zu säumen, die hier eher als Schutz vor Insekten als vor neugierigen Blicken üblich waren.

Frau Schmidt entpuppte sich als eine unerschöpfliche Informationsquelle. Sie war es auch, die Dorotheas Bild von den harmlosen, gutmütigen Eingeborenen relativierte.

»Ham Se schon das Neueste gehört?«, begann sie wie immer, sobald sie sich mit dem Nähkorb im bequemsten Stuhl niedergelassen hatte. »Jetzt ham se schon wieder zwei neue Leichen vom Maria-Massaker gefunden!«

»Um Himmels willen, wovon sprechen Sie da?« Dorotheas Mutter klang nicht gerade erbaut. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass ihre Nähhilfe offenbar nicht schweigend arbeiten konnte, aber bisher hatte sie sich auf urbanen Klatsch und Tratsch beschränkt.

»Na, von dem Massaker im Juni. Als die schwarzen Teufel unten bei Encounter Bay die Schiffsbesatzung und alle Passagiere abgeschlachtet haben. Männer, Frauen und Kinder. Sagen Se bloß, Se haben davon noch nix gehört?«

Dorothea und ihre Mutter mussten zugeben, dass sie das noch nicht hatten.

»Das sollten Se aber«, meinte Frau Schmidt. »Wo Se doch praktisch Tür an Tür mit denen wohnen!« Dabei warf sie einen ausgesprochen feindseligen Blick auf das Schulhaus, vor dem sich ein Grüppchen Eltern die Wartezeit damit verkürzte, aus Gräsern Schnüre zu flechten und Speerspitzen zu schärfen.

»Jetzt sehn se aus, als könnten se kein Wässerchen trüben. Aber in ihnen lauert der Teufel, das können Se mir glauben. Da hilft das ganze Beten und Missionieren nix. Also: Die Maria segelte hier am 26. Juni los. Sollte zwei Dutzend Siedler nach Hobart bringen. Da sind se aber nie nicht angekommen. Ein paar Wochen später gab es Gerüchte über ein Wrack, und der Gouverneur schickte Inspektor Pullen und ein paar Leute los. Sollten der Sache nachgehen. Und was soll ich sagen? Die sahen einen Haufen Schwarze in europäischen Kleidern da herumstolzieren. Alles blutdurchtränkt!« Frau Schmidt rollte wild mit den Augen.

»Nach einigem Hin und Her führten sie die Polizisten zu einem Platz, an dem acht schrecklich zugerichtete Leichen vergraben waren. Vier Erwachsene und vier Kinder. Das jüngste grad mal zehn Jahre. Schweinebande! Man hätte sie alle aufhängen sollen! Die ganze Bagage!«

»Aber vielleicht haben die Eingeborenen sie gar nicht ermordet«, warf Dorothea ein. »Wenn die armen Menschen nun auf See ertrunken und angespült worden waren?«

Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die so harmlos und friedlich wirkenden Eingeborenen tatsächlich zu Mördern wurden. Und dann auch noch an Kindern?

»O doch, das ham se!« Frau Schmidts Stimme vibrierte vor Triumph. »Warten Se ab! Inspektor Pullen ist dann erst mal nach Adelaide zurück, um dem Gouverneur Bescheid zu sagen. Und Gouverneur Gawler hat nich lang gefackelt und den Polizeichef O’Halloran höchstpersönlich mit einer Strafexpedition losgeschickt.« Sie legte eine Kunstpause ein, um sich ein Glas Limonade einzugießen.

»Und was geschah dann?«, drängte Dorothea, ungeduldig, dass sie endlich weitererzählte.

»Na, die Männer haben die ganze Gegend abgesucht und den Stamm gefangen genommen, der sie ermordet hat. Eine üble Bande – diese Stämme am Murray River. Sogar unsere Schwarzen hier fürchten sie wie den Beelzebub.«

»Wurden sie vor Gericht gestellt?«

Frau Schmidt sah Dorotheas Mutter an, als sei diese nicht recht bei Verstand.

»Aber wo denken Se hin, Frau Schumacher! Das wäre als Abschreckung doch völlig daneben gewesen. Nee, nee: Aufgeknüpft haben se zwei von den Kerlen, an einem Galgen über den Gräbern der armen Opfer. Wahre Teufelsgestalten mit Visagen für Albträume! Ein paar ham se erschossen und die restlichen samt den Frauen und Kindern laufen lassen. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten se se alle aufgeknüpft. Es hätte schon keinen Falschen getroffen.« Sie verzog grimmig das Gesicht. »Dieser ganze Unsinn mit den Aborigine-Schutzgesetzen wird uns noch in Teufels Küche bringen. Woanders ist man auch nicht so zimperlich.«

»Weiß man denn, was aus den restlichen Vermissten wurde? Sucht man nach ihnen?«, erkundigte Dorothea sich. »Es fehlen doch noch einige. Vielleicht sind sie noch am Leben und warten auf Hilfe.«

Frau Schmidt zuckte fatalistisch mit den Schultern. »Die ham die ganze Gegend abgesucht. Wenn jemand noch am Leben wäre, hätten se ihn gefunden. Der Register hat geschrieben, die jetzt wären in Wombatlöchern versteckt gewesen. Weiß der Kuckuck, wo die Saubande die restlichen armen Leute vergraben hat …?« Frau Schmidt verstummte erschöpft und griff erneut zum Limonadenkrug.

»Ist so etwas schon öfter vorgekommen?« Auguste Schumann wirkte besorgt. Dorothea entging nicht, dass sie fast ängstlich zu den Eingeborenen hinübersah, die gerade in lautes Gelächter ausbrachen. »Ich meine, dass sie …« Obwohl sie es nicht über sich brachte, die Worte auszusprechen, verstand Frau Schmidt sofort.

»Bisher nich. Jedenfalls nich hier in der Gegend. Aber man weiß ja nie, was noch kommt, nich?«

»Sie sagten, der Register hätte darüber geschrieben?« Dorothea war fasziniert. »Ob man dort wohl noch alte Exemplare bekommt?« Sie hätte zu gerne mehr darüber in Erfahrung gebracht. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, wenn sie Dünnebiers Empfehlungsschreiben abgab. Bisher ruhte es gut verwahrt unter ihren Taschentüchern. Aber sie war fest entschlossen, so bald wie möglich ihr Glück zu versuchen. Ursprünglich hatte sie einen Artikel über die Waisen schreiben wollen, aber Ian hatte sich schlichtweg geweigert, ihr die nötigen Auskünfte zu geben. Also hatte sie sich hier und da mit Millie unterhalten. Die war sehr viel gesprächiger gewesen und hatte sich auch nicht gescheut, Dorothea erschütternde Einblicke in das Leben auf Londons Straßen zu geben. Danach hatte Dorothea zumindest eine Ahnung davon, was einen dazu bewegte, ans andere Ende der Welt zu reisen. Leider hatte sie Ian nach den Waisenkindern, die zu Taschendieben abgerichtet wurden, auszufragen versucht. Danach war Millie ihr ausgewichen, als ob sie die Krätze hätte. Trotzdem hatte sie eine zu Herzen gehende Geschichte aufs Papier gebracht, die Herrn Dünnebier begeistert hätte. Und hoffentlich auch die hiesigen Redakteure! Sobald sie sie zu Gesicht bekamen …

»Dorothea!« Ihre Mutter wirkte geradezu entsetzt. »Du beabsichtigst doch wohl nicht im Ernst, in eine Zeitungsredaktion zu spazieren, nur um dort deine morbide Neugierde zu befriedigen.« Ihrem Tonfall nach rangierte eine Zeitungsredaktion nur um Haaresbreite vor einer Kaschemme übelsten Rufs. »Lasst uns lieber ein Gebet für diese armen Seelen sprechen.«

Sie senkte den Kopf über ihre gefalteten Hände. Aber noch ehe sie beginnen konnte, kam Lischen laut kreischend um die Hausecke gerannt: »Ein Ungeheuer, ein Ungeheuer! Es hat mich angefaucht.«

»Lischen, sei nicht albern«, sagte ihre Mutter streng. »Es gibt hier keine Ungeheuer.«

»Vielleicht ne große Eidechse?«, schlug Frau Schmidt vor und lächelte breit. »Die tun aber nix, Kindchen.«

»Ich schau mal nach«, sagte Dorothea, froh darüber, die endlose Stoffbahn beiseitelegen zu können, und nahm Lischens Hand. »Zeig mir, wo du es gesehen hast.«

Sobald sie um die Hausecke bogen, war das rätselhafte Wesen zwar nicht zu sehen, dafür jedoch deutlich zu hören: Aus dem Dickicht, das einmal der Gemüsegarten werden sollte, drang tatsächlich erschreckend lautes Fauchen und Grollen. Der Lautstärke nach zu urteilen, war es nahezu unmöglich, dass ein solch großes Tier sich in dem mannshohen Gebüsch verbergen konnte. Lischen kreischte erneut entsetzt auf und flüchtete. Dorothea schwankte gerade noch zwischen dem Drang, es ihr nachzutun, und dem Wunsch, der Sache auf den Grund zu gehen, als einige der Kaurna-Eltern sich näherten. Der Aufruhr hatte offenbar ihr Interesse geweckt. Allerdings schienen sie nicht im Geringsten beunruhigt von den unheimlichen Lauten. Im Gegenteil – sie grinsten und machten anscheinend Witze darüber. »Wombat«, sagte einer von ihnen. »Viel gut.« Er rieb sich genüsslich die Bauchregion. Einige der anderen begannen, mit Speeren in dem Dickicht herumzustochern und Steine hineinzuwerfen. Das Fauchen und Grollen verstummte. Es raschelte, und dann brachen zwei biberähnliche Tiere aus dem Gebüsch. Ehe Dorothea ganz begriff, was da vor sich ging, hatten zwei der Männer sie bereits mit keulenartigen Gerätschaften erschlagen. Eines der beiden Exemplare betrachtete sie sich genauer: eine Fellkugel mit Stummelschwanz und einem ungewöhnlich geformten Kopf. Zwischen der gespaltenen Oberlippe konnte sie gelbliche Zähne erkennen. Das waren Wombats? Frau Schmidts Erzählung über die Leichen in Wombatlöchern schoss ihr durch den Kopf. Was fraßen diese Tiere?

Als die Eingeborenen sie mit Gesten fragten, ob sie die Tiere nehmen dürften, nickte Dorothea erleichtert. Das Känguru hatte zwar gut geschmeckt, aber diese Wombats wollte sie nicht essen.

Die Geschichte der ermordeten Schiffbrüchigen ging Dorothea nicht mehr aus dem Kopf. Sie musste einfach mit jemandem darüber sprechen. Leider zeigte August deutlich weniger Enthusiasmus, als sie gehofft hatte. »Ja, davon habe ich gehört. Wer nicht? Grässliche Sache. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken – und schon gar nicht mehr darüber wissen«, sagte er. »Weißt du, dass zu Mrs. Gawlers Teeparty am Sonntag auch Professor Menge erwartet wird?«

Die unterdrückte Erregung in seiner Stimme ließ sie trotz der Enttäuschung über sein Desinteresse aufhorchen.

»Nein, woher sollte ich das wissen? Wer ist das?«

Der förmlichen Geselligkeit bei der Gattin des Gouverneurs sah sie nicht gerade mit Vorfreude entgegen. Mrs. Gawler hatte die Einladung gestern persönlich überbracht, aber trotz der freundlichen Geste war die Frau Dorothea nicht sympathisch gewesen. Sie erinnerte sie zu sehr an die Frau Geheimrätin in Dresden, die Grete so übel mitgespielt hatte. Auch deren aufdringlich zur Schau getragene Frömmigkeit hatte nur als Deckmantel gedient.

»Professor Menge ist der größte, lebende Mineraloge«, erklärte ihr Bruder geradezu schwärmerisch. »Er hat hier in Südaustralien bereits zweihundert Mineralien entdeckt, und derzeit hält er Vorlesungen am mechanischen Institut. Ich würde ihn zu gerne über seine Reisen sprechen hören. Er hat Kangoroo-Island erforscht und Neu-Schlesien und den Murray River. Und überall hat er neue Mineralien gefunden. Ach, wenn Vater nur sehen würde, dass ich nicht zum Geistlichen geschaffen bin!«

»Rede mit ihm. Wenn er merkt, wie sehr dein Herz an der Mineralogie hängt, wird er es dir nicht abschlagen«, riet Dorothea.

August seufzte schwer. »Du weißt doch, wie sehr sein Herz daran hängt, dass ich Missionar werde. Du hast gut reden – sagst du ihm etwa, dass du lieber Zeitungsreporter würdest als eine brave Pastorenfrau?«

Sein Vorwurf traf ins Schwarze. Auch Dorothea hatte es noch nicht über sich gebracht, ihrem Vater ihren Herzenswunsch zu gestehen.

Schon als Kinder hatten sie gemerkt, dass der Vater ihren Wünschen sehr viel eher nachgab als die Mutter. Er hatte eine triste Kindheit im Waisenhaus verbracht. Vielleicht konnte er es deshalb nicht ertragen, seine Kinder unglücklich zu sehen. Keines von ihnen hatte je die Rute zu spüren bekommen, obwohl sie es zuweilen sicher verdient gehabt hätten. »Könnt ihr mir eine Stelle aus dem Neuen Testament zeigen, an dem unser Herr Jesus Christus es gutgeheißen hätte, Kinder zu züchtigen?«, hatte er erwidert, als ihm ein erboster Nachbar, dessen prämierte Pflaumen gerade in den Mägen von August und Dorothea verschwunden waren, zu einer kräftigen Tracht Prügel riet, und stattdessen den Geldbeutel gezückt.

Das brennende Gefühl der Scham, als die Münzen, die für ein dringend benötigtes, neues Paar Stiefel vorgesehen waren, im Hosensack des Nachbarn verschwanden, empfand sie noch heute. Konnte man einen solchen Mann enttäuschen?

»Ich werde es ihm schon noch sagen. Sobald ich meine erste Geschichte verkauft habe. Aber um mich geht es hier nicht. Du jammerst doch ständig, dass deine Zukunft grau und öde vor dir läge. Tu etwas dagegen!« Manchmal hätte sie ihren Bruder am liebsten gepackt und geschüttelt. Wie konnte man nur so unentschlossen sein?

August wirkte leicht verärgert. »Du weißt immer genau, was andere tun müssen, nicht wahr? Dein zukünftiger Mann ist wahrlich nicht zu beneiden, du, du … Xanthippe!« Damit drehte er ihr den Rücken zu und stapfte aus dem Zimmer.

Dorothea stand wie erstarrt. Was war nur mit ihrem Bruder los? So hatte er noch nie mit ihr gesprochen! Ärger begann die Überraschung zu überlagern. Was bildete er sich eigentlich ein?

»Er wollte dich sicher nicht kränken«, kam Karls Stimme aus dem Ohrensessel im Winkel.

Sie schoss herum. »Du hast gelauscht?«, fauchte sie, erbost darüber, dass er Zeuge ihrer Kränkung geworden war.

»Das habe ich nicht.« Im Gegensatz zu August ließ Karl sich nicht provozieren. Er fasste den Zeichenstift fester und beobachtete sie mit schief gelegtem Kopf. »Wenn du wütend bist, sind deine Augen schmaler als sonst und fast schräg«, stellte er sachlich fest. »Wie bei einer Katze. Auch dein Mund ist dann ganz anders …« Die Kohle flog über das Papier, und nur Augenblicke später hielt er ihr das Blatt hin. »So etwa.«

Leicht erschrocken sah Dorothea in ihr Gesicht, wie andere es sahen. Karl hatte sie gut getroffen. Aber schaute sie wirklich so finster drein? Sträubten sich ihre Augenbrauen tatsächlich dermaßen?

»Es ist ein bisschen überzeichnet«, sagte Karl ruhig. »Eine solche Skizze nennt man eine Karikatur. – August hat es nicht so gemeint. Sicher tut es ihm schon leid.«

Wider Willen musste Dorothea lachen. »Du wärst ein guter Anwalt, Karl. Schon gut, ich bin nicht mehr wütend. Es war mein Fehler. Ich weiß ja, dass August es nicht leiden kann, zu etwas gedrängt zu werden. Aber manchmal gehen einfach die Pferde mit mir durch.«

Karl schwieg. Er redete nicht gerne mehr als nötig. Auf einmal verspürte Dorothea das Bedürfnis, ihrem stillen Bruder mehr über sich zu entlocken.

»Die Zeichnung erinnert mich an die, die du auf dem Schiff gemacht hast. Aber du hast große Fortschritte gemacht seitdem«, sagte sie freundlich. »Hast du Vater schon gefragt, ob du hier weiter Unterricht nehmen kannst?«

Karl schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Mr. Kingston war so freundlich, mir seine Unterstützung und Hilfe anzubieten, als er meine Zeichnungen im Schulzimmer gesehen hat.«

Pastor Teichelmann hatte Karl das Privileg vermittelt, zusammen mit den Söhnen des Gouverneurs und einiger Honoratioren unterrichtet zu werden. Eines der zwölf Zimmer der Residenz war extra zu diesem Zweck hergerichtet worden. Bisher hatte Karl so gut wie gar nichts darüber erzählt. Keiner hatte ihn gefragt, und er war nicht von der Art, die von sich aus alles heraussprudelt. »Sag mal, wie ist es eigentlich so bei diesen Gawlers?«, erkundigte Dorothea sich. »Wie sind deine Mitschüler? Nett?«

Karl hob gleichmütig die Achseln und ließ sie wieder sinken. »Engländer eben. Wenn man ihnen nicht widerspricht und zu allem Ja und Amen sagt, sind sie ganz in Ordnung. Den Gouverneur habe ich noch nicht kennengelernt. Mrs. Gawler scheint überaus fromm zu sein. Ständig ist sie mit wohltätigen Werken beschäftigt.« Er lächelte schief. »Sie spricht mit mir wie mit einem Halbgescheiten. Vermutlich denkt sie, ich sei unfähig, mich in ihrer Sprache zivilisiert zu unterhalten.«

An diesen Ausspruch ihres Bruders wurde Dorothea erinnert, als sie Mrs. Gawler gegenüberstand. Trotz der frühsommerlichen Temperaturen trug sie ein langärmliges, schwarzes Kleid aus Merinowolle mit schlichtem, weißem Kragen. Die Wirkung kam einem Pastorenhabit so nah, dass Dorothea sich fragte, ob sie ihre Garderobe absichtlich so ausgewählt hatte. Auch der Gouverneur trug Schwarz. In Verbindung mit seiner ungesund bleichen Gesichtsfarbe und den verhärmten Gesichtszügen erschien er ihr eher bemitleidenswert als Ehrfurcht einflößend. Das war der Gouverneur? Der mächtigste Mann Südaustraliens?

Aber seine Stimme, als er sie alle begrüßte, war fest, und seine dunklen Augen schienen nachgerade zu erahnen, was sie dachte. Verlegen senkte sie den Blick und knickste besonders tief. Während er sich bereits den nächsten Gästen zuwandte, nahm Mrs. Gawler sie unter ihre Fittiche. »Wie schön, dass unser lieber Pastor Schumann endlich seine Familie wieder um sich hat. Die Damen vom Kirchenkomitee freuen sich schon so darauf, Sie kennenzulernen, Mrs. Schumann. Ich werde Sie gleich zu Ihnen geleiten«, sagte sie betont langsam und deutlich akzentuiert. Dorothea wechselte einen kurzen Blick mit Karl und biss sich auf die Unterlippe. Er hatte ihren Tonfall gut beschrieben. »Für die jungen Leute haben wir auf der hinteren Veranda gedeckt. Von dort aus hat man einen guten Überblick über das palti, das unsere Schützlinge heute veranstalten. Mr. Moorhouse, wären Sie so freundlich, sie dorthin zu führen und bekannt zu machen?«

Ein großer, schlanker Mann mit auffallend gut geschnittenen Gesichtszügen verbeugte sich höflich. »Zu Ihren Diensten, Madam.« Dorothea musterte ihn neugierig. Von ihm hatte sie schon einiges gehört. Matthew Moorhouse war seit über einem Jahr der offiziell bestellte »Protector of Aborigines« für Südaustralien, ein Amt, das er mit Hingabe ausfüllte. Ihr Vater hatte mit größter Hochachtung von ihm gesprochen. Seine Aufgaben waren vielfältig: Er hatte dafür Sorge zu tragen, dass die Landstücke, die von Gesetz wegen den Eingeborenen zustanden, nicht von Siedlern okkupiert und Übereinkommen eingehalten wurden.

Er musste Streitigkeiten schlichten, die stetig zunehmenden Schafsdiebstähle aufklären, Verstöße gegen die Gesetze – egal ob von Weißen oder Schwarzen begangen – anzeigen, vor allem jedoch sollte er die Aborigines »zivilisieren«.

»Ich befürchte allerdings, dass damit vor allem beabsichtigt ist, sie zu willigen Dienstboten zu erziehen«, hatte Pastor Schumann nachdenklich bemerkt. »Ich wurde schon mehrfach gefragt, wann die Mädchen denn so weit wären, dass man sie als Dienstmädchen gebrauchen könnte.«

Dorothea, die sich sofort wieder an Grete erinnerte, war empört. Niemand sollte einem anderen Menschen so ausgeliefert sein!

»Man kann sie doch nicht zwingen, oder?«

Pastor Schumann lächelte milde. »Natürlich nicht. Moorhouse würde das keinesfalls gestatten. Aber du kannst es den Engländern nicht übel nehmen. Sie sind es gewöhnt, dass in ihren Kolonien in Afrika und Indien die Einheimischen ihnen alle Wünsche von den Augen ablesen. Dass diese hier nicht zum Dienen geboren sind, müssen sie wohl noch lernen.«

Auf der hinteren Veranda ging es bereits munter zu. Eine junge Dame in violett gestreifter Seide löste sich aus einer der Gruppen, sobald sie ihrer ansichtig wurde, und kam ihnen ein paar Schritte entgegen. Ihr strahlendes Lächeln galt vor allem dem Protector, aber es schloss auch die Schumanns mit ein.

Matthew Moorhouse legte ihre Hand zärtlich in seine Armbeuge und sagte: »Darf ich Ihnen meine Verlobte Miss Mary Ruth Kilner vorstellen?«

Neue Gesichter wurden in der überschaubaren Gesellschaft von Adelaide begeistert begrüßt, wie Miss Mary Dorothea zuflüsterte, und so drängten sich alle Anwesenden darum, mit den Schumann-Geschwistern bekannt gemacht zu werden. Vor allem junge Herren umlagerten sie und wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit. Das war kein Wunder, wenn man berücksichtigte, dass von der ganzen Gesellschaft außer ihr nur Miss Kilner und zwei albern kichernde Backfische in rosarot-karierten Rüschenkleidern weiblichen Geschlechts und dem Kinderzimmer entwachsen waren.

Das Missverhältnis zwischen den Geschlechtern war so auffällig, dass sie Miss Kilner danach fragte. »Nach Südaustralien kommen sehr viele alleinstehende junge Männer«, erklärte die ihr. »Aber nur wenige Familien mit Töchtern im passenden Alter. Eine Ehefrau zu finden ist deswegen nicht einfach. – Auch Sie werden sich bald vor Verehrern nicht mehr retten können, Miss Schumann.«

Das war nicht gerade eine Aussicht, die Dorothea begeisterte. Irgendwann in ferner Zukunft lauerte ein gesichtsloser Ehemann, aber doch nicht so schnell! Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis, in die Rolle einer Ehefrau zu schlüpfen. Erleichtert wandte sie sich daher dem älteren Herrn im abgetragenen Anzug zu, der ihnen als Professor Menge vorgestellt wurde.

»Bin lieber hier als bei den steifen Gestalten im Salon«, vertraute er ihnen an und zwinkerte fröhlich. »Kann dieses ganze vornehme Getue nicht leiden. Sie auch nicht, was, Moorhouse?«

August hatte sich sein Idol wohl anders vorgestellt, dachte Dorothea eine Spur schadenfroh, als sie sah, wie ihr Bruder etwas verkrampft versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen.

»Nicht jetzt, junger Mann«, wehrte Menge ungeduldig ab. »Jetzt schauen Sie doch lieber mal zu diesen prächtigen Burschen dort hinüber! Es sind die besten Tänzer des Stammes. Die bekommen Sie nicht oft zu sehen.«

Dorothea versorgte Lischen so reichlich mit Kuchen, dass diese für die nächste Zeit beschäftigt war, ehe sie sich selbst eine Tasse Tee holte und zu den anderen Interessierten ans Geländer trat. Auf einem von jeglichem Bewuchs gesäuberten Platz am Torrens River hatte sich eine größere Menge Aborigines versammelt. Am östlichen Rand saßen in einer langen, ordentlich aufgereihten Linie die Frauen, Kinder und einige alte Männer. Am gegenüberliegenden Rand hatten sich die Tänzer aufgestellt. Fasziniert musterte Dorothea ihre exotische Aufmachung. Außer einem Lendenschurz waren sie nackt, allerdings von Kopf bis Fuß mit roter und weißer Farbe bemalt. Kreise und Striche hoben ihre Körperkonturen auf, ließen sie fast wie Wesen einer anderen Welt erscheinen. Auf dem Kopf, unter den Knien und an den Oberarmen waren Federtuffs befestigt. In den Händen trugen sie ebenfalls große Büschel aus Federn und Blattwerk. Sie schienen bester Laune zu sein, denn sie neckten sich ständig wie Kinder, indem sie sich gegenseitig mit den Federbüscheln kitzelten.

Einer der alten Männer gab das Signal anzufangen, indem er zwei Stöcke laut gegeneinanderschlug. Gleich darauf begann die erste Frau in der Reihe, mit der flachen Hand auf das Fellbündel zu schlagen, das sie auf dem Schoß hielt. Eine nach der anderen nahm den Rhythmus der provisorischen Trommel auf.

»Worauf schlagen sie?«, wollte Karl wissen.

»Auf ihre Umhänge.« Menge verzog spöttisch das Gesicht. »Natürlich geht das nur bei den traditionellen Umhängen aus Opossumfell. Mrs. Gawlers löchrige Decken, die sie ihr zuliebe angelegt haben, taugen nicht dafür. Sie sehen nicht nur armselig aus – sie sind es auch.« Er zeigte auf den alten Weißhaarigen: »Der dort trägt als Einziger noch die traditionelle Tracht. Bei Männern bleiben der rechte Arm und die Schulter frei, damit sie beim Werfen nicht behindert werden. Tagsüber wird er mit einem Gürtel in der Taille gebunden, und nachts dient er als Bettdecke. Normalerweise gehen sie jetzt im Sommer sowieso nackt, aber das würde Mrs. Gawler in Sichtweite der Residenz nicht dulden.«

Dieselbe Frau, die den Trommelrhythmus vorgegeben hatte, fing zu singen an. Eine ziemlich eintönige Melodie, fand Dorothea, ohne Höhen und Tiefen. Ihre klare Altstimme schien immerzu die gleichen Worte zu wiederholen. Hier und da setzte sie aus, und dann fielen die anderen wie ein Chor ein.

Nahezu unmerklich steigerte sich das Tempo. Auf ein einstimmiges »Waugh« hin begannen die Männer, die ihnen bisher reglos gegenübergestanden hatten, mit den Füßen aufzustampfen und ihre Büschel zu schütteln. Es sah so lustig aus, dass Dorothea fast in Gelächter ausgebrochen wäre. Plötzlich stürmte eine weitere Männergruppe aus ihrem Versteck im Gebüsch auf den Platz. Mit sich trugen sie eine Art ausgestopfte Puppe aus Känguruhaut mit der Fellseite nach innen. Die Leerseite war über und über mit kleinen weißen Kreisen bemalt. Statt eines Kopfes ragte ein Stock mit einem besonders großen Federtuff in die Höhe. Die Arme und Hände wurden durch ebensolche Stöcke und rot gefärbte Federbüschel repräsentiert. Aus der Mitte ragte ein kürzerer Stock, verziert mit einem dicken Ende aus Gras und buntem Stoff.

»Was soll denn das?«, fragte jemand aus dem Hintergrund. »Soll das ein Tier oder einen Menschen darstellen?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Tänze werden ständig neu erfunden und oft von anderen Stämmen übernommen, die deren Bedeutung gar nicht mehr kennen. Es scheint mir eine Art Kängurutanz zu sein. Was meinen Sie, Moorhouse?«

»Sie dürften mit Ihrer Vermutung recht haben, Professor. Etwas Ähnliches habe ich weiter im Süden gesehen. Aber da ging es um einen Emu.«

»Die guten Leutchen lieben es doch über alles, zu tanzen und zu singen«, bemerkte Menge eine Spur wehmütig. »Da sind sie wie Kinder. Kein Gedanke an das Morgen. Aber irgendwie charmant. Finden Sie nicht, Miss Schumann?«

Was sollte man darauf erwidern? Dorothea dachte an ihren Vater und Pastor Teichelmann, die so überzeugt davon waren, ihren Zöglingen die nötigen Fähigkeiten vermitteln zu können, um sich in der Welt der Weißen zu behaupten.

»Glauben Sie, dass man ihnen beibringen kann, wie wir zu leben? Wenn man ihnen Zeit lässt und ihnen dabei hilft?«

Sie spürte, wie er sie von der Seite her betrachtete. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte er endlich so leise, dass sie ihn gerade noch verstand. »Sie sehen es einfach nicht ein, dass sie so leben sollen wie wir. Und wenn man wie ich mit ihnen monatelang durch den Busch gezogen ist, dann sieht man es auch nicht mehr ein.«

Das konnte Dorothea wiederum nicht verstehen. »Was ist denn so herrlich daran, jede Nacht im Freien zu schlafen? Jede Mahlzeit erst mühsam erjagen oder sammeln zu müssen? Ich finde, unsere Art zu leben ist der ihrigen bei Weitem überlegen.«

»Ach ja, das gute, preußische Arbeitsethos!« Spott und eine Spur Traurigkeit glitzerten in seinen Augen. »Nein, mein Kind, das können Sie natürlich nicht nachfühlen. Dafür müssten Sie die unendliche Freiheit unter diesem fantastischen Sternenhimmel des Südens geschmeckt haben, die Grenzenlosigkeit. Wer davon gekostet hat, der empfindet ein Haus nur noch als Gefängnis, unsere Zivilisation als quälend enges Korsett, das einen hindert, frei zu atmen.«

Professor Menge begann ihr unheimlich zu werden. War der Mensch wirklich ganz bei Trost? Es mochte ja noch angehen, vom Sternenhimmel hier zu schwärmen. Auch ihr war aufgefallen, dass die Sternbilder anders aussahen und heller zu strahlen schienen als zu Hause. Ein Haus nicht als Schutz, sondern als Kerker anzusehen ging aber einwandfrei zu weit! So unmerklich wie möglich rückte sie von ihm ab und war erleichtert, als August die Gelegenheit wahrnahm und sich neben den Professor drängte.

Dass es sich tatsächlich um einen Kängurutanz handelte, wurde sehr schnell deutlich, als der Träger der Puppe begann, wie eines dieser Tiere umherzuspringen. Er imitierte es so gut, dass alle Zuschauer in schallendes Gelächter ausbrachen, während er zwischen den Tänzern und den Musikerinnen hin und her hüpfte. Die Pantomime wurde auf dramatische Art beendet, als die Tänzer mit den Federbüscheln ihren Schmuck ablegten und nach ihren Waffen griffen. Auf einmal hielten sie lange Speere und seltsam geformte Keulen in den Händen. Die Gruppe wirkte so kriegerisch, dass Dorothea äußerst unbehaglich zumute wurde. Was, wenn sie sich entschieden, ihre Speere und Wurfhölzer nicht nur zur Zierde zu tragen, sondern sie gegen die Weißen einzusetzen? Niemand von ihnen hier war bewaffnet. Schutzlos wären sie einem Angriff ausgeliefert.

Glücklicherweise dachten die Aborigines nicht im Traum daran, ihnen etwas zuleide zu tun. Sie begnügten sich damit, unter wildem Geschrei die Waffen zu schwingen und das arme Känguru zu bedrohen. Indem sie so heftig aufstampften, dass der trockene Lehm in Staubwolken aufgewirbelt wurde, umkreisten sie ihre imaginäre Beute. Inzwischen lief den Männern der Schweiß in Strömen über den Körper, verwischte die Bemalung und ließ die dunkle Haut darunter schimmern wie poliertes Ebenholz. Die animalische Ausstrahlung der Darbietung war so überwältigend, dass Dorothea zwischen Bewunderung und einer gewissen Verlegenheit schwankte. Aus den Reihen der Frauen waren anfeuernde Rufe zu hören. Keine von ihnen machte jedoch Anstalten, sich den Tänzern anzuschließen.

»Tanzen bei ihnen eigentlich nur die Männer?«, fragte Karl und sprach damit aus, was Dorothea auch gerade gedacht hatte.

»Bei dieser speziellen Art von Tanz, ja«, erwiderte Matthew Moorhouse, ohne den Blick von dem Schauspiel abzuwenden. »Es gibt aber auch andere Tänze. Nur für Frauen oder solche, bei denen beide Gruppen sich gegenüberstehen. Das kommt ganz auf den Anlass an.«

»Gibt es auch Kriegstänze?«, wollte einer der jungen Männer wissen. »Wie bei den Schwarzen auf Neuseeland? Ein Freund hat sie mir beschrieben. Sie sollen überaus beeindruckend sein.«

»So kriegerisch geht es hier nicht zu.« Moorhouse lächelte plötzlich nicht mehr. »Glücklicherweise. Die Kaurna hier um Adelaide sind ausgesprochen friedliebend.«

»Was man von der Bande am Coorong nicht behaupten kann!«, warf ein anderer der jungen Männer halblaut ein. »Und mit den Murraystämmen wird O’Halloran noch alle Hände voll zu tun bekommen!«

»Ein Hoch auf unseren Commissioner! Auf dass er dort bald Klarschiff macht!«, grölte sein bereits leicht alkoholisierter Freund neben ihm. »Hängt sie alle auf!«

»Mäßigen Sie sich! Es sind Damen anwesend.« Moorhouse verfolgte mit verächtlicher Miene, wie er seinen Flachmann vollends leerte und mit unsicheren Fingern zuschraubte, ehe er ihn in den Tiefen seiner Rockschöße verschwinden ließ. »Offensichtlich sind Sie nicht ganz wohl. Vielleicht sollten Sie sich jetzt entschuldigen. Guten Abend.« Damit drehte er ihm ostentativ den Rücken zu und überließ es dem peinlich berührten Freund, ihn nach einem heftigen Disput im Flüsterton hinauszuführen.

Der Gesang der Frauen war währenddessen immer leidenschaftlicher geworden. Auf- und abschwellend steigerte die primitive Melodie sich zu einer Art Beschwörung, die Dorothea trotz aller Fremdartigkeit in ihren Bann zog.

Mit einem letzten, kollektiven Aufschrei endete die Jagd. Von zahlreichen Speeren getroffen sank das Känguru samt seinem Träger unter dramatischem Stöhnen zu Boden. Augenblicklich stürzten sich die Jäger darauf. Ein wirres Knäuel aus bemalten Körpern entzog es ihren Blicken, bis sich ein Mann, der den Stock mit dem Stoffknubbel triumphierend gen Himmel reckte, aus ihm löste und ihn unter lautem Triumphgeschrei dem alten Mann brachte.

Damit war die Darbietung beendet. Die Tänzer hatten sich so verausgabt, dass einige taumelten und von Mittänzern in den Schatten geführt wurden, wo sie erschöpft zu Boden sanken. Die Kinder beeilten sich, ihnen große, mit Wasser gefüllte Muscheln zu bringen, das sie durstig hinunterstürzten. Einer nach dem anderen sammelte sich unter den Akazien.

»Was kommt jetzt?«, fragte Dorothea. »Sie scheinen auf etwas zu warten.«

»Auf ihr Schaf«, sagte Moorhouse und wies auf einen kräftigen Bediensteten des Gouverneurs, der, einen Schafskadaver über die Schulter geworfen, auf sie zuging und ihn vor dem alten Mann zu Boden fallen ließ. »Sobald sie in ihrem Lager sind, werden die Ältesten jedem seinen Anteil zusprechen.«

»Warum gerade die Alten? Haben sie keinen Anführer?«

»Die Alten sind die Anführer. Die jungen Männer haben kaum etwas zu sagen. Sie müssen sich erst bewähren, ehe ihr Wort Gewicht hat.«

»Und das scheint ziemlich lange zu dauern«, bemerkte August scherzhaft, während sie zusahen, wie die Männer die Beine des Schafs zusammenbanden, einen Speer dazwischen hindurchschoben und das schwere Tier schulterten. »Ich hätte auch gedacht, dass einer von den Kräftigsten der Häuptling ist.«

»Nein, mein Junge. Erfahrung zählt bei ihnen mehr als bloße Kraft.« Professor Menge klopfte Moorhouse anerkennend auf die Schulter. »Kompliment, Mr. Moorhouse! Wie lange sind Sie jetzt Protector? Etwas über ein Jahr, nicht? Dafür haben Sie bereits erstaunlich gute Kenntnisse von ihren Sitten und Gebräuchen.«

»Ich gebe mir Mühe.« Moorhouse war sichtlich erfreut über das Lob. »Aber sie überraschen einen immer wieder aufs Neue.«