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Dieser Ausspruch von Protector Moorhouse kam Dorothea wieder in den Sinn, als er ein paar Wochen später in der Mission vorsprach. Ihre Mutter und sie waren gerade vom Einkaufen gekommen. Auguste Schumann liebte es, auf den Markt zu gehen. »Da kann ich mir fast einbilden, wieder zu Hause zu sein«, hatte sie einmal mehr gesagt.

Die meisten Marktfrauen waren deutsche Bäuerinnen. Speziell die Hahndorferinnen waren bekannt für die Qualität ihrer Waren. Allerdings auch für ihre Preise.

»Wir sollten sehen, so rasch wie möglich den Gemüsegarten anzulegen«, hatte ihre Mutter geseufzt, während sie die Ausgaben fein säuberlich ins Haushaltsbuch eintrug. »Fünf Pence für einen Bund Petersilie und einen Shilling für einen Salatkopf! Ich muss mit deinem Vater sprechen, ob man nicht jemand von diesen Eingeborenen draußen dafür abstellen kann. Sie lungern sowieso nur herum.«

Für jemanden wie Auguste Schumann war es fast eine Sünde, untätig herumzusitzen. Die Familien der Schüler, die sich vor der Missionsschule die Zeit vertrieben, entlockten ihr nicht selten spitze Bemerkungen.

»Ich fürchte, dazu haben sie alle viel zu viel Angst vor dir, Mama.« Dorothea musste immer noch lachen, wenn sie sich daran erinnerte, wie ihre Mutter wutentbrannt mit einem Besen auf den vorwitzigen Eingeborenen losgegangen war, der die Kühnheit besessen hatte, mit schmutzigen Fingern die frisch gewaschene Tischwäsche zu befühlen. Seitdem hatten sie respektvollen Abstand zu dieser gefährlichen Frau und ihrem wodli gehalten.

»Auguste, kannst du bitte in den Salon kommen? Du auch, Dorchen.«

Pastor Schumann stand in der Küchentür und sah verwirrt aus. »Mr. Moorhouse hat mir ein Anliegen vorgetragen, das ich nicht allein entscheiden möchte.«

Dorothea stellte noch rasch einen Krug Limonade sowie einige der guten Gläser auf ein Tablett und folgte dann den Eltern. Mr. Moorhouse erhob sich höflich bei ihrem Eintreten, machte ihr ein Kompliment über ihr frisches Aussehen und nahm dankend ein gefülltes Glas entgegen. Es war ihm aber deutlich anzusehen, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.

»Ich komme in einer delikaten Angelegenheit zu Ihnen«, begann er. »Ich fürchte, ich muss ein wenig ausholen.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, ermutigte Pastor Schumann ihn freundlich. »August ist durchaus imstande, die Bande im Zaum zu halten, wenn es nötig ist.«

»Gut. Es geht darum, dass Jane, wie Kauwewingko sich jetzt nennt, lernen möchte, wie man als weiße Frau lebt.« Dorothea verschluckte sich fast an ihrer Limonade. Auch die Eltern starrten den Protector nur sprachlos an. »Ich sagte ja, ich muss weiter ausholen«, fuhr der fort. »Ich kenne Jane seit meiner Anfangszeit hier. Sie hat kurz diese Schule besucht. Erinnern Sie sich vielleicht noch an sie, Pastor Schumann? Sie muss eine gute Schülerin gewesen sein, denn sie spricht besser Englisch als die meisten.«

Dorotheas Vater schüttelte bedauernd den Kopf. »Der Name sagt mir jetzt nichts. Aber ich habe in meiner ersten Zeit nicht unterrichtet, weil ich ja selber noch Kaurna lernen musste.«

»Warum möchte sie denn wie eine weiße Frau leben?« Dorothea erinnerte sich gut an den Ausspruch von Professor Menge, dass die Eingeborenen nicht zu zivilisieren seien. Und nun das?

»Jane möchte einen weißen Mann heiraten«, sagte Moorhouse, und sein Gesichtsausdruck signalisierte, dass er es für keine gute Idee hielt. »Nach Kaurna-Sitte sind sie bereits verheiratet. Aber Tim Burton möchte sie auch nach englischem Recht zur Frau nehmen. Mit einer Trauung in der Trinity Church und allem.«

»Wie romantisch!« Auguste Schumann war tief gerührt.

»Ich fürchte eher berechnend, Madam«, erwiderte Moorhouse schmallippig. »Burton ist Schafhirte, und sein Heiratswunsch dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass Jane ein ordentliches Stück Land beanspruchen kann. Sie wissen ja, dass die Regierung einen Teil der vermessenen Gebiete für die Eingeborenen zurückhält. Sie können also jederzeit eine Parzelle einfordern, wenn sie sie bebauen wollen.«

»Sie sind nicht glücklich mit der Sache?« Pastor Schumann musterte sein Gegenüber.

»Nein, das bin ich ganz und gar nicht«, sagte Moorhouse offen. »Aber ich habe keine Handhabe, es zu verbieten. Meiner Meinung nach hätte Jane etwas Besseres verdient, aber es ist nun einmal ihr Wille. Wahrscheinlich war ihr Leben im Harem ihres vorigen Ehemanns auch kein Vergnügen. Die jüngsten Ehefrauen bekommen immer die unangenehmsten Arbeiten zugeteilt.«

»Sie war schon verheiratet?«, platzte Dorothea heraus. »Wie alt ist sie denn?«

»Sechzehn, höchstens siebzehn.«

Mein Gott, sie war jünger als sie! Als sie zum ersten Mal geheiratet hatte, musste sie noch ein Kind gewesen sein.

Moorhouse, dem ihr Entsetzen nicht entging, lächelte schwach. »Ich darf Ihnen versichern, Miss Schumann, dass Jane keineswegs verdorben ist, wie man es nach unseren Maßstäben vermuten würde. Die Eingeborenen verheiraten ihre Töchter sehr früh. Sobald sie ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt sind, verlassen sie ihren Stamm und ziehen zur Gruppe des Ehemanns.«

»Die armen Dinger!« Mutter Schumann schüttelte empört den Kopf. »Kann der Magistrat nicht dagegen vorgehen? Das ist einfach …« Ihr fehlten sichtlich die passenden Worte, um das auszudrücken, was nicht taktvoll auszudrücken war.

»Sie würden es nicht verstehen. Schließlich sind sie diese ihre Art gewohnt seit Urzeiten. Es wäre ein Kampf gegen Windmühlen.«

»Um auf den eigentlichen Grund Ihres Besuchs zurückzukommen: Verstehe ich Sie richtig? Sie möchten, dass wir sie als Haustochter aufnehmen?«, fragte Pastor Schumann, und Dorothea bewunderte ihn dafür, dass seine Stimme so ruhig klang. »Für wie lange?«

»Ich denke, länger als ein, zwei Monate wird Burton sich nicht gedulden«, sagte Moorhouse bedauernd. »Aber sie ist ausgesprochen aufgeweckt. Ich denke, in dieser Zeit wird sie alles lernen, was nötig ist.«

»Bringen Sie uns das arme Mädchen ruhig her. Wir werden uns gut um sie kümmern«, rief Auguste Schumann mitleidig. »Sie kann bei Dorothea schlafen. Es ist zwar ein bisschen eng, aber es wird schon gehen, nicht, Dorchen?«

In stummer Frage ruhten die Augen von Pastor Schumann und Protector Moorhouse auf ihr. Eingeschüchtert nickte sie. »Natürlich.« Es würde seltsam sein, das Zimmer mit einer so ungewöhnlichen Person zu teilen. Aber hatte sie sich nicht immer gewünscht, interessante Menschen kennenzulernen?

Mit dem zweiten Bett wurde es tatsächlich ziemlich eng. Dorothea tröstete sich damit, dass sie sich jetzt in den Sommermonaten sowieso nicht allzu viel dort aufhalten würden. Bei ihrer Ankunft hatten noch durchaus angenehme Temperaturen geherrscht. Die zauberhaften Frühlingstage hatten sich jedoch nur zu rasch zu trockenen, staubigen Sommertagen gewandelt, an denen einem der Schweiß bereits am Vormittag die Kleidung durchnässte. Dorothea und den Geschwistern machte das weniger aus, aber ihre Mutter litt bei der zunehmenden Schwüle immer häufiger an Kopfschmerzen, die so stark waren, dass sie sie zwangen, das Bett zu hüten.

So spielten Dorothea und Lischen allein auf der Veranda, als Moorhouse vorfuhr. Neben ihm saß ein schlicht gekleidetes, dunkelhäutiges Mädchen mit wachen Augen. »Das muss sie sein«, flüsterte Lischen und starrte mit aufgerissenen Augen auf die beiden Besucher. »Glotz nicht so!« Dorothea stieß ihre kleine Schwester mit dem Fuß an, ehe sie sich anschickte, die beiden angemessen zu begrüßen.

»Es tut mir leid, meine Mutter ist nicht wohl. Herzlich willkommen, Jane. Ich bin Dorothea, und das ist Lischen.«

»Ich bin euch sehr dankbar, dass ich bei euch lernen darf«, sagte Jane mit überraschend dunkler, weich klingender Stimme. »Ich werde mir große Mühe geben, euch nicht zur Last zu fallen.«

»Ich bin sicher, dass du das nicht wirst, Jane«, sagte Protector Moorhouse herzlich und reichte ihr das Bündel mit ihren Habseligkeiten. »Grüßen Sie Ihre Eltern von mir, Miss Schumann. Ich muss leider gleich weiter. Gouverneur Gawler erwartet mich.«

Er verschwand in der unvermeidlichen Staubwolke, und die drei Mädchen betrachteten sich neugierig und eine Spur befangen. »Möchtest du etwas trinken oder dich lieber zuerst frisch machen?«, fragte Dorothea schließlich.

»Was ist frisch machen?«

Lischen brach in hilfloses Gekicher aus. Ihre ältere Schwester zog sie energisch am Zopf, um sie zur Ordnung zu rufen.

»Sich frisch machen bedeutet: den Staub abzuwaschen oder sich umzuziehen – das Kleid wechseln«, fügte sie hinzu, als sie bemerkte, dass Jane das Wort nicht kannte. »Soll ich dich hinaufführen?«

»Ja, bitte.«

Jane zog sich natürlich nicht um. Sie trug ja bereits ihr bestes Kleid aus indigofarbener Baumwolle, zusammen mit einem Paar abgetragener Stiefel, die notdürftig für sie passend gemacht worden waren. Ein Waschtisch war ihr offensichtlich genauso unbekannt wie ein Kleiderschrank. Mit großen Augen nahm sie die neuartige Umgebung in sich auf. Als Dorothea Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel goss, sah sie sie verwirrt an. »Zum Trinken?«

Dorothea verbiss sich das Lachen. »Nein, zum Waschen. Schau, das ist die Seife, und dort ist der Handtuchständer. Das schmutzige Wasser gießen wir hier einfach aus dem Fenster.«

Geradezu andächtig schnupperte Jane an dem Seifenstück. »Sie riecht ja nach Blumen«, stellte sie fest. »Wie macht ihr das?«

»Wir machen sie nicht selber. Wir kaufen sie in dem neuen Drugstore in der Hindley Street«, gab Dorothea zu. »Ich wüsste gar nicht, wie man Seife herstellt.«

»Es ist nicht schwer. Tim hat auch manchmal Seife gekocht, aber die stinkt.«

Sie wusch sich mit so kindlicher Freude an dem ungewohnten Luxus, dass Dorothea geduldig wartete, bis sie zum dritten Mal ihre Hände eingeschäumt hatte, ehe sie sagte: »Ich glaube, du bist jetzt sauber genug. Möchtest du dich noch ein wenig umsehen? Sonst können wir hinuntergehen und auf der Veranda etwas trinken. Ich habe vorhin frische Zitronenlimonade gemacht.«

»Ihr trinkt kein Wasser?«, fragte Jane erstaunt.

»Doch, auch. Aber Limonade schmeckt besser. Findest du nicht?«

Das gab Jane ohne Weiteres zu, nachdem sie vorsichtig gekostet hatte. »Es schmeckt wirklich sehr gut«, sagte sie höflich und stellte ihr Glas behutsam ab. »Viel besser als Tee oder Branntwein.«

Lischen spitzte die Ohren, und Dorothea warf ihr einen warnenden Blick zu. »Tee wird in englischen Haushalten viel getrunken«, sagte Dorothea. »Vom Morgen bis zum Abend und zu jeder Gelegenheit, habe ich gehört. Branntwein, glaube ich, eher nicht.« Sie wusste zwar nicht genau über englische Gepflogenheiten Bescheid, doch bei der Einladung des Gouverneurs war zumindest auf der Veranda kein Alkohol gereicht worden. Das schien bekannt zu sein, sonst hätte der junge Mann ja nicht seinen Flachmann dabeigehabt.

»Trinkst du oft Branntwein?« Lischen legte neugierig den Kopf schief. »Wie schmeckt er?«

»Scheußlich.« Jane schüttelte sich unwillkürlich. »Ich mag ihn nicht. Er brennt wie flüssiges Feuer in der Kehle. Aber Männer lieben ihn. Sowohl die Schafhirten als auch unsere. Was ein Glück ist.« Sie lächelte zufrieden. »So konnte Tim mich loskaufen.«

Dorothea beschlich das Gefühl, dass die Konversation für ein zehnjähriges Mädchen ganz und gar nicht passend war. Ihre Mutter hätte Lischen sicher weggeschickt. Aber sie kannte Lischen besser: Die Kleine war eine wahre Meisterin im Lauschen. So versuchte sie lieber, der Unterhaltung eine andere, harmlosere Richtung zu geben.

»Wie hast du eigentlich bisher gewohnt? Ich meine, habt ihr ein eigenes Haus, dein Mann und du?«

Jane schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber sobald wir unser Land haben, wird Tim uns ein schönes wie dieses hier bauen«, erklärte sie mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme.

Dorothea verstand so gut wie nichts von Hausbau, dennoch bezweifelte sie, dass ein Mann imstande wäre, einen solchen Bau ganz allein zu errichten. Jane schien diesem Tim ja wahre Wunder zuzutrauen!

Janes Beschreibung der Behausungen, die sie bisher gewohnt gewesen war, ließ beide Schwestern staunen. Bei den Kaurna waren feste Bauten unbekannt. Im Sommer wurden nur Windschirme errichtet, in den Wintermonaten etwas festere Schutzhütten. Es war ihr schwergefallen, sich an die aus massiven Baumstämmen errichtete Schäferhütte zu gewöhnen. »Am Anfang bin ich oft nachts nach draußen gegangen und habe mich dort unter einen Busch gelegt, weil ich das Gefühl hatte zu ersticken«, erzählte Jane.

»Hattest du keine Angst – so ganz allein im Dunkeln?« Lischen sah sie mit großen Augen an.

»Ich hatte doch ein Feuer, yakkanilya!«

»Ist das mein Name in deiner Sprache?«

»Nein, es bedeutet ›kleine Schwester‹. Darf ich dich so nennen? Dein Name ist für meine Zunge sehr schwer.«

»Natürlich.« Lischen strahlte. »Yakkanilya, das klingt nett. Viel hübscher als Lischen.«

»Eigentlich heißt du ja auch Elise«, warf Dorothea ein.

»Ihr habt auch andere Namen für kleine Kinder?« Jane wirkte verwirrt. »Ich dachte immer, Engländer bekommen ihre Namen für alle Zeiten?«

Dorothea erklärte ihr die Unterschiede zwischen Tauf- und Kosenamen und fragte dann, wie es bei den Kaurna gebräuchlich sei. »Wenn ein Kind geboren wird, ruft man es zuerst nur ›Kartamaru‹ – das bedeutet Sohn Nummer eins oder ›Kartanya‹ – das bedeutet Tochter Nummer eins«, sagte Jane. »Erst wenn es alt genug ist, mit den Männern oder mit den Frauen zu gehen, geben die Geister seinen endgültigen Namen bekannt.«

»Wie machen sie das denn?« Lischen war geradezu fasziniert.

»Sie schicken den Eltern einen Traum«, erwiderte Jane schlicht.

»Was denn für einen?«

»Ganz verschieden. Man träumt von einem Tier oder einem bestimmten Platz. Und dann wissen die Eltern, wie ihr Kind heißen soll.«

»Ihr nennt sie nicht nach Verwandten? Ich heiße nämlich nach meiner verstorbenen Großmutter«, erklärte Lischen.

Diese harmlose Eröffnung hatte eine seltsame Wirkung auf die junge Aborigine. Zu Dorotheas Verblüffung betrachtete sie Lischen mit einer Mischung aus Schrecken und Mitleid. »Nein«, sagte sie schließlich. »Wir nennen Kinder niemals nach Menschen. Menschen sterben eines Tages und gehen dann zu den Ahnengeistern. Und die Ahnengeister müssen respektiert werden. Ihre Namen sind tabu. Man darf sie nicht einmal aussprechen.«

»Das kommt mir ziemlich albern vor«, befand Lischen ungerührt und zog die Nase kraus. »Mama spricht ständig von Großmutter Elise.«

»Wir glauben nicht an Ahnengeister«, sagte Dorothea mit der Entschiedenheit einer Missionarstochter. »Wir glauben, dass die Seelen der Verstorbenen in den Himmel kommen und von dort auf uns herabsehen. Wir glauben, dass …« Lautes Geschrei aus Richtung des Schulhauses zeigte an, dass der Unterricht für heute beendet war. »O Himmel, ist es schon so spät?« Sie sprang auf. An den Tagen, an denen Auguste Schumann nicht wohl war, war es Dorotheas Aufgabe, das Essen zuzubereiten. »Jetzt haben wir uns aber mächtig verplaudert.«

Ungeduldig wartete sie, bis ihr Vater und ihr Bruder sich ausgiebig von ihren Schülern und deren Familien verabschiedet hatten und endlich auf das Haus zusteuerten.

»So, das ist also unser Gast«, sagte Pastor Schumann freundlich und streckte Jane eine Hand entgegen. »Willkommen, Kind. Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen. – Was gibt es denn Schönes zu essen, Dorchen?«

»Ich fürchte, es gibt heute später Abendbrot, Papa. Lischen, deck schon mal den Tisch!«

Bis Dorothea mit Augusts Hilfe die Pastete aufgeschnitten und die Beilagen angerichtet hatte, war die Tageshitze von einer angenehm kühlen Abendbrise vertrieben worden, und Auguste Schumanns Lebensgeister erwachten wieder. Zumindest so weit, dass sie sich der Gesellschaft im Esszimmer anschloss. Janes offensichtliche Nervosität bei der Vorstellung befremdete Dorothea zuerst. Dann fiel ihr wieder ein, was Protector Moorhouse einmal über die Hierarchie bei den Kaurna-Frauen erzählt hatte. Älteren war absoluter Gehorsam zu leisten. Und vielleicht war ja auch die Geschichte mit dem Besen und der Tischwäsche herumgegangen? Das würde erklären, wieso Jane Mutter Schumann fast schon unterwürfig begegnete. Ihre Vermutung bestätigte sich, als Jane, die mit dem ungewohnten europäischen Besteck zu kämpfen hatte, einen Bissen auf die blütenweiße Tischdecke fallen ließ und vor Schreck erstarrte.

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin zu ungeschickt«, wisperte sie und schien auf ein schreckliches Donnerwetter gefasst. Als Auguste Schumann nur beiläufig bemerkte: »Das macht doch nichts, es war sowieso nicht mehr frisch«, wirkte sie auf geradezu absurde Weise erleichtert.

Später, allein auf ihrem Zimmer, erklärte sie Dorothea, dass das Haus und seine ganze unbekannte Einrichtung sie nervös mache. »Ich fürchte, ich werde es niemals schaffen, mich an englische Sitten zu gewöhnen«, sagte sie verzagt. »Ich habe immerzu Angst, dass ich etwas kaputt mache. Dies zerbrechliche Geschirr, von dem ihr esst – sicher werde ich noch etwas fallen lassen, und deine Mutter wird sehr böse werden.«

»Du musst keine Angst haben. Mama wird nicht mit dir schimpfen«, beruhigte Dorothea sie. »Sie hat viel zu viel Mitleid mit dir.«

»Mitleid?« Jane sprach das Wort mit so viel Unverständnis aus, dass Dorothea hinzufügte: »Sie findet, dass du sehr schlecht behandelt wurdest.«

»Wieso?«

»Weil du praktisch schon als Kind verheiratet wurdest.«

»Ich wurde nicht als Kind verheiratet. Ich war genau im richtigen Alter, als mein erster Mann mich zur Frau nahm«, widersprach Jane.

Was sollte man darauf erwidern? Dorothea schwieg, nahm sich aber vor, bei nächster Gelegenheit Protector Moorhouse nach gewissen Aspekten des Lebens der Kaurna zu fragen.

»Soll ich das wirklich anziehen?« Jane drehte das Musselin-Nachthemd, das Dorothea ihr überlassen hatte, unschlüssig hin und her. »Es ist doch viel zu vornehm, um darin zu schlafen. Das ist ein Kleid für ein palti!«

»Findest du?« Dorothea musste bei der Vorstellung lachen, in einem Nachthemd zu einer Gesellschaft zu erscheinen. »Wenn du nicht magst, musst du es natürlich nicht anziehen. Was trägst du denn sonst in der Nacht?«

»Nichts.«

Dorothea zwinkerte. »Wie bitte?«

»Nichts. Wozu braucht man nachts Kleidung?«

Diese Frage hatte sich Dorothea noch nie gestellt. Es war eben so. »Anständige Frauen tragen Nachthemden«, sagte sie bestimmt. »Du wirst dich schon noch daran gewöhnen.«

In der Folgezeit wurden allerdings mehr Überzeugungen und Gewohnheiten der Schumanns auf den Prüfstand gestellt, als die es sich je hätten träumen lassen. Aus zahlreichen beiläufigen Bemerkungen und Erzählungen setzte sich allmählich ein Bild von Janes Alltag zusammen. Ihr Leben mit Tim Burton war in den Augen der Schumann-Frauen keine wesentliche Verbesserung gegenüber dem mit ihrem Stamm. Seine Hütte war zwar stabiler als die Windschirme, aber die Einrichtung war so spartanisch, wie es bei einer von Männern für Männer gedachten Unterkunft zu erwarten war: ein Kastenbett mit einer Matratze aus heimischen Farnen, ein großer Tisch und grob gezimmerte Stühle sowie eine gemauerte Herdstelle.

»Eine erbärmliche Hütte«, wie Mutter Schumann es zusammenfasste.

Trotzdem schien Jane dort nicht unzufrieden gewesen zu sein. »Ich werde froh sein, wieder nur Blechgeschirr benutzen zu dürfen«, vertraute sie Dorothea an. »Da muss man nicht ständig drauf aufpassen. Und keine Tischdecken, die man ununterbrochen waschen muss.«

Um sie nicht mit unnötigen Zwängen der Zivilisation zu konfrontieren, hatte Auguste Schumann den Schwerpunkt ihres hauswirtschaftlichen Unterrichts auf die Zubereitung einfacher Speisen, Wäschepflege sowie Grundkenntnisse in Näharbeiten gelegt. »Flicken muss man immer! Und man sollte imstande sein, aus alten Kleidungsstücken neue zu schneidern. – Puh, wenn es nur endlich wieder kühler würde!«

Damit war noch lange nicht zu rechnen. Erst gegen Ostern würde es Herbst werden. »Verrückte Welt«, hatte Mutter Schumann gemurrt. »Alles ist andersherum. Im Sommer ist Winter und zu Weihnachten Hochsommer. Man wird ja ganz wirr im Kopf.«

Tatsächlich empfanden es alle als äußerst seltsam, bei sommerlichen Temperaturen Advents- und Weihnachtslieder zu singen. Als Pastor Schumann Jane gebeten hatte, ihnen bei der Suche nach »geeigneten Zweigen für einen Kranz« behilflich zu sein, hatte Dorothea einige Momente gebraucht, bis sie realisiert hatte, dass er von einem Adventskranz sprach. Ihrem Gefühl nach konnte es ohne Kälte und Schnee einfach nicht Vorweihnachtszeit sein.

Es war ein wunderschöner Sommermorgen, als die beiden Mädchen, begleitet von Karl und Lischen, zu ihrer Exkursion aufbrachen. Jane wusste von einem Flecken ein Stück flussaufwärts, an dem Büsche mit biegsamen, lange haltbaren Zweigen wuchsen.

»Dort gibt es ganz in der Nähe auch eine Stelle, an der goannas leben. Ich werde aus ihnen eine Medizin für die Kopfschmerzen eurer Mutter machen.«

»Bist du denn ein Arzt?«, fragte Lischen erstaunt.

Jane schüttelte den Kopf. »Nein, ein Arzt bin ich nicht«, erwiderte sie. »Aber ich glaube, ich weiß, was ihr helfen könnte. Ngalyipi wäre auch gut, wenn wir welches finden.«

»Was sind goannas und ngalyipi?«, fragte Karl, während er sich neugierig über einen Busch beugte, der von roten Spinnen übersät schien. »Diese Blüten sind äußerst ungewöhnlich. Könnt ihr kurz warten, ich möchte sie zeichnen.«

»Goannas sind Tiere wie die da«, sagte Jane und zeigte auf eine zierliche, braune Eidechse, die aus dem Schilfbüschel flüchtete, von dem sie die breiten Blätter abzupfte. Geschickt begann sie, daraus ein dichtes Netz zu flechten. »Ich werde ein paar von ihnen fangen und in diesem yammaru mit nach Hause nehmen. Ihr Fett ist ein gutes Mittel gegen Kopfschmerzen.«

Alle drei Schumanngeschwister erstarrten vor Entsetzen. Dorothea fasste sich als Erste: »Du willst diese Tiere kochen?« Sie traute sich nicht vorzustellen, was ihre Mutter dazu sagen würde.

»Nicht kochen, nur das Fett auslassen«, erklärte Jane, ohne zu bemerken, welche Gefühle sie in ihren Begleitern geweckt hatte. »Sie sind noch ziemlich klein, deshalb werde ich ein paar von ihnen brauchen.«

»Das wird Mama niemals erlauben!« Lischen sprach aus, was sie alle dachten. Jane sah überrascht von ihrer Tätigkeit auf. »Wieso denn nicht? Sind sie für sie tabu?«

»Nein, natürlich nicht.« Dorothea überlegte, wie sie Jane taktvoll erklären sollte, dass ihre Mutter ganz bestimmte Ansichten darüber hatte, was in ihren Kasserollen und Töpfen zubereitet wurde und was nicht. Amphibien gehörten ganz sicher zu Letzteren. »Weißt du, Jane, vielleicht wäre es besser, wenn du die Eidechsen am Leben lässt. Ich könnte mir vorstellen, dass Mama lieber eine Arznei aus Pflanzen nehmen würde. – Was ist denn ngalyipi?«

»Es wächst um Bäume.« Die junge Aborigine machte eine kreisende Handbewegung, um zu demonstrieren, dass es sich offenbar um ein Schlinggewächs handelte. »Es hat gelbe Blüten. Man zerdrückt die Stängel und Blätter und macht daraus einen Umschlag für den Kopf. Aber goanna-Fett ist besser!«

»Trotzdem denke ich, dass Mama die Umschläge lieber wären«, sagte Dorothea. Sie bezweifelte im Stillen, dass ihre Mutter sich überhaupt auf »Eingeborenenkram« einlassen würde, aber sie wollte Jane nicht kränken, indem sie das laut äußerte. »Was sind das für Berge?«, fragte sie stattdessen und wies auf die bläulich schimmernde Bergkette am Horizont. »Kennst du ihren Namen, Jane?«

»Die Engländer nennen sie Mount Lofty Ranges. Für uns ist das Yurrebillas Rumpf«, sagte Jane so ernsthaft, dass niemand lachte.

»Ein seltsamer Name für eine Bergkette«, bemerkte Karl, klappte seinen Zeichenblock zu und studierte mit zusammengekniffenen Augen die fernen Strukturen. »Wer oder was ist Yurrebilla?«

»Es ist eine Traumzeitgeschichte.«

»Erzählst du sie uns? Bitte, Jane, ich liebe Geschichten«, bettelte Lischen.

»Ich bin keine gute Geschichtenerzählerin«, wehrte sie ab.

»Ach, bitte, bitte!«

»Jetzt hast du uns so neugierig gemacht, da musst du sie uns schon erzählen«, stimmte Karl mit ein. »Dort drüben ist ein netter Schattenplatz.«

»Es war vor langer, langer Zeit«, begann Jane in einem eigentümlichen Singsang. »Das Land war noch nicht lange aus den Wassern gestiegen, und unsere Vorfahren warteten noch darauf, geboren zu werden. Damals war das Land bewohnt von Riesen, und der größte von ihnen, ein unbezwingbarer Kämpfer, war Yurrebilla. Aber auch Yurrebilla wurde alt, und seine Kräfte schwanden. Zuerst bemerkte das niemand. Er war schlau genug, es geheim zu halten. Immer noch war er stark genug, es mit jedem einzelnen seiner Feinde aufnehmen zu können.

Eines Tages kam ein Zauberer zu ihnen. Niemand wusste, woher er kam, aber er war ein sehr, sehr mächtiger Zauberer. Er verriet ihnen, wie sie Yurrebilla besiegen könnten. Sie sollten sich aufteilen: Ein Teil würde den großen Krieger herausfordern und ihm in der Ebene zum Kampf gegenübertreten. Der andere Teil jedoch sollte sich versteckt halten und Yurrebilla von hinten angreifen.

So geschah es: Yurrebilla tötete so viele der Männer, dass ihre Leichen sich auftürmten wie ein Termitenhügel, aber der Blutverlust durch die unzähligen Speere in seinem Rücken schwächte ihn nach einiger Zeit so, dass er zu Boden sank. Als sie das sahen, kamen die Männer aus ihrem Versteck und erschlugen ihn mit ihren Keulen. Aus dem toten Yurrebilla formte sich das Land hier: Seine beiden Ohren wurden zu den zwei großen Berggipfeln dort im Süden, der Rumpf zu der Hügelkette nördlich von Nuriootpa, die ausgestreckten Arme berührten das Meer, und sein Kopf kam südlich bei Parewarangk zu liegen. So umschließt Yurrebillas toter Körper die Ebene, und sein Geist beschützt von den Hügeln herab alles Leben in der Ebene.«

Sie verstummte, und Dorothea hatte den Eindruck, dass sie sich mühsam wieder in die Gegenwart zurückkämpfte.

»Was für eine grässliche Vorstellung!« Lischen zog die Nase kraus. »Zu denken, dass ein toter Riese da herumliegt.«

»Es ist eine sehr alte Geschichte aus der Traumzeit, yakkanilya«, sagte Jane leise. »Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal hörte: Der Vater meines Vaters erzählte sie mir, als ich mir bei einem großen palti in Warriparinga einen giftigen Dorn in den Fuß getreten hatte. Es war sehr schmerzhaft, und ich habe viel geweint. Aber während er sie mir vortrug, habe ich keine einzige Träne vergossen. Und jetzt sollten wir weitergehen.«

In nachdenklichem Schweigen folgten sie Jane im Gänsemarsch. Der Bewuchs hier war dichter als in den Parklands von Adelaide. Die schütteren Baumkronen der Red River Gums ließen viel Licht durch. Kein dichtes Blätterdach spendete Schatten, wie sie es von deutschen Wäldern her gewohnt waren. Dementsprechend üppig gediehen Gräser und niedrige Sträucher um die einzelnen Tümpel und Weiher im ehemaligen Flusslauf.

Der Torrens River führte den Sommer über nicht durchgehend Wasser. Zu einem großen Teil versickerte es im sandigen Grund. Sobald in den Bergen die Regenfälle einsetzten, würde er wieder zu einem richtigen Fluss anschwellen, aber derzeit schien das schwer vorstellbar.

»Ist es noch weit?« Lischen hatte schon vor einiger Zeit aufgehört, den Eidechsen und Schmetterlingen nachzujagen, um zu sehen, wo sie zu Hause waren, wie sie es ausdrückte.

»Wir sind gleich da«, sagte Jane aufmunternd. »Siehst du die hohen Bäume dort vorn? Dahinter ist es.«

Tatsächlich erstreckte sich unter der Akaziengruppe, zu der sie sie führte, ein verlassener Lagerplatz. Von den ehemals vier Windschirmen stand nur noch ein einziger aufrecht, und die dazugehörigen Feuerstellen waren kaum mehr zu erkennen. Dazwischen verstreut lagen diverse unbrauchbar gewordene Gerätschaften aus Holz und zwei zerbrochene Branntweinflaschen. »Wofür benutzt man das?« Karl bückte sich und hob einen Stock mit abgebrochenem Ende auf.

»Das ist ein katta. Damit graben die Frauen nach Yamsknollen, Wurzeln oder Larven im Boden. Er ist auch nicht schlecht, um Opossums aus ihren Baumhöhlen zu jagen«, erklärte Jane mit leicht verschleiertem Blick.

»Und das?«

»Das ist die Hälfte von einem wirri. Ein Schwirrholz zur Vogeljagd.«

Jane schluckte plötzlich und lief auf das Wasserloch zu. Dort ging sie, den Blick fest zu Boden gerichtet, hin und her, bis sie gefunden zu haben schien, wonach sie Ausschau gehalten hatte. Mit bloßen Händen begann sie zu graben und stieß nach kurzer Zeit einen unterdrückten Freudenschrei aus. Als sei er eine wahre Kostbarkeit, hielt sie einen zerbeulten Emaillebecher in die Höhe. »Mein Becher von Großvater!«

»Warum hast du ihn hier vergraben?«, wollte Lischen wissen.

»Ich hatte Angst, dass die erste Frau meines Mannes ihn als Geschenk verlangen könnte«, sagte Jane, ohne den Blick von ihrem wiedergefundenen Besitz zu heben. »Also habe ich ihn versteckt, um ihn irgendwann später zu holen. Aber dann ging alles so schnell, dass ich keine Zeit mehr hatte.«

»War dies hier der Lagerplatz deiner Familie?«, fragte Karl und sah sich interessiert um.

»Nur einer für den Frühsommer«, sagte Jane. »Aber es war mein Lieblingsplatz. Vor allem, weil es hier so viele makus gibt. Mein Lieblingsessen.«

»Makus?« Dorothea schwante, dass es sich dabei um etwas handelte, was nicht unbedingt dem entsprach, was sie unter Leibspeise verstand.

»Ich zeige es euch.« Jane nahm den katta auf, setzte sich in Bewegung und führte sie einige Meter in den Busch. Ihre Augen suchten den Boden ab. Neben einem halb vermoderten Akazienstamm stieß sie den Grabstock zielsicher in den Boden und förderte ein Stück Wurzel zutage. Als sie es zerbröselte, fielen einige weiße Würmer zu Boden. Jane hob sie auf und hielt ihnen ihre Handfläche mit dem Gewürm unter die Nase. »Sie schmecken sehr gut, wenn man sie über Feuer röstet.«

»Igitt! Wie eklig!« Lischen wich ein paar Schritte zurück und schüttelte sich vor Abscheu. Auch Dorothea waren die weißlichen Maden zuwider. Konnte man so etwas wirklich essen? Und es auch noch gut finden?

»Wonach schmecken sie?« Karl schien als Einziger von ihnen nicht von dem Anblick abgestoßen zu sein. Interessiert beugte er sich über die makus auf Janes Hand. »Es scheinen Käferlarven zu sein. Jedenfalls sehen sie ganz genau wie Maikäferlarven aus.«

»Sie schmecken wirklich gut: wie weiche, fette Nüsse«, verteidigte Jane ihr Lieblingsessen. »Soll ich sie mitnehmen und für dich zum Abendessen rösten?«

»Nein danke«, lehnte Karl ihr Angebot eilig ab. So weit ging sein Wissensdurst nun auch wieder nicht. »Ich glaube, ich muss nicht selber probieren, wie sie schmecken. Ich bleibe lieber bei Pastete.«

»Tim wollte sie auch nicht probieren. Er meinte, er sei kein Huhn«, sagte Jane kopfschüttelnd. »Aber ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich sie für mich mitnehme?«

Als sie, beladen mit den Zweigen für den Adventskranz, einem Vorrat an ngalyipi-Stängeln sowie einigen Jungpflanzen, die sie in Hausnähe einpflanzen wollten, zur Mission zurückkehrten, erwartete Mutter Schumann sie nicht alleine auf der Veranda.

»Wer ist denn das?« Karl stöhnte unwillig, als er den jungen Mann in kariertem Anzug erblickte. Schweißüberströmt und staubverkrustet war keiner von ihnen in der Stimmung, einen Gast willkommen zu heißen. Es hatte länger gedauert, den ngalyipi zu finden, und der Rückweg in der Mittagshitze hatte allen zu schaffen gemacht. Selbst Jane ging nicht mehr so leichtfüßig wie sonst.

Der elegant gekleidete Mann kam ihnen entgegen, zog seinen Panamahut und fragte geradezu aufreizend munter: »Kann ich den Damen irgendwie behilflich sein? – Miles Somerhill vom Register.«

»Ja, gehen Sie uns aus dem Weg«, knurrte Karl und stapfte, den Bund Zweige auf der Schulter, weiter. »Die letzten Meter schaffen wir jetzt auch noch alleine.«

»Oje, da bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten.« Somerhill lachte, schien jedoch keineswegs zerknirscht. »Werden Sie mir auch gleich zu verstehen geben, wie nutzlos und lästig ich bin?«

»Führen Sie mich nicht in Versuchung«, gab Dorothea im gleichen Ton zurück. »Weswegen sind Sie eigentlich hier?« Sie warf dem jungen Mann einen Seitenblick zu. Er sah gut aus, sehr gut sogar. Viel besser als der ältliche Reporter, der am Schiffskai in Port Adelaide jeden der Neuankömmlinge nach seinem Namen und seinen weiteren Plänen gefragt hatte.

»Mein Chef hat von Ihrem Gast gehört und ist der Ansicht, dass der Register eine solche Geschichte unbedingt bringen müsse.« Er sah Jane hinterher, die ihr Bündel Richtung Torrens River trug. »Was hat sie vor?«

»Konkret oder im übertragenen Sinn?« Dorothea ließ ihre Zweige an die Hauswand neben die von Karl fallen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Im Augenblick frage ich mich, was sie mit diesem Grünzeug vorhat«, sagte Somerhill. »Was macht sie denn jetzt?« Sein Tonfall drückte ein solches Ausmaß an Erstaunen aus, dass Dorothea seinem Blick folgte. Jane hatte ihren Rock über einen der Büsche geworfen und knöpfte gerade ihre Bluse auf. Unterwegs hatte sie zwar davon gesprochen, wie unangenehm ihr die europäische Kleidung wäre und dass sie lieber wie früher nackt ginge, aber Dorothea hatte das nicht ernst genommen.

»Würden Sie bitte meiner Mutter auf der Veranda Gesellschaft leisten, Mr. Somerhill«, stieß sie jetzt hastig hervor. »Wir kommen gleich nach.« Ohne darauf zu achten, ob er ihrer Bitte Folge leistete, eilte sie auf die Stelle zu, an der Jane ihre Kleidung abgelegt hatte und Anstalten machte, in ein Wasserloch zu steigen.

»Jane, was machst du da? Zieh dich sofort wieder an!«

»Wenn ich gebadet habe«, gab Jane ungerührt zurück und watete vorsichtig tiefer. »Du solltest auch ins Wasser kommen. Dein Kleid ist ganz nass geschwitzt.«

Die Wassertropfen glitzerten auf Janes dunkler Haut wie Perlen auf Samt. Kühl und frisch. Einen Moment verspürte Dorothea die Versuchung, es ihr nachzutun. Es müsste herrlich sein, sich von diesem Wasser umspülen zu lassen. Den ganzen Schweiß, der ihre Glieder mit einem klebrigen Film überzog, auf einmal abzuwaschen. Aber ein Blick in die Runde zeigte ihr, dass der Badeplatz keineswegs vor Blicken geschützt war. Also sagte sie bedauernd: »Ich kann nicht. Wenn jemand käme und mich so sähe!«

Jane lachte, sagte aber nichts. Stattdessen kam sie langsam zum Ufer zurück, streifte sich das Wasser vom Körper und kleidete sich wieder an. Erst bei den Stiefeln zögerte sie und sah Dorothea an. »Meinst du, dieser Reporter wäre sehr schockiert, wenn ich barfuß bliebe?«

Jane hasste europäisches Schuhwerk. Wann immer es ging, lief sie mit bloßen Füßen. Selbst Mutter Schumann hatte sich inzwischen an den Anblick gewöhnt. Also nahm Dorothea die ungeliebten Stiefel mit hinauf, als sie sich waschen ging, während Jane sich schon ihrer Mutter und Mr. Somerhill auf der Veranda anschloss.

Obwohl sie sich beeilte, war bis auf Karl die übrige Familie bereits vollzählig versammelt. Der Reporter erzählte gerade von den Zuständen in Adelaide, die er als Neuankömmling noch miterlebt hatte. »Kennen Sie die Geschichte von dem Hut auf der Wakefield Street? Nein? – Also, in der Regenzeit geht ein Mann die Straße entlang, als er einen Zylinder im Schlamm liegen sieht. Er bückt sich, um ihn aufzuheben. Zu seinem Entsetzen kommt darunter ein Männerkopf zum Vorschein, der ihn um Hilfe bittet. Der Mann geht ein Brett holen, stellt sich darauf und zieht und zieht. Aber der Gentleman im Schlamm steckt fest, rührt sich keinen Zentimeter. Ein zweiter Mann kommt ihm zu Hilfe – vergebens. Verdammt‹, sagt der Mann im Schlamm schließlich. Ich komme einfach nicht aus den Steigbügeln!‹«

August brach in schallendes Gelächter aus. »Der Witz ist gut«, prustete er. »War es wirklich so schlimm?«

»Mr. Stevenson, mein Chef, schwört Stein und Bein, dass er das selbst erlebt hätte.« Somerhill grinste. Da sah er Dorothea in der Tür stehen und sprang auf. »Miss Schumann, Ihre Mutter hat mir verraten, dass Sie ein äußerst schmeichelhaftes Interesse an unserer Zeitung geäußert haben. Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen, Ihnen alles zu zeigen, was Sie sehen möchten.«

Überrascht sah Dorothea zu ihrer Mutter. »Mama!«

Auguste Schumann lächelte verhalten. »Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, dass du immer dann den kleinen Umweg durch die Hindley Street vorschlugst, wenn beim Register eine neue Ausgabe aushing? Und es waren nicht die Familienanzeigen, die du verschlungen hast.«

Tatsächlich hatte die Eloquenz, ja Bissigkeit der Kommentare, in denen meist die Arroganz und Überheblichkeit der Verwaltung gegenüber den Eingeborenen gegeißelt wurde, sie begeistert. Dagegen war Herr Dünnebier in Dresden ein Chorknabe! Man musste die Menschen aufrütteln. Überhaupt waren die Philanthropen in ihren Augen viel zu zurückhaltend: Anstatt Waisenkinder von den Straßen Londons in die australische Wildnis zu verfrachten, wäre es doch sinnvoller gewesen, die Missstände anzuprangern, die dazu führten, dass die Kleinen als Diebe und Huren abgerichtet wurden. So, wie Mr. Stevenson es hier mit seinem Register tat.

Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte sie schon längst dort vorgesprochen und ihre Dienste angeboten. Stattdessen hatte sie seit Wochen überlegt, wie sie es anstellen konnte, den Herausgeber zu überzeugen, ihr als Frau eine Chance zu geben. Dorotheas Gedanken überschlugen sich: Janes Geschichte bot ihr die erste Möglichkeit, ihr Geschlecht zu ihrem Vorteil einzusetzen. Im persönlichen Gespräch konnte sie diesen Mr. Stevenson sicher davon überzeugen, dass die Geschichte einer Frau besser von einer anderen Frau geschrieben würde als von einem Mann.

Dorothea holte tief Luft und lächelte Miles Somerhill an. »Sie glauben gar nicht, was Sie mir damit für eine Freude machen«, sagte sie und spürte, wie ihr Herz vor Aufregung wie rasend klopfte. Dass ihr sehnlichster Wunsch jetzt so plötzlich und unerwartet in greifbare Nähe rückte, erschien ihr wie ein Wunder. »Wann?«, fragte sie atemlos.

»Ist Ihnen gleich morgen Vormittag um zehn Uhr recht?« Somerhill sah fragend zu ihren Eltern. »Wir könnten dann einen kleinen Lunch nehmen, und anschließend würde ich Ihre Tochter selbstverständlich wieder nach Hause bringen.«