10

Zwei Tage später lag Eden-House im milden Licht der Abendsonne vor ihnen. »Wie schön!«, entfuhr es Dorothea. »So schön hatte ich es mir nicht vorgestellt.«

Die parkartigen Ufer des Murray River wirkten, als wären sie von einem Landschaftsgärtner angelegt worden. Der majestätische Fluss, viel mächtiger als der Torrens River, erstreckte sich, breit wie ein See, von Horizont zu Horizont. An seinen Ufern wuchsen außer den typischen, knorrigen Red River Gums anmutige Akazien, Gruppen von Eukalyptusbäumen, und dazwischen spross bereits frisches, grünes Gras. Eine ländliche Idylle wie auf einem Gemälde.

Das Haupthaus war aus hellem Stein errichtet, die Stallungen und Wirtschaftsgebäude aus gebrannten Ziegeln. Auf den umzäunten Weiden in der unmittelbaren Umgebung tummelten sich zahlreiche Pferde und Rinder.

»Freut mich, dass es dir gefällt«, sagte Robert und lächelte. »Du findest es nicht zu abgelegen?«

Hatte Claire sich darüber beklagt? »Nein, ich finde es geradezu paradiesisch«, erwiderte Dorothea begeistert. »Weißt du, dass ich mir als Kind immer ausgemalt habe, in einer Hütte im Wald zu wohnen? Ich stellte mir vor, von Beeren und Pilzen zu leben und mir Kleidung aus Blättern und Rinde zu fertigen.«

»Ganz so frugal geht es bei uns nicht zu«, erwiderte Robert trocken. »Ich wage gar nicht, mir Tante Arabellas Gesicht vorzustellen, sollte ich ihr den Vorschlag machen, auf Elizas köstliche Gerichte zu verzichten und eine solche Diät auszuprobieren. Obwohl es ihr guttäte! Aber das wirst du ja gleich selber sehen.« Er schnalzte dem Pferd aufmunternd zu. Den heimischen Stall vor sich, fiel es in einen leichten Trab.

Die letzten beiden Tage waren im Nu vergangen. Sie waren gut vorangekommen: kein verlorenes Hufeisen, kein beschädigtes Rad. Auf dem Mount Barker hatten sie im Mount Barker Inn übernachtet. Das schlichte Gasthaus verfügte nur über einen einzigen Schlafraum, in dem bereits drei Schafhirten auf ihren Strohsäcken schnarchten. Zwar hatten Robert und sie sich fest in ihre Umhänge eingewickelt, trotzdem inspizierte sie immer noch misstrauisch jede juckende Stelle.

Robert hatte ihr die Bewohner von Eden-House so lebendig beschrieben, dass sie fast überzeugt war, sie schon lange zu kennen.

Die sechsjährige Heather war ein Wildfang, der sich in den Ställen wohler fühlte als im Schulzimmer. Von allen Erwachsenen um sie herum seit jeher verwöhnt und verhätschelt, würde es nicht einfach werden, sie zu zähmen.

Tante Arabella, verwitwete Lady Chatwick, frönte zwei Leidenschaften: exquisitem Essen, inklusive entsprechendem Wein, was sich im Umfang ihrer Figur niederschlug, sowie Romanen, die ihr gar nicht aufregend genug sein konnten. Seit Neuestem schwärmte sie für einen amerikanischen Schriftsteller namens Edgar Allan Poe, der ihrer Meinung nach ein Genie war. »Ich halte ihn entweder für einen Säufer oder für geisteskrank«, hatte Robert konstatiert. »Aus Neugierde habe ich einmal in einem der Bücher geblättert – ich wundere mich über Tante Arabellas gesunden Schlaf nach solcher Lektüre!«

Der Stallknecht Sam war inzwischen grau, und die Gicht plagte ihn heftig, aber nichts hätte ihn dazu bewegen können, seine Herrschaft über die Ställe aufzugeben. Seine scharfe Zunge verschaffte ihm immer noch den nötigen Respekt seiner Untergebenen: des wortkargen Stallburschen John aus Irland und des Stalljungen Gilbert.

Wohl die am meisten gefürchtete Person des Haushalts war jedoch Eliza Perkins, die Köchin.

Nicht nur Eingeborene ergriffen schleunigst die Flucht, wenn sich ihre durchdringende Stimme zu einer Schimpfkanonade erhob, die selbst gestandene Mannsleute erblassen ließ.

Die gebürtige Schottin hatte den größten Teil ihres bisherigen Lebens in Bristol verbracht. Dort hatte sie einem weltfremden Gelehrten den Haushalt geführt und seinem Versprechen vertraut, nach seinem Tod Alleinerbin zu werden. Das geräumige Haus am Stadtrand hätte ihr ein gesichertes Alter als Zimmerwirtin beschert. Leider hatte der vergessliche Herr es versäumt, sein Testament bei einem Notar beglaubigen zu lassen. Ein entfernter Verwandter war geschickt genug gewesen, einen Richter zu finden, der es für ungültig erklärte. Der folgende Rechtsstreit hatte Eliza Perkins ihren letzten Penny gekostet. Mittellos wie an dem Tag, an dem sie bei ihrem Dienstherrn über die Schwelle getreten war, hatte sie es wieder verlassen müssen.

Mit guter Gesundheit und einem festen Willen ausgestattet, hatte sie sich für ein neues Leben in der Kolonie Südaustralien entschieden. Und sie hatte auch keinen Moment gezögert, Robert und Sam in die fremde Wildnis zu begleiten. Von der provisorischen Rindenhütte, in der sie damals alle drei gehaust hatten, bis zu dem eindrucksvollen Haupthaus war es auch für sie ein langer Weg gewesen. Dorothea sah ihr mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits bewunderte sie eine solche Frau grenzenlos, andererseits würde es sicher nicht einfach sein, mit ihr auszukommen. Das musste sie aber unbedingt, denn Robert wäre niemals bereit, seine Köchin und Haushälterin zu entlassen.

»Ohne Eliza wäre ich jetzt tot«, hatte Robert erzählt. »Es war in unserem ersten Winter hier. Auf der Suche nach einem trächtigen Muttertier wagte ich mich weiter nach Norden, als ratsam war.« Er lächelte reumütig. »Natürlich hatte man mich bereits in Adelaide gewarnt, dass die Stämme dort wegen der ständigen Zusammenstöße mit den Schafhirten Weißen gegenüber nicht gerade freundlich gesinnt wären. Aber ich erwartete nicht, dass sie dermaßen feindselig auf mich reagieren würden. Ein Speer im Oberschenkel und zwei weitere in meinem Pferd belehrten mich eines Besseren.«

»Um Himmels willen«, entfuhr es Dorothea. »Und wie bist du ihnen entkommen?«

»Es war ziemlich knapp! Zum Glück schaffte mein armes Pferd es noch bis zum Ufer. Ich ließ mich ins Wasser fallen und treiben. Ein Pferd als Beute war natürlich lohnender als ein magerer Engländer. Sie stürzten sich auf das verletzte Tier wie ein Rudel Wölfe.« Robert schüttelte sich bei der Erinnerung. »Das wirkte auf mich ausgesprochen anfeuernd. Ich schwamm und schwamm, und irgendwann muss ich ans Ufer gekrochen sein. Jedenfalls fand mich dort unser Stamm und transportierte mich bis zur Hütte. Eliza hat mich dann gesund gepflegt.«

»Hast du daher dein steifes Bein?«

»Hmm.« Mehr sagte er nicht, aber an den zusammengepressten Lippen war abzulesen, dass er von sich aus nicht weitersprechen würde. Einen Moment schwankte Dorothea, ob sie nachhaken sollte. Ihre Neugier drängte sie dazu. Gerade öffnete sie den Mund, um zu fragen: Sind deine Verletzungen sehr schlimm gewesen?, als ein plötzlicher Ruck sie beinahe vom Sitz katapultiert hätte.

»Verdammt«, fluchte Robert. Eines der Räder hatte sich an einer Wurzel verhakt. Um ein Haar wäre der leichte Wagen umgekippt, wenn er das Kutschpferd nicht geistesgegenwärtig angetrieben hätte. Ebenso elegant nutzte er den kurzen Zwischenfall zu einem Themenwechsel. »Ich hoffe wirklich, dass Gouverneur Grey sich endlich dazu durchringt, die Straße weiter bauen zu lassen«, sagte er ungehalten. »Es ist so schon kein Vergnügen, aber wenn es richtig regnet, ist hier nur noch für Reiter ein Durchkommen. – Kannst du eigentlich reiten?«

»Nein, wozu? Wir hätten uns sowieso kein Pferd leisten können«, gab Dorothea zur Antwort.

»Dann werden ich oder Sam es dir beibringen«, entschied ihr Mann. »Hier draußen musst du es können, wenn du nicht den ganzen Winter über ans Haus gefesselt sein willst wie Tante Arabella.«

Die letzte Strecke zum Haus legten sie schweigend zurück. Dorothea klopfte das Herz im Hals. Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Die breite, überdachte Terrasse, die sich über die gesamte Vorderseite zog, füllte sich rasch mit einem Empfangskomitee.

Als Robert Masters genau vor der Vordertreppe die Zügel anzog, betrachtete fast der gesamte Hausstand sie mit offenem Erstaunen. »Du hast Besuch mitgebracht?« Die korpulente Dame im sackähnlichen Kleid mit der Unmenge hellgrauer Löckchen, die ihren Kopf wie ein gesträubtes Gefieder umgaben, musste Tante Arabella sein. Sie musterte Dorothea mindestens so kritisch, wie es die Köchin Eliza und Sam taten.

»Kein Besuch. Dorothy wird ab jetzt hier bei uns zu Hause sein. Wir haben vorgestern geheiratet.«

Robert überließ die Zügel dem jungen Burschen, der von den Stallungen angerannt kam, und stieg steifbeinig vom Bock. Während Dorothea darauf wartete, dass er sich umdrehte und ihr behilflich war, fing sie den Blick eines kleinen Mädchens mit goldbraunen Zöpfen auf. Nur kurz, aber aus den braunen Augen schlug ihr eine solch unverblümte Feindseligkeit entgegen, dass sie erschrak. Wieso verabscheute Heather sie bereits, bevor sie überhaupt zusammengetroffen waren?

»Liebe Tante Arabella«, sagte Robert feierlich, während er sie die breite Steintreppe hinaufführte. »Ich freue mich, dir meine Frau vorstellen zu können. – Dorothy, Lady Arabella Chatwick.«

Die ältere Frau blinzelte ein paar Mal, ehe sie die Hand ausstreckte und Dorotheas Rechte herzhaft schüttelte. »Ähh, herzlich willkommen, meine Liebe, herzlich willkommen. Ich freue mich für euch. Das ist jetzt aber wirklich eine Überraschung!«

»Willkommen, Ma’am.« Die vierschrötige Eliza trat vor und knickste erstaunlich anmutig. »Ich werde mich sofort darum kümmern, dass Ihre Zimmer hergerichtet werden. Wenn man mir etwas gesagt hätte, wäre das selbstverständlich schon längst geschehen.«

Ihre Zimmer? Würde sie kein gemeinsames Schlafzimmer mit Robert teilen? Sie versuchte, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Engländer, vor allem feine Engländer, hatten oft seltsame Gewohnheiten, hatte sie gehört. Stattdessen lächelte sie dem drahtigen, klein gewachsenen Mann mit dem ledergegerbten Gesicht zu, der sich vor ihr aufgebaut hatte und seinen Hut in den Händen drehte.

»Sam ist mein Name«, knurrte er eher. »Hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen, Ma’am.« Seine scharfen Augen huschten zwischen ihr und Robert hin und her, bis er, anscheinend zufrieden mit dem, was er sah, seinem Dienstherrn in ähnlich kurz angebundener Form gratulierte.

»Heather, Schätzchen, willst du deinem Vater und deiner neuen Mutter nicht guten Tag sagen?« Arabella legte dem kleinen Mädchen den Arm um die Schultern und versuchte, sie auf Dorothea zuzuschieben. Widerborstig stemmte die jedoch ihre Füße auf den Boden und sah mürrisch zu Robert auf. »Ich will keine neue Mutter, Daddy. Schick sie wieder weg!«

»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun«, sagte Robert streng. »Wo hast du eigentlich deine Manieren? Begrüße sie gefälligst anständig, oder du kannst ohne Dinner gleich zu Bett gehen.«

So etwas wie spöttische Überheblichkeit blitzte in den braunen Augen auf, und Dorothea vermutete, dass diese Strafe häufig ausgesprochen und ebenso häufig von der Köchin oder Tante Arabella unterlaufen wurde.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Heather mit der leeren Höflichkeit eines Papageis und knickste artig, ehe sie sich ihrem Vater an den Hals warf. »Daddy, ich habe wieder den bösen Mann gesehen«, hörte Dorothea sie flüstern, während sie ihr Gesicht in den Falten seines Halstuchs vergrub. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«

»Ist ja gut, Heather«, murmelte er und strich ihr über die Haarflechten. »Er wird nicht wagen, dich anzurühren. Das verspreche ich dir. Und jetzt geh bitte mit Tante Arabella. Wir sehen uns dann beim Dinner.«

»Leidet Heather unter nächtlichen Albträumen?«, erkundigte Dorothea sich halblaut, sobald sie im oberen Stockwerk außer Hörweite waren. »Meine kleine Schwester war auch eine Zeit lang fest davon überzeugt, unter ihrem Bett verstecke sich ein Räuber.«

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Robert und sah sie an, als überlege er, ob er sich ihr anvertrauen sollte. »Manches von dem, was sie erzählt, klingt verflucht real.« Er öffnete die Tür zu einem großen, lichtdurchfluteten Raum voller anmutiger Möbelstücke. Vor den hohen Fenstern bauschten sich Musselinvorhänge in der Abendbrise. Die ganze Einrichtung in den Farben Himmelblau und Elfenbein wirkte ausgesprochen feminin und verspielt. »Es ist noch nach Claires Wünschen eingerichtet. Du musst nur sagen, was du geändert haben möchtest, dann werde ich es in die Wege leiten.«

»Es ist wunderschön«, sagte Dorothea leise und sah sich um. Jemand hatte in aller Eile die schützenden Leinenhüllen abgezogen. Sie lagen noch zusammengefaltet auf einem der zierlichen Hepplewithe-Sessel. Die seidene Steppdecke vom Himmelbett war zurückgeschlagen, nur die Staubschicht auf dem Beistelltischchen zeugte davon, dass dieser Raum längere Zeit hindurch nicht benutzt worden war. »Ein solches Zimmer würde eher in ein Schloss passen.«

»Claire war der Meinung, dass es angemessen für sie wäre«, bemerkte Robert ausdruckslos und ging bereits auf eine schmale Tür an der Querwand zu. »Hier geht es zum Ankleidezimmer, und dahinter ist mein Zimmer.«

Das Ankleidezimmer war eine Spur schlichter ausgestattet, aber auch hier war Claires Handschrift deutlich zu erkennen. Dorotheas klobige Reisekiste mit den abgeschlagenen Kanten wirkte wie ein Fremdkörper vor dem Schrank aus poliertem Wurzelholz. Robert ging auf ihn zu und öffnete die Türen. Im ersten Moment glaubte Dorothea an eine optische Täuschung: Aus dem Inneren quollen solche Unmengen von bunten Stoffen, dass es wie ein Kaleidoskop aus Farben wirkte. So viele Kleider auf einen Haufen hatte sie noch nie gesehen. Wann hatte Claire die nur alle getragen?

»Natürlich erwarte ich nicht von dir, dass du Claires alte Kleider aufträgst«, sagte Robert eilig. »Aber Tante Arabella meinte, es wäre schade, sie einfach wegzuwerfen. Vielleicht gefällt dir ja das eine oder andere. Dann lasse ich eine Schneiderin kommen, die es dir umnäht.«

Dorotheas angeborener Sinn für Sparsamkeit meldete sich. »Das wird nicht nötig sein. Meine Mutter ist gelernte Schneiderin, und sie hat mir genug beigebracht, dass ich einfache Näharbeiten sehr gut selber machen kann«, wehrte sie ab. »Ich weiß nur nicht, wann ich solche Roben tragen soll? Sie sind viel zu vornehm.« Vorsichtig strich sie mit den Fingerspitzen über den schimmernden Atlas, den geschmeidigen Samt. Die Stoffe waren von erstklassiger Qualität.

»Ich überlasse es ganz dir, was du damit machst«, meinte Robert. »Das ist übrigens die Tür zu meinem Zimmer. Ich bitte dich, jederzeit davon Gebrauch zu machen, wenn dir danach ist.«

Dorothea entging nicht, dass im Schloss ein Schlüssel steckte. Hatte Claire ihren Mann ausgesperrt?

»Das gilt natürlich für dich genauso«, sagte sie kurz entschlossen, zog den Schlüssel ab und ließ ihn in die offen stehende Schublade der Frisierkommode fallen. »Ich finde, zwischen uns sollte es keine verschlossenen Türen geben.«

Sie hatte das Richtige gesagt. Ihr Mann betrachtete sie mit einem so liebevollen Ausdruck, dass sie ganz verlegen wurde.

»Ich bin der guten Mary von Tag zu Tag dankbarer«, murmelte er mehr zu sich selbst, als er sie in die Arme schloss und mit zwei Fingern ihr Kinn anhob, um ihr in die Augen sehen zu können. »Du glaubst nicht, wie froh ich darüber bin, dass du in mein Leben getreten bist.«

Er senkte den Kopf und küsste sie. In den vergangenen Tagen hatte er das öfter getan, aber mit Rücksicht auf die äußeren Umstände waren es eher keusche Küsse gewesen. Dass ihr Mann nicht nur rücksichtsvoll und zart, sondern auch von mitreißender Leidenschaftlichkeit sein konnte, überraschte und erregte Dorothea gleichermaßen. Erstaunlich schnell hatte sie sich an das Zusammensein mit ihm gewöhnt. Seit der Hochzeit war sie praktisch rund um die Uhr mit ihm zusammen gewesen, und in den langen Gesprächen, mit denen sie sich die Reisezeit verkürzt hatten, war eine Vertrautheit zwischen ihnen gewachsen, wie sie sonst erst nach längerer Zeit zu entstehen pflegt. Deswegen empfand sie jetzt auch keinerlei Scheu, sondern erwiderte den Kuss mit Hingabe. Ihre Hochzeitsnacht war eine durchaus lustvolle Erfahrung gewesen, und Dorothea war gerne zu einer Wiederholung bereit. Instinktiv drängte sie sich an ihn und zerrte mit fiebrigen Händen an seinem Leinenhemd.

»Bist du nicht zu erschöpft?« Roberts Stimme klang belegt, als er seinen Mund von ihrem nahm.

»Kein bisschen«, flüstere Dorothea atemlos, während sie ihn schon auf die Tür zuschob.

Erst danach, zufrieden den Kopf auf die Schulter ihres Mannes gebettet, ließ sie ihren Blick interessiert schweifen. Roberts Zimmer hatte nicht das Geringste gemein mit dem mondänen Stil, in dem Claires Räume eingerichtet worden waren. Die fast schon klösterliche Schlichtheit der spärlichen Möbelstücke, die Reitgerte und das Gewehr neben dem schmalen Kleiderschrank – alles war maskulin, eher zweckmäßig. Dennoch fühlte sie sich hier wohler. Vielleicht sollte sie doch das eine oder andere zerbrechliche Sesselchen entfernen. Und sei es nur, um sich nicht ständig als bäurischer Trampel zu fühlen. Vor ihrem inneren Auge entstand Claires Bild als das einer ätherischen Schönheit, und unwillkürlich seufzte sie leise.

»Geht es dir gut?« Besorgt richtete Robert sich auf einem Ellenbogen auf.

»Es geht mir wunderbar«, beeilte sie sich, ihn zu beruhigen, und streckte sich träge wie eine Katze in der Sonne. »Ich habe nur gerade gedacht, dass ich wohl nie an die Kultiviertheit deiner ersten Frau heranreichen werde.«

In Roberts Gesicht zuckte es wie Wetterleuchten. »Hast du noch nie erlebt, dass sich unter einer schönen Schale ein verfaulter Kern verbirgt?«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Ich habe noch mit keinem Menschen darüber gesprochen, aber meine Ehe mit Claire war die Hölle. Es mag sein, dass ich ihr nicht geben konnte, was sie brauchte. Ich hätte über ihre Untreue hinweggesehen, doch es hat ihr geradezu Vergnügen bereitet, sich mir mit ihren diversen Liebhabern zu präsentieren und mich zum Gespött zu machen. Gott vergebe mir: Ich bin eher erleichtert, von ihr befreit zu sein, als dass ich um sie trauerte.«

Erschreckt von seinem Ausbruch und erschüttert von dem Geheimnis, das er ihr anvertraut hatte, suchte Dorothea nach Worten. Was sollte sie dazu sagen? Wo sie doch nicht viel besser war, indem sie ihrem Mann das Kind eines anderen unterschob. Robert hätte etwas Besseres als sie verdient gehabt. Eine anständige Frau wie Miss Mary, die ihren zukünftigen Ehemann ganz sicher nicht schon vor der Hochzeit hintergehen würde.

»Jetzt habe ich dich abgestoßen«, murmelte Robert bedrückt, setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. »Ich hätte besser den Mund halten sollen.«

»Nein, ich bin kein bisschen abgestoßen. Es tut mir schrecklich leid, dass du all das durchmachen musstest«, flüsterte Dorothea und umschlang ihn von hinten mit den Armen. Irgendwie war es leichter, zu seiner Schulter zu sprechen, als ihm dabei ins Gesicht zu sehen. »Ich schwöre dir, dass ich dich nie betrügen werde.«

»Schwöre nicht.« Roberts Lächeln, als er sich halb zu ihr umdrehte, um ihr zärtlich über die Wange zu streicheln, hatte etwas Trauriges. »Schwüre sind leicht abzulegen und schwer zu halten.« Er bückte sich nach ihren Kleidern, die als wirrer Haufen neben dem Bett lagen – ein Zeugnis ihrer Ungeduld. »Darf ich deine Kammerzofe sein?«

Das erste Dinner mit ihrer neuen Familie verlief nicht ganz ohne Irritationen auf beiden Seiten. Als Robert sie zum Platz der Hausfrau an dem ihm gegenüberliegenden Tischende führte, wären sie fast mit Tante Arabella kollidiert, die ihn gewohnheitsmäßig angesteuert hatte.

»Verzeih mir, Liebes, die Macht der Gewohnheit«, entschuldigte Lady Chatwick sich verlegen und eilte, so schnell es ihr Umfang erlaubte, auf den Stuhl Heather gegenüber zu.

»Wieso kann Tante Bella nicht da sitzen, wo sie immer sitzt?« Das Mädchen fixierte Dorothea aus zusammengekniffenen Augen. Die Abneigung war geradezu greifbar.

»Weil jetzt Dorothy die Dame des Hauses ist und der Platz gegenüber dem Hausherrn nun mal deren Platz ist, Schätzchen«, sagte Tante Arabella hastig, wodurch sie einer harschen Bemerkung Roberts zuvorkam, der schon den Mund geöffnet hatte, um seine Tochter zurechtzuweisen. »Das solltest du eigentlich wissen. Wo bleibt denn Trixie mit der Suppe?«

Als hätte sie nur auf ihr Stichwort gewartet, näherten sich bedächtige Schritte, und ein adrett gekleidetes, rotwangiges Mädchen in Häubchen und Leinenschürze trug eine große, dampfende Terrine herein, die sie auf der Anrichte absetzte, ehe sie sich umwandte und vor Dorothea knickste. »Guten Abend, Madam«, sagte sie. »Darf ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche aussprechen? Und auch Ihnen, Sir.« Sie knickste erneut in Roberts Richtung.

»Danke«, erwiderte Dorothea leicht nervös. Im Schumann’schen Haushalt hatten sie sich nie auch nur eine Dienstmagd leisten können. Dass jetzt auf einmal ein Hausmädchen vor ihr knickste und sie mit »Madam« ansprach, erschien ihr immer noch unwirklich. Und warum sah sie sie jetzt so fragend an? Was erwartete sie von ihr?

»Würdest du dann bitte anfangen aufzutragen, Trixie?« Roberts Stimme half ihr aus der Verlegenheit. »Die Suppe duftet köstlich. Was hat Mrs. Perkins uns denn da gezaubert?«

»Sie hat zur Feier des Tages extra deutsche Gerichte zubereitet«, erklärte Trixie stolz, während sie geschickt die dampfende Flüssigkeit auf die Teller schöpfte. »Dies ist eine Hamburger Fischsuppe.«

Fischsuppe, gleichgültig welcher Provenienz, zählte nicht gerade zu Dorotheas Lieblingsspeisen. Aber Trixie schaute so gespannt, als sie den gefüllten Teller vor sie hinstellte, dass sie sich anstrengte, Begeisterung zu heucheln. »Die Suppe schmeckt wie zu Hause. Ganz köstlich.«

Es folgten verschiedene »deutsche« Gerichte, die Dorothea vollkommen unbekannt waren.

Erst die bayerische Creme und der Aprikosenkuchen zum Nachtisch kamen ihr wieder vage vertraut vor.

»Verzeiht meine Neugier«, wagte Lady Arabella sich schließlich, nach mehreren Gläsern französischen Rotweins mutig geworden, vor. »Aber gab es einen speziellen Grund für diese rasche Hochzeit? Normalerweise legen junge Bräute doch großen Wert auf eine pompöse Feier.«

»Eine große Hochzeit wäre nicht angebracht gewesen, da Dorotheas Vater erst vor Kurzem gestorben ist«, sagte Robert ruhig. »Diese Lösung kam uns beiden entgegen.«

»Haben die Schwarzen ihn ermordet?« Überrascht sah Dorothea in Heathers gerötetes Gesicht. Zum ersten Mal während des gesamten Essens nahm das Kind Anteil an der Konversation der Erwachsenen. Bisher hatte es nur mürrisch auf seinem Teller herumgestochert; jetzt wirkte es geradezu elektrisiert.

»Nein, er ist bei einem Bootsunfall ertrunken.« Dorothea musste schlucken. »Wie kommst du darauf, dass die Eingeborenen an seinem Tod schuld wären?«

»Na, weil sie es immer sind.« Heather betrachtete sie mit abgrundtiefer Verachtung. »Wissen Sie das nicht? Hier, ganz in der Nähe, haben sie eine Menge Leute umgebracht. Sogar Kinder. Und sie lauern darauf, dass sie noch mehr erwischen. Ihr böser Zauberer braucht tote weiße Menschen für seine Beschwörungen.« Heathers kindliche Züge verzogen sich zu einer bösartigen Grimasse. »Besonders gerne nimmt er dafür weiße Frauen.«

»Schätzchen, das ist doch Unsinn.« Lady Arabella sah peinlich berührt in Roberts Richtung. »Das hast du dir bestimmt gerade erst ausgedacht, um der armen Dorothy Angst einzujagen. Das ist nicht nett von dir.«

»Ich habe mir gar nichts ausgedacht. Das hat King George vorgestern zu Eliza gesagt«, erwiderte die Kleine trotzig. »Ich habe es ganz genau gehört.« Sie presste die vollen Lippen zu einem Strich zusammen.

»Wenn das stimmt, warum hat Mrs. Perkins mir dann nichts davon erzählt?« Lady Arabella wirkte immer noch nicht überzeugt. »Ich meine, sie hätte es doch nicht für sich behalten, wenn hier nachts blutdürstige Wilde ums Haus schleichen.«

»Sie hat ihm nicht geglaubt«, erklärte Heather widerwillig. »Eliza hat ihn ausgelacht und gesagt, er sollte nächstens besser seinen Rausch ausschlafen, bevor er sich wieder blicken ließe.«

»Ach so.« Mit einem abgrundtiefen Seufzer der Erleichterung lehnte Lady Chatwick sich zurück und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. »Schätzchen, diese Schwarzen erzählen die tollsten Geschichten. Man muss nicht alles für bare Münze nehmen, was sie einem so auftischen.«

Dorothea erschien Lady Chatwicks Reaktion beinahe genauso befremdlich wie Heathers Geschichte. Robert war ihre Verwirrung nicht entgangen. »King George nennen wir den Häuptling des Stammes auf meinem Land«, erläuterte er. »Du wirst ihn sicher bald kennenlernen. Wenn er nicht gerade sinnlos betrunken ist, dann ist er ein ziemlich beeindruckender alter Herr.« Sein Gesicht wurde ernst, als er seine Tochter nachdenklich musterte. »Heather, man belauscht nicht die Gespräche anderer Leute! Das ist nicht nur ungezogen, es kommt auch zu Missverständnissen, weil man nur die Hälfte versteht.«

»Ich habe sehr wohl alles richtig verstanden«, beharrte Heather, aber ihre Unterlippe begann fast unmerklich zu zittern.

»Und dein ständiges Widersprechen ist auch nicht gerade wohlerzogen«, fuhr Robert ungerührt fort. »Ich bin überaus froh, dass Dorothy sich als deine neue Mutter bereit erklärt hat, dir Manieren beizubringen.«

Dorothea konnte nicht umhin, sich zu wundern, wieso ein Mann, den sie als feinfühlig eingeschätzt hatte, mit seiner Tochter derart ungeschickt umging. Die Situation war schon verfahren genug. Es war wirklich nicht nötig, noch Öl ins Feuer zu gießen. Heathers Feindseligkeit umgab sie wie eine düstere Wolke, als sie ihren Stuhl zurückstieß und mit kaum verständlicher Flüsterstimme erklärte: »Ich will keine neue Mutter! Ich hasse diese Deutsche. Warum konnten wir nicht so weiterleben wie bisher?« Wie ein Wirbelwind drehte sie sich um und rannte mit fliegenden Röcken davon.

»Heather«, schrie Robert ihr wütend hinterher. »Komm sofort zurück und entschuldige dich bei Dorothy!«

»Bitte, lass es gut sein«, sagte Dorothea, zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sicher in ihrer neuen Rolle. Sie erinnerte sich nur zu gut an Lischens Zornausbrüche und wie ihre Mutter damit umgegangen war. »Sie ist so außer sich, dass es sinnlos ist, mit ihr vernünftig reden zu wollen. Ich werde morgen versuchen, zu ihr durchzudringen.«

Lady Chatwick betrachtete sie mit schräg gehaltenem Kopf, wodurch sie frappierend einer Eule ähnelte. »Du scheinst etwas von Kindern zu verstehen, meine Liebe«, stellte sie scharfsinnig fest. »Ich freue mich, dass du für Heather so viel Verständnis hast. Es wird ihr guttun, ihre Zeit mit dir zu verbringen. Ich altes, fettes Weib war einfach nicht die richtige Gesellschaft für ein dermaßen ungestümes Kind.«

»Du bist weder alt noch fett, und Heather liebt dich aufrichtig«, widersprach Robert vehement.

»Papperlapapp«, gab Lady Chatwick zurück. »Ich bin nicht blind, und hier gibt es genug Spiegel. Und ich bin auch nicht so blöde, dass ich nicht wüsste, dass Heather an mir vor allem schätzt, dass ich es gar nicht erst versuche, ihr etwas zu verbieten.« Sie seufzte leise auf. »Ich bin diesem Kind nicht gewachsen, bin es nie gewesen.«

Betrübt starrte sie auf die Tischdecke vor sich, als sähe sie dort die Bilder der Vergangenheit.

»Ich bin sicher, Heather hätte es nicht besser treffen können«, versuchte Dorothea, sie zu trösten. »Mein Vater meinte immer, Kindern sollten die Härten des Lebens so lange erspart bleiben, bis sie stark genug wären, sie zu ertragen.«

Lady Chatwick schmunzelte. »Ungewöhnliche Ansicht! Ich hätte deinen Vater gerne kennengelernt, meine Liebe. Aber jetzt lasse ich euch alleine. Sicher habt ihr noch eine Menge unter vier Augen zu besprechen.« Damit rauschte sie aus dem Esszimmer und zog energisch die Tür hinter sich zu.

Dorothea gewöhnte sich relativ schnell an den Tagesablauf in Eden-House. Er begann mit einem Frühstück, zu dem Robert Eier mit Schinken, Lady Chatwick Rosinenbrötchen mit Butter, Scones genannt, und Heather Toastschnitten mit Marmelade serviert wurden.

Nach kurzem Zögern entschied Dorothea sich ebenfalls für Toast. Das kam ihrem gewohnten deutschen Frühstück noch am nächsten.

Gegen Ende der Mahlzeit pflegte meist Sam »auf ein Tässchen« aufzutauchen und mit Robert »Kriegsrat zu halten«. Die Weiden und mehr noch die Hirten mussten in regelmäßigen Abständen kontrolliert werden, da Letztere zu Unzuverlässigkeit neigten. Das war kein Wunder, hatte Robert Dorothea erklärt: Die meisten von ihnen waren sehr einfache Männer, die in der Einsamkeit oft Trost im Branntwein suchten und wenig Verantwortungsbewusstsein für die ihnen anvertrauten Tiere verspürten. »Wenn sie nicht täglich damit rechnen müssen, dass jemand von uns vorbeikommt, würden sie den lieben, langen Tag mit ihren Schnapsvorräten unter einem Baum liegen und rauchen.«

Auch die Pferde und die noch recht überschaubare Herde Milchkühe erforderten auf ihren jeweiligen Weiden einiges an Aufmerksamkeit. Um die Kühe kümmerte sich der wortkarge Stallbursche John, ein rothaariger Ire, der sich mit den Tieren wohler fühlte als mit Menschen.

Sobald die Männer dann aufgebrochen waren, erschien Mrs. Perkins, um mit Dorothea die Hausarbeiten zu besprechen. Da Eden-House so abgeschieden lag, hatten sie ein spezielles Abkommen mit den Hahndorfern: Einmal wöchentlich traf man sich auf dem Mount Barker. Dort wurden die Wäschekörbe ausgetauscht und die Gemüsevorräte aufgefrischt. Dorothea hatte schon in Adelaide mitbekommen, dass englische Hausfrauen nicht selbst wuschen, sondern es vorzogen, die gesamte Wäsche außer Haus zu geben. Es war eine gute Verdienstmöglichkeit für die deutschen Frauen der Umgebung.

Zwar gab es einen kleinen Gemüsegarten hinter dem Haupthaus, aber Mrs. Perkins hatte sich entschieden geweigert, Kartoffeln anzubauen, und ihr gärtnerisches Geschick war leider nicht allzu groß. Es reichte für Salat, Gurken, Tomaten und unempfindliche Obstsorten; Melonen, Buschbohnen und Aprikosen beispielsweise überstiegen es jedoch deutlich.

Auf Roberts Rat hin hatte Dorothea sämtliche Menüpläne anstandslos akzeptiert, was zu einem angenehm entspannten Verhältnis zwischen der Köchin und ihr sicher beigetragen hatte. Waren diese Dinge erledigt, wartete das Schulzimmer. Am ersten Morgen hatte sie mit heftig klopfendem Herzen den hellen, freundlichen Raum betreten. Heather saß bereits an ihrem Pult. Kerzengerade aufgerichtet, die gestärkten Rüschen an ihrer Schürze gesträubt wie die Halskrause einer angriffslustigen Eidechse.

»Am besten zeigst du mir, was du bisher gemacht hast«, sagte Dorothea und erwartete insgeheim schon eine widerborstige Erwiderung. Zu ihrer Überraschung holte Heather ohne erkennbaren Widerwillen ihre Hefte aus dem Pult und reichte sie ihr. Recht schnell war Dorothea klar, dass eine Ausbildung des Mädchens bisher bestenfalls rudimentär stattgefunden hatte. Das wirre Gekrakel auf den Seiten war kaum zu entziffern, und die primitiven Additions- und Subtraktionsrechnungen im Stil von »1+4« oder »7-6« erschienen ihr ebenfalls nicht ganz angemessen. Genau konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber sie war sich sicher, dass Lischen in Heathers Alter bereits deutlich weiter gewesen war.

»Wer hat dich unterrichtet?«, fragte sie so neutral wie möglich. »Dein Vater?«

»Der hat doch nie Zeit«, gab das Mädchen mürrisch zurück. »Tante Bella hat damit angefangen, aber zuletzt kam immer etwas dazwischen.« Lady Chatwick hatte ihr kurz zuvor unter vier Augen anvertraut, dass Heather es immer einzurichten gewusst hatte, dass sie vor dem Unterricht rasch noch etwas erledigen musste. Woraufhin sie verschwand und nicht wieder auftauchte.

Dorothea ging also nicht darauf ein, sondern sagte nur freundlich: »In Zukunft werde ich darauf achten, dass wir dein Unterrichtspensum auf jeden Fall irgendwie absolvieren. Ist deine Feder gespitzt? – Gut, dann lass uns mit ein paar Schreibübungen anfangen.«

Trotz fehlender Begeisterung erwies Heather sich als erstaunlich geschickt. Während sie von dem Vorlagebogen die Wörter kopierte, sah Dorothea sich im Schulzimmer genauer um. Robert hatte nur gemeint: »Es ist alles da, was du brauchen wirst. Und wenn nicht, lassen wir es eben kommen.« Das würde nicht nötig sein, denn die Ausstattung war mehr als üppig. Pastor Schumann hätte sich glücklich geschätzt, eine auch nur vergleichbare Sammlung an Lehrmaterialien in seiner Missionsschule zur Verfügung gehabt zu haben: Papier im Überfluss; eine ganze Schublade voller Federkiele und neumodische Bleistifte in bester Qualität; Aquarellfarben, die Karls Augen hätten strahlen lassen, und jede Menge Bücher. Dorothea schmunzelte, als sie die fünf unterschiedlichen Lesefibeln nebeneinander sah. Robert hatte offenbar unterschiedslos alles aufgekauft, was zu bekommen gewesen war. Für den Erdkundeunterricht gab es eine ganze Kartensammlung. Sie wählte eine der gerollten Landkarten mit der Aufschrift »Australien« und hängte sie an den Kartenständer. Heather sah von ihrer Schreibarbeit auf.

»Kann ich jetzt aufhören?«

»Bist du fertig?«

»Noch nicht, aber ich habe keine Lust mehr. Meine Hand tut weh«, maulte sie und verzog das Gesicht in einer schmerzlichen Grimasse.

»Das kommt daher, dass deine Finger noch nicht daran gewöhnt sind, den Kiel zu halten«, erklärte Dorothea. »Du wirst sehen: Es wird jeden Tag leichter werden.«

»Wieso muss ich überhaupt schreiben lernen? Sam kann auch nicht schreiben.«

»Schreiben können ist überaus hilfreich«, versuchte Dorothea das Mädchen zu überzeugen. Unvermittelt kam ihr Ian in den Sinn. Der Waisenjunge, der so erpicht darauf gewesen war, es zu lernen. Wo er jetzt wohl war? Wie mochte es ihm ergangen sein? Sie schob die Erinnerung an Ian beiseite und konzentrierte sich wieder darauf, das Interesse ihrer lustlosen Schülerin zu wecken. »Nicht nur für Einkaufslisten und Briefe. Wenn ich nicht hätte schreiben können, hätte ich nicht bei der Zeitung in Adelaide arbeiten können.«

»Du hast bei einer Zeitung gearbeitet?« Heathers Interesse war unzweifelhaft geweckt. »Ich dachte, das täten nur Männer.«

»Ich war auch die einzige weibliche Mitarbeiterin«, sagte Dorothea mit einem gewissen Stolz. »Und Mr. Stevenson nahm mich nur, weil wir Jane als Haustochter hatten, die Frau von Tim Burton. Kennst du ihn vielleicht? Er arbeitete für deinen Vater.«

»Ich glaube nicht. Eliza sagt, früher waren immer zu viel Fremde im Haus, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Seit meine Mutter tot ist, kommt niemand mehr, um uns zu besuchen.« Auf einmal klang Heathers Stimme traurig. Sie sah so verloren aus, dass es Dorothea drängte, sie in den Arm zu nehmen. Spürte sie mit dem feinen Instinkt des Kindes, dass die gesellschaftliche Isolation, in der sie hier draußen lebten, nicht ganz freiwillig war? Sicher vermisste sie ihre Mutter schmerzlich. Da halfen auch die liebevolle Zuneigung von Lady Chatwick und Mrs. Perkins etwas handfestere Fürsorge wenig. Was sie bräuchte, waren Spielkameraden in ihrem Alter.

»Was bedeutet Haustochter?« Heathers Frage riss sie aus ihren Überlegungen.

»Das bedeutet, dass ein Mädchen – oder eine junge Frau«, berichtigte sie sich schnell und unterdrückte ein Lächeln, als sie sich an Janes zuweilen schockierende Ansichten erinnerte, »bei einer Familie lebt und dort Manieren und Haushaltsführung lernt.«

»Und wieso konnte diese Jane das nicht schon vorher?«

»Jane ist eine Kaurna«, erwiderte Dorothea schlicht.

Heather machte große Augen. »Eine Eingeborene?«

»Ja.«

»Warum wollte sie Manieren und Haushaltsführung lernen? Das ist doch Blödsinn!« Das Mädchen blies verächtlich die Luft aus.

»Mr. Burton hatte sich in sie verliebt und hatte sie gebeten, seine Frau zu werden«, brachte Dorothea die skandalöse Geschichte in eine für Kinderohren vertretbare Form.

»Und was hatte das damit zu tun, dass du bei der Zeitung gearbeitet hast?«, kam Heather auf den Ausgangspunkt der Geschichte zurück.

»Der Register brachte eine Reihe von Berichten über Janes Leben bei ihrem Stamm und über das bei uns zu Hause und über ihre Hochzeit. Da Jane lieber mit mir sprechen wollte als mit einem Mann, bekam ich den Auftrag.« In Dorotheas Stimme schwang immer noch der Stolz über diesen Coup mit. Heather betrachtete sie mit einem Anflug von Respekt. »Das war ganz schön clever von dir«, gab sie widerwillig zu. »War der Mann nicht sauer?«

»Ein bisschen.« Und er hat sich mehr als angemessen revanchiert, dachte Dorothea bitter.

»Aber du siehst: Wenn ich nicht hätte schreiben können, hätte ich nie und nimmer auch nur die kleinste Chance bekommen, bei einer Zeitung zu arbeiten«, kam sie auf die Quintessenz der Geschichte zurück. »Also gib dir Mühe. Es lohnt sich. Und wenn du fertig bist, lese ich dir ein Kapitel aus der Umseglung von Australien von Kapitän Flinders vor.«

Das Buch hatte sie auf dem Regal entdeckt, und es interessierte sie selbst, wie der berühmte Kapitän zur See Matthew Flinders ihre neue Heimat vom Meer aus erkundet hatte. Auf der Karte, die sie vorhin aufgehängt hatte, waren die Küstenregionen relativ präzise wiedergegeben. Zum Landesinneren hin wurden die eingezeichneten Flüsse und Gebirge jedoch zunehmend ungenauer. In der Mitte des Kontinents prangte ein weißer Fleck. Entgegen den allgemeinen Vermutungen, dass sich dort ein riesiges Binnenmeer befinden müsste, hatte der Kartenhersteller auf Spekulationen verzichtet. Dorothea hatte hier und da von Plänen in Brisbane und Melbourne gehört, Forschungsexpeditionen in diese unbekannte Region zu entsenden.

Südaustralien verfügte nicht über die nötigen Mittel für aufwendige Erkundungen, aber immerhin wartete man in Adelaide mit Spannung auf die Rückkehr eines Mr. Eyre, der mit einer kleinen Gruppe auf eigene Faust in den Norden Südaustraliens aufgebrochen war.

Der erste Unterrichtstag verlief überraschend harmonisch. »Heather macht sich sehr gut«, konnte sie Robert mitteilen, als sie sich vor dem Lunch kurz in ihrem Ankleidezimmer trafen. »Sie ist klug.« Dorothea zögerte kurz, ehe sie fortfuhr: »Ich vermute, sie ist so ungebärdig, weil sie sich einsam und unglücklich fühlt. Es ist nicht gut für sie, dass es weit und breit keine Spielgefährten in ihrem Alter gibt.«

»Das ist nun einmal nicht zu ändern.« Roberts Stimme klang so schroff, dass sie es schon bereute, es überhaupt angesprochen zu haben. »Sie kann froh sein, dass du jetzt hier bist«, fügte er sanfter hinzu. »Und wenn sie erst Geschwister hat, wird sie sich auch nicht mehr allein fühlen.«

Dorothea fühlte, wie sie errötete. Sollte sie jetzt schon ihre ausbleibende Monatsblutung ansprechen? Ehe sie zu einem Entschluss gekommen war, küsste Robert sie auf die Nasenspitze und sagte: »Verzeih, Liebes. Wie undelikat von mir! – Was hältst du davon, wenn ich dir heute nach dem Lunch deine erste Reitstunde gebe? Ich habe Sam gebeten, die sanfteste Stute auszusuchen, die im Stall steht.«

Augenblicklich war jeder andere Gedanke wie weggeblasen. Zwar hatte Dorothea sich in ihren Tagträumen manchmal auf einem wunderschönen Pferd dahingaloppieren sehen – eine elegante Erscheinung in schwarzem Reitkleid und Hut mit Schleier –, aber in Wirklichkeit wurden ihr vor Angst die Hände feucht, wenn sie daran dachte, wie groß so ein Pferd war und wie hoch man dort oben auf seinem Rücken saß.

»Schon heute?«, brachte sie atemlos heraus. Robert lächelte. »Wenn man vor etwas Angst hat, muss man es so rasch wie möglich hinter sich bringen«, erinnerte er sie im Tonfall eines alten Lehrers. »Du wirst sehen: Es wird dir Spaß machen.«

Tatsächlich hätte sie sich am liebsten umgedreht und wäre davongerannt, als das Pferd, das Sam am Zügel hielt, bei jedem Schritt, den sie sich ihm näherte, weiter in die Höhe zu wachsen schien. Der Damensattel auf seinem Rücken sah nicht gerade vertrauenerweckend aus, und dass Claires Reitkostüm aus königsblauem Samt ein wenig zu eng saß, trug auch nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden bei.

»Das ist Molly, Ma’am«, knurrte der Stallknecht. »Wenn es Pferdeengel gäbe, wäre sie einer. Auf ihr sind Sie so sicher wie in Abrahams Schoß.« Wie um seine Worte zu bestätigen, schnaubte die hellbraune Stute sanft und rieb ihre Nase an seiner Schulter.

»Komm, ich helfe dir«, sagte Robert und reichte ihr die Hand, während Dorothea mit klopfendem Herzen auf den Aufsteigebock kletterte. Nach seinen Anweisungen stellte sie den linken Fuß in den Steigbügel, schwang sich hinauf und hatte dann etwas zu kämpfen, bis es ihr gelang, unter all den Röcken ihr rechtes Knie um das Sattelhorn zu legen.

»Die äußere rechte Wade drückt gegen das Sattelblatt – das ist die Lederdecke hier –, die Zehen leicht nach unten. Das linke Bein bleibt fast ausgestreckt. Fertig?«

Sehr bequem war es nicht und sehr, sehr hoch. Ängstlich umklammerte sie mit beiden Händen den vorderen Sattelknauf. Nur zu gerne hätte sie ihren Mann gebeten, ihr wieder herunterzuhelfen. Aber vor den Ställen gaben nicht nur John und Gilbert vor, damit beschäftigt zu sein, Zaumzeug zu putzen und Sättel zu pflegen. Auch ihre Stieftochter hockte in wenig mädchenhafter Pose auf dem obersten Gatterbalken und betrachtete die Szene mit unverhohlener Schadenfreude.

Wenn sie jetzt feige aufgab, wäre ihr die bodenlose Verachtung des Mädchens sicher. Warum musste Claire auch ausgerechnet eine versierte Reiterin gewesen sein! Hätte sie sich nicht mit Aquarellmalerei, Klavierspiel oder anderen ungefährlichen Zeitvertreiben beschäftigen können?

»Sam wird Molly jetzt ganz langsam im Schritt führen«, kündigte Robert an. Es war ihm anzuhören, dass er sich das Lachen verbeißen musste. »Versuch, dich an die Bewegungen des Pferdes anzupassen. Ihr müsst eins werden miteinander.«

Robert hat gut reden, dachte Dorothea und presste leicht gereizt die Lippen aufeinander. Wenn sie wie er im Männersitz reiten könnte, würde sie sich auch nicht so unsicher fühlen. So hatte sie das Gefühl, bei jedem eventuellen Stolpern von Molly im hohen Bogen durch die Luft zu segeln. Im Lauf der ersten Stunde schaffte sie es tatsächlich, ein Anfangsgefühl für die Balance zu entwickeln, die es benötigte, um im Damensitz zu reiten. Allerdings wurden ihr noch nicht die Zügel ausgehändigt. »Nicht, dass du aus lauter Nervosität ihr empfindliches Maul malträtierst«, erklärte Robert wenig galant. »Für das erste Mal gar nicht so schlecht, nicht wahr, Sam?«

»Ma’am ist die geborene Reiterin«, erklärte Sam und spuckte einen kräftigen Strahl braunen Tabaksafts in Richtung eines neugierigen Kookaboorra auf einem der Gatterpfosten. Lautstark protestierend flatterte der Vogel davon. »Die Mistviecher sollen ein schlechtes Omen sein, sagt King George«, brummte er als Begründung.