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Miles Somerhill kam auf die Minute pünktlich mit einem eleganten Gig vorgefahren. »Was für ein Angeber«, kommentierte Karl das geschickte Manöver, mit dem er vor den Treppenstufen wendete. Es war offensichtlich, dass er den jungen Reporter nicht mochte. War es eine Art Eifersucht auf die Weltläufigkeit des Älteren, oder ging die Abneigung tiefer? Bei Karl war das schwer zu beurteilen.

»Ein Wagen wäre wirklich nicht nötig gewesen«, sagte Dorothea, sobald sie neben Somerhill auf dem Bock Platz genommen hatte und ihren neuen Strohhut zurechtrückte. »Wir sind beide jung und gesund und hätten die paar Schritte auch gut zu Fuß gehen können.«

»Lassen Sie mir doch die Freude, mit einer bezaubernden, jungen Dame durch die Straßen zu kutschieren und mich von allen Herren beneiden zu lassen«, gab er mit einem Augenzwinkern zurück. »Ich dachte mir, ich nutze die Gelegenheit und zeige Ihnen etwas von der Stadt. Oder haben Sie etwa keine Lust auf eine kleine Spazierfahrt?«

»Doch, doch«, beeilte Dorothea sich zu sagen. »Ich hatte nur nicht damit gerechnet.«

»Zum Register kommen wir noch früh genug. Aber im Ernst: Ich habe den Auftrag, einen Blick auf die neuen Bauten zu werfen, und dachte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Bin gespannt, wie weit sie inzwischen mit dem Hospital sind.«

Tatsächlich folgten ihnen zahlreiche neugierige Blicke von Passanten, während er in flottem Trab die North Terrace entlangfuhr. Vor den Baracken neben der Residenz des Gouverneurs exerzierten etwa zwei Dutzend uniformierter Polizisten unter dem Befehl eines bärtigen Mannes. Seine harte, metallisch klingende Stimme deutete auf eine lange militärische Karriere hin. »Unser neuer Commissioner, Major O’Halloran, mit seiner Fußtruppe.« Somerhill tippte sich an den Zylinder, seine höfliche Geste wurde jedoch ignoriert. »Er ist nicht gut auf den Register zu sprechen«, bemerkte Somerhill mit süffisantem Grinsen. »Ein irischer Haudegen und Sturkopf, wie er im Buche steht. Haben Sie von seiner Strafexpedition wegen des Maria-Massakers im Coorong gehört?«

»Unsere Näherin hat davon gesprochen.« Dorothea bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl sie vor Aufregung, endlich mehr darüber zu erfahren, am liebsten gejubelt hätte. »Stimmt es, dass die Eingeborenen dort wirklich alle Schiffbrüchigen ermordet und verscharrt haben? Es ist kein Irrtum möglich?«

Somerhill schüttelte den Kopf. »Es gibt einige ungeklärte Fragen. Beispielsweise die nach den verschwundenen Seeleuten, die wie vom Erdboden verschluckt sind. Aber die Leichen, die man gefunden hat, wurden von Eingeborenen getötet. Das ist sicher.«

»Woher weiß man das?«

»Ihre Verletzungen. Ich habe den inoffiziellen Bericht von Dr. Penney gelesen.« Somerhill schluckte. »In der Zeitung haben wir es nicht gebracht. Wollen Sie es wirklich wissen?«

Dorothea nickte. Einige Augenblicke später wünschte sie, sie hätte dies nicht getan.

»Den Männern haben sie mit ihren Waddies, das sind diese Keulen, die Arme gebrochen, und dann wurden sie mit Speeren getötet. Die Frauen und Kinder wurden alle erschlagen. Zum Teil wurden ihre Köpfe regelrecht zertrümmert.«

Dorothea verspürte plötzlich leichte Übelkeit. Sie atmete tief durch und wartete, bis das Unwohlsein nachließ, ehe sie die Frage stellte, die sich ihr aufdrängte. »Gibt es eine Erklärung für diesen Wahnsinn?« Ein solcher Gewaltausbruch konnte doch nicht einfach so stattfinden. Es musste irgendeinen Grund dafür geben! Wie brachte man es sonst fertig, unschuldige Kinder umzubringen?

»Das hat sich hier auch jeder gefragt«, sagte Somerhill nachdenklich. »Natürlich gab es wie immer die Leute, die von der schlechten Natur der Eingeborenen überzeugt sind und die das gerne zum Anlass genommen hätten, kurzen Prozess mit allen zu machen. Egal, ob unschuldig oder schuldig. Dr. Penney, der die dortigen Dialekte ganz gut beherrscht, wollte noch einmal bei den Salt-Lake-Stämmen nachforschen, was im Einzelnen vorgefallen ist. Aber ich bezweifle, dass er damit Erfolg haben wird. Es wird wohl auf immer ein Geheimnis bleiben, was diese Tragödie letztendlich ausgelöst hat.«

»Es gibt keine Hinweise? Nicht einmal gerüchteweise?«

»Gerüchte gibt es immer. Es heißt, die Seeleute hätten sich an Eingeborenenfrauen vergriffen. – Na ja, inzwischen ist es ein paar Monate her, und die Leute haben andere Sorgen. Die verschollenen Seeleute waren nicht von hier, und die Passagiere haben keine Verwandten in Adelaide, die die Erinnerung wachhalten könnten. Aber wenn es Sie so interessiert, kann ich Ihnen nachher die entsprechenden Ausgaben heraussuchen. Da müsste auch die Passagierliste dabei sein und die offiziellen Berichte, die wir abgedruckt haben.«

»Die Behörden betrachten die Angelegenheit also als abgeschlossen?«

»Das wäre Gouverneur Gawler nur zu recht«, sagte Somerhill eine Spur boshaft. »Aber seine und Richter Coopers unpassend großzügige Auslegung der Rechtsprechung wird vermutlich ebenso Folgen für ihn haben wie sein noch großzügigerer Umgang mit den Finanzen der Kolonie.«

Am letzten Markttag hatte Dorothea mitbekommen, wie sich am Bierstand eine Gruppe gut gekleideter Herren lautstark über »Gawlers Bauwut« und dass er Südaustralien damit in den Ruin triebe ausgelassen hatte.

»Ist es wirklich so gefährlich?«, erkundigte sie sich nun etwas besorgt.

Der Reporter nickte. Mit der Kutscherpeitsche wies er hinter sich auf die Residenz, die gerade noch durch die Bäume des Parklands zu sehen war. »Dieser Prachtbau alleine hat fast zehntausend Pfund gekostet. Für das Gefängnis dort hinter den Polizeibaracken, übrigens ebenfalls nagelneu, hat sein Architekt Kingston fast das Doppelte ausgegeben wie eigentlich vorgesehen.« Er unterbrach sich, um das Pferd mit einem Zungenschnalzen zu einer etwas flotteren Gangart zu bewegen, und fuhr dann fort: »Das neue Hospital, die neue Werft und das Zollhaus in Port Adelaide, nicht zu vergessen die zahllosen neuen Straßen ins Landesinnere – es gibt nicht wenige Leute, die sagen, dass Gouverneur Gawler uns mit seiner Bauwut in den Bankrott treibt.«

Dorothea erinnerte sich an den nüchtern gekleideten Mann mit der asketischen Ausstrahlung.

»Ist er wirklich ein solcher Verschwender?«

Somerhill hörte die Skepsis in ihrer Stimme und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Persönlich ist Gouverneur Gawler ganz sicher ein sehr bescheidener Mensch. Aber er hält zu viel von den Theorien eines Adam Smith.«

»Von dem habe ich noch nie gehört«, gestand Dorothea und kam sich auf einmal sehr ungebildet vor.

»Er ist auch schon gestorben, bevor Sie das Licht der Welt erblickten: Adam Smith, ein schottischer Wissenschaftler, vertrat in seinem berühmten Werk Vom Wohlstand der Nationen die Auffassung, dass in Krisenzeiten der Staat seine Ausgaben drastisch erhöhen muss, um den Wegfall privater Investitionen auszugleichen. – Und das tut Gawler nicht zu knapp: Die öffentlichen Schulden Südaustraliens belaufen sich inzwischen auf über dreihunderttausend Pfund! Lange wird London ihn nicht mehr das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfen lassen. Auch wenn ich über keinerlei hellseherische Gaben verfüge – das kann ich mit Sicherheit voraussagen. Sie werden jemanden in Marsch setzen, der ihn ablöst, und dann dürfte es für einige Herrschaften hier ziemlich unangenehm werden.«

»Was wird dann geschehen?« Dorothea war es bei seiner düsteren Prophezeiung kalt den Rücken hinuntergelaufen.

Miles Somerhill sah in ihr ängstliches Gesicht und musste lachen. »Entschuldigung, da ist mein Hang zu dramatischen Formulierungen wieder mit mir durchgegangen! Befürchten Sie eine Revolution? Nein, nein – einige Herren werden ihre gut dotierten Posten verlieren, und weitere Straßen dürfen wir wohl vergessen. Aber fallen lassen wird England uns nicht! – He, du Biest, du sollst gefälligst abbiegen!« Letzteres war an das Pferd gerichtet, das wenig Neigung zeigte, sich lenken zu lassen, sondern sich mehr für das üppige Grün der umzäunten Gärten interessierte.

Dennoch schaffte Miles Somerhill es, sie zielsicher bis vor das Gebäude des Register in der 53, Hindley Street zu kutschieren. Die Hindley Street galt als erste Adresse Adelaides, und diesem Umstand war es wohl auch zu verdanken, dass sie als eine der ersten bereits über gepflasterte Bürgersteige verfügte. Das nagelneue zweistöckige Haus erinnerte in nichts mehr an die Lehmhütte, in der am 3. Juni 1837 die erste Ausgabe der South Australian Gazette and Colonial Register gedruckt worden war. Inzwischen war die Belegschaft auf einundzwanzig Personen angewachsen und die Auflage des wöchentlich erscheinenden Blatts auf neunhundert Exemplare. Aus dem Hausinneren drang das Stampfen der Druckerpresse wie der Herzschlag eines riesigen Tieres.

Wumm, wumm, wumm. Wenn sie mit Dampf betrieben würde, hätte August sicher darauf bestanden, mitzukommen. Die Geschicklichkeit der Drucker, die bis zu zweihundertfünfzig Seiten in der Stunde produzieren konnten, interessierte ihn weniger.

»Bringen Sie die Mähre doch bitte in den Mietstall zurück, Tom«, bat Somerhill den jungen Mann, der dienstbeflissen auf ihn zukam. »Ach, und richten Sie Mr. Myers aus, dass ich das Tier am Nachmittag noch mal brauche.« Er wandte sich Dorothea zu, die nervös an ihrem Beutel herumfingerte, in dem sich außer einem Taschentuch und ein paar Münzen auch das Zeugnis von Herrn Dünnebier befand. Von ihm unterschrieben bestätigte sie sich darin »brillante Formulierungskunst«, »ein ungewöhnliches Geschick im Umgang mit Informanten« sowie »ein unbestechliches Gespür für Wahrheit und Anstand«. Jetzt, wo sie ihre Hymne tatsächlich gleich einem Herausgeber vorlegen würde, beschlich sie das Gefühl, vielleicht doch ein bisschen zu dick aufgetragen zu haben.

In respektvollem Abstand passierten sie die Stanhope-Presse und die beiden Männer in ihrer Arbeitskleidung aus grobem Drillich, die die Maschine mit Papier fütterten und die fertigen Druckseiten einem Jungen weiterreichten, der sie zu den Trockentischen brachte. »Auf dieser Presse wurde im Januar 1837 die Proklamation zur Errichtung der Kolonie Südaustralien gedruckt«, erklärte Somerhill ihr mit erhobener Stimme, um den Lärm zu übertönen. »Am Strand von Holdfast Bay. Die erste Ausgabe des Register wurde dann schon hier gedruckt, auf diesem Grundstück. In einer Lehmhütte, deren Dach bei Regenwetter ständig undicht war.«

Im ersten Stock folgten ihnen einige erstaunte Blicke der Setzer, als sie auf die Tür mit der Aufschrift »George Stevenson, Chefredakteur« zugingen.

Im Büro befanden sich bereits zwei Herren. Der Jüngere von ihnen lümmelte in einem Schreibtischstuhl, die Füße auf der Tischplatte. Er war nicht sehr groß, sein Haar und Kinnbart von einer undefinierbareren Schattierung zwischen dunkelblond und hellbraun. Mit seinen aufgekrempelten Hemdsärmeln, dem herabhängenden Halstuch und den ungeputzten Stiefeln wirkte er nicht nur nachlässig gekleidet, sondern geradezu schlampig.

Der andere lehnte am Fenster: ein freundlich wirkender, älterer Herr mit einem mächtigen grauen Backenbart. Gerade sah er von dem Papier auf, das er überflogen hatte, und fragte bekümmert: »Willst du uns unbedingt ruinieren, George? Wenn Gawler uns den letzten Regierungsauftrag auch noch entzieht – und das wird er, sobald er das gelesen hat –, dann müssen wir den Register einstellen.«

»Verzeihung«, stammelte Miles Somerhill mit vor Verlegenheit feuerroten Ohren. »Ich habe nicht gehört, dass Sie Besuch haben, Sir.«

»Macht nichts, macht nichts. Robbie wollte sowieso gerade gehen«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch, sprang auf und klopfte dem Älteren freundschaftlich auf die Schulter. »Mach dir nicht so viele Sorgen, alter Junge! Ich werde es überarbeiten. Versprochen.«

Der Grauhaarige wirkte nicht unbedingt beruhigt, verabschiedete sich jedoch mit einem flüchtigen Nicken.

»Sie sind also die junge Dame, die sich so glühend für unseren Register interessiert?« Mr. Stevenson musterte Dorothea aus wachen, grauen Augen unter buschigen Brauen. »Was halten Sie davon?« Er griff nach dem Papier und las laut: »Wir erinnern an die Proklamation, die wir im Auftrag unseres verehrten damaligen Gouverneurs Hindmarsh die Ehre hatten zu drucken. Stand darin nicht wörtlich:

Es ist auch, speziell zu diesem Zeitpunkt, meine Pflicht, die Kolonisten von meiner Resolution in Kenntnis zu setzen, dass jedes gesetzliche Mittel anzuwenden ist, der einheimischen Bevölkerung denselben Schutz angedeihen zu lassen wie dem Rest der Untertanen Ihrer Majestät. Und es ist meine feste Absicht, mit exemplarischer Härte jeden Akt der Gewalt oder Ungerechtigkeit, der in irgendeiner Art gegen die Eingeborenen, die unter demselben Schutz des Gesetzes wie die Kolonisten stehen und denen die gleichen Privilegien wie britischen Bürgern zustehen, ausgeübt oder versucht wird, zu bestrafen.

Was ist aus diesem hehren Anspruch geworden? Es mag nicht wenige Kolonisten geben, die Major O’Halloran für seine Aktion am Coorong Beifall zollen. Denen sei diese Proklamation ins Gedächtnis gerufen. Nach Recht und Gesetz hätten die Beschuldigten vor Gericht gebracht werden müssen. Angeblich steht den Eingeborenen doch dasselbe Recht wie uns zu. Was würden wir sagen, wenn Gouverneur Gawler seine Truppe gegen einen Engländer schickte und diesen, auf die bloße Anschuldigung eines Nachbarn hin, aufhängen ließe?

Genau das ist hier geschehen: Es ist unbestritten, dass die unglücklichen Schiffbrüchigen auf gewaltsame Art zu Tode gekommen sind. Zumindest diejenigen, deren Überreste gefunden wurden. Wie es jedoch zu der Tragödie kam, wird sich aufgrund der voreiligen Lynchjustiz unseres werten Major O’Halloran wohl niemals mehr aufklären lassen.

Und das Schlimmste ist der Verdacht, dass in Wahrheit Unschuldige ermordet wurden. Ja, ermordet, denn unser englisches Recht wurde hier mit Füßen getreten. Die angeblich Schuldigen hatten keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Kein Anwalt stand ihnen zur Seite. Das Urteil des Standgerichts, die stümperhafte Vollstreckung desselben war eine einzige Verhöhnung unserer Werte. Major O’Halloran ist ein Mörder, und unser werter Gouverneur ist zumindest ein Anstifter, wenn nicht ein Mittäter. Wollen wir wirklich solchen Männern unsere Sicherheit anvertrauen?«

Während seine Worte nachklangen, war für einige Momente nichts zu hören als das Klappern von Pferdehufen draußen auf der Straße. Dann räusperte sich Somerhill und sagte: »Sir, ich fürchte, Mr. Thomas hat recht.«

Stevenson schnaubte unwillig und wedelte mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Feiglinge, alle beide. Und was sagen Sie, junge Dame?«

»Ich finde es großartig.« Dorothea holte tief Luft. »So möchte ich auch schreiben können.«

Kurz entschlossen zog sie das Zeugnis aus ihrem Beutel und hielt es ihm hin. »Mr. Stevenson, bitte, lassen Sie mich Ihnen beweisen, dass ich zu Ihrer Zeitung passe. Hier, schauen Sie, ich habe daheim in Deutschland schon einen Artikel verkauft.«

Der Chefredakteur hob die Brauen. »Worum ging es? Blumen stecken? Marmeladenwettbewerb? Na, geben Sie schon her.« Seine Mundwinkel zuckten, als er das Zeugnis las. »Dieser Mr. Dünnebier lobt Sie ja in den höchsten Tönen.«

»Nein, ich schrieb keineswegs über etwas so Banales«, erwiderte Dorothea leicht beleidigt. »Ich schrieb über ein Dienstmädchen und die Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit ihrer Dienstherrschaft.«

»Tatsächlich?« Mr. Stevenson wirkte nicht übermäßig beeindruckt. »Da gibt es hier nicht viel zu berichten. Dienstboten sind rar und werden entsprechend zuvorkommend behandelt.«

»Ich dachte eher, ich könnte Mr. Somerhill vielleicht bei dem Artikel über Jane zur Seite stehen«, schlug Dorothea vor. »Viele der Menschen haben keine Ahnung vom wirklichen Leben der Eingeborenen. Sie kennen nur die paltis und die Bettler. Wäre es nicht eine gute Idee, ihnen ihre Lebensweise näherzubringen?«

George Stevenson musterte sie mit unleserlichem Gesichtsausdruck. »Das kommt jetzt etwas plötzlich, Miss Schumann. Darf ich fragen, ob dieser Plan mit Mr. Somerhill abgesprochen ist?«

»Nein, Sir. Aber ich hielte es tatsächlich für eine gute Idee«, sagte der nachdenklich. »Die Geschichte von Burtons Verlobter bietet ausreichend Potenzial. Eine entsprechende Hintergrundschilderung würde gut dazu passen. Und ich denke, im Gespräch von Frau zu Frau ist diese Jane vielleicht zugänglicher, als sie es mir gegenüber war. Vor allem wäre es einmal etwas anderes als die ewigen gestohlenen Schafe.«

»Hm.« Stevenson schien sich allmählich für den Vorschlag zu erwärmen. »Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht. Im Magistrat haben wir erst neulich darüber gesprochen, dass man etwas unternehmen müsste, um bei der Bevölkerung mehr Verständnis für die Eingeborenen zu wecken. Richter Cooper wird mit Diebstahlsklagen überhäuft, die oft genug auf Missverständnisse zurückzuführen sind. – Also gut.« Er nickte abschließend. »Bringen wir zur Abwechslung mal etwas, was dem guten Gouverneur nicht auf den Magen schlägt und Robbie ruhig schlafen lässt! Liefern Sie mir bis nächste Woche eine Arbeitsprobe, Miss Schumann. Wenn ich zufrieden bin, akzeptiere ich Sie als freie Mitarbeiterin auf Honorarbasis. Ist das für Sie in Ordnung?«

»Ja, natürlich. Danke«, hauchte Dorothea. In ihrem Kopf formte sich bereits der Artikel. Sie würde mit einer Beschreibung der täglichen Pflichten und Aufgaben einer Eingeborenenfrau beginnen. Jane konnte ihr ja alles aus eigener Anschauung schildern. Hier und da hatte sie über ihr Leben im Harem gesprochen, und es war Dorothea recht schnell klar geworden, dass es kein schönes Leben gewesen war. Ob Professor Menge ein solches Dasein auch so romantisch verklärt gesehen hätte?

Und dann hatte sie Tim Burton getroffen, den Prinzen, der sie aus dem Elend erlöst hatte. Oder war das zu theatralisch?

»Miss Schumann?«

Erschrocken zuckte sie zusammen. George Stevenson hielt ihr die Hand zum Abschied hin. »Ich sehe Sie dann nächste Woche.« Damit waren sie entlassen. Wie in Trance schwebte sie hinter Miles Somerhill die Treppe hinunter und wäre vermutlich einfach weiter auf die Straße hinausgeschwebt, wenn er sie nicht am Ellenbogen gezupft hätte.

»Wollten Sie nicht noch die alten Ausgaben ansehen?«

Das Archiv befand sich im hinteren Teil des unteren Stockwerks. »Natürlich ist es noch nicht sehr eindrucksvoll«, sagte Somerhill. »Der Register existiert ja auch erst seit vier Jahren, wenn man die Londoner Ausgabe mitzählt. Das ist die dort an der Wand. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich die Ausgaben in diesem Raum noch einmal bis unter die Decke stapeln werden.«

Er klang ein wenig verschnupft. Nahm er ihr insgeheim übel, dass sie ihn praktisch benutzt hatte? Auf einmal war es ihr sehr wichtig, dass er nicht schlecht von ihr dachte. Dorothea nahm ihren Mut zusammen und sah ihm offen in die Augen. »Ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihren Beistand danken. Bitte glauben Sie mir, dass ich nicht vorhatte, Sie zu verdrängen. Ich wollte doch nur, dass Mr. Stevenson mir eine Chance gibt.«

»Und das hat er getan. Schwamm drüber. Ich muss noch kurz in die Redaktion hoch und hole Sie dann zum Lunch ab. Kommen Sie bis dahin hier zurecht?«

Dorothea versicherte ihm, keine weitere Hilfe zu benötigen, und stürzte sich auf die letzten Ausgaben, kaum dass die Tür hinter ihm zugefallen war.

Die Berichterstattung im Register begann mit einer Sonderausgabe vom 1. August mit den Schlagzeilen:

Verdächtiges Schiffswrack

Mord durch Eingeborene?

Dorothea überflog den Artikel, der auf dem offiziellen Bericht der Polizeistation von Encounter Bay fußte: Ungefähr eine Woche früher hatten örtliche Eingeborene Mitglieder eines Nachbarstamms, des »Big Murray tribe«, in blutdurchtränkter europäischer Kleidung gesehen, und ihnen war erzählt worden, zehn weiße Männer, fünf weiße Frauen und einige Kinder seien zwei Tagesreisen entfernt am Coorong getötet worden.

Eine Suchmannschaft, die der Sache nachgehen sollte, war tatsächlich auf zahlreiche Eingeborene in blutbefleckten europäischen Kleidern und auf eine Stelle gestoßen, an der acht verstümmelte Leichen von Männern, Frauen und Kindern oberflächlich verscharrt worden waren. Sie wurden als Mr. Und Mrs. Denham, vier ihrer fünf Kinder, eine Mrs. York und ein Mr. Strutt identifiziert. Alle waren sie, wie der offizielle Bericht explizit vermerkte, »mit äußerst brutaler Grausamkeit« ermordet worden.

Und alle acht Toten waren Passagiere der Maria gewesen, die am 26. Juni mit neun Besatzungsmitgliedern und einem guten Dutzend Passagieren an Bord Port Adelaide in Richtung Van Diemensland verlassen hatte.

Sobald diese Nachricht Adelaide erreichte, hatte der Gouverneur seinen Polizeichef Major O’Halloran mit einer Strafexpedition beauftragt. Er sollte gründliche Nachforschungen anstellen und, sobald die Täter identifiziert und gefangen genommen worden seien, bis zu vier von ihnen zur Abschreckung möglicher Nachahmer erschießen oder erhängen.

Major O’Halloran begann seine Nachforschungen am Massengrab, in dem die Reste der Denhams und ihrer Begleiter von der ersten Suchmannschaft beigesetzt worden waren. Von dort aus durchkämmten er und seine Leute die Dünenlandschaft. Zwar fanden sie keine weiteren Leichen, stießen dafür jedoch am Lake Albert auf das Lager eines von befreundeten Einheimischen als schuldig bezeichneten Stammes. Dort wurden entsprechende Indizien sichergestellt: blutverschmierte Kleidung, Briefe, Bücher, Silberlöffel, eine Taschenuhr, die einwandfrei einem der Getöteten gehört hatte. O’Halloran ließ den gesamten Stamm, fast siebzig Personen, festnehmen. Einige der Männer, die zu flüchten versuchten, wurden dabei verletzt oder getötet. Zwei, die von ihren Stammesgenossen als Haupttäter bezeichnet wurden, verurteilte ein sogenanntes Kriegsgericht zum Tod durch den Strang. Sie wurden auf dem Massengrab ihrer Opfer an einem rasch errichteten Galgen erhängt. Nach eingehender Ermahnung, dass Engländer auf diese Art Mord bestraften, ließ der Polizeichef den Rest des Stammes laufen.

Bei der weiteren Suche wurden eine Woche später auf dem Festland, südöstlich vom Massengrab, nochmals zwei Leichen, in Wombatlöchern versteckt, gefunden, die aufgrund ihres Zustands nur noch als männlich und weiblich zu identifizieren waren.

Aufgrund der Aussagen von Eingeborenen ging Major O’Halloran davon aus, dass zwei oder drei der Männer und eine Frau – vielleicht Captain Smith und Mr. und Mrs. Young – von einem anderen Eingeborenenstamm an der Ostseite des Murray ermordet worden waren. Man hoffte, dass die Suchmannschaft wenigstens die Leichen dieser Personen finden würde, damit alle Zweifel über ihr Schicksal ausgeräumt würden. Aber die Suche verlief ergebnislos und wurde schließlich eingestellt.

In der Zwischenzeit war eine offene Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der von Gouverneur Gawler gewählten Lösung ausgebrochen.

»Nach diesem Stand der Dinge würde ich sagen, dass man allen Grund hat zu glauben, dass die prompte Exekution der Schuldigen auf dem Platz, wo das Verbrechen begangen worden war, und in Anwesenheit ihres Stammes, der sich der Schuld vollkommen bewusst war, für die Zukunft einen sehr wohltuenden Effekt auf die Eingeborenen dieses Distrikts hat, indem es sie von mutwilligen und unprovozierten Attacken gegen Personen oder Besitz von Europäern, die in ihrer Nachbarschaft siedeln, abschreckt.

Wenn die Beschuldigten nach Adelaide verbracht worden wären, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie nicht verurteilt und nach dem englischen Gesetz hätten bestraft werden können. Aber selbst wenn es geschehen wäre, hätte es keinen abschreckenden Effekt auf die anderen Mitglieder des Stammes gehabt, die durch eine Verhaftung ihrer Kameraden eher verwirrt als abgeschreckt und eingeschüchtert worden wären, was auch immer sie über die Bestrafung der Übeltäter hören mögen«, schrieb O’Halloran selbst.

Diese Art von Rechtsauffassung hatte wiederum Stevenson in beißenden Kommentaren gegeißelt. Er hatte nicht nur schlüssige Beweise für die konkrete Schuld der Hingerichteten gefordert, sondern auch einen »deutlichen und ernsten Protest gegen das Recht der Kolonialregierung von Südaustralien, Todesurteile gegen irgendjemanden zu verhängen, außer unter Umständen, die vom englischen Recht und der Verfassung des Britischen Empire anerkannt und genauestens definiert wurden«, geäußert. Es sei nicht hinnehmbar, dass ein »Busch-Gerichtshof« Todesurteile fällte.

Kein Wunder, dass Gouverneur Gawler auf Mr. Stevenson und den Register nicht allzu gut zu sprechen war! Selbst ihr, die nicht die geringste Ahnung von englischem Recht hatte, war klar, dass er ihm mit diesem Protest im Grunde öffentlich vorwarf, sich willkürlich über das Gesetz hinweggesetzt zu haben. Ob das zutraf, konnte sie nicht beurteilen. Trotzdem kam ihr die Handlungsweise des Polizeichefs zumindest nicht allzu gründlich vor.

Wie konnte es angehen, dass eine Handvoll Männer allein für den Tod so vieler Menschen verantwortlich war? Wie konnte man wissen, ob die Beschuldiger nicht selbst Beteiligte waren?

Und wo waren die Besatzungsmitglieder? Sie hatte alles gründlich durchgelesen, aber sie wurden nirgends erwähnt. Neun erwachsene Männer, acht, wenn man den Schiffsjungen abzog, konnten doch nicht einfach spurlos verschwinden? Wenn sie dort Nachforschungen betrieben hätte, hätte sie die Eingeborenen sehr viel eingehender nach dem Verbleib dieser Vermissten befragt.

Vielleicht konnte sie ja zu einem späteren Zeitpunkt Mr. Stevenson davon überzeugen, dass es sich durchaus lohnte, dieser mysteriösen Geschichte genauer nachzugehen. Momentan schien er ihr mehr daran interessiert, sie als Waffe gegen den missliebigen Gouverneur einzusetzen, als sie aufzuklären.

Sie war gerade eifrig damit beschäftigt, sich Notizen zu machen, als eine Stimme hinter ihrer rechten Schulter ertönte: »Was halten Sie jetzt von einem netten Lunch zur Feier des Tages?« Sie hatte Somerhill gar nicht eintreten gehört!

Hastig klappte sie ihr Notizbuch zu. »Ist es schon so spät?«

»Wissen Sie, dass ich noch nie zuvor einer jungen Dame begegnet bin, die so begeistert von einer Zeitung ist wie Sie?« Der Reporter musterte sie mit der Aufmerksamkeit, die ein Forscher einer neuen Art entgegenbringt. »Die meisten interessieren sich bloß für die Gesellschaftsnachrichten.«

»Vielleicht kommt es daher, dass ich so schrecklich neugierig bin«, sagte Dorothea, etwas aus der Fassung gebracht durch die Art, wie er sie ansah. »Gesellschaftsnachrichten langweilen mich.«

Somerhill sah aus, als fiele es ihm schwer, ihr zu glauben. Aber er sagte nur: »Wenn Sie dann so weit sind, sollten wir gehen.«

Er führte sie in ein relativ kleines Lokal ganz in der Nähe, über dessen Eingangstür ein bescheidenes Blechschild hing. »Zur freien Presse« stand darauf. »Der Inhaber unterstützt Mr. Stevensons Ansichten über die absolute Unabhängigkeit der Zeitungen«, erklärte Miles. »Und wir sind natürlich gehalten, wiederum ihn zu unterstützen. Tavernen gehen nicht allzu gut, wenn die Leute kaum Geld in der Tasche haben.«

»Wegen Gouverneur Gawlers Verschwendungssucht?«

»Nein, das kann man so nicht sagen«, erwiderte Somerhill ernsthaft. »Es gibt hier in Südaustralien zu viele Spekulanten, die ein Vermögen mit dem Kauf und Verkauf von Land gemacht haben, anstatt es zu bewirtschaften. Deshalb fehlen unserer Kolonie Waren für den Export. Was die deutschen Siedlungen rund um Adelaide anbauen, reicht gerade für den Eigenbedarf. Die paar Ballen Schafwolle, die wir nach England schicken können, fallen dagegen kaum ins Gewicht.«

»Wenn wir also mehr Waren produzieren würden, die woanders verkauft werden könnten, ginge es allen besser?«

»So ungefähr.« Miles Somerhill schmunzelte. »Respekt, Sie haben schnell begriffen, worum es geht! Man muss Gawler zugestehen, dass er alles getan hat, um den Landverkauf anzukurbeln: Er hat vermessen und parzellieren lassen, was das Zeug hielt. Dazu jede Menge Straßen bauen lassen – aber damit hat er die Spekulation nur noch angeheizt.«

»Konnte er das nicht einfach verbieten?«

»Leider nein. Der freie Handel ist ein Grundrecht englischer Bürger, das kann nicht einmal die Königin verbieten. Schon gar nicht ein kleiner Gouverneur in einer Kolonie am Ende der Welt.«

Dorothea stutzte, als ihr ein störender Gedanke in den Sinn kam. »Wie kann man überhaupt das Land hier einfach verkaufen? Gehört es nicht den Eingeborenen?«

»Die wissen doch gar nicht, was sie damit anfangen sollen, Missy«, mischte Hoby, der Wirt, sich ein und stellte einen Krug Limonade vor sie auf den Tisch. »Oder haben Sie schon mal einen Schwarzen auf dem Feld arbeiten sehen?« Herausfordernd stemmte er beide Arme in die fülligen Seiten. »Na also. Steht übrigens schon in der Bibel: Wenn einer seinen Weinberg verkommen lässt, dann soll man ihn einem anderen geben. Er gehört dem, der ihn pflegt. Ist es nicht so, Mr. Somerhill?«

»Ich bin nicht sehr bibelfest«, sagte der einschränkend. »Aber sowieso greift hier juristisch das Prinzip der Terra nullius, was bedeutet, dass das Land als Niemandsland angesehen wird, auf das jeder Anspruch erheben kann.«

»Und wir Engländer waren die Ersten, die es taten.« Hoby kicherte, bei einem derart massigen Mann ein irgendwie unpassender Heiterkeitsausbruch. »Wenn ich denke, dass dieser Kontinent anfangs nur wegen der Sträflinge kolonisiert wurde! Sie sind Deutsche, nicht? Wussten Sie, dass es sogar schon Verhandlungen gab mit einem deutschen Fürstentum, ich weiß jetzt nicht, welches, aber die wollten auch ihre Zuchthäusler hierher verschiffen. War ihnen dann nur zu teuer, die Passage.«

»Es gibt Sträflinge hier? Doch nicht in Adelaide?«, fragte Dorothea erschrocken.

»Keine Sorge, Missy. In ganz Südaustralien gibt es keine. Hier leben nur anständige Leute. Die großen Sträflingskolonien sind an der Ostküste, nicht hier«, beruhigte Hoby sie. »Was darf ich bringen? Lamm-Stew, Entenpastete oder Kängurubraten?«

Dorothea wählte das Lamm-Stew, und während sie auf das Essen warteten, unterhielt Miles sie mit mehr oder minder skurillen Anekdoten aus den ersten Tagen der Kolonie.

Es gefiel Dorothea ungemein, dass er mit ihr nicht wie mit einem unwissenden Kind sprach, sondern sie wirklich als gleichwertigen Gesprächspartner ansah. Wie ihre zukünftige Zusammenarbeit wohl aussehen würde? Miles Somerhill schien keiner zu sein, der sein Wissen hütete wie einen Schatz, den man nicht mit anderen teilt. Wenn Mr. Stevenson mit ihrem Artikel zufrieden war – und sie zweifelte nicht daran –, dann begann für sie ein neues Leben!

Wie Mr. Stevenson und Mr. Somerhill würde sie sich dafür einsetzen, dass niemand ungerecht behandelt wurde, dass alles mit rechten Dingen zuging, dass auch Höhergestellte die Gesetze einhielten, die für alle galten. Und sie würde aus erster Quelle erfahren, was in der großen, weiten Welt vor sich ging.

Wer sich nicht für die Schönheit griechischer Hexameter oder den Aufbau polymorpher Gesteine interessierte, dem boten die häuslichen Gespräche im Hause Schumann wenig Unterhaltung, geschweige denn Anregung. Ihr Vater interessierte sich ebenso wenig wie ihr Bruder August für Politik. Er fühlte sich in seinem kleinen, überschaubaren Kosmos der Missionsstation wohl und schien kein Bedürfnis zu verspüren, zu erfahren, was in der Außenwelt vor sich ging. Vermutlich hätte es ihn auch nur verstört. Sie hatte nicht umhinkönnen, zu bemerken, wie geschickt Pastor Teichelmann für ihren verträumten Vater die Fäden gezogen hatte. Die Hilfslehrerstelle für August, die fest zugesagte weitere Unterstützung der Missionsschule durch die Regierung – der zukünftige Regierungs-Dolmetscher ließ seinen Kollegen in diesen unruhigen Zeiten wohlversorgt zurück.

»Es würde mich interessieren, zu erfahren, wieso Sie sich für so unweibliche Dinge wie Politik interessieren«, sagte Miles Somerhill und riss sie mit dieser Frage aus ihren Gedanken.

»Erzählen Sie mir von sich?« Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und sah sie erwartungsvoll an. Sein Interesse an ihrer Person verunsicherte sie gleichermaßen, wie es ihr schmeichelte. Für einen so weltläufigen jungen Herrn wie ihn konnte ihr Leben nur äußerst langweilig sein. Auf einmal bedauerte sie, nicht versierter in Konversation zu sein. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter!«, bat er. »Ich würde wirklich gerne mehr über Sie und Ihre Familie erfahren. Wo sind Sie aufgewachsen?« Dabei strahlte er sie so charmant an, dass sie nicht anders konnte, als sein Lächeln zu erwidern.

»In Dresden«, erwiderte Dorothea. »Das ist eine Stadt an der Elbe, ziemlich in der Mitte von Deutschland, in der Nähe von …«

»Ich weiß, wo Dresden liegt«, unterbrach er sie. »Ein Cousin von mir hat eine Zeit lang dort studiert. Es soll eine sehr schöne, elegante Stadt sein. Kommt Ihnen Adelaide dagegen nicht richtig provinziell vor?«

»Ein bisschen.« Dorothea musste lachen. »Außer an Markttagen laufen dort zumindest keine Schweine herum.« Damit spielte sie auf das gut genährte Ferkel an, das zwischen den Tischen nach Essensresten suchte. Auch in den Gärten an der North Terrace, ja selbst in unmittelbarer Nachbarschaft der Residenz, hatte sie welche gesehen und sich gewundert, dass der Magistrat der Stadt das duldete.

»Und sonst? Vermissen Sie nicht das kulturelle Leben einer Großstadt? Theater, Konzerte, Bälle?«

Dorothea schüttelte den Kopf. »Wir haben ausgesprochen zurückgezogen gelebt. Bevor mein Vater nach Australien vorausgereist ist, war ich noch zu klein für solche Vergnügungen. Und danach mussten wir sehr haushalten. Also habe ich viel gelesen, weil die Leihgebühr nicht hoch war.« Sie lächelte verschmitzt. »Und Zeitungen konnte man in der Leihbücherei sogar umsonst lesen.«

Er erwiderte ihr Lächeln in stillem Einverständnis. »Daher also. Sind Ihre Geschwister auch so wissbegierig?«

»August interessiert sich für nichts anderes als Mineralien und Dampfmaschinen«, erklärte sie. »Was diese Themen betrifft, ist er sicher besser informiert, als ich es je sein könnte. Karl sieht alles nur mit den Augen eines Zeichners, und Lischen ist noch ein Kind.«

Ein schrilles Quieken und ärgerliche Stimmen von der Straße ließen sie aufspringen und hinauslaufen. Vor der Taverne standen sich ein erzürnter Hoby, sein Ferkel unter dem Arm, und ein gleichfalls aufgebrachter Eingeborener gegenüber. Zwischen ihnen lag im Staub der Straße eine angefressene Melone. Der finster blickende Schwarze fuchtelte wild mit seinem Speer, drauf und dran, den Übeltäter damit zu durchbohren, traute sich jedoch offensichtlich nicht, den Wirt dabei zu gefährden.

»Was ist denn hier los?« Ein Constabler in schweißdurchtränkter Uniform kam herbei und musterte den Eingeborenen misstrauisch.

»Mein Schweinchen hat die Melone gefunden und sich drüber hergemacht«, erklärte Hoby in unschuldigem Ton. »Plötzlich kam der anspaziert, behauptete, es sei seine Melone, und verlangte, dass ich ihm dafür einen Shilling bezahle. Was lässt er sie auch herumliegen? Außerdem kann man sie noch gut essen. Es ist noch mehr als die Hälfte da.«

»Sie wissen, dass Schweine auf den Straßen verboten sind!« Der Constabler zückte seinen Block. »Eigentlich müsste ich Sie dafür verwarnen, Hoby, dass Sie Ihr Viehzeug frei herumlaufen lassen. Aber in diesem Fall …« Er stieß die angefressene Melone verächtlich mit dem Fuß an, sodass sie auf den Schwarzen zurollte. »Der hat sie doch sowieso irgendwo geklaut. – Du da, troll dich gefälligst! Und dass du dich hier so schnell nicht wieder blicken lässt. Haben wir uns verstanden?« Er unterstrich die in barschem Ton hervorgestoßene Anweisung mit entsprechenden Handbewegungen.

Der Angesprochene gehorchte, wobei er den Wirt und sein Haustier mit wütenden Blicken bedachte. »Die nächste Zeit würde ich Ihren kleinen Liebling nicht mehr unbewacht lassen«, riet der Constabler. »Na, Mr. Somerhill, wieder auf der Suche nach einem zündenden Thema für die nächste Ausgabe?« Er bemerkte Dorothea nicht sofort, weil sie im Schatten stehen geblieben war. »Langsam wird es für den Register eng, was?« Die leise Schadenfreude in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Wetten Sie lieber nicht darauf, dass Thomas und Stevenson das Handtuch werfen«, gab der Reporter kühl zurück. »Uns, nicht dem Southern Australian, sind die Regierungsaufträge zugesichert worden. Wir werden ja sehen, was London zu Gouverneur Gawlers Eigenmächtigkeit sagt. – Hoby, die Rechnung bitte.«

»Worum geht es bei diesen Regierungsaufträgen eigentlich?«, erkundigte Dorothea sich, als sie in bestem Einvernehmen Arm in Arm zum Mietstall schlenderten. »Sie scheinen ja sehr wichtig zu sein.«

»Das kann man bei einem Volumen von eintausendachthundert Pfund im Jahr wohl sagen«, meinte Somerhill trocken. »Ursprünglich war der Register die einzige Zeitung hier in Südaustralien, und die Kolonialbehörde hatte Mr. Thomas auch sämtliche Druckaufträge der hiesigen Regierung zugesichert. Mr. Stevensons Kampf für die Pressefreiheit und seine Opposition gegenüber Gouverneur Gawler haben dann einige Herren dazu bewogen, ein Konkurrenzblatt zu gründen.« Er schnaubte verächtlich durch die Nase. »Der Southern Australian ist nichts anderes als ein Sprachrohr der Verwaltung. Aber mit den Druckaufträgen, die uns entzogen und ihnen zugeschanzt werden, floriert das Blatt recht ordentlich.«

So viel zur Pressefreiheit! Dorothea verspürte einen Stich der Enttäuschung darüber, dass es auch hier am anderen Ende der Welt immer noch um gesellschaftliche Rücksichten und schnöden Mammon ging. Hatte nicht auch Herr Dünnebier Angst vor einer Klage beziehungsweise deren finanziellen Folgen gehabt?