17

Als sie wieder zu sich kam, war sie nicht sicher, ob sie vielleicht in der Hölle war. Es war stockdunkel, es stank widerwärtig, und ihr Kopf schmerzte unerträglich. Dazu hing sie mit dem Kopf nach unten, und etwas drückte so schmerzhaft auf ihre Hüftknochen, dass sie unwillkürlich laut aufstöhnte. Erst allmählich realisierte sie, dass ihr Körper in einer Art Umhüllung steckte und sie selbst über einem Pferderücken hing wie ein Sack Mehl. Aber unzweifelhaft lebte sie noch. Außer den Kopfschmerzen war ihr auch so übel, dass sie fürchtete, sich früher oder später übergeben zu müssen. Da das ihre Lage um einiges verschlimmert hätte, tat sie alles, um den Aufruhr in ihrem Inneren zu unterdrücken. Damit war sie so beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, dass das Pferd auf einmal langsamer ging und schließlich stehen blieb. Jemand griff nach ihr, zerrte sie herunter und ließ sie zu Boden fallen, als sei sie tatsächlich ein Sack Mehl.

Gefangen in ihrem stinkenden Kokon lag sie da und biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schreien und um Hilfe zu rufen. Eine innere Stimme sagte ihr, dass es sowieso vergebens wäre. Doch es könnte ihrem Peiniger signalisieren, dass sie wieder bei Bewusstsein war. Sich ohnmächtig zu stellen war weniger eine bewusste Entscheidung als eine instinktive. Mehr als eine Atempause würde es ihr nicht verschaffen. Aber dass sie noch lebte, schien ihr ein gutes Zeichen. Wenn er sie hätte töten wollen, hätte er sich wohl kaum die Mühe gemacht, sie zu verschleppen. Panik stieg in ihr auf, als sie sich an die Geschichten erinnerte, die nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurden: Gerüchte über Europäerinnen in benachbarten Kolonien der Region, die von Eingeborenen entführt und entsetzlich missbraucht worden waren. Einige waren nie wieder aufgetaucht; andere, die von Suchtrupps gefunden und befreit worden waren, mussten angeblich den Rest ihres Lebens in Asylen für Wahnsinnige verbringen.

In ihrer Nähe wieherte leise ein Pferd. Gleich darauf fiel etwas Schweres zu Boden. Hufe scharrten über trockenes Gras, dann Stille. Dorotheas bis zum Zerreißen gespannte Nerven drohten sie im Stich zu lassen. Es war eine Tortur, nicht zu wissen, was um einen herum vorging. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob es nicht schlimmer wäre, es zu wissen.

Ein nackter Fuß trat sie so heftig in die Seite, dass sie einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte. Mit einem zufriedenen Grunzen zog ihr Entführer sie in sitzende Position und löste die Verschnürung des Ledersacks. Als er ihn ganz fortzog, kniff sie die Augen zusammen, um nichts sehen zu müssen. Ein harter Schlag ins Gesicht und der Befehl »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche!« ließ sie sie entgeistert aufreißen. Er hatte Englisch gesprochen! Englisch, wie es in den Straßen von Adelaide gesprochen wurde.

Dorothea glaubte ihren Augen nicht mehr trauen zu können: Vor ihr hockte in der eigentümlichen Haltung der Eingeborenen der Skelettmann und sprach mit ihr, als sei er ein Engländer. Träumte sie? Das konnte doch nicht die Wirklichkeit sein!

Aus unmittelbarer Nähe sah sie in seine scharfen Züge; die Augen, dunkel und kalt wie Obsidian, ließen keine menschliche Regung erkennen, während sie sie beobachteten, wie ein Jäger seine Beute beobachten würde: interessiert, aber mitleidlos. Unter der weißen Bemalung erkannte sie eine scharfe, hakenförmige Nase und einen schmal geschnittenen Mund. Er schien sich zu rasieren, denn sie konnte in der weißen Schminke, die seine ausgeprägten Wangenknochen noch stärker hervortreten ließ, keine Anzeichen von Bartwuchs entdecken.

»Ich weiß, dass weiße Frauen noch nutzloser sind als schwarze«, sagte er verächtlich. »Aber ich rate dir, dich geschickt anzustellen. Sonst hole ich mir mein Fleisch von deinem Körper.« Seine Augen zogen sich zu bösartigen Schlitzen zusammen, und er fügte hinzu: »Ich ziehe Pferdefleisch vom Geschmack her vor, aber du wärst nicht die Erste.«

Das konnte er doch nicht ernst meinen? Verstört versuchte Dorothea, in den unmenschlichen Augen zu lesen. Sie fand nichts darin als Kälte und gleichgültige Grausamkeit. »Hier«, er warf ihr eine Steinklinge vor die Füße, mit der sie die Eingeborenenfrauen Felle hatte bearbeiten sehen. »Ach ja, und versuch nicht zu fliehen. Sonst schneide ich dir die Zehen ab.« Damit wandte er sich um und verschwand in einem Spalt in der Felswand hinter ihnen. Bisher hatte Dorothea ihre Umgebung noch nicht in Augenschein genommen. Jetzt, während sie auf den Kadaver des alten Wallachs zuwankte, sah sie nur Bäume ringsumher. Durch den dichten Bewuchs hindurch war nicht zu erkennen, wie weit sie von den Ebenen am Murray River entfernt waren. Wohin hatte er sie verschleppt? Sie vermutete, dass sie sich irgendwo in den Mount Lofty Ranges aufhielten. Mit dem lahmenden Pferd konnte er nicht allzu weit gekommen sein.

Der Ekel, als sie näher trat und der süßliche Blutgeruch sich intensivierte, überwältigte sie fast. Schon umschwirrten unzählige Fliegen den Kadaver, saßen so dicht auf der Blutlache, die aus der Halsschlagader geströmt war, dass man nur noch schwarze, metallisch glitzernde Körper sah. Teilweise flogen sie auf, umschwirrten sie hektisch, krochen auch auf ihr herum. Nur der Gedanke an die Drohung des Skelettmanns vermochte es, sie dazu zu bringen, zwischen den schlaffen Beinen niederzuknien und einen ersten, ungeschickten Schnitt anzusetzen. Er ritzte gerade einmal das Fell. Mit zusammengebissenen Zähnen drückte sie stärker zu und schaffte es tatsächlich, die Haut über dem mächtigen Oberschenkel in einem langen Schnitt von der Kruppe bis zur Flanke zu durchtrennen. Aus dem Schnitt quoll eine Mischung aus Blut, gelblichem Fett und einer wässrigen Flüssigkeit, die die Steinklinge in ihrer Hand so rutschig werden ließ, dass sie sie kaum noch führen konnte. Achtlos riss sie einen Volant von ihrem Unterrock, wickelte ihn um ihre Hand und begann, das Fell abzulösen. Es ging leichter, als sie befürchtet hatte. Stück für Stück legte sie das rosige Fleisch frei. Mit jedem Schnitt, mit dem sie lange Streifen aus dem großen Muskel heraustrennte, wurde sie sicherer. Fast empfand Dorothea so etwas wie Stolz, während der Haufen neben ihr größer und größer wurde.

»Das reicht.«

Sie hatte nicht gehört, wie er näher kam. Das war nicht erstaunlich. Verbissen auf ihre Tätigkeit konzentriert, hatte sie auf nichts um sich herum mehr geachtet.

»Pack es ein und bring es hinein«, wies er sie an, wobei er ein Tragenetz neben den Fleischhaufen warf.

Dorothea gehorchte. Sie konnte das Netz kaum heben, aber er dachte gar nicht daran, ihr zu helfen. Stattdessen hob er den Speer und drehte sich um, um im Berg zu verschwinden. Folgsam wie eine Eingeborene folgte sie ihm. Der Gang war eng, immer wieder blieb sie mit ihrer Last an Felsvorsprüngen hängen. Mehrmals stolperte sie und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Es schien ihr endlos, bis sie plötzlich in einer Höhle stand. Einer überraschend großen Höhle.

Mindestens so groß wie das Speisezimmer auf Eden-House. Durch mehrere Ausbrüche in der Decke drang ausreichend Tageslicht herein, um sich gut orientieren zu können. Unter dem niedrigsten Felsenfenster brannte ein Feuer. Daneben lagen mehrere Speere, Waddies und andere Gegenstände, deren Nutzen Dorothea nicht einordnen konnte. Erleichtert, sich von ihrer Last befreien zu können, ließ sie sie neben dem Feuer zu Boden gleiten.

»Aufspießen, rösten.« Neben der Feuerstelle lagen zugespitzte Äste. Während Dorothea sich beeilte, seiner knappen Anordnung Folge zu leisten, sah sie sich unauffällig um. Sie war noch zu schwach, und seine Drohung, ihr die Zehen abzuhacken, hatte sie so eingeschüchtert, dass sie im Augenblick keinen Fluchtversuch wagte. Aber dennoch wollte sie so viel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen, bevor sie versuchen würde, mit ihm vernünftig zu reden. Vielleicht ließ er sie ja gegen ein Lösegeld gehen, wenn sie ihm klarmachte, dass Robert jede geforderte Summe für sie zahlen würde. Dafür könnte er sich vier oder noch mehr Frauen kaufen, von denen jede Einzelne sicher geschickter wäre als sie. Es war ihr sowieso unklar, was er von ihr wollte.

In der Nacht, als er sie gejagt hatte, war sie überzeugt gewesen, er wollte sie ermorden. Heute hätte ihn nichts daran gehindert, es zu tun. Wieso also lebte sie noch? Sam hatte er doch auch getötet. Sie schluckte, als unvermittelt die bleichen, verzerrten Züge des alten Stallknechts vor ihrem inneren Auge erschienen. Der arme Sam!

Heather musste es geschafft haben, ihm zu entkommen. Offenbar hatte er es nur auf sie abgesehen gehabt. Vorsichtig betastete sie die schmerzhafte Beule an ihrem Hinterkopf. Vermutlich hatte er sie mit einer Wurfkeule getroffen, und sie war bewusstlos vom Pferd gestürzt. Glück im Unglück, dass sie nicht mit dem Fuß im Steigbügel hängen geblieben war!

»Was willst du von mir?« Die Frage war ihr herausgerutscht, ohne dass sie bedacht hatte, dass es ihn verärgern könnte, wenn sie ihn einfach so ansprach. In der Erwartung, im nächsten Moment einen harten Schlag oder den Stich einer hölzernen Speerspitze zu verspüren, duckte sie sich ängstlich, aber es geschah nichts.

»Nichts.« Er sagte es ohne jede Emotion. Im ersten Moment glaubte Dorothea, sich verhört zu haben. Der raffiniert eingefädelte Überfall, der Mord an Sam, ihre Entführung – für nichts?

»Du bist unwichtig. Ein weißes Nichts. Ich will den Kindgeist in dir.«

Trotz ihrer Situation lachte Dorothea bitter auf. »Ich bin nicht schwanger. Du hast die Falsche entführt.«

»Du trägst einen Kindgeist in dir. Ich kann es riechen. Er ist noch sehr klein, aber er ist da.«

Der Mann war wahnsinnig! Entsetzt starrte Dorothea in sein unbewegtes Gesicht. Niemand konnte riechen, ob eine Frau schwanger war. Oder doch? Konnten Zauberer das?

»Selbst wenn du recht hättest und ich ein Kind erwartete: Was willst du von einem Kindgeist?« Irgendwie kam ihr das Ganze inzwischen so surreal vor, dass sie ihre Angst vergaß. Die Neugierde war stärker.

»Ich brauche ihn für einen Zauber.«

Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. »Du wolltest mich gar nicht töten? Du wolltest, dass ich mein Kind verliere, damit du … Oh!« Außer sich vor Wut sprang sie auf, einen der angespitzten Äste in der Faust, um ihn ihm in den Leib zu rammen. Ein scharfer Schmerz brachte sie zur Besinnung. Ungerührt zog er seinen Speer aus ihrem Oberschenkel. »Du vergisst dich«, sagte er mit leisem Tadel in der Stimme. »Ein solches Benehmen werde ich nicht dulden. Ich sehe es dir noch einmal nach, weil du nicht weißt, wie eine Frau sich zu benehmen hat. Aber stell meine Geduld nicht noch einmal auf die Probe.«

Die Speerwunde in Dorotheas Bein brannte wie Feuer und mahnte sie zur Vorsicht. Es würde ihr nicht weiterhelfen, ihren Entführer anzugreifen. Sie hatte keine Chance gegen ihn. Körperlich war er ihr weit überlegen. Wenn sie doch wenigstens ihr Wurfmesser eingesteckt hätte!

»Dieser neue Kindgeist in dir scheint stark zu sein«, sagte er, und die Zufriedenheit in seiner Stimme war unüberhörbar. »Das ist gut. Vermutlich ist es ein männlicher. Der vorige war ein weiblicher Kindgeist. Er war natürlich zu schwach.«

»Zu schwach wofür?«

Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten. Stattdessen erhob er sich mit katzenartiger Geschmeidigkeit, um in einem weiteren Gang, der noch tiefer in den Berghang hineinführte, zu verschwinden. Kaum war er nicht mehr zu sehen, als Dorothea auch schon ihre Röcke hochzog, um die Wunde zu inspizieren. Sie sah hässlich aus: Mit der hölzernen Spitze hatte er einen Teil des Batiststoffs mit ins Fleisch getrieben. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren, den es ihr bereitete, die Fasern aus dem blutigen Loch zu ziehen. Zum Glück schienen die Stoffschichten einiges abgehalten zu haben. Die Wunde war weniger tief, als sie befürchtet hatte. Dorothea riss einen weiteren Volant ab und verband sich provisorisch. Wenn sie Glück hatte und es sich nicht entzündete, würde nur eine kleine Narbe zurückbleiben. Wenn sie Glück hatte und das hier überlebte, berichtigte sie sich selbst. Sie setzte sich auf die Fersen zurück und vergrub das Gesicht in den Händen.

Selbst wenn Heather es bis nach Eden-House geschafft und dort Alarm geschlagen hätte, dort befanden sich derzeit nur Karl, Koar und der Stallbursche John. Koar war der Einzige, dem sie zugetraut hätte, sie hier in dem Versteck aufzustöbern. Aber wäre er auch imstande, es mit diesem Verrückten aufzunehmen?

Wahrscheinlicher war, dass sie Hilfe in Adelaide holen würden. Es würde also mindestens vier Tage dauern. Vier Tage, in denen alles Mögliche passieren konnte. Sie wollte sich gar nicht allzu genau ausmalen, was. In unmittelbarer Lebensgefahr schien sie nicht zu schweben. Das Wichtigste war jetzt, herauszufinden, was er vorhatte. Erst dann konnte sie einen Fluchtplan schmieden. Dazu musste sie ihn jedoch zum Reden bringen.

Das erwies sich als gar nicht so schwierig.

»Darf ich dich etwas fragen?«, flüsterte sie demütig, als sie die sorgsam von allen Seiten gerösteten Fleischstreifen auf einem Rindentablett vor ihn hinstellte. Der Skelettmann nickte.

»Du sprichst unsere Sprache sehr gut. Woher kommt das?«

»Bis ich ihn tötete, war ich der Haussklave eines Weißen auf der Känguruinsel«, erwiderte er so unbewegt, als berichte er von einem Schulbesuch. »Er hatte meine Mutter und mich entführt, und als sie starb, erwartete er, dass ich ihren Platz einnahm. Er war zu faul, sich eine neue Frau zu holen. Ich war noch zu klein und hatte nicht genug Kraft, um mich zu wehren. Später, als ich merkte, dass ich stark genug war, schnitzte ich mir ein Waddie und erschlug ihn, während er schlief.«

Sprachlos vor Entsetzen starrte Dorothea ihn an.

»Dann nahm ich sein Boot und ruderte an Land.« Mit seinen weißen, kräftigen Zähnen riss er einen großen Bissen aus dem Fleisch und kaute ihn in aller Ruhe, bevor er hinzufügte: »Damals habe ich mir geschworen, einen Zauber zu finden, der die Weißen dorthin zurücktreibt, wo sie hergekommen sind.«

Worüber sollte sie schockierter sein? Über den kaltblütigen Mord oder über den menschlichen Abschaum, der nicht davor zurückschreckte, ein Kind zu missbrauchen? In Dorotheas Kopf vermengten sich Gut und Böse, richtig und falsch, bis sie völlig orientierungslos war.

Der Mann hatte ihr eine Ecke ganz hinten in der Höhle zugewiesen, während er sich mit überkreuzten Beinen an der Felswand neben dem Feuer niederließ. Die Waffen griffbereit neben sich, in seinen Opossumfellmantel gehüllt, schien er augenblicklich in tiefen Schlaf zu sinken.

Auf dem blanken Boden, ohne Decke oder Kissen, hatte Dorothea sich, so gut es ging, zusammengerollt und versuchte, das Knurren ihres Magens zu ignorieren. Es war lächerlich, dass sie bei all dem Hunger verspüren konnte! Aber sie tat es. Der Duft des gebratenen Fleisches quälte sie so, dass sie es sogar einmal wagte, sich so leise wie möglich an die Reste auf dem Rindentablett heranzupirschen. Ein gut gezielter Speerwurf, der ihre bereits ausgestreckte Hand nur um Haaresbreite verfehlte, ließ sie zurückzucken. Er hatte nicht einmal die Augen geöffnet. Sie kroch auf allen vieren zurück in ihre Ecke und sank schließlich doch in eine Art Erschöpfungsschlaf.

Geweckt wurde sie im Morgengrauen von einem kräftigen Tritt und dem Befehl: »Wasser holen, aber marsch!« Neben ihr klatschten zwei der aus Opossumhaut gefertigten Wassersäcke auf den Boden. Sie rappelte sich auf, wischte sich den Schlaf aus den Augen und folgte ihrem Entführer hinaus. Der tote Wallach war über Nacht merklich weniger geworden. Ausgehend von der aufgeschnittenen Flanke hatten sich zahlreiche kleine Raubtiere ihren Weg zu den Innereien gebohrt. Halb heraushängende Darmschlingen zeigten, worauf sie aus gewesen waren. Ein überwältigender Gestank stieg von dem in Verwesung übergehenden Tierkadaver auf. Ohne irgendwelche Anzeichen von Ekel ging der Mann dicht daran vorbei, wobei er erneut Fliegenschwärme aufscheuchte, und stieg dann, ohne sich auch nur umzusehen, ob seine Gefangene ihm folgte, weiter den Hang hinauf. Dorothea hörte die Quelle, bevor sie sie sah. Das Plätschern machte ihr bewusst, wie durstig sie war. Es war ein kleines Rinnsal, das aus einer Spalte rann, um sich in einem Becken zu sammeln. Glasklar spiegelte das Wasser den Himmel und das Blätterdach über sich wider. Dorothea stürzte darauf zu, fiel auf die Knie und beugte sich darüber, um in tiefen, hastigen Zügen so viel von dem köstlichen Nass wie möglich zu trinken.

Er ließ sie gewähren. Wartete ab, bis sie den Kopf hob und sich das triefende Kinn abwischte. »Vergiss die Wassersäcke nicht.« Mit diesen Worten drehte er ihr den Rücken zu und ging den Weg zwischen den Bäumen zurück. Dorothea füllte die Wassersäcke. Dabei handelte es sich um komplette Opossumhäute, deren Körperöffnungen abgedichtet worden waren. Voller Wasser wirkten sie wie bizarr aufgeblähte Tiere ohne Kopf. Und sie wogen mindestens so viel! Dorothea keuchte, als sie endlich mit den zwei schweren Behältern den Eingangsspalt erreichte. Ihr ehemals schickes Reitkostüm war nicht besonders geeignet für solche Aufgaben. Der weite, übermäßig lange Rock ließ sie ständig stolpern. Normalerweise trug man ihn, wenn man nicht gerade im Sattel saß, wie eine Schleppe elegant über dem Arm – aber sie brauchte beide Arme für die Wassersäcke.

Der Skelettmann hockte vor dem Feuer und erneuerte seine grauenerregende Bemalung, indem er langsam und sorgfältig die Striche mit weißer Paste aus einem Rindentöpfchen nachzog. Zu Dorotheas Verwunderung benutzte er dabei einen Spiegel. Einen hübschen Damenspiegel mit Schildpattgriff, der besser in ein elegantes Boudoir gepasst hätte. Er nahm keine Notiz von ihr, also stellte sie die Wassersäcke in geeignete Nischen an der Wand ab und zog sich in ihre Ecke zurück. Ihr Magen hatte aufgehört zu knurren, dafür war ihr jetzt ein wenig schwindlig, aber es fühlte sich nicht unangenehm an. Vielleicht vergleichbar einem leichten Schwips.

Sobald er mit seinem Werk zufrieden war, verstaute er seine Utensilien in einer Höhlung, schaufelte geschickt glühende Holzkohle in eine verbeulte Blechschüssel, die in Dorotheas Augen ganz wie eine der Schalen aussah, in denen Mrs. Perkins Küchenabfälle zu sammeln pflegte, und verschwand in der Felsspalte im hintersten Bereich der Höhle. Dorothea hatte sich schon gefragt, wohin diese Spalte wohl führte. Vielleicht ein zweiter Ausgang?

Und wofür brauchte er die Kohle?

Am Rand der Feuerstelle verstreut lagen noch Überbleibsel seines gestrigen Mahls, die er achtlos in die Asche geworfen hatte. Allzu appetitlich wirkten die angekohlten Fleischreste nicht mehr, aber wenn sie fliehen wollte, musste sie sehen, bei Kräften zu bleiben. Dorothea klaubte die Brocken auf und zwang sich, sie hinunterzuwürgen. Es war nicht viel, aber es musste reichen. Sie traute sich nicht, sich an den Vorräten zu vergreifen, die an einer Wand in Tragenetzen lagerten: Pflanzenwurzeln, getrocknete Früchte, Vogeleier. In der Hoffnung, ihn freundlich zu stimmen, machte sie sich daran, weiter den Kadaver des armen Wallachs zu zerlegen. Eine zunehmend unangenehme und schweißtreibende Arbeit. Aus der offenen Bauchhöhle drang immer wieder ein Schwall stinkender Gase. Sosehr sie sich auch bemühte, durch den Mund zu atmen – es war kaum auszuhalten. Dazu musste sie sich ständig der Ameisen und Insekten erwehren, die in unüberschaubaren Mengen die unverhoffte Nahrungsquelle ansteuerten.

Nachdem einige besonders große Ameisen unter ihre Röcke gekrochen waren und sie schmerzhaft gebissen hatten, gab sie auf. Zwei Tragenetze voll Fleisch mussten fürs Erste reichen. Sie schleppte ihre Beute in die Höhle und konstatierte überrascht, dass er immer noch nicht wieder aufgetaucht war.

Aus dem Berginneren drang undeutlich ein monotoner Singsang, in Melodie und Art, wie sie ihn von den paltis her kannte. Was zum Teufel trieb er dort hinten? Waren dort vielleicht noch andere Menschen? Menschen, die sie um Hilfe bitten konnte?

Sie nahm all ihren Mut zusammen und tastete sich den dunklen Gang entlang. Schritt für Schritt wurde der Gesang lauter. Dazu gesellte sich ein eigentümlich stechender, süßlicher Geruch. Holzrauch und noch einige andere Ingredienzen, vermutlich duftende Harze. Als ihre Fingerspitzen an weiche Haare stießen, wurde ihr klar, wieso sie alles nur gedämpft wahrgenommen hatte. Der Zugang zu dieser Höhle war sorgfältig mit Opossumfell abgedichtet. Mit äußerster Vorsicht schob sie den Rand ein wenig zur Seite und lugte durch den schmalen Spalt zwischen Felswand und Fell. Es dauerte einige Zeit, bis sie begriff, was sie sah. Es konnte nur eine Täuschung sein!

Aber sie träumte nicht, und ihre Augen spielten ihr auch keinen Streich: Genau in ihrer Blickrichtung, unter dem Felsbild einer riesigen Schlange, lag Sams Kopf auf einem Gerüst aus grünen Eukalyptuszweigen. Die Rauchschwaden des darunter glimmenden Feuers verhüllten ihn wie ein Nebelschleier, aber es waren dennoch unverkennbar Sams Züge. Auch wenn sie jetzt seltsam verzerrt wirkten, gab es keinen Zweifel. Verstört starrte sie darauf, jede Einzelheit des schrecklichen Bildes grub sich unwiderruflich in ihr Gedächtnis. Die weiße Struktur der Wirbel, wo sein Mörder den Hals durchtrennt hatte; das rötliche Fleisch der Muskeln; die eine Sehne, die er nicht durchtrennt, sondern einfach herausgerissen hatte und die jetzt herunterhing wie ein harmloses Band.

Der ätzende Rauch, der den Raum erfüllte und begann, durch den Spalt zu strömen, reizte ihre Atemwege. Um ein Haar wäre sie in einen Hustenanfall ausgebrochen. Das brachte sie zur Besinnung. Sie zog das Fell wieder zurecht und versuchte, die Fäuste gegen den Mund gepresst, den Hustenreiz und die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Der Mann war verrückt! Sie war in der Gewalt eines Wahnsinnigen! Würde er ihr auch den Kopf abschneiden, oder hatte er gar noch Schlimmeres mit ihr vor? Wo war er überhaupt? Sie hatte ihn gar nicht gesehen.

Noch einmal schob sie den Fellvorhang beiseite, achtete dabei jedoch darauf, den Anblick von Sams Kopf so gut wie möglich zu vermeiden. Der Skelettmann kauerte ein paar Schritte vom Feuer entfernt auf dem Boden und wiegte seinen Oberkörper langsam hin und her. Seine Augen waren geschlossen, Speichel tropfte ihm aus den Mundwinkeln. Er hatte aufgehört zu singen. Stattdessen gab er jetzt gutturale Laute von sich, die eher an ein Tier als an einen Menschen denken ließen. In seiner Trance wirkte er blind und taub gegen seine Umgebung, deswegen wagte Dorothea einen genaueren Blick. Auch wenn man durch die Rauchschwaden hindurch nicht allzu viel erkennen konnte, schien die Felsenkammer ihr erstaunlich klein zu sein. Die Wände waren über und über bemalt mit seltsamen Kreaturen im gleichen Stil wie an dem Kultplatz, an dem sie mit Ian das Picknick abgehalten hatten. Im Zentrum des Gewimmels eine Art Riesenschlange mit aufgerissenem Maul, vor der auf einem flachen Stein einige runde Klumpen lagen. Steine? Sie kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, worum es sich handelte. Von Größe und Form her waren sie beinahe identisch, und sie schienen mit irgendetwas Moosartigem bewachsen zu sein. Etwas an ihnen kam ihr sonderbar vertraut vor wie …

Auf einmal wusste sie, was da lag. Menschliche Köpfe. Mumifiziert, wie es gerade mit Sams Kopf geschah. Sie ließ den Fellvorhang fahren und biss sich in die Hand, um nicht zu schreien. Ihre Knie gaben unter ihr nach, und sie sackte zu Boden. Sie träumte, sie musste träumen. So etwas konnte doch gar nicht wahr sein. Sicher lag es an diesem schrecklichen Rauch, dass sie auch schon halluzinierte und harmlose Steine für Schädel hielt!

Diesmal sah sie genauer hin. Drei von ihnen wiesen deutlich helleres Moos auf als die anderen. Blondes Haar, das durch den heißen Rauch zwar strähnig und angekohlt, aber immer noch deutlich heller als das der Aborigines war. Es mussten also Europäer sein, die er wie Sam ermordet und deren Köpfe er hier in diesem grausigen Heiligtum aufgestellt hatte.

Wer waren diese armen Menschen, die er abgeschlachtet hatte? Hirten? Viehtreiber? Geflüchtete Sträflinge aus Neu-Südwales?

Plötzlich erinnerte sie sich klar an ihre eigenen Worte: Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich nachforschen, was aus der Mannschaft geworden ist! Ihr Schicksal hatte damals niemanden interessiert. Nach der öffentlichen Empörung über die Hinrichtung der zwei Verdächtigen waren sowohl Gouverneur Gawler als auch Major O’Halloran mehr um ihre eigene Haut besorgt gewesen, als dass das Schicksal von ein paar Seeleuten sie gekümmert hätte. Wie die Passagiere hatte keiner von ihnen Verwandte oder Freunde in einflussreicher Position gehabt, die weitere Suchexpeditionen gefordert hätten. Also war ihr Verschwinden allmählich in Vergessenheit geraten.

Dorothea waren die Einzelheiten noch beunruhigend präsent, die damals über das Maria-Massaker kursierten. Bereits damals hatte man sich nicht erklären können, was die bisher friedlichen Stämme dazu bewogen hatte. Einzelne Stimmen hatten die Vermutung geäußert, ein Außenstehender hätte die Stimmung so weit aufgeheizt, dass die jungen Männer in einen Blutrausch verfallen wären. Aber wer hätte das sein sollen? In Ermangelung konkreter Verdachtsmomente war diese Theorie rasch in der Versenkung verschwunden.

Auch sie hatte sie nicht ernst genommen.

Schwindlig und elend tastete sie sich den Gang zurück. Die Versuchung, seine augenblickliche Schwäche auszunutzen und zu fliehen, war beinahe übermächtig. Nur weg von hier, von ihm!

Andererseits war ihr nur zu klar, dass sie nicht die geringste Chance hatte, ihm zu entkommen. Selbst wenn sie stramm marschierte, würde er keine Probleme haben, sie einzuholen. Dann würde er seine Drohung wahrmachen und ihr die Zehen abschneiden. Und vermutlich wäre das nicht das Einzige, was er ihr antun würde.

Sie musste einen günstigen Moment abwarten, um ihn zu überwältigen und zu töten. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Wenn sie nur daran gedacht hätte, ihr Wurfmesser mitzunehmen! Aber was nützte es jetzt, sich Vorwürfe zu machen? Hastig machte sie sich daran, die Wohnhöhle zu untersuchen. Es war ein ungünstiger Umstand, dass die Eingeborenen nur Speere und Keulen als Waffen benutzten. Mit einem wirri, einem Schwirrholz zur Vogeljagd, das in einem der Netze steckte, konnte man einem ausgewachsenen Mann höchstens eine kleine Beule zufügen. Auch die Steinklingen, die sie zum Zerlegen von Tieren benutzten, taugten nicht, um sie einem Menschen in Rücken oder Brust zu stoßen. Wenn sie wenigstens etwas Ahnung von Giften gehabt hätte!

Vor Frustration und Verzweiflung stiegen ihr die Tränen in die Augen.

»Du hast das Feuer ausgehen lassen.« Sie hatte nicht gehört, wie er näher gekommen war. Er stand jetzt dicht hinter ihr, und sie wich instinktiv zur Seite, weil sie einen weiteren Stich seiner Speerspitze befürchtete. Als er sich nicht rührte, sah sie erstaunt auf. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen. Um Jahre gealtert. Auch seine Körperhaltung war eher die eines Greises. Auf seinen Speer gestützt wie auf einen Stock, sah er in diesem Moment eher bemitleidenswert als gefährlich aus. Nicht wie der Mann, der Sams Kopf dort hinten im Berg räucherte.

Konnte sie es wagen, ihn sehr, sehr vorsichtig danach auszuhorchen?

Ohne sie zu beachten, sank er, immer noch auf seinen Speer gestützt, neben der Feuerstelle auf ein Knie. Vorsichtig schob er kleine Stöckchen und trockene Rindenstücke in die Asche, beugte sich darüber und blies hinein, bis es tatsächlich knisterte und erste Flämmchen aufzuckten.

»Geh Holz holen!« Seine Stimme hatte angestrengt geklungen, als bereiteten ihm selbst kurze Sätze Mühe. Ob das von dem beißenden Rauch kam, den er stundenlang eingeatmet hatte?

Aus dem Dunkel des Eingangstunnels warf sie einen kurzen Blick zurück und sah ihn, den Kopf in den Nacken gelegt, direkt aus dem Wassersack trinken, als sei er am Verdursten.

Draußen blickte sie sich um. Es war lange her, dass jemand sie Holz holen geschickt hatte. Aber der Boden war übersät mit trockenen Ästen und Rindenstücken. Es würde keine mühselige Aufgabe werden. Vielleicht konnte sie die Zeit nutzen, um sich ein wenig zu orientieren. Jetzt wünschte sie, sie hätte sich die Karte in Roberts Kontor genauer eingeprägt. Sie hatte sich hauptsächlich für den Verlauf des Murray River interessiert und den Bergzügen westlich von ihm nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn sie sich die Karte vergegenwärtigte, musste der mächtige Flusslauf im Osten liegen. Dem schmalen Rinnsal der Quelle folgend, hoffte sie, einen Blick auf seine glitzernde Fläche zu erhaschen. Aber so sehnsüchtig sie auch durch die lichten Baumkronen spähte: Es war keine Spur von dem Strom zu entdecken. Nichts als Wald und Gestrüpp.

Niedergeschlagen machte sie sich auf den Rückweg. Als sie, beladen mit ihrer Last, wieder zu ihm kam, saß er mit geschlossenen Augen an seinem üblichen Platz. Er rührte sich auch nicht, als sie das Holzbündel zu Boden gleiten ließ.

»Die Geister sprechen nicht mehr klar zu mir«, sagte er so unvermittelt, dass sie das Scheit, das sie eben auflegen wollte, vor Schreck fallen ließ. »Es ist nicht so, wie es sein sollte«, fuhr er fort. Seine Stimme klang nachdenklich, fast verunsichert. »Dabei stehe ich kurz vor dem Ziel.«

»Wovon?«, flüsterte sie, unsicher, ob sie nicht besser schweigen sollte. Sie wollte diesen Mann auf keinen Fall unnötig reizen.

Er schwieg. Nach längerer Zeit, sie erwartete schon gar nicht mehr, dass er ihr noch antworten würde, sagte er: »Der Zauber, der die Regenbogenschlange ruft, ist beinahe vollendet. Bald, sehr bald wird sie kommen, um die Weißen ins Meer zurückzutreiben und sie in Strömen von Blut ertrinken zu lassen. Danach wird alles wieder so sein, wie es sich gehört: Recht und Gesetz werden wieder respektiert, wie unsere Ahnen es uns gelehrt haben. Und ich werde einer der mächtigsten Anführer meines Volkes werden. Die Generationen nach mir werden sich nur mit Ehrfurcht an mich erinnern, wenn sie meine Geschichte erzählen.«

»Hast du dafür all diese armen Menschen umgebracht?«, platzte Dorothea heraus. Der arme Sam! Bei dem Gedanken an den Kopf des alten Mannes stiegen ihr die Tränen in die Augen und rannen ihr über die Wangen. Nie wieder würde sie sein verschmitztes Grinsen sehen, seine zwinkernden Augen oder seine spezielle Art, die Lippen zum Pfeifen zu spitzen.

Durch den Tränenschleier hindurch sah sie, wie er sie drohend fixierte. »Du warst in der heiligen Höhle?«

»Nein.« Sie wischte sich über die Augen und schüttelte entschieden den Kopf. Keinen Fuß würde sie dort hineinsetzen! »Ich habe dich gesucht«, log sie. »Und da habe ich ganz kurz den Vorhang angehoben, ich bin gleich wieder gegangen. Aber da habe ich …« Dorothea brachte es nicht fertig weiterzusprechen.

»Er war ein tapferer Mann«, sagte er leise. »Ihn zu töten war ein harter Kampf.«

»Warum musstest du Sam überhaupt töten? Er hat dir doch nichts getan. Und all die anderen dort drinnen auch nicht.«

Plötzlicher Ärger blitzte in seinen Augen auf. »Du verstehst nichts. Aber wie auch? Schließlich bist du nur eine Frau! – Sie waren alle gute Kämpfer. Die Feiglinge haben wir den Dingos überlassen. Ich habe der Regenbogenschlange nur starke Seelen gesandt.«

Verwirrt versuchte Dorothea, den Sinn hinter seinen Worten zu verstehen. »Gesandt? – Was meinst du damit?«

Aber seine Mitteilsamkeit schien erschöpft. Er machte keine Anstalten, ihr zu antworten. Stattdessen starrte er mit düsterer Miene in die flackernden Flammen …

Ihre zweite Nacht in der Gefangenschaft des Skelettmanns verlief ähnlich wie die erste. Außer dass sie erstaunlich rasch einschlief. Vielleicht lag das auch an dem seltsamen Gebräu, das er aus diversen Pulvern und getrockneten Pflanzenteilen zusammengerührt hatte. Zuerst hatte sie die bräunliche Brühe angeekelt zurückgewiesen, aber der Skelettmann hatte erklärt, sie ihr notfalls mit Gewalt einzuflößen. Da hatte sie den Rindenbecher genommen und an seinem trüben Inhalt geschnuppert.

»Was ist das?«, hatte sie gefragt. »Gift?«

Er hatte den Kopf geschüttelt, und die Andeutung eines Lächelns hatte auf seinen Lippen gelegen. »Nein, nur eine Medizin.«

»Willst du mein Kind töten?« Seltsamerweise erschreckte diese Möglichkeit sie nicht in dem Ausmaß, wie man hätte annehmen können.

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, den Kindgeist zu fangen. Du bist ziemlich störrisch. Eine Frau sollte schweigen und gehorchen«, hatte er mit deutlichem Tadel festgestellt. »Trink es. Sonst wirst du es bereuen, mich herausgefordert zu haben.«

Ihr Mut hatte sie verlassen, als sie sich bewusst gemacht hatte, dass sie ihm vollkommen ausgeliefert war. Wenn er wollte, konnte er ihr genauso den Kopf abschneiden wie Sam und den Männern dort hinten. Resigniert hatte sie den Becher geleert und voll Unruhe auf die Wirkung gewartet. Würde sie schreckliche Schmerzen empfinden oder eher nichts? Er hatte amüsiert gewirkt, als er ihr einen Streifen Fleisch hinwarf wie einem Hund und mit einer beiläufigen Handbewegung bedeutete, sie dürfe sich jetzt an ihren Platz zurückziehen.

Einigermaßen beruhigt – er würde ihr sicher nichts zu essen geben, wenn er gerade dabei war, sie zu vergiften – hatte sie das zähe Fleisch verschlungen wie die größte Delikatesse. Und dann war sie plötzlich sehr, sehr müde geworden.

Diesmal erwachte sie vor ihm. Unwillkürlich suchten ihre Augen im dämmrigen Dunkel nach den Speeren und dem Waddie. Wenn sie nur schnell genug wäre … Aber das war illusorisch. Noch bevor sie auch nur die Hälfte der Strecke zwischen ihnen zurückgelegt hätte, würden bereits mindestens zwei Speere in ihrem Körper stecken. Sie hatte ja gesehen, wie schnell und treffsicher er war.

Und die entscheidende Frage dabei war: Würde sie es fertigbringen, einem Menschen einen Speer ins lebende Fleisch zu bohren? Wenn es ihr nicht gelang, ihn auf Anhieb bewegungsunfähig zu machen, war sie verloren. Eine zweite Chance würde sie nicht bekommen.

Ehe sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, setzte er sich unvermittelt auf, streckte sich und gähnte herzhaft. Irgendwie irritierte es sie, dass er sich benahm wie ein ganz normaler Mensch. Dadurch wurde sein Wahnsinn noch bedrohlicher. Wenn er mit wild rollenden Augen unverständliches Zeug gebrabbelt hätte, wäre sein Zustand offensichtlich gewesen. Im normalen Kontakt mit ihm wäre jedoch niemand auch nur auf den Gedanken gekommen, es mit einem gefährlichen Irren zu tun zu haben.

Inzwischen kannte sie ihre morgendlichen Pflichten und beeilte sich, ihnen nachzukommen.

»Du lernst schnell«, bemerkte er und verfolgte, wie sie die Wassersäcke an ihren Platz trug, frisches Wasser in eine Muschelschale goss und ihm brachte. »Ich könnte mich direkt an dich gewöhnen.«

Ermutigt durch seine milde Stimmung stellte sie ihm die Frage, die sie seit geraumer Zeit verfolgte: »Was hast du mit mir vor?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich den weißen Kindgeist brauche. Erst mit ihm ist mein Zauber vollkommen.«

»Willst du mir auch den Kopf abschneiden?«

Er lächelte herablassend. »Natürlich nicht, was soll ich mit einem Frauenkopf?«

Dorothea scheute davor zurück, ihn zu fragen, wie er an das Ungeborene in ihrem Körper gelangen wollte. Darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken.

»Wann wird das sein?« Es war wichtig, zu wissen, wie viel Zeit ihr blieb.

»Die Geister werden es mich wissen lassen«, erwiderte er so ungerührt, dass sie die Zähne fest zusammenbeißen musste, um ihn nicht anzuschreien. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Gefangenschaft war schon schlimm genug. Die Ungewissheit darüber, was ihr drohte, machte ihr jedoch am meisten zu schaffen.

Als er nach dem Morgenmahl erneut in dem Gang verschwand, der zu der schrecklichen Kammer führte, hatte sie sich entschieden, das Risiko einzugehen und zu flüchten. Alles war besser als diese grässliche Ungewissheit. Sie saß gerade neben dem Feuer und riss hastig einen breiten Streifen ihrer Röcke ab, um nicht von ihnen beim Laufen behindert zu werden, als ein Geräusch sie aufblicken ließ.

Schritte näherten sich dem Eingang! Und es waren keine Eingeborenen, die nahezu geräuschlos über den Erdboden gleiten konnten. Der Teppich aus trockener Rinde und morschen Ästen raschelte deutlich vernehmbar unter Stiefeltritten und Pferdehufen.

Vor Erleichterung und Glück hätte sie schreien können. Stattdessen warf sie einen Blick auf den Gang. Hatte er etwas gehört? Nichts war zu sehen oder zu hören, außer dumpfem Stampfen. Wahrscheinlich war er wieder in Trance, und seine sonst so feinen Sinne waren benebelt.

»Bist du sicher, dass die Spuren dort hineinführen?«, hörte sie Robert leise fragen.

Jemand hatte ihm offenbar so leise geantwortet, dass sie nichts verstanden hatte, denn Robert sagte nach einer kleinen Pause: »Dann sollten wir die Pferde hier anbinden und reingehen. Mit einem einzelnen Mann werden wir es ja wohl noch aufnehmen können. Oder was meinst du?«

Sie hatten sie gefunden! Vor Erleichterung und Freude wäre sie am liebsten in lauten Jubel ausgebrochen. Der Albtraum dieser Gefangenschaft war zu Ende. Vor lauter Glück konnte sie keinen Ton herausbringen. Stattdessen sprang sie auf, rannte durch den Tunnel und warf sich so heftig in die Arme ihres Mannes, dass er strauchelte und beinahe hintenübergefallen wäre.

»Dorothy!« Er presste sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. »Geht es dir gut? Bist du verletzt?«

»Es geht mir gut«, stammelte sie und sah durch einen Tränenschleier zu ihm auf. »Ach, Robert, es war so schrecklich … Dieser Mann. Er ist irrsinnig.«

»Kommt vom Eingang weg! – Ist wirklich nur einer da drin?«

Die Stimme ließ sie zusammenfahren. Was machte Ian hier? Sie drehte den Kopf, weil sie es nicht glauben konnte. Warum war er nicht auf dem Schiff? Er stand unbeweglich, das Gewehr im Anschlag, und ließ den Tunneleingang nicht aus den Augen, als erwarte er, jeden Augenblick eine Horde Angreifer herausstürmen zu sehen.

»Nur er.«

»Nur ein Mann?« Ian entspannte sich sichtlich. »Den Burschen hole ich mir. Kommst du mit, Koar?«

»Halt, wartet.« Die unerwartete Autorität in Roberts Stimme ließ Koar und Ian innehalten.

Ian sah seinen Freund an. »Was ist? Befürchtest du einen Hinterhalt? Wir passen schon auf.«

»Wenn du jetzt da reingehst – willst du ihn einfach erschießen oder was?«

»Na, was sonst?« Ian wirkte verblüfft. »Der Kerl verdient es doch nicht besser. Er hat Dorothy entführt und wahrscheinlich …« Er warf Dorothea einen verlegenen Seitenblick zu, räusperte sich und fuhr mit spöttischem Unterton fort: »Oder willst du ihn zu Richter Cooper bringen? Damit der erklärt, dass er keinen Weg sieht, englisches Recht auf Schwarze anzuwenden, und ihn prompt wieder laufen lässt? Soll Dorothy ständig Angst haben müssen, dass er ihr wieder zu nahe tritt? Er hat den Tod mehr als verdient.«

»Er hat Sam getötet und ihm den Kopf abgeschnitten«, sagte Dorothea mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam. Sie holte tief Luft. »Vom hinteren Teil der Höhle führt ein Gang in eine kleine, abgetrennte Kammer. Dort sind noch mehr Köpfe und jede Menge seltsamer Malereien an den Wänden.«

Die drei Männer starrten sie nur stumm an. Dachten sie, sie hätte den Verstand verloren?

»Er ist ein Zauberer.« Koar hatte als Erster die Sprache wiedergefunden. »Tenberry hat einmal angedeutet, dass es gewisse Zauber gäbe, für die man Menschenköpfe bräuchte. Aber als ich weiterfragte, hat er gesagt, es sei besser, wenn ich es nicht wüsste.«

»Wenn das so ist, sollten wir hier nicht weiter herumstehen, sondern den Kerl zur Strecke bringen«, knirschte Ian wütend und schob seinen breitkrempigen Hut zurück. »Ich mochte Sam.«

Auch Robert hatte keine weiteren Einwände mehr, und so schlichen sie – Ian mit dem Gewehr im Anschlag voran, danach Koar mit einem geliehenen Säbel und zum Schluss Robert mit seiner leichten Jagdflinte – in die Wohnhöhle. Dorothea hatte kurz überlegt, draußen zu warten. Aber ihre Ortskenntnis würde den Männern von Nutzen sein. Also bezwang sie ihren Widerwillen, ihr Gefängnis noch einmal zu betreten.

»Durch den Gang dort hinten kommt man in die geheime Kammer«, flüsterte sie und wies auf den Felsspalt. »Am Ende ist ein Opossumfell, dahinter die Kammer. Seid vorsichtig, sie ist sicher voller Rauch. Ein ekliges Zeug, das einen fast erstickt. Ich weiß nicht, wie er es da drin so lange aushält.«

»Wenn man mit den Geistern spricht, braucht man diese Kräuter«, sagte Koar. Er schnüffelte wie ein Jagdhund. »Ich erinnere mich an diesen Geruch.«

»Dann los«, drängte Ian. »Wir sollten es ausnutzen, dass er benebelt ist.« Und schon hatte die Schwärze ihn verschluckt. Koar folgte ihm wortlos auf den Fersen.

Robert sah Dorothea fragend an. »Macht es dir etwas aus, hier allein zu bleiben? Es wird sicher nicht lange dauern.«

Sie hatte schon den Mund geöffnet, um ihm zu sagen, dass sie das auch noch aushalten würde, als aus dem Inneren des Berges eine Explosion, gefolgt von einem markerschütternden Schrei zu hören war. Ohne einen Augenblick zu zögern, rannten sie beide an den Ort des Geschehens. Dichter Rauch waberte ihnen entgegen und sagte Dorothea, dass der Vorhang aus Opossumfell nicht mehr an seinem Platz war.

Robert stolperte als Erster in die Kammer und blieb so abrupt stehen, dass Dorothea gegen seinen Rücken prallte. Es war so gut wie unmöglich, sich zu orientieren. Außer dem beißenden Rauch des Zauberfeuers hing immer noch ein Schleier aus pulverisiertem Gestein in der Luft. Im hinteren Teil hatte der Gewehrschuss einen größeren Teil der Wand abgesprengt und einen Felssturz verursacht. Überall lagen kleinere und größere Trümmerbrocken. Direkt unter dem neuen Ausbruch, in den Rauchschwaden seines Feuers, lag der Skelettmann reglos auf der Seite. Auf seinem Rumpf war die weiße Bemalung von etwas Dunklem verschmiert. Er rührte sich nicht. Auf die Entfernung war nicht zu erkennen, ob er noch atmete.

»Ian?« Robert sank vor Dorothea auf die Knie, und jetzt erst sah sie, was Robert so plötzlich hatte innehalten lassen. Unmittelbar vor ihnen lehnte Ian halb zusammengesunken an der Wand und stöhnte schwach. Robert fühlte zuerst nach seinem Herzschlag, bevor er ihn nach Verletzungen absuchte.

»Ian, mein Junge. Kannst du mich hören? Bist du verletzt?«

»Glaub nicht«, nuschelte Ian und zog dann doch schmerzhaft den Atem ein, als Roberts Finger seinen Kopf abtasteten. »Ein Stein muss mich erwischt haben.«

»Du hast Glück gehabt«, sagte Robert ruhig und deutete auf Ians schwarzen Filzhut, der zu Boden gefallen war. »Der da hat das Schlimmste verhütet.«

»Wo ist Koar?«, fragte Dorothea. »Ich sehe ihn nicht.« Tatsächlich war von ihm keine Spur zu sehen.

»Als ich rein bin, war er direkt hinter mir.« Ian sah sich um. »Dieser Bastard! Hat er ihm was getan?«

Ein heftiger Hustenanfall aus der Opossumfelldecke, die unbeachtet neben dem Eingang gelegen hatte, ließ alle erleichtert aufatmen. »Er muss sich in dem Zeug da verheddert haben, als das Stück Decke runterkam«, meinte Ian. »Alles in Ordnung mit dir, Koar?«

Er wollte aufspringen, um Koar zu Hilfe zu kommen, sank aber sofort wieder zurück. »Verdammt, ich fühle mich, als hätte mich ein Pferd getreten!«

»Bleib liegen. Ich helfe ihm.« Robert hinkte hinüber zu dem Fellhaufen, als plötzlich ein leises, bösartiges Zischen zu vernehmen war und er, ohne einen Laut von sich zu geben, unvermittelt zu Boden sank. Aus seinem Rücken ragte ein Speer, auf den ersten Blick harmlos – und dennoch hinterhältig gefährlich.

Zu keiner Reaktion fähig starrte Dorothea auf den zusammengesunkenen Körper. Langsam, sehr langsam wandte sie den Kopf und sah den Skelettmann, halb auf ein Knie aufgerichtet, vor Triumph grinsen.

Es war keine bewusste Entscheidung. Ehe auch nur einer der anderen reagieren konnte, hatten ihre Finger das Messer aus Ians Stiefelschaft gezogen. Die schimmernde Klinge beschrieb einen eleganten Bogen, ehe sie sich mit einem kaum hörbaren »Plopp« in die Halsschlagader des Skelettmannes bohrte. Seine dunklen Augenhöhlen schienen sie, und nur sie, anzusehen, als er sehr langsam eine Hand hob und das Messer mit einem kräftigen Ruck herauszog.

Eine schwarze Fontäne stieg auf, einige Herzschläge lang plätscherte sie wie das Wasser im Springbrunnen im alten Schlosspark, ehe sie schwächer wurde und versiegte. Wenn auch heftig schwankend hatte er sich doch überraschend lange aufrecht gehalten. »Ströme von Blut«, hauchte er, während er fast erstaunt auf die dunkle Flüssigkeit sah, die aus seinem Körper geströmt war und die weiße Farbe seiner Körperbemalung fast vollkommen überdeckte. »Ströme von Blut sind es wirklich.«

Als er rücklings in die Blutlache fiel, spritzte es in alle Richtungen. Ein besonders großer Spritzer traf die Wand mit der Malerei. Ein dunkler Streifen lief über die unebene Fläche, bis er genau im Maul der Riesenschlange endete. Es sah aus, als züngelte sie.

»Robert?« Dorothea kroch auf ihn zu, weil sie ihren Beinen nicht traute. Ängstlich streckte sie eine Hand aus, um sich zu vergewissern, dass er noch lebte. Nicht weit unter der rechten Schulter ragte der Speer aus seinem Rücken. Gott sei Dank, er war nicht am Bauch verletzt. Irgendjemand hatte ihr einmal erzählt, Schulterverletzungen seien selten tödlich, und daran klammerte sie sich jetzt mit aller Kraft.

»Robert, kannst du mich hören? Hast du Schmerzen?« So, wie er da lag, konnte sie ihn nicht einmal richtig ansehen. Kurz entschlossen packte sie den Speergriff, um ihn herauszuziehen und ihren Mann auf den Rücken zu drehen.

»Nicht! Lass ihn um Gottes willen stecken!« Ian packte sie schmerzhaft am Unterarm und riss ihre Hand zurück. »Wenn die Spitze ein größeres Blutgefäß verletzt hat, verblutet er sonst sofort.«

»Was können wir nur tun?« Vor Verzweiflung rang sie die Hände. »Hilf ihm, Ian!«

»Was ist denn los?« Koar hatte es endlich geschafft, sich aus den Falten der Decke zu befreien. »O verdammt!« Mit seinen zerzausten Haaren und dem entgeisterten Gesichtsausdruck wirkte er nicht gerade kompetent. Dennoch war er es, der als Einziger zumindest über rudimentäre medizinische Kenntnisse verfügte. Wenn jemand von ihnen Robert helfen konnte, war es Koar.

»Der Bastard hat ihn mit einem Speer erwischt«, erklärte Ian grimmig. »Du hast doch Ahnung von Medizin. Was sollen wir tun?«

»Mir auf die Beine helfen.« Es war nur ein heiseres Wispern, kaum verständlich. Roberts Augen waren geöffnet, und ein schwaches Lächeln spielte um seine bleichen Lippen.

»Halleluja! Willkommen im Leben, alter Knabe«, brach es aus Ian mit rauer Herzlichkeit hervor. Er sah Koar an. »Hilfst du mir, ihn aufzusetzen?«

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist.« Koar sah besorgt aus. »Ich würde ihn vorher gerne untersuchen.«

»In Gottes Namen, tu, was du für nötig hältst.« Ian schien nicht überzeugt, nahm jedoch Dorotheas Arm und zog sie mit sich beiseite, um Koar Platz zu machen. Der öffnete mit flinken Fingern Roberts Reitrock und Hemd. Seine Brust war unverletzt, der Speer war nicht durchgedrungen. Koar nickte zufrieden und beugte sich vor, um sein Ohr an Roberts Brust zu legen. Er lauschte lange. So lange, dass Dorothea Angst bekam. Schließlich hielt sie die Anspannung nicht mehr aus. »Was ist? Was hörst du?«

Koar schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. Dass er ihren Blick mied, sagte nur zu deutlich, dass es schlecht um Robert stand. Dennoch wollte sie es nicht wahrhaben.

»Es gibt hier jede Menge Kräuter«, sagte sie eifrig. »Ich weiß, wo er sie aufbewahrt. Damit kannst du doch sicher etwas anfangen. Ich hole sie dir.« Sie musste etwas tun. Sie konnte doch nicht einfach nur dasitzen und warten.

Koar sah sie an und schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. Lass es, sagte er stumm. Behutsam zog er Roberts Kleidung wieder zurecht, rollte die Opossumdecke zusammen und schob eine Ecke unter den Kopf des Verletzten, um ihn bequemer zu lagern. Robert hatte die Augen wieder geschlossen, als schliefe er. Nur die steile Falte über der Nasenwurzel zeigte, dass er bei Bewusstsein war.

Plötzlich hustete Robert. Und dann quoll blutiger Schaum aus seinem Mund. Mühsam rang er um Luft, versuchte etwas zu sagen, die Augen fest auf Koar geheftet. »Tödlich?« Er war kaum zu verstehen, aber die Augen blickten so klar, dass kein Zweifel darüber bestand: Robert Masters wollte die Wahrheit wissen.

»Es tut mir leid. Die Lunge ist verletzt. Mehr kann ich nicht sagen.« Koar erwiderte den Blick offen. »Ich bin kein Arzt, Mr. Masters. Aber unter diesen Umständen …«

»Bin kein Idiot.« Es war mehr ein Röcheln. Jeder Atemzug schien ihm jetzt schwerzufallen. Er schloss die Augen wieder, aber Dorothea war der Schmerz in ihnen nicht entgangen. Vorsichtig nahm sie seine Hand. Sie fühlte sich seltsam heiß an. Er drückte sie erstaunlich fest, ehe er die Augen wieder öffnete und flüsterte: »Ian.«

»Ja, Robert?« Koar hatte sich taktvoll entfernt und betrachtete angelegentlich die Wandmalerei. Ian und Dorothea waren mit Robert allein.

Robert tastete mit seiner freien Hand nach Ians Hand und packte sie.

»Kümmere dich um sie! Versprochen?« Die beiden Männer tauschten einen langen, stummen Blick. Dann nickte Ian und sagte: »Ich verspreche es dir.« Robert wollte etwas erwidern, aber ein weiterer quälender Hustenanfall hinderte ihn daran. Noch mehr blutiger Schaum rann ihm aus dem Mundwinkel und tropfte auf das Opossumfell.

»Versuch nicht zu sprechen, Liebling«, bat Dorothea ihn, halb wahnsinnig vor Sorge. »Wir werden alles tun, was du willst. Werde nur wieder gesund.«

Der Anfall verebbte. Zu ihrer Verwunderung sah sie so etwas wie Mitleid in seinen Augen, als er leicht den Kopf schüttelte. »Verzeih mir, Liebste. Ich liebe dich«, flüsterte er, bevor er erneut Ian fixierte. »Tu mir einen Gefallen und zieh das Ding raus! Will nicht elend krepieren …«

Ian wurde totenblass. »Das kannst du nicht von mir verlangen!«

»Bist du … Freund?«

Das Blickduell der beiden Männer währte nur kurz. Dann neigte Ian in einer Geste der Ergebung den Kopf. Und ehe Dorothea begriff, was er vorhatte, trat er hinter Roberts ausgestreckten Körper und riss mit einem lauten Schrei voller Schmerz und Trauer den Speer heraus.

Roberts Körper zuckte. Seine Hand wurde plötzlich schlaff. Fassungslos sah sie auf. »Was hast du nur getan, Ian?«, schrie sie ihn an.

»Hast du nicht gehört, wie er mich darum gebeten hat«, schrie er zurück. Er ließ den Speer fallen, rollte sich auf dem Boden zusammen, verbarg das Gesicht in den Armen und schluchzte hemmungslos.

»Du Mörder!« Außer sich vor Zorn wollte Dorothea sich auf ihn stürzen, aber Koar fing sie ab und hielt sie fest. Ohne darüber nachzudenken, schlug sie mit ihren Fäusten auf ihn ein, schrie all ihren Zorn heraus. In stoischer Ruhe ertrug er ihren Ausbruch. Hielt sie einfach nur fest, bis der Sturm vorüber war. Erst als auch Ian sich wieder etwas gefangen hatte, ließ er sie los. »Dein Mann hat es so gewollt. Du solltest es respektieren«, sagte er ernst. »Ian, wir müssen hier weg. Die Explosion ist sicher nicht unbemerkt geblieben. Und gegen eine Gruppe von Kriegern haben wir keine Chance.«

»Du hast recht.« Ian rappelte sich schwerfällig auf, wischte sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht und sah stirnrunzelnd in die Runde. »Roberts Leichnam und Sams Kopf nehmen wir selbstverständlich mit, um sie anständig zu bestatten. Was machen wir mit den anderen da?«

»Hierlassen?«, schlug Koar vor.

»Ich weiß nicht … Es waren sicher brave Männer. Sie sollten nicht für irgendwelchen Hokuspokus herhalten müssen.« Ians Blick glitt über die Wände der Höhle.

»Vielleicht funktioniert es«, murmelte er vor sich hin.

»Du willst die Höhle sprengen?«

»Ich will es zumindest versuchen.«

Dorothea stand starr wie eine Statue daneben, während Ian und Koar Roberts Leichnam in die Opossumfelldecke hüllten und dann unschlüssig Sams Kopf auf dem makabren Räuchergerüst betrachteten. »Am besten tun wir ihn in ein yammaru«, meinte Koar. »Mit genügend Eukalyptusblättern sollte es gehen.«

»Ich hole es.« Es waren die ersten Worte, die Dorothea seit ihrem Ausbruch von sich gab. Ohne eine Reaktion abzuwarten, schlüpfte sie in den Gang. Als sie mit dem Netz voller Blätter wiederkam, hatten Ian und Koar in der Zwischenzeit die Köpfe in den Teil der Höhle getragen, in dem die Leiche des Skelettmanns neben dem immer noch qualmenden Feuer lag. Koar war gerade damit beschäftigt, die Wandmalerei mit gelber Ockerfarbe zu übertünchen. Ian begutachtete die Risse und Spalten in der Felswand, die er zum Einstürzen bringen wollte.

Keiner von beiden machte Anstalten, ihr zu helfen. Mit gemischten Gefühlen näherte Dorothea sich Sams Kopf. »Es war Sam«, sagte sie sich energisch und zwang sich, ihn zu packen und aus dem aufsteigenden Rauch zu heben.

Es war nicht so schrecklich, wie sie erwartet hatte. Die Haut fühlte sich warm und lederartig an, leicht rau. Dennoch war sie erleichtert, als sie ihn in das Netz gelegt und mit den intensiv duftenden Blättern zugedeckt hatte. Der Eukalyptusgeruch überdeckte teilweise den pervers anmutenden nach geräuchertem Schinken.

»Ich bin fertig«, sagte sie.

»Gut, wir kommen.« Koar ließ den Farbtopf samt Fellpinsel fallen. »Ian?«

Zu zweit schleiften und trugen sie Roberts Leichnam durch den engen Gang und aus der Höhle. Es war nicht einfach, ihn auf den Rücken seines Reitpferdes zu hieven. Wie alle Pferde mochte es den Geruch von Blut und Tod nicht und war nur mit viel gutem Zureden dazu zu bringen, seine traurige Last zu akzeptieren.

Mit den drei Pferden machten Koar und Dorothea sich schon an den Abstieg, während Ian in die Höhle zurückkehrte, um den schrecklichen Ort endgültig zu verschließen. Keiner von beiden sprach. Auch nicht, als ein dumpfes Grollen im Berg anzeigte, dass Ians Plan funktioniert hatte. Kurz darauf tauchte er, von Kopf bis Fuß mit feinem Staub bedeckt und heftig hustend, hinter ihnen auf. Nur ein kurzes Nicken zum Zeichen, dass alles nach Plan verlaufen war, und dann übernahm er die Zügel von Roberts Pferd, um sich an die Spitze der kleinen Karawane zu setzen.

Dorothea war die Einzige, die sich noch einmal umdrehte, als sie den Wald hinter sich ließen und auf die weite Grasebene hinausritten. Der Berghang wirkte absolut unberührt, als sei nichts von alledem wirklich geschehen. Nur ein Schwarm schneeweißer Kakadus flatterte wild kreischend über dem Bereich, in dem die Höhle gelegen hatte.