16

Als sie diesen Entschluss beim Abendbrot verkündete, stieß sie damit auf Unverständnis und Heathers entschiedenen Protest. »Ich will noch nicht zurück«, erklärte Heather entschieden. »Erst muss Mr. Rathbone sein Versprechen einlösen und mir ein eigenes kleines Messer machen.«

»Daraus wird sowieso nichts, Heather. Mr. Rathbone musste wegen dringender Geschäfte abreisen«, sagte Dorothea.

»Was? Und er hat sich noch nicht einmal von mir verabschiedet?« Die Enttäuschung des Mädchens war offensichtlich.

»Manchmal muss es sehr schnell gehen«, warf Mutter Schumann begütigend ein. »Es tut ihm sicher sehr leid, dass er keine Zeit mehr dafür hatte.«

»Wieso musste er überhaupt auf einmal abreisen? Als wir ihn vorgestern trafen, hat er nichts davon gesagt.« Lischen warf ihrer Schwester einen argwöhnischen Blick zu. »Habt ihr euch etwa gezankt, Doro?«

»Nein, das haben wir nicht. Wie kommst du überhaupt auf eine solche Idee? – Ich habe nur Sehnsucht nach Eden-House und meine, wir können deinen Vater nicht noch länger allein mit Tante Arabella und Mrs. Perkins lassen. Findest du nicht auch, Heather?«, versuchte Dorothea ihrer Stieftochter die neue Wendung schmackhaft zu machen. »August, könntest du uns dann morgen mit dem Gig hinbringen?« Das Gig war ebenso wie das Kutschpferd in Robert Masters’ bevorzugtem Mietstall in der Wakefield Street untergebracht und wartete dort auf seinen weiteren Gebrauch.

»Morgen?« Ihr Bruder wirkte nicht gerade angetan. »Morgen sollte ich mit dem Professor unsere Ausrüstung kaufen gehen. Du weißt doch, dass wir nächste Woche aufbrechen wollen. Ich habe wirklich keine Zeit. Frag im Mietstall. Dort werden sie dir sicher gerne einen Kutscher oder Pferdeknecht vermitteln.«

»Das wird nicht nötig sein. Ich kann sie begleiten«, sagte Koar unvermittelt.

»Das ist sehr nett von dir, Koar«, erwiderte Dorothea überrascht von dem unerwarteten Angebot. »Aber hast du nicht Unterricht?«

Das Lächeln, das über seine schwarzen Züge glitt, war unmissverständlich ironisch. »Bei einem Kaurna wird nicht erwartet, dass er zuverlässig ist. Karl kann sagen, dass ich auf einem Trail bin. Niemand wird das bezweifeln.«

»Kannst du denn kutschieren?«

»So gut wie August allemal.« Koars weiße Zähne blitzten auf. »Ich habe hier und da im Mietstall geholfen, weil es mich interessiert hat, wie Pferde funktionieren.«

»Na, dann wäre das ja geklärt«, sagte August erleichtert und stand auf. »Mach’s gut, Schwesterherz. Wir werden uns länger nicht sehen.« Eine feste Umarmung für Dorothea, ein beiläufiges Tätscheln der Schulter für Heather – und weg war er.

»Ich bin überaus froh, ihn die nächsten Wochen in guter Gesellschaft zu wissen«, bemerkte Mutter Schumann später zu Dorothea, als sie zu zweit die Reisekiste packten. »In letzter Zeit habe ich manchmal ein ungutes Gefühl gehabt, was den Hang deines Bruders zu zwielichtigem Umgang betrifft.«

»Das geht sicher vorüber«, versuchte Dorothea sie zu beruhigen. »Junge Burschen schlagen manchmal über die Stränge. Wenn er erst einmal verheiratet ist, wird er sicher ein Muster an Tugend sein.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, gab Mutter Schumann trocken zurück. »Aber bis dahin bleibt mir nur zu beten, dass ihm nichts Unwiderrufliches zustößt.«

Dorothea dachte an die Leichtfertigkeit, mit der ihr Bruder gewisse Etablissements besuchte, und konnte ihr im Stillen nur recht geben. »Zumindest für die nächsten Wochen brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen zu machen«, versuchte sie ihre Mutter zu beruhigen. »Mit Professor Menge wird er gar keine Zeit haben, auf dumme Gedanken zu kommen.«

Beim Aufbruch am nächsten Morgen war Heather dermaßen schlecht gelaunt, dass Dorothea sich zusammennehmen musste, um sie nicht anzufahren. Nach zwei nahezu durchwachten Nächten waren ihre Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Als das Mädchen aus Unachtsamkeit den Krug Limonade, die Mutter Schumann am Abend zuvor noch zubereitet hatte, umstieß, konnte sie nicht mehr an sich halten und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Nach einem Augenblick, in dem sie wie erstarrt dagestanden hatte, brach Heather in Tränen aus und rannte ins Haus zurück. »Verdammt«, fluchte Dorothea. Das würde Heather ihr vermutlich ewig übel nehmen. Warum war sie nur so unbeherrscht gewesen?

Sie fand ihre Stieftochter am ganzen Körper bebend, den Kopf im Schoß ihrer Mutter vergraben. »Ich will viel lieber bei dir und Lischen bleiben!«, stieß sie unter gewaltigen Schluchzern hervor. »Du schimpfst nie mit mir. Du bist lieb. Warum kannst du nicht meine Mama sein?«

In Dorothea stieg brennende Scham auf. Ihre Mutter strich der Kleinen liebevoll über die Flechten. »Dorothy meint es nicht böse, Kindchen. Sie ist nur manchmal etwas ungeduldig. Als sie klein war, war sie genauso ein Hitzkopf wie du. Weißt du, manchmal erinnerst du mich sehr an sie.«

»Es tut mir leid, Heather«, sagte Dorothea leise. »Wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich es tun. Wirklich.« Ein, zwei Sekunden vergingen, ehe Heather das tränenverschmierte Gesicht hob und sie anblickte. Auf ihrer rechten Wange zeichnete sich der Abdruck von Dorotheas Hand ab. Dorothea erschrak zutiefst über den Anblick. »Ich hoffe, ich habe dir nicht sehr wehgetan? Es war nicht meine Absicht.«

Heather schniefte kräftig, nahm das nasse Tuch, das Mutter Schumann ihr reichte, und wischte sich damit die Tränen ab. »Es geht«, sagte sie dann mit belegter Stimme. »Aber es war nicht gerade nett.«

»Nein, das war es nicht«, gab Dorothea ihr recht. »Vergibst du mir?«

Heather dachte ein wenig nach, ehe sie die Rechte ausstreckte und feierlich sagte: »Ich vergebe dir. – Aber nur dies eine Mal!«

»Danke. Abgemacht.« Die Zustimmung im Gesicht ihrer Mutter sagte ihr, dass sie das Richtige gesagt hatte.

Der eigentliche Abschied war schmerzlich. Lischen schenkte der neuen Freundin ihren Lieblingskreisel, ein mit Zwergen und Fliegenpilzen bemaltes Prachtstück. Zwar spielte sie seit einigen Jahren schon nicht mehr damit, aber sie hatte sich bisher noch nicht davon trennen können. Mutter Schumann hatte heimlich für sie einen kleinen Hund aus braunem Samt genäht, mit Knopfaugen und Ohren und Schwanz aus Wallabyfell. Um ein Haar wäre Heather nochmals in Tränen ausgebrochen. Und auch Dorothea rang um Fassung.

»Wir werden sie bald wieder besuchen«, versprach sie Heather. »Aber dein Vater braucht uns jetzt erst einmal dringender.«

Koar war tatsächlich ein ausgezeichneter Pferdelenker. Auf der neuen Straße kamen sie gut voran. Schon mittags passierten sie die Mautstelle bei Glen Osmond und erreichten die Herberge auf dem Mount Barker noch vor Anbruch der Dämmerung. Von hier aus gab es lediglich eine Fahrspur, die hinter der Abzweigung nach Strathalbyn kaum sichtbar durch die lichten Wälder führte.

»Ich wüsste gerne, ob der böse Mann immer noch da ist«, sagte Heather nachdenklich, als sie gerade an einem Busch vorüberfuhren, der über und über von grauen Spinnen bedeckt schien. Nur wenn man genauer hinsah, wurde deutlich, dass es keine Spinnen, sondern bizarr geformte Blüten waren. Abgelenkt von dem Anblick hatte Dorothea ihr gar nicht zugehört. Erst als Koar sie ernsthaft aufforderte, ihm diesen bösen Mann zu beschreiben, wurde sie aufmerksam.

»Er sah sehr seltsam aus, so ähnlich wie der kuinyo, den du mir aufgezeichnet hast«, erwiderte das Mädchen. »Dorothy hat ihn auch gesehen. Sie kann ihn sicher besser beschreiben.« Sie zupfte Dorothea am Ärmel. »Das kannst du doch, oder?«

»Was ist ein kuinyo?«, fragte Dorothea stattdessen neugierig.

»Ein Dämon, der nachts umherschleicht und jeden verschlingt, der sich aus dem Schutz des Feuers entfernt«, erklärte Koar. »In den Traumgeschichten wird er als Skelett mit einem aufgeblähten Bauch beschrieben. Die Kaurna haben schreckliche Angst vor ihm. Und nicht nur die Kinder …«

»Einen aufgeblähten Bauch hatte er nicht.« Sie versuchte, sich genau an sein Aussehen zu erinnern. »Er war groß. Ungewöhnlich groß. Und mager. Und er trug eine sehr auffällige Körperbemalung.« Schade, dass Koar nicht bei dem Picknick mit dem unglücklichen Ausgang dabei gewesen war: dann hätte sie ihm nur das Felsbild zeigen müssen. »Ja, man könnte sagen, er imitierte ein Skelett. Aber ich bin mir sicher, er war kein Geist.«

Sie lächelte schwach. »Dafür roch er viel zu intensiv nach ranzigem Opossumfett.« Seltsam, dass ihr dieses Detail erst jetzt wieder einfiel!

Koar sagte nichts dazu. Sein brütendes Schweigen hielt an, bis Heather schließlich die Geduld verlor. »Was meinst du nun? War es wirklich ein Geist, den wir gesehen haben?«

Er schreckte auf, als sei er in Gedanken sehr weit weg gewesen. »Wenn du wirklich dem kuinyo begegnet wärst, würdest du jetzt nicht neben mir auf dem Bock sitzen«, erwiderte er trocken. »Habe ich dir schon die Geschichte erzählt, wie mein Großvater mir beibrachte, Eidechsen zu fangen?«

Auf Eden-House wurden sie mit großer Freude begrüßt. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so vermissen könnte«, gestand Robert ihr unter vier Augen und zog sie stürmisch in seine Arme. »Mein Herz, du hast mir so gefehlt!«

»Du mir auch«, log Dorothea. »Deswegen habe ich es ohne dich nicht mehr ausgehalten. Ich konnte einfach nicht mehr warten, dass du uns holen kommst.« Sein glückliches Gesicht besänftigte ihre Gewissensbisse. Mit der Zeit würde sie lernen, Robert so zu lieben, wie er sie liebte.

Am nächsten Morgen verabschiedete Koar sich, um nach Adelaide zurückzukehren. Roberts Angebot, eines der Pferde zu nehmen, lehnte er ab. »Ich bin lange nicht mehr auf dem Trail gewesen«, sagte er eine Spur wehmütig. »Es ist an der Zeit, dass ich wieder die Erde unter meinen Fußsohlen spüre.«

Mit ihm verschwand auch das letzte Verbindungsglied zu ihrer Familie und zu Ian. Dorothea sah ihm betrübt nach, wie er mit den langen Schritten seines Volkes davonging. »Ein ungewöhnlicher Bursche«, konstatierte Lady Arabella. »Ich denke, er kann es weit bringen. – Mrs. Perkins wollte übrigens mit dir die Wäscheliste durchgehen, Liebes. Ich glaube, es fehlte irgendetwas.«

Der Alltag auf Eden-House nahm Dorothea schneller wieder in Anspruch, als sie erwartet hätte. Mrs. Perkins schien es darauf anzulegen, sie mit allen Aspekten eines größeren Haushalts vertraut zu machen. Als sie sich bei Robert darüber beschwerte, dass die Köchin doch früher nicht ständig alle Menüpläne und Einkaufslisten mit ihr hatte absprechen wollen, lächelte er und sagte: »Sie meint es nur gut! Sie fürchtete nämlich schon, du hättest dich vielleicht überflüssig gefühlt, weil sie immer alles über deinen Kopf hinweg bestimmt hatte. Wenn es dir zu viel wird, kannst du ihr ja sagen, dass du ihr freie Hand gibst.«

Auch Heathers Schulstunden wurden wieder aufgenommen. Zu Dorotheas Überraschung hatte das Mädchen einigen Ehrgeiz entwickelt. »Lischen hat gesagt, sie schreibt mir Briefe – aber nur, wenn ich es auch tue«, erklärte sie ihren neuen Eifer.

Drei Wochen nach ihrer Rückkehr setzte ihre Monatsblutung ein. Vor Erleichterung hätte sie singen und tanzen können. Stattdessen brach sie in Tränen aus. Dass es Freudentränen waren, konnte niemand ahnen. Robert, der ihren Ausbruch teilweise mitbekommen hatte, setzte sich, nachdem er den Grund dafür erfahren hatte, neben sie aufs Bett. »Weine nicht, mein Herz«, tröstete er sie etwas hilflos und legte den Arm um ihre bebenden Schultern. »Ich verstehe ja, dass du enttäuscht bist. Aber dass du so schnell wieder schwanger wirst, kannst du nicht erwarten. Hab Geduld. Es wird schon werden.«

»Ich will dir unbedingt Kinder schenken.« Dorothea sah zu ihm auf. »Du wünschst es dir doch so sehr, Robert.«

»Das stimmt, mein Herz.« Er tupfte ihr liebevoll mit seinem Brusttuch das nasse Gesicht trocken. »Aber habe ich dir nicht auch gesagt, dass du das Allerwichtigste für mich bist? Dein Glück kommt für mich an erster Stelle. Bitte, tu mir den Gefallen und lächle wieder. Es tut mir weh, dich so bekümmert zu sehen.«

Sie tat ihm den Gefallen. Es war so einfach, Robert glücklich zu machen. Warum konnte sie ihn nicht so lieben, wie er es verdiente?

Der Frühling wich einem heißen, trockenen Sommer. Jetzt machte sich die Nähe zum Murray River angenehm bemerkbar: Wassermangel wie in anderen Gebieten Südaustraliens gab es hier nicht. Wenn Sam die Schleusen zu den raffiniert ausgeklügelten Bewässerungskanälen für die Tränken auf den weiter entfernten Viehweiden öffnete, strömte stets ausreichend von dem kostbaren Nass. Wenn Robert Zeit hatte, und die nahm er sich jetzt häufig, ritt er mit Dorothea und Heather zum Fluss. Dort vergnügte die Kleine sich damit, Muscheln zu sammeln oder Fische nach Eingeborenenart mit der Hand zu fangen. Derweil saßen Dorothea und Robert im Schatten und unterhielten sich oder schlenderten Hand in Hand zu einem von den Steinplätzen, an denen die Ngarrindjeri angeblich geheimnisvolle Rituale durchführten. »Ich habe es noch nie selber gesehen, aber Moorhouse erzählte mir, dass an solchen Plätzen Geister angerufen werden, die dann auch tatsächlich erscheinen.« Robert grinste spitzbübisch. »Natürlich sind es in Wirklichkeit bemalte und maskierte Männer, aber in der Dunkelheit soll es ausgesprochen eindrucksvoll sein, wenn sie plötzlich zwischen den Dolmen auftauchen, als wären sie vom Himmel gefallen. Dazu scheinen sie einige magische Tricks zu beherrschen, die für einfache Gemüter äußerst beängstigend sein sollen.«

»Zum Beispiel?«

»Sie werfen etwas ins Feuer, dass es meterhoch auflodert und dabei seine Farbe verändert. Oder sie lassen Geisterstimmen sprechen – vermutlich beherrschen sie also auch die Kunst des Bauchredens. Wie auch immer, dieser Platz hier dürfte schon lange aufgegeben sein.«

Das war Dorothea nur zu recht. Ein Platz wie die Kultstätte auf dem Weg nach Glenelg in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wäre ihr alles andere als lieb gewesen.

Die Adventszeit begann und erinnerte sie schmerzlich an die letztjährige. War es wirklich erst ein Jahr her, dass sie mit Jane so unbeschwert durch den Busch gewandert waren? Dass sie Miles Somerhill kennengelernt hatte? Beim letzten Weihnachtsfest waren sie noch eine Familie gewesen. Ihr Vater hatte den Weihnachtsgottesdienst gehalten, und danach hatte es ein Festessen gegeben. Das Leben hatte voller Versprechungen vor ihr gelegen. Sie gab sich große Mühe, ihre Anflüge von Melancholie vor Robert zu verbergen. Er verlangte so wenig von ihr, da war es das Wenigste, was sie tun konnte, ihm nicht mit trübsinnigem Gesicht zu begegnen.

»Hast du irgendwelche besonderen Pläne für Weihnachten, Liebes«, erkundigte Lady Chatwick sich eines Abends, wobei sie sich mit einer Serviette Kühlung zufächelte. »Puh, ist das heiß! Bei dieser Witterung könnte man glatt vergessen, dass es auf Weihnachten zugeht.«

»Nein, sollte ich?« Dorothea sah Robert fragend an. »Ich dachte, ich passe mich den Gepflogenheiten auf Eden-House an.«

»Allzu viele davon gibt es hier nicht«, erwiderte er fast bedauernd. »Ein Mistelzweig würde ja auch nicht allzu viel Sinn ergeben. In den letzten Jahren haben wir uns auf ein gutes Essen beschränkt. Obwohl Eiergrog und Christmaspudding bei diesen Temperaturen natürlich nicht ganz das Passende sind.«

»Aber es gehört doch irgendwie dazu«, protestierte Lady Chatwick. »Ohne Grog und Pudding ist es einfach kein Weihnachtsfest.«

»Mrs. Perkins ist ganz deiner Ansicht. Deswegen steckt sie ja auch immer eine fette Gans in die Bratröhre«, bemerkte Robert trocken.

»Was ist dir denn an Weihnachten wichtig, Heather?«, fragte Dorothea, die sich wunderte, wieso ihre Stieftochter sich am Gespräch nicht beteiligt hatte. Sie konnte sich gut erinnern, wie sie sich früher immer schon Wochen vorher auf das Fest gefreut hatte. Heather hingegen wirkte ausgesprochen desinteressiert an dem Thema.

»Nichts.« Heathers brüske Antwort befremdete Dorothea. Sie warf Robert einen Blick zu. Der schüttelte kaum merklich den Kopf, um ihr zu bedeuten, nicht weiter in sie zu dringen.

»Als ich klein war, wimmelte es zu Hause über die Feiertage immer vor lauter Besuchern«, sagte er später in ihrem Schlafzimmer. »Darunter jede Menge Cousins und Cousinen. Wir hatten viel Spaß damals.« Robert lächelte schief. »Vom nächtlichen Schlittschuhlaufen auf dem Dorfweiher bis hin zu heimlichen Ausflügen in die Speisekammer. Hier haben wir leider keine Gäste, und schon gar nicht im passenden Alter für Heather. Es ist kein Wunder, dass Weihnachten ihr nichts bedeutet. Für sie ist es ein Tag wie jeder andere.«

»Wie traurig!« Dorothea erinnerte sich an die Winterabende, an denen die Familie in Dresden bis spät in die Nacht bei Früchtebrot und Apfelpunsch zusammengesessen und Weihnachtslieder gesungen hatte. Auch bei ihnen waren Gäste ein und aus gegangen: meist Kollegen des Vaters und ihre Angehörigen. Alt und Jung hatten bei den Scharaden und Pfänderspielen mitgemacht und sich dabei königlich amüsiert. Nur das letzte Weihnachtsfest hatte sich von allen vorhergehenden unterschieden: Es waren dieselben Weihnachtslieder gewesen, dieselben Mandelplätzchen wie die, die ihre Mutter jedes Jahr zu backen pflegte – dennoch hatten sie alle das Gefühl gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

»Mitten im Sommer Weihnachten zu feiern ist irgendwie verrückt«, hatte Karl die allgemeine Empfindung in Worte gefasst.

Sie hatten das Beste daraus gemacht: Der Punsch wurde eben kalt getrunken, und ihr Vater hatte launig bemerkt, dass es doch eigentlich etwas Wunderbares an sich hätte, wenn in ihre Lieder auch die Vögel mit einstimmten. Überhaupt: ihr Vater! Ohne ihn konnte sie sich Weihnachten gar nicht vorstellen. Wer sonst sollte »Vom Himmel hoch« anstimmen? Wer sonst mit verschmitztem Lächeln die Keksdose aus ihrem Versteck holen, das jeder kannte?

Selbst Jane, die immer behauptete, die Weißen wüssten nicht zu feiern, war tief beeindruckt gewesen. Weniger von den Gesängen als von der Gemeinsamkeit. »Bei uns würde kein Mann sich herablassen, mit seiner Familie einen ganzen Abend zusammenzusitzen«, hatte sie bemerkt. »Vielleicht mit seinem Lieblingssohn. Aber nie mit seiner Frau und den Töchtern. Siehst du, deswegen liebe ich Tim so: Er behandelt mich nicht wie eine Frau.«

Dorothea wusste, was Jane damit meinte: Tim Burton sah in ihr nicht bloß eine wertlose Sklavin.

»Du siehst plötzlich so betrübt aus, Liebste«, unterbrach Robert die Flut der Erinnerungen, die in ihr aufstieg. »Ist es wegen Heather? Glaube mir, das ist unnötig: Sam und ich haben eine wunderhübsche kleine Ponystute für sie ausgesucht und zugeritten. Sie wünscht sich doch schon so lange ein eigenes Pferd. Jetzt ist sie endlich alt genug dafür. Ich bin sicher, das wird sie glücklich machen.« Er streckte die Arme nach ihr aus. »Wahrscheinlich wirst du dann größte Mühe haben, sie überhaupt noch ins Schulzimmer zu bekommen.«

»Das macht nichts. Hauptsache, sie ist glücklich.« Dorothea schmiegte sich bereitwillig an ihn. »Und du? Was würde dich glücklich machen?«

»Weißt du nicht, dass du mich bereits zum glücklichsten Mann von Südaustralien gemacht hast?«, raunte er mit vor Leidenschaft rauer Stimme und schob sie in Richtung Bett.

Als ihr Mann ein paar Tage vor Weihnachten erklärte, noch einmal nach Adelaide reisen zu müssen, und dabei einen verschwörerischen Blick mit seiner Tante tauschte, empfand Dorothea spontan Erleichterung. Erleichterung darüber, ein paar Nächte allein verbringen zu können, keine Leidenschaft vortäuschen zu müssen, die sie nicht empfand.

Der ersten Monatsblutung nach der Nacht mit Ian im Park, die sie noch freudig begrüßt hatte, war inzwischen eine weitere gefolgt. Ihre Enttäuschung war mindestens so groß gewesen wie Roberts. Vielleicht noch größer, denn der unbändige Wunsch, endlich von ihm schwanger zu werden, hatte dazu geführt, dass der eheliche Akt für sie schleichend, fast unbemerkt, vom Vergnügen zur Pflicht geworden war. Dorothea war dazu übergegangen, ihm ihren Höhepunkt vorzuspielen. Sie wollte nicht, dass ihr Mann sie mit Fragen bedrängte, auf die es nur Lügen als Antwort gegeben hätte.

Ihr Körper schien sich ihrem Willen zu entziehen. Und wenn sie sich noch so bemühte, Lust zu empfinden: Er blieb im Innersten kalt und unbeteiligt. Es war ihr völlig unverständlich, denn es war ja keineswegs so, dass sie Widerwillen gegen ihren Mann empfand.

Aus einer Art Verzweiflung heraus hatte sie ihn letzten Sonntagmorgen sogar verführt. Es war nicht schwer gewesen. Miles hatte es immer besonders geschätzt, wenn sie sein Glied mit der Hand gestreichelt hatte. Daran hatte sie sich erinnert und sich an Roberts schlafwarmen Rücken geschmiegt. Anschließend hatte sie ihre Rechte unter sein Nachthemd gleiten lassen. Sobald sie gefunden hatte, was sie suchte, hatte er auf die Berührung reagiert, bevor er halbwegs wach gewesen war. Er hatte keinen Versuch gemacht, sich ihr zu entziehen. Stattdessen hatte er sich langsam, sehr langsam, als hätte er Angst, dass sie ihren Griff sonst lösen würde, umgedreht und sie angesehen.

Errötend hatte sie dem Blick standgehalten. »Ich hoffe, der Herr hat gut geschlafen?«, hatte sie gefragt. »Hat er. Und die gnädige Frau?« Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, hatte Robert träge seine Hand zwischen ihre Beine geschoben und seinerseits begonnen, sie zu streicheln.

Aufs Äußerste erregt hatte sie darauf gehofft, den Bann brechen zu können, endlich wieder die Lust zu empfinden, die sie vorher für selbstverständlich gehalten hatte und die sich ihr jetzt so widerspenstig verweigerte. Aber erneut war im unpassendsten Moment Ians Gesicht vor ihrem inneren Auge erschienen. Verfluchter Kerl! Man könnte glauben, er hätte sie mit einem Zauber belegt wie dem, von dem Jane erzählt hatte. Danach konnte der Verzauberte nur noch an die eine Person denken. Niemand anderes zählte für ihn, niemand anderes konnte seine Leidenschaft wecken. Man musste in einem solchen Fall nach dem Zauber suchen, hatte Jane ganz ernsthaft erklärt. Meist handelte es sich dabei um eine Lehmkugel, in der außer dem Fluch noch Haare oder Fäkalien des Verfluchten eingeknetet waren. Diese Lehmkugel musste man zerstampfen und die Reste in alle Winde verstreuen, um die Wirkung zu neutralisieren. Sobald das geschehen war, wäre alles wieder in schönster Ordnung.

Wenn das nur so einfach gewesen wäre!

»Du wirst doch nicht jetzt vor Weihnachten krank werden, Liebes?«, erkundigte Lady Chatwick sich, besorgt über Dorotheas Blässe. »Soll ich Mrs. Perkins bitten, dir einen von ihren vorzüglichen Toddies zu machen?«

Dorothea winkte schaudernd ab. Lady Arabella war ein großer Anhänger dieses fürchterlichen Gebräus aus Rotwein, Ei und Zucker. In ihren Augen gab es nichts Besseres, um Leib und Seele gleichermaßen zu stärken. »Nein? Dann werde ich mir einen holen. Ich fühle mich gerade etwas schwach.« Zur Untermalung griff sie sich an die Stirn und rauschte in Richtung Küche.

Als Dorothea den Flur entlang zum Schulzimmer ging, wunderte sie sich, dass die Tür zu einem der unbenutzten Zimmer im hinteren Teil des Hauses offen stand. Sie ging hin und wollte sie wieder schließen, als sie Mrs. Perkins und Trixie eifrig damit beschäftigt sah, die Betten zu lüften und die Schutzhüllen von den Möbeln zu ziehen. »Du kannst dann nachher noch schnell die Kommode abstauben«, sagte Mrs. Perkins gerade, als sie Dorothea bemerkte. »Guten Morgen, Ma’am.«

Dorothea sah sich neugierig in dem Raum um, den sie noch nie vorher betreten hatte. Ein großes Bett stand darin, eine Sitzgarnitur, eine Spiegelkommode mit Marmorplatte und einer Waschgarnitur aus Wedgewood-Porzellan. »Erwarten wir Besuch?«, fragte sie eine Spur ironisch.

»Nicht dass ich wüsste, Ma’am. Ich wollte nur vor den Feiertagen alles ordentlich und sauber haben«, erwiderte Mrs. Perkins ungerührt. »Haben Sie mich gesucht? Brauchen Sie etwas?«

»Nein, lassen Sie sich nicht stören«, sagte Dorothea und überließ die beiden Frauen kopfschüttelnd ihrer schweißtreibenden Tätigkeit. Sie hatte Mrs. Perkins immer für eine praktische und vernünftige Frau gehalten. Was war nur in sie gefahren, dass sie ausgerechnet jetzt meinte, einen Hausputz ansetzen zu müssen? Gehörte das zu ihren Vorstellungen von Weihnachten?

Zwei Tage später wurde klar, weswegen Mrs. Perkins und Trixie die Mühe auf sich genommen hatten: Als Robert vorfuhr, kletterte nicht nur er vom Bock, sondern er wurde von Mutter Schumann, Lischen, Karl und Koar begleitet. »Ich dachte mir, es wäre schön, wenn wir das Weihnachtsfest zusammen feiern könnten«, sagte er, als Dorothea und Heather freudestrahlend die Verandatreppe hinunterliefen, um die unerwarteten Gäste zu begrüßen.

Dorothea fehlten die Worte, sie fiel ihm nur um den Hals.

»Willkommen, willkommen! Ich freue mich, Sie endlich auch kennenzulernen, Mrs. Schumann.«

Lady Chatwick streckte majestätisch die Hand aus. »Vielleicht können wir uns später auf ein kleines Schwätzchen zurückziehen? Bei einem Gläschen Claret?«

Dorothea unterdrückte ein Kichern, als sie den fragenden Blick ihrer Mutter auffing.

Engländer kannten die Sitte des »Heiligen Abends« nicht. Das wussten sie noch von ihrem ersten Weihnachtsfest in Adelaide. Umso überraschter waren sie alle, als Robert Masters sie am Abend des 24. Dezembers statt ins Esszimmer in den großen Salon bat. Dort stand eine kerzengerade gewachsene Tanne. Natürlich war es keine richtige Tanne, sondern ein einheimischer Nadelbaum – über und über mit roten Schleifen, vergoldeten Nüssen und Naschwerk geschmückt.

»Ein Weihnachtsbaum!« Lischens Augen weiteten sich entzückt bei seinem Anblick. »Dürfen wir das Süße auch essen? Oder ist es nur zum Angucken?«

»Selbstverständlich darfst du das«, erwiderte Robert amüsiert. »Aber möchtest du nicht vorher dein Geschenk auspacken?«

Jetzt erst bemerkten sie die mit bunten Schleifen verzierten Schachteln unter den Zweigen.

»Das war in der Kiste, die so schwer war?« Karl sah seinen Schwager unsicher an. »Wir haben leider keine Geschenke für dich.«

»Dass ich eure Schwester heiraten durfte, ist das größte Geschenk für mich«, sagte Robert leise und griff nach Dorotheas Hand, um sie dicht neben sich zu ziehen. »Nichts könnte das aufwiegen. – Frohe Weihnachten!«

Gerührt sah Dorothea zu, wie eine Schachtel nach der anderen ihren Adressaten fand. Robert hatte wirklich an alles gedacht: für Lischen Marzipankonfekt; Karl fand eine komplette Zeichenausrüstung für unterwegs in seinem Päckchen; Koar ein medizinisches Kompendium; Mutter Schumann blickte sprachlos vor freudiger Überraschung auf einen indischen Schal aus feinster Kaschmirwolle, so dünn und leicht wie Seide; Lady Chatwick packte erfreut den Mord in der Rue Morgue aus; und für Heather war in der größten Schachtel ein komplettes Reitkostüm versteckt.

Auch für Dorothea lag ein eher unscheinbarer Karton mit einer goldfarbenen Schleife in dem stacheligen Grün versteckt. Als sie das Band löste und den Deckel hob, keuchte sie erschreckt. »Robert, nein! Das ist doch viel zu kostbar!«

»Keineswegs. Es ist absolut angemessen«, sagte er und verbeugte sich leicht. »Darf ich es dir anlegen?«

»Du siehst damit aus wie eine Prinzessin«, stellte ihre Schwester fest, nachdem sie sie kritisch beäugt hatte. »Es glitzert wie die Sonne auf dem Wasser. Ist es ein besonderes Glas?«

Lady Chatwick schnaufte, empört über diese Ignoranz, laut und vernehmlich auf. »Das sind Diamanten, Kind«, belehrte sie Lischen. »Und zwar welche von reinstem Wasser, wie man zu sagen pflegt. Deswegen funkeln sie auch so.«

Das Collier schmiegte sich schwer und kalt um Dorotheas Hals und Nacken. »Für meine Königin«, sagte Robert und hauchte einen Kuss auf ihre nackte Schulter. »Lischen hat nicht übertrieben.«

»Natürlich musst du ihr später auch passende Ohrgehänge dazu schenken«, bemerkte Lady Chatwick. »Vielleicht zur Geburt des ersten Kindes? Und beim zweiten dann ein Armband und beim dritten ein zweites.«

»Würdest du diese Einzelheiten mir überlassen, Tante Arabella?« Robert klang ein wenig ungehalten.

»Natürlich, mein Lieber. Es ist nur so, in unserer Familie war es immer üblich …«

Mrs. Perkins räusperte sich energisch in der offenen Tür und erklärte, dass angerichtet sei und es schade wäre, wenn das Essen kalt würde. Niemand beging den Fehler, den Befehl als solchen nicht zu erkennen. Gehorsam begaben sich alle ins Esszimmer, wo der Anblick der überquellenden Platten und Schüsseln auf der Anrichte nicht nur Lischen die Sprache verschlug. So üppig war es im Hause Schumann nie zugegangen.

Die Köchin hatte sich selbst übertroffen.

Krossbraun und duftend lag eine gebratene Gans in der Mitte und sandte appetitanregende Duftschwaden aus. Rechts von ihr dampften gebackene Kartoffeln, Blumenkohl in weißer Soße, gedünsteter Kohlrabi, grüne Bohnen mit Speck und in Butter geschmorte Karotten. Links standen Gurkensalat, eine Schüssel mit grünem Salat und Kräutern, eine Schale Yorkshirepudding, frische Haferbrötchen und der geheimnisvolle Plumpudding, um dessen Zubereitung Mrs. Perkins ein solches Aufheben gemacht hatte, dass Dorothea sich gefragt hatte, ob diese unansehnliche, braune Masse es wirklich wert war. Lady Chatwick hatte ihr erklärt, dass er als Höhepunkt des Abends mit Rum übergossen und angezündet werden würde. Nun ja, man konnte sich vielleicht damit herausreden, dass man viel zu satt wäre, um auch noch einen einzigen Bissen zu schaffen.

»Einen Toast«, mit diesen Worten hob Robert sein gefülltes Weinglas. »Lasst uns anstoßen auf fröhliche, unbeschwerte Feiertage!«

Tatsächlich schien die Zeit zu verfliegen. Karl und Koar entdeckten die Freuden des Angelns. Der Murray River war so voller Fische, dass ein Fisch am Haken hing, kaum dass man die Angel ausgeworfen hatte. Zu ihrer Enttäuschung entpuppte sich ein Großteil der gefangenen Fische allerdings als wenig erfreuliche Beute: Sie waren so voller haarfeiner, stachliger Gräten, dass Mrs. Perkins meinte, es lohne die Mühe der Zubereitung nicht.

Von King George erfuhren sie die Geschichte dieser von den Eingeborenen thukeri genannten Fische. King George erzählte gerne Geschichten. Er setzte sich bequem auf einen angespülten Baumstumpf am Ufer, klaubte das unvermeidliche Stück Kautabak aus seiner Backentasche und verstaute es sorgfältig in seinem Brustbeutel, ehe er mit rollenden Augen begann: »Vor langer, langer Zeit gingen zwei Ngarrindjeri-Männer zum Fischen. Sie paddelten zu ihrem Lieblingsplatz, wo es viele thukeri gab, banden ihr Kanu an einigen Reetbüscheln fest und fischten den ganzen Tag. Sie fingen viele saftige, fette Fische. Als das Boot fast voll war, fuhren sie zum Ufer. Dabei bemerkten sie einen Fremden, der sich ihnen näherte. Sie befürchteten, er würde sie um Fische bitten. Die beiden Männer waren aber nicht bereit, ihm von ihrem Fang abzugeben, obwohl sie mehr als genug für sich und ihre Familien gefangen hatten. Also deckten sie den Haufen Fische mit einer Bastmatte ab.« King George untermalte das pantomimisch, rollte sogar theatralisch mit den Augen, um anzudeuten, wie dumm und schlecht diese Handlung gewesen war, ehe er fortfuhr: »Tatsächlich kam der Fremde auf sie zu und bat sie um ein paar Fische, weil er hungrig sei. Aber sie sagten, sie hätten nur ganz wenige gefangen und könnten keine abgeben.

Daraufhin sah der Mann sie lange an, ehe er sich umdrehte und zum Gehen anschickte. Plötzlich hielt er inne, drehte sich um und sagte: ›Weil ihr gelogen habt, werdet ihr niemals wieder mit Genuss thukeri essen.‹

Erschreckt hoben sie die Matte an und sahen zu ihrem Entsetzen, dass alle Fische voller spitzer, dünner Knochen waren, die sie ungenießbar machten. Beschämt kehrten sie nach Hause zurück, um ihren Familien davon zu erzählen. Die Alten sagten ihnen, dass der Fremde, dem sie nicht hatten helfen wollen, in Wahrheit der Große Geist Ngurunderi gewesen war. Und nun müsse der ganze Stamm für ihre Gier büßen.

So kam es, dass der thukeri in die Welt kam.« King George lachte zufrieden, dass es ihm gelungen war, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, und wies mit dem nackten Fuß in Richtung Flussmitte. »Es ist besser, vom Kanu aus zu fischen. Wie wir.«

Lischen und Heather waren von »Princess«, wie die kleine Stute hieß, kaum noch zu trennen. Sobald sie ihr Frühstück heruntergeschlungen hatten, rannten die Mädchen zu den Stallungen und tauchten nur zu den Mahlzeiten wieder auf.

Als Mutter Schumann bedauernd meinte: »Ich könnte mich an so ein Leben wirklich gewöhnen. Aber ich fürchte, wir müssen langsam wieder in die Stadt zurück«, protestierte nicht nur Dorothea.

»Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?« Lischen sah flehend zu ihrem Schwager auf. »Du hättest doch nichts dagegen, oder?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Robert und zupfte neckend an einem ihrer langen Zöpfe. »Von mir aus könnt ihr hier einziehen. Aber ich muss leider morgen nach Adelaide.«

»Wieso denn das?«, fragte Dorothea verwundert. »Zwischen den Jahren macht doch niemand Geschäfte.«

»Es ist ein Notfall. Ein Freund von mir will alle Brücken hier abbrechen, und ich muss versuchen, ihn davon abzuhalten.« Ian! Robert hatte sich zwar sehr ungenau ausgedrückt, dennoch wusste Dorothea, dass dieser Freund Ian sein musste. Er wollte also Australien verlassen. Wohin wollte er sich wenden? Amerika? In ihrem Inneren zog sich alles schmerzhaft zusammen. Sie würde ihn nie wiedersehen. Und diese Vorstellung schmerzte so unglaublich, dass sie kaum hörte, wie ihre Mutter Robert Masters fragte, ob sie sich ihm anschließen könnten. Bis zur Hochzeit von Protector Moorhouse und Miss Kilner am 4. Januar hatte sie noch einige kleinere Aufträge zu erledigen und wollte auf keinen Fall in Verzug geraten. Glücklicherweise achtete niemand auf sie. Wieso tat es immer noch so weh, wenn sie an Ian dachte? Sie versuchte sich einzureden, dass sie froh darüber wäre, wenn er im fernen Amerika eine andere Frau fände und mit ihr glücklich würde. Aber schon der Stich, den ihr dieser Gedanke versetzte, belehrte sie eines Besseren. Blanker Hass auf diese Frau, die doch gar nicht existierte, loderte in ihr auf. Dorotheas Hände verkrampften sich dabei so heftig um den Henkel der Teetasse, dass das fragile Material zerbrach.

»Doro …?«

»Mein Herz …?«

Unter dem Blick von sieben besorgten Augenpaaren errötete sie peinlich berührt. »Das war die angeschlagene Tasse …«, stammelte sie und schob die Scherben zusammen. »Ich habe nicht aufgepasst.«

»Hauptsache, du hast dir nicht wehgetan«, sagte Robert, während er ihre Hände in seine nahm und auf Verletzungen inspizierte. »Fühlst du dich nicht gut? Soll ich dich hinaufbringen?«

Dankbar griff sie nach der Ausrede, die er ihr bot. »Nur ein bisschen Kopfschmerzen. Ich war wohl zu lange in der Sonne«, sagte sie. »Aber du hast recht, ich werde lieber gleich zu Bett gehen.«

Oben, allein in ihrem Bett, drangen die Stimmen der anderen im Salon unter ihr nur noch gedämpft durch die offen stehenden Fenster. Wie beneidete sie ihre Geschwister und Heather um die laute, ungehemmte Fröhlichkeit, mit der sie sich ganz dem augenblicklichen Spiel überließen!

Sie war noch hellwach, als Robert später leise hereinschlich, um ihr einen Abschiedskuss auf die Stirn zu hauchen. Aber sie hielt die Augen fest geschlossen und atmete regelmäßig, bis das Knarren der Bodenbretter und das kaum hörbare Knacken des Türschlosses angezeigt hatten, dass ihr Mann in seinem Zimmer war. Dann erst drehte sie sich auf die Seite, vergrub ihr Gesicht im Kissen und ließ den Tränen ihren Lauf.

Lischen hatte trotz ihrer Proteste mit zurückfahren müssen. Da hatte Mutter Schumann nicht mit sich handeln lassen. Lady Chatwick hatte sich überraschend angeschlossen. Die Aussicht, ein derart einmaliges gesellschaftliches Ereignis wie die Hochzeit von Protector Moorhouse und seiner Braut miterleben zu können, hatte sie ihre ausgeprägte Trägheit überwinden lassen. »Ich hoffe nur, dass bis dahin ihr bestes Kleid nicht mehr so nach Mottenkugeln riecht«, bemerkte Mrs. Perkins spitz. »Sonst werden alle in der Kirche schrecklich niesen.« Karl und Koar waren noch da. Sie würden bis zum Ende ihrer Ferien auf Eden-House bleiben und dann zu Fuß die Rückreise antreten.

Sie alle winkten der Reisegesellschaft hinterher, bis die Kutsche, eine rötliche Staubwolke hinter sich herziehend wie einen Kometenschweif, im lichten Unterholz verschwunden war.

Karl und Koar hatten sich mit einigen jungen Männern aus dem Lager von King George verabredet. Gemeinsam wollten sie mit Kanus den Murray River hinunterfahren bis zu einer Stelle, an der es besonders lohnend sein sollte, die Netze auszuwerfen. Heather hatte Sam dazu überredet, mit ihr einen längeren Ausritt zu unternehmen. »Ich will doch wissen, wie Princess im Gelände geht«, hatte sie erklärt.

Erleichtert darüber, zumindest für die nächsten Stunden von niemandem gestört zu werden, ging Dorothea langsam in ihr Zimmer zurück. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr ein ungewöhnlich blasses Gesicht mit immer noch leicht geschwollenen Tränensäcken, obwohl sie extra früher aufgestanden war, um die geröteten Augen mit kaltem Wasser zu baden. Müde hob sie die Hand, um eine lose Haarsträhne festzustecken, als ihr auffiel, dass es ungewöhnlich ruhig draußen war. Es war noch zu früh am Tag, als dass sich ein Gewitter hätte ankündigen können, aber genauso fühlte es sich an. Die spärliche Feuchtigkeit der Nacht war unter der gnadenlosen Sommersonne bereits verdampft, und die bleierne Hitze lag jetzt wie ein schweres Federbett über dem Land. Dorothea trat ans Fenster, um den Horizont nach Anzeichen von Gewitterwolken abzusuchen. Nichts. Im dunstigen Grau war auch nicht das kleinste Schleierwölkchen auszumachen. Dafür weckte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit.

Im Lager von King Georges Stamm herrschte Aufruhr. Es lag zu weit weg, um Genaueres zu erkennen. Deutlich war aber, dass dort ein hastiger Aufbruch stattfand. Es wimmelte wie in einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Einige Frauen in den traditionellen Opossumumhängen, schwer beladen mit Tragenetzen samt Kleinkindern, marschierten bereits nach Norden. Andere waren noch damit beschäftigt, ihre Habe zusammenzupacken, angetrieben von den Männern, die wild mit ihren Waddies und Speeren herumfuchtelten. Dazwischen wuselten die Kinder und zahmen Dingos. Wenn es einen Grund dafür gegeben hätte, hätte man an eine Flucht denken können. Aber wovor sollten die Eingeborenen sich in Sicherheit bringen wollen? Weit und breit war nichts zu sehen, das ihnen einen solchen Schrecken eingejagt haben könnte.

Vermutlich wieder eine ihrer seltsamen Sitten. Sie würde später Koar fragen, aber jetzt bedrängten sie ganz andere Sorgen. Bisher war sie davon ausgegangen, alles würde gut, sobald sie nur erst ein Kind von Robert erwartete. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass ihre Nerven sich dann wieder beruhigen und das Eheleben sich schon einspielen werde. Nach dem Gefühlschaos, das allein der Gedanke an Ian gestern in ihr ausgelöst hatte, war sie sich da gar nicht mehr sicher. Wie sollte es weitergehen mit Robert und ihr, wenn sie jedes Mal, sobald sie im Bett die Augen schloss, Ians Gesicht vor sich sah?

Sie liebte Robert, rief sie sich selbst innerlich zur Ordnung. Sie musste sich nur noch größere Mühe geben, Ian zu vergessen, ihn ganz und gar aus ihren Gedanken zu verbannen. Mit der Zeit würde sein Bild schwächer werden, die Erinnerung verblassen, bis sie sein Wurfmesser betrachten konnte, ohne dass es schmerzte.

Was blieb ihr auch übrig? Robert war ein wunderbarer Mann. Er konnte nichts dafür, dass sie ihm gegenüber eher wie einem Bruder oder Lieblingsonkel empfand. Ein verrückter Impuls durchzuckte sie: Was, wenn sie einfach alles hinter sich ließ und sich Ian anschloss? Sie konnte sich als blinder Passagier einschleichen, niemand müsste etwas erfahren. Sie wäre einfach auf rätselhafte Weise verschwunden.

Der verlockende Gedanke quälte sie so, dass sie es nicht mehr in ihrem Zimmer aushielt. Sie zog ihr Reitkleid an und marschierte in den Stall.

»Ma’am?« John, der Stallbursche, sah erschrocken von den Kandaren auf, die er gerade polierte.

»Sattle mir bitte Molly«, sagte sie und klopfte ungeduldig mit der Gerte gegen ihren Stiefel. »Ich will versuchen, Sam und Heather noch einzuholen. Weißt du, in welche Richtung sie geritten sind?«

»Jaa, schon«, erwiderte der junge Mann mit sichtlichem Unbehagen. »Sie wollten zur Nordweide. Aber … sind Sie sicher, Ma’am, dass Sie wirklich alleine loswollen?«

»Natürlich. Sie können noch nicht weit sein«, sagte Dorothea. »Was soll da schon passieren?«

John wirkte nicht überzeugt, wagte jedoch keine weiteren Einwände vorzubringen. Dorothea war in den vergangenen Wochen zwar keine versierte Reiterin geworden, fühlte sich aber inzwischen hinreichend sicher auf einem Pferderücken. So zögerte sie keinen Augenblick. Sobald John Dorotheas fertig gesattelte Stute zum Aufsteigeblock führte, saß sie auf und trieb das Tier auch gleich zu einem flotten Trab an. »Hetzen Sie sie besser nicht zu sehr, Ma’am«, rief ihr der Stallbursche noch hinterher. »Wenn sie erschöpft ist, wird sie bockig.«

Dorothea hob die Hand mit der Gerte, um ihm zu signalisieren, dass sie ihn gehört hatte, und verlangsamte die Gangart. John hatte recht. Es hatte wenig Sinn, das Tier bis zur Erschöpfung anzutreiben. Sie würde auch so noch schnell genug Sam und Heather einholen. Ihre Stute Molly war ein hochbeiniges, auf Schnelligkeit gezüchtetes Araberhalbblut. Heathers Princess dagegen ein kurzbeiniges, stämmiges Pony, und auch Sam hatte natürlich wieder den alten Wallach genommen, der eigentlich nur noch sein Gnadenbrot auf Eden-House erhielt.

Die Nordweide lag etwa zehn Meilen von Eden-House an einem Zufluss in den Murray River, der im Frühling reichlich Wasser führte und so den Schafen das nötige Trinkwasser bot. Soviel Dorothea wusste, gab es dort eine kleine Station, die in regelmäßigen Abständen mit Vorräten versorgt wurde und in der sich die Hirten aufhielten, wenn sie nicht Dienst im Busch hatten.

Sie überließ es Molly, sich ihren Weg durch das niedrige Mallee-Gestrüpp zu suchen. Solange sie die Richtung beibehielt, konnte sie sich nicht verirren. Zu ihrer Erleichterung ließ die unerträgliche Anspannung in ihr langsam nach. Dieser Ausritt war eine gute Idee gewesen, um sich abzulenken. Aber allmählich mussten doch in der Ferne Heather und Sam auszumachen sein? Das Gestrüpp hier war nicht hoch. Man hätte ein Pferd schon von Weitem sehen müssen. Hatten sie sich vielleicht für einen Umweg entschieden? Dorothea reckte sich im Sattel, und tatsächlich: Etwa eine halbe Meile vor ihr waren undeutlich einige Silhouetten zu erkennen, die sich sehr langsam auf sie zubewegten. Das mussten sie sein. Lahmte vielleicht eines der Pferde? Oder war etwa Heather etwas passiert? Dem Wildfang war zuzutrauen, dass er sein Pony überfordert hatte.

Dorothea trieb Molly zu einem Galopp an, und als hätte das Tier ihre Besorgnis gespürt, stürmte es bereitwillig vorwärts. Im Näherkommen sah sie, dass Heather munter und unverletzt auf ihrer Princess thronte. Aber der alte Wallach, den Sam am Zügel führte, hinkte stark.

»Was ist geschehen?«, rief sie schon von Weitem.

»Hat sich etwas eingetreten«, brummte Sam. »Das da.« Er griff in seine Westentasche und demonstrierte ihr auf seiner Handfläche einen seltsamen Gegenstand. So etwas hatte Dorothea noch nie zuvor gesehen: In dem getrockneten, runden Tonklumpen staken jede Menge spitzer Stacheln aus Knochen oder ähnlichem Material. »Die Furt dahinten war voll davon«, sagte Sam mit unterdrückter Wut. »Jemand muss die mit Absicht dort verteilt haben. Wahrscheinlich wieder eine schwarze Teufelei. Jedenfalls sind wir sofort umgekehrt. Ich freu mich schon drauf, mir diesen Halunken, diesen King George vorzuknöpfen!«

»Das wird warten müssen. Sie haben heute Morgen in aller Eile ihr Lager verlassen. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass King George seinen Leuten so etwas erlauben würde.« Dorothea betrachtete die improvisierte Wolfsangel mit Abscheu.

»Wahrscheinlich nicht. Aber wenn er abgehauen ist, wette ich, dass er weiß, wer es war.« Sams steingraue Brauen zogen sich finster zusammen. »Na warte, Freundchen!«

Plötzlich schnaubte der alte Wallach und warf den Kopf hoch. Auch Molly begann, hin und her zu tänzeln. »He, he, he«, machte Dorothea beruhigend, wie sie es bei Sam und Robert gesehen hatte, und beugte sich nach vorn, um Mollys Hals zu tätscheln. In dem Augenblick hörte sie ein leises Zischen wie von einer Schlange und unmittelbar darauf aus Sams Richtung ein schmerzliches Aufstöhnen. Verständnislos starrte sie auf den langen Speer, der zitternd in seiner Seite steckte. Sie wollte gerade vom Pferderücken rutschen, um ihm zu Hilfe zu kommen, als er die Hand hob. »Nicht absteigen – nehmen Sie Heather und bringen Sie sich in Sicherheit! Schnell!« Seine gepresste, vor Schmerz heisere Stimme jagte ihr fast noch mehr Angst ein als die Waffe in ihm. Niemand war zu sehen, alles schien ruhig und friedlich. Die Vögel in den Bäumen sangen, als sei nichts geschehen. Auch die Eidechsen huschten ungerührt zwischen den Grasbüscheln umher und ließen sich bei ihrer Jagd auf Ameisen nicht stören.

»Ich kann Sie doch nicht einfach hier zurücklassen, Sam«, flüsterte sie hilflos. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Verdammt, bringen Sie endlich das Kind von hier weg!«, brüllte er sie so unvermittelt an, dass sie automatisch gehorchte. Sie warf Molly herum und griff nach den Zügeln von Princess. Heather war vor Entsetzen wie erstarrt gewesen. Nun wehrte sie sich auf einmal entschieden und versuchte, Dorothea die Zügel wieder zu entreißen. »Wir müssen Sam doch helfen«, schrie sie. »Er ist verletzt!«

»Hast du nicht gehört, was er gesagt hat«, stieß Dorothea aus und trieb die beiden Pferde in einen halsbrecherischen Galopp. »Wir können ihm nicht helfen. Wir würden nur selber sterben.«

Heathers verzweifeltes Aufschluchzen war das Letzte, das sie hörte. Etwas traf sie mit unerhörter Wucht am Hinterkopf und löschte alles um sie herum aus.