9

Nach Dorotheas Ausbruch ging August ihr aus dem Weg. Und obwohl ihre Mutter kein Wort mehr über die Heirat verlor, schien von ihr ein ständiger Vorwurf auszugehen. Karl und Koar nahmen die Eröffnung mit der Gleichgültigkeit Halbwüchsiger entgegen. Einzig Lischen war hellauf begeistert; besonders, als sie erfuhr, dass ihre Schwester bald die Stiefmutter eines kleinen Mädchens sein würde.

So war Dorothea ausgesprochen erleichtert, als der Tag der Trauung anbrach. Robert Masters hatte Wort gehalten: Reverend Howard hatte aus Rücksicht auf die ungewöhnlichen Umstände, vielleicht auch milde gestimmt durch eine großzügige Spende, die Aufgebotszeit auf das absolute Minimum beschränkt. Auch Gouverneur Grey hatte entschieden, dass auf eine Überprüfung der Brautleute verzichtet werden konnte. Schließlich waren sie ihm beide gut bekannt. Er hatte sich sogar als Trauzeuge angeboten. Miss Mary Kilner fungierte als zweite Zeugin. Sie und der Protector waren die ersten Gratulanten nach der nüchternen Zeremonie in der Registratur.

»Ich freue mich so für Sie«, flüsterte Miss Kilner ihr ins Ohr, als sie sie herzlich umarmte. »Ich bin sicher, dass Sie mit Robert sehr, sehr glücklich werden.«

Protector Moorhouse drückte seine Freude etwas zurückhaltender aus, als er dem Brautpaar mit einem freundlichen Lächeln die Hände schüttelte und dabei meinte, es sei doch manchmal erstaunlich, wie sich manche Dinge zum Guten wandten.

Moorhouse und seine Verlobte begleiteten das frischgebackene Ehepaar anschließend auch zur kirchlichen Trauung in der Holy Trinity Church, wo Familie Schumann wartete. Gouverneur Grey entschuldigte sich mit häuslichen Verpflichtungen. »Der arme Mann ist wirklich geschlagen!«, bemerkte Miss Kilner mitleidig, als sie die North Terrace entlanggingen. »Erst stirbt sein kleiner Sohn, und jetzt kränkelt seine Frau. Kein Wunder, dass er manchmal etwas harsch reagiert.«

Außer einigen Neugierigen, die sich in die hinteren Bänke drückten, um einen Blick auf den verruchten Viehzüchter und seine neue Ehefrau zu werfen, waren keine Besucher anwesend. Dorothea sah scheu zur vordersten Bank, auf der ihre Familie aufgereiht saß. Ihre Mutter, auffallend blass unter der schwarzen Witwenhaube, blickte starr geradeaus, als ginge sie das alles nichts mehr an. August neben ihr zerrte immer wieder an seinem Halstuch. Auch Karl und Koar wirkten nicht so glücklich, wie man es von Hochzeitsgästen erwarten durfte. Karl hatte ihr am Tag zuvor heftige Vorwürfe gemacht, dass sie ihre Familie im Stich ließe. Das hatte sie tief getroffen. »Jetzt, wo Papa tot ist, müssten wir umso mehr zusammenhalten«, hatte er mit Bitterkeit in der Stimme gesagt. »Du kennst August so gut wie ich: Glaubst du, er ist der Halt, den Mama jetzt bräuchte? Und was tust du? Du heiratest einen Geldsack und verschwindest. Schämst du dich nicht?«

»Ich verschwinde nicht«, hatte sie protestiert. »Natürlich ist es ziemlich unglücklich so, aber ich kann doch nichts dafür, dass Robert seine kleine Tochter nicht zu lange dort draußen in der Wildnis alleine lassen will.« Inzwischen glaubte sie schon fast selber daran, dass die hastige Eheschließung einzig und allein der Sorge um Heather zuzuschreiben war. »Das Mädchen ist noch klein. Es braucht dringend eine Mutter.«

Karls Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, und voller Verachtung sagte er: »Ach, was soll’s? Du hast dich ja sowieso schon längst entschieden.« So verständlich sein Ärger war – wie groß wäre er erst gewesen, wenn er die Wahrheit gewusst hätte?

Es belastete sie, dass ihre Geschwister glaubten, dass sie des Geldes wegen heiratete. Aber das war immer noch besser als der wirkliche Grund. Mit der Zeit würde ihr Zorn sich legen, und sie würden wieder zu ihrem guten Verhältnis zurückfinden, tröstete sie sich. Sobald ihre Schwangerschaft offensichtlich wäre, würden sie ihr schon verzeihen. Dann würde alles gut werden.

Plötzlich fand sie sich vor dem Altar wieder, und Reverend Howard intonierte die zeremonielle Frage: »Willst du …«

»Ja, ich will«, antwortete sie mit fester Stimme. Es gab keinen Weg mehr zurück. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und jetzt musste sie dazu stehen. Der schwere Goldreif, den Robert Masters ihr auf den Finger schob, fühlte sich so kalt an, dass sie unwillkürlich erschauerte. Auch ihre Hände waren eisig, als sie ihm seinen Ehering ansteckte. Lieber Gott, bitte, lass ihn nichts merken, flehte sie stumm, und ich schwöre dir, dass ich alles tun werde, um ihm eine gute Ehefrau zu sein!

Masters’ erster Kuss als Ehemann war so zart, dass sie kaum spürte, wie seine Lippen ihre berührten. »Keine Angst, ich werde dich zu nichts drängen«, murmelte er an ihrem Ohr und fasste nach ihrer Hand, um sie in seine Armbeuge zu legen. »Komm, Liebes, die Gäste warten.«

In Robert Masters’ bevorzugtem Hotel in der King William Street war ein opulenter Stehempfang vorbereitet worden. Überrascht registrierte Dorothea die Menge der Gratulanten, die sich drängte, ihre Glückwünsche zu überbringen. Selbst Mr. Stevenson, der Chefredakteur vom Register, war darunter und bemerkte eine Spur brummig: »Dass Sie mal als biedere Ehefrau enden würden, hätte ich nicht von Ihnen gedacht. Na, trotzdem alles Gute, und wenn es da unten was Interessantes gibt – ich habe immer ein offenes Ohr für Ihre Berichte!«

Die meisten der Anwesenden kannte sie nicht. Dem Äußeren und der recht unverblümten Sprache nach zu urteilen, waren es zum großen Teil Viehzüchter.

»He, Masters, alter Junge! Ihr Diener, Ma’am.« Ein Bär von Mann schlug Robert so herzhaft auf die Schulter, dass der schmerzlich das Gesicht verzog. »Hast du Interesse an ein paar erstklassigen Devonshire-Rindern? In den nächsten Wochen erwarte ich einen neuen Treck aus Neu-Südwales. Hab schon mächtig Druck gemacht, dass der Gouverneur diesmal Begleitschutz schickt. Nicht, dass die Schwarzen wieder alle Tiere stehlen.«

»Sind die denn nicht wieder eingesammelt worden? Ich dachte, ihr hättet eine private Expedition losgeschickt?«

Der Mann schnaufte resigniert. »Von den fünftausend Schafen keine Spur, und von den achthundert Rindern haben wir ein paar traurige Überreste gefunden. Man sollte diese Maraura alle aufknüpfen! Major O’Halloran hätte da oben schon längst für Ruhe gesorgt. Aber der Gouverneur ziert sich wie eine alte Jungfer. Hat Angst, ihnen auch nur ein Haar zu krümmen, dabei wäre eine ordentliche Lektion das Einzige, was sie Mores lehren würde. Kein Wunder, dass die Kerle ihm auf der Nase herumtanzen!«

»Mäßigen Sie sich, Mr. Inman!« Protector Moorhouse, der in einer Gruppe ganz in der Nähe gestanden hatte, drehte sich um und fixierte den aufgebrachten Mann etwas schmallippig. »Ich darf Sie daran erinnern, dass die Eingeborenen genau die gleichen Rechte englischer Staatsbürger besitzen wie Sie. Eine Strafexpedition, wie Sie sie fordern, ist nur gegen aufständische Fremdvölker zulässig.«

»Pffff«, machte Inman verächtlich. »Diese Winkeladvokaten in London sollten mal ihre Nasen aus den Büchern heben und sich hier umsehen: diese Halunken Bürger Englands – dass ich nicht lache.«

Wie aus dem zustimmenden Gemurmel in der Umgebung ersichtlich wurde, stand er mit seiner Ansicht nicht alleine da. Der Protector ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen: »Das sind sie aber nun einmal. Und deswegen werde ich auch Major O’Halloran begleiten, wenn er morgen mit seiner berittenen Truppe zum Rufus River aufbricht.«

»Als Kindermädchen? Da wird der Gute aber nicht sehr erfreut sein«, bemerkte Stevenson spöttisch vom Büfett her. »Wo er doch so wild darauf ist, endlich wieder für Ruhe und Ordnung im Norden zu sorgen.«

»Das wäre jetzt genau das Richtige!«, murrte Mr. Inman. »Stattdessen hat man das Gefühl, dass der Gouverneur sich eher um das Wohl der Schwarzen sorgt als um das seiner Landsleute.«

»Vielleicht hat er mehr Grund dazu.« Moorhouse sah den verärgerten Mann vielsagend an.

»Es gibt äußerst unschöne Gerüchte über das Verhalten der Viehtreiber den lubras gegenüber. Wenn diese zutreffen, wäre es nur zu verständlich, dass die Maraura bis aufs Blut gereizt sind.«

»Ich habe Langhorne gesagt, er solle nicht immer den Abschaum mitschicken«, erwiderte Inman eine Spur kleinlaut. »Aber er meinte, nur Strauchdiebe und Halsabschneider wären bereit, die Drecksarbeit zu machen. Und wenn die sich unterwegs an den schwarzen Weibern schadlos hielten, ginge es ihn nichts an.«

»Wenn erst einmal die Südroute erkundet ist, wird das Problem mit den Maraura sich von selber lösen«, warf Robert Masters beschwichtigend ein. »Sobald das Vieh da ist, kannst du mir Bescheid geben, Henry. Ein paar Stück kann ich immer gebrauchen.« Mit einem kurzen Nicken gab er dem Viehhändler zu verstehen, dass er das Gespräch als beendet betrachtete, und wandte sich anderen Gästen zu. Unter anderen Umständen hätte Dorothea sich glühend für die angedeuteten Ungeheuerlichkeiten interessiert, die hinter den Zusammenstößen steckten. Im Augenblick beschäftigte sie jedoch nichts außer der Frage, ob es ihr gelingen würde, Robert Masters eine verschreckte Braut vorzuspielen. Nervös genug war sie jedenfalls!

Es war vorgesehen, dass sie gleich nach dem Empfang nach Glen Osmond aufbrechen sollten. Dort würden sie im Haus eines Freundes von Robert die Hochzeitsnacht verbringen, ehe sie am nächsten Tag so rasch wie möglich zu Roberts Besitzungen weiterreisen wollten. Der ständige Regen hatte, ungewöhnlich genug für Anfang Juli, einer Phase freundlichen, trockenen Wetters Platz gemacht, und das musste ausgenutzt werden.

Gerade wollte Dorothea sich von ihrer Familie verabschieden, die sich in eine etwas ruhigere Ecke des Raums zurückgezogen hatte, als eine bekannte Gestalt auf sie zusteuerte: Mrs. Wilson! Was suchte die denn hier? Ihres Wissens war sie nicht eingeladen gewesen. Alles andere als begeistert sah sie der alten Fregatte entgegen. »Na, so was!« Mrs. Wilson lächelte breit und wohlwollend. »Ich kenne Sie doch. Das dachte ich mir schon in der Kirche. Habe ich Sie nicht ein paar Mal mit meinem Untermieter, Mr. Somerhill, gesehen?«

Dorothea spürte, wie sie vor Schreck erstarrte. Hatte die Alte ihnen nachspioniert? Ihres Wissens hatte Miles immer sehr darauf geachtet, dass sie auch tatsächlich abwesend war, wenn sie sich in seinem Zimmer aufgehalten hatten. Aber wenn sie nun doch …?

»Ja ja, die beiden jungen Leute waren meine besten Spürhunde«, sagte Stevenson. »Jammerschade, dass ich sie nicht beim Register halten konnte. – Lesen Sie den Register, Madam?«

Schwindlig vor Erleichterung beobachtete Dorothea, wie Mrs. Wilsons Aufmerksamkeit sich sofort auf die stattliche Erscheinung des Chefredakteurs richtete. Besser hätte eine Ablenkung nicht funktionieren können. War es Absicht gewesen? Ahnte Stevenson gar etwas? Man unterschätzte ihn immer, weil er es mit seiner persönlichen Selbstinszenierung so übertrieb. Dabei war er ein scharfer Beobachter und exzellenter Menschenkenner.

»Ihr brecht auf?« August sah sie fragend an.

»Ja. Gleich.« Dorothea bedachte ihre Familie mit einem liebevollen Blick. »Ich werde euch schrecklich vermissen. Lischen, lass dich umarmen.« Karl und Koar ließen Dorotheas Überschwang mehr oder weniger stoisch über sich ergehen, August jedoch drückte sie so fest an sich, dass es beinahe schmerzte. »Ich werde dich auch vermissen, Schwesterherz! Aber ich besuche dich, sobald ich kann.«

Ihre Mutter hatte stumm und ernst daneben gestanden. Jetzt aber, als Dorothea die Arme ausstreckte, um sich von ihr zu verabschieden, sagte sie leise: »Ich komme mit und helfe dir beim Umkleiden.«

Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, gingen die beiden Frauen nach oben in das Zimmer, das Robert Masters bewohnt hatte und in dem nun Dorotheas Reisekleidung bereitlag.

Dorothea versuchte, im Gesicht ihrer Mutter zu lesen. War sie zu einem Urteil gekommen und wollte es ihr nun mitteilen? Würde sie sich von ihr lossagen?

»Mama?«, flüsterte sie. »Bist du noch böse auf mich?«

Mutter Schumann seufzte kaum hörbar auf und drückte Dorothea auf die Chaiselongue vor dem Fenster. »Ach, Kind, ich weiß selber nicht mehr, was richtig und falsch ist. Dein lieber Vater hat oft darüber philosophiert, wie seltsam es wäre, dass aus guten Absichten häufig Böses entstünde und ein Betrug oder eine Lüge so viel Gutes bewirken könne. Es lag ihm sehr am Herzen, dass du eine gute Ehe eingehen würdest.« Sie schloss für einen Moment die Augen, von Erinnerungen überwältigt, ehe sie fortfuhr: »Ich maße mir nicht an, dich zu verurteilen. Du bist alt genug, um dein Handeln selbst zu bestimmen. Und vielleicht entsteht ja auch in diesem Fall aus der Täuschung etwas Gutes.« Sie setzte sich dicht neben Dorothea, öffnete ihren Beutel und zog eine winzige gläserne Phiole sowie ein Stück Schwamm heraus. Dorothea glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen: Der Inhalt des gläsernen Behälters schimmerte rubinrot. Und das Schwammstück sah haargenau wie ein abgeschnittenes Stück des Schumann’schen Badeschwamms aus.

»Ich habe das Blut mit Pökelsalz vermischt, damit es frisch aussieht«, sagte Mutter Schumann so gelassen, als erkläre sie ein Rezept für Hefebrötchen. »Unmittelbar bevor ihr zu Bett geht, zieh dich zurück, tränke diesen Schwamm mit dem Blut und führe ihn ein.« Sie lächelte schwach. »Wie das geht, muss ich dir ja wohl nicht im Einzelnen erklären. Wenn du dann noch daran denkst, im richtigen Moment einen Schmerzensschrei auszustoßen, dürfte dein Mann von deiner Jungfräulichkeit überzeugt sein.«

Fassungslos betrachtete Dorothea die Utensilien. »Woher weißt du das alles, Mama?« Nie und nimmer hätte sie solche Kenntnisse ausgerechnet bei ihrer Mutter vermutet. »Und woher hast du das Blut?«

Wortlos schob Mutter Schumann ihren linken Ärmelsaum hoch. Knapp über dem Handgelenk, unter den langen Ärmeln gut verborgen, hatte sie sich einen Verband angelegt. »Ich wollte kein Tierblut nehmen« war ihre lapidare Erklärung für das Opfer, das Dorothea die Tränen in die Augen trieb.

»Danke, Mama«, flüsterte sie zutiefst gerührt. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann.« Sie warf ihr die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht an ihrer Schulter.

»Indem du versuchst, deinem Mann eine gute Ehefrau zu sein«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe mich für diese Täuschung nur hergegeben, weil ich hoffe, dass es eine ist, die allen Beteiligten Gutes bringt. Dafür werde ich jeden Tag beten. Und jetzt solltest du deinen Mann nicht unnötig warten lassen.«

»Ich hoffe, du fühlst dich gut?«, erkundigte sich Robert besorgt, sobald sie die Straßen Adelaides verlassen hatten und das Kutschpferd in einen gemächlichen Trott fiel.

»Ja, wieso?« Dorothea, die gerade noch damit beschäftigt gewesen war, die letzten Reiskörner aus ihrem Umhang zu schütteln, sah überrascht auf.

»Eine gewisse Nervosität wäre nichts Ungewöhnliches bei einer jungen Ehefrau. Ich versichere dir jedoch, dass ich keine Ansprüche an dich stellen werde, solange du nicht dazu bereit bist«, erklärte er etwas steif.

Dorothea erschrak. Roberts übertriebene Rücksichtnahme passte jetzt überhaupt nicht! Ihre Ehe musste so rasch wie möglich vollzogen werden. Jede Verzögerung, so gut gemeint sie auch sein mochte, gefährdete den Plan.

»Ich bin sehr wohl bereit«, erklärte sie daher so entschieden, dass ihr Gatte ihr einen erstaunten Seitenblick zuwarf. »Kennst du es nicht: dass etwas immer schlimmer erscheint, je länger man es aufschiebt? Nein, ich würde es vorziehen, die Hochzeitsnacht so, wie es sich gehört, zu verbringen.«

Robert nickte. »Ich verstehe, was du meinst. Das Unbekannte macht immer Angst, aber ich verspreche dir, dass es unnötig ist, sich davor zu fürchten.« Er nahm die Zügel in eine Hand und legte seine in einem Lederhandschuh steckende Rechte sanft auf Dorotheas im Schoß verkrampfte Hände. »Ich bin kein Rohling.«

Dorothea traute ihrer Stimme nicht, also nickte sie nur. Vermutlich hielt er das für jungfräuliche Scheu, denn, wohl um sie abzulenken und zu unterhalten, er begann, ihr von sich und den übrigen Bewohnern auf Eden-House zu erzählen. Robert William Masters war als jüngster Sohn eines Landadeligen mit fünf lebenden Brüdern schlicht und einfach überflüssig gewesen. Versehen mit seinem Erbteil und in Begleitung eines erfahrenen Stallknechts war er also nach Südaustralien ausgewandert, um sich dort eine Zukunft als Viehzüchter aufzubauen.

Noch unter dem ersten Gouverneur Hindmarsh hatte er eine gute Nase bewiesen und billig ein großes Stück Land am Murray River erstanden, als die meisten anderen Immigranten sich noch davor scheuten, weiter im Land zu siedeln. »Erst später habe ich begriffen, was für ein Glück ich hatte«, sagte er nachdenklich. »Im Unterschied zu den Kaurna um Adelaide leben die Ngarrindjeri hier vor allem aus dem Fluss. Sie kennen keine Notzeiten wie die Stämme im Norden, die auf Jagdwild angewiesen sind. Umso einfacher war es, ihnen den Geschmack an Rindfleisch zu verderben.« Er grinste bei der Erinnerung. »Der alte Sam hatte die Idee: Wir nahmen das älteste Tier, das wir hatten, schlachteten es und rieben das Fleisch mit Rizinusöl ein. Dann hängten wir die Stücke über Nacht an die Bäume am Fluss. Natürlich war es am nächsten Morgen verschwunden. Aber seitdem ist mir kein Stück Vieh gestohlen worden.«

Mit den Schafen funktionierte das natürlich nicht. Um seine Herden teilweise äußerst wertvoller Merinos zu schützen, hatte Robert mit den Häuptlingen der umliegenden Stämme einen Handel abgeschlossen: Sie bekamen einen festgelegten Anteil an den Tieren, Mehl und Tabak. Dafür garantierten sie, dass niemand von ihnen eines tötete.

Der rasche wirtschaftliche Erfolg hatte seine Familie dazu bewogen, einen weiteren Sohn samt seiner Familie nachzuschicken. Unglücklicherweise war dieser während der Überfahrt gestorben, und Robert stand vor der Aufgabe, die Verantwortung für eine vom Schicksal enttäuschte junge Witwe und ihre kleine Tochter übernehmen zu müssen. »Da haben wir eben geheiratet. Es schien mir damals das Einfachste.«

»Dann ist Heather gar nicht deine leibliche Tochter?«, entfuhr es Dorothea.

»Nein, aber sie glaubt es. Ihre Mutter wollte es damals so. Ich glaube nicht, dass sie noch eine wirkliche Erinnerung an ihren Vater hat, und nachdem ihre Mutter starb, wollte ich ihr nicht auch noch den Vater nehmen. Das arme Kind hat genug mitgemacht.«

Dorothea murmelte etwas Zustimmendes und wartete gespannt darauf, dass er weitersprach.

Robert Masters schien im Zwiespalt, wie viel er ihr anvertrauen wollte. Schließlich rang er sich ein schiefes Lächeln ab und sagte: »Es hat einfach nicht funktioniert. Claire konnte sich nicht an das Leben draußen im Busch gewöhnen.

Sie brauchte Gesellschaft, Bewunderung und Gelegenheiten, ihre schönen Kleider zu tragen. All das konnte ich ihr nicht bieten. Ich musste mich ja um meine Tiere kümmern. Und ich gebe zu, ich blieb öfter draußen auf den Stationen als nötig. Um mein Gewissen zu beruhigen, ließ ich Tante Arabella nachkommen. Ich dachte, wenn sie ihr Gesellschaft leistete, würde Claire sich nicht mehr so einsam fühlen.«

»Hat es geholfen?«

»Nur kurz.« Masters kämpfte sichtlich mit den unschönen Erinnerungen. »Tante Arabella meinte, Claire sei vermutlich schwer nervenkrank. Sie begann, in die Eingeborenenlager in der Umgebung zu gehen und dort mit den Männern zu kokettieren. Wir haben sie dann in ihrem Zimmer eingesperrt, um sie vor sich selbst zu schützen. Aber eines Nachts ist sie durchs Fenster gestiegen und im Nachthemd in den Busch gelaufen.«

Der Rest der Geschichte war bekannt. Zumindest die Tatsachen oder was als Tatsachen angesehen wurde. Dorothea schluckte und murmelte: »Es tut mir mehr leid für dich, als ich sagen kann. Es muss schrecklich gewesen sein.«

»Das war es.« Mehr sagte er nicht dazu, und sie traute sich nicht, weiter in ihn zu dringen. Es gab Erinnerungen, die man besser ruhen ließ.

»Wie sind die Ngarrindjeri eigentlich so? Wie die Kaurna?«, fragte sie, auch um das Thema zu wechseln. Masters zuckte mit den Achseln. »Mehr oder minder sind sie alle gleich. Zumindest die, die ich kenne. Die Gruppen in unserer Umgebung sind ganz friedlich. Die an der Küste haben mehr schlechte Erfahrungen mit Weißen gemacht, deswegen sind sie uns nicht gerade freundlich gesonnen. Das kann man ihnen kaum übel nehmen, wenn man bedenkt, dass die Walfänger und Fischer seit Generationen ihre Frauen als Sklavinnen nach Kangaroo-Island zu verschleppen pflegten.«

»Sind das nicht dieselben, die die Schiffbrüchigen der Maria erschlagen haben?«

Ihr Mann nickte. »Wenn lang unterdrückter Zorn ausbricht, trifft es selten die Schuldigen«, meinte er grimmig. »Seit es hier eine Regierung und Gesetze gibt, sind kaum noch Fälle bekannt geworden. Moorhouse tut sein Bestes, aber es braucht viel Zeit, verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen.«

Dorothea fühlte sich plötzlich unwohl, als sie an die schrecklichen Verletzungen der Getöteten dachte. »Diese Stämme kommen aber nicht bis zu uns nach Eden-House?«

»Nein, die Gruppen haben alle ihre angestammten Gebiete, die sie nur zu größeren Stammestreffen verlassen. Und die finden eher auf der Halbinsel Fleurieu statt. Da haben sie ihre heiligen Stätten, wo sie den Ocker für die Körperbemalung holen oder andere Zeremonien abhalten. Hat dir Jane nicht davon erzählt?«

»Nein, es gab so viel anderes, worüber wir gesprochen haben«, sagte sie und musste lächeln, als sie sich an Janes unbefangene Art erinnerte, in der diese über sexuelle Beziehungen gesprochen hatte. Jane hätte ihre Entscheidung sicher voll und ganz gebilligt. Ein Kind kam von den Ahnengeistern. Wenn Robert seinen Vaterpflichten nachkam, war es auch sein Kind. Egal, wer es gezeugt haben mochte. Wie einfach und richtig! Alle taten immer so, als seien die Eingeborenen ungebildet und dumm, aber es gab durchaus Dinge, die man von ihnen lernen konnte, fand Dorothea.

In Glen Osmond erwartete sie der Hausherr von Woodley bereits. »Na, ihr Turteltäubchen«, rief er ihnen zu und schwenkte eine Weinflasche. »Lasst uns anstoßen auf viele glückliche Jahre und eine zahlreiche Nachkommenschaft!«

»Findest du nicht, dass du ein bisschen sehr direkt bist?«, gab Robert zurück und grinste. »Dorothy, meine Liebe, darf ich dir einen meiner ältesten und besten Freunde vorstellen: Osmond Gilles. Er ist bekannt für sein teuflisches Temperament. Also sei vorsichtig mit ihm.«

»Alles böswilliger Klatsch. Ich bin der friedlichste Mensch auf Gottes schönem Erdboden«, behauptete der kleine, dicke Mann mit dem zerknautschten Gesicht fröhlich und streckte die Arme aus, um ihr beim Absteigen behilflich zu sein. »Ich habe gehört, Sie sind Deutsche, Madam?«

»Aus Dresden. Kennen Sie es?«

»Natürlich, eine bezaubernde Stadt!«, erwiderte er in nahezu akzentfreiem Deutsch. »Ich habe lange Jahre in Hamburg gelebt, ehe ich mich hier niederließ. Dort habe ich meine Erfahrungen im Wollhandel gesammelt.« Er lächelte Robert Masters freundschaftlich an. »Ohne mich hättest du hier ziemlich bald schlecht ausgesehen, nicht wahr, alter Junge?«

Er zwinkerte Dorothea verschwörerisch zu und flüsterte: »Was er über seine sächsischen Merinos weiß, das hat er alles von mir gelernt. Und jetzt tut er so, als sei ihm sein Wissen vom Himmel zugefallen, der Angeber!«

»Lass gut sein, Osmond«, bat Robert und hob die Hände wie ein Fechter, der seine Niederlage eingesteht. »Wenn du so weitermachst, wird meine Frau noch denken, sie hätte einen Schwachkopf geheiratet.«

Osmond Gilles entpuppte sich als glänzender Unterhalter. Und er war kein Kostverächter: Das Dinner, das er auftragen ließ, hätte jedem Feinschmeckerlokal Ehre gemacht. Der Tisch bog sich unter der Menge der Pasteten, Gelees, Bratenplatten und Terrinen.

»Was macht deine Silbermine? Seid ihr fündig geworden?«, erkundigte Robert sich. »Das letzte Mal, als ich dich traf, hattest du große Pläne.«

»Im März sind wir auf eine ordentliche Menge Silbererz gestoßen«, erwiderte Gilles zufrieden. »Meine Waliser meinen, sie würde sich zu einer Goldgrube entwickeln. Ihr Wort in Gottes Ohr! Die Kolonie könnte zur Abwechslung einmal ordentliche Export-Einnahmen gebrauchen.«

Während sich das Gespräch der Männer um ihre Geschäfte zu drehen begann, wurde Dorothea zunehmend nervöser. In immer kürzeren Abständen glitt ihr Blick zu der imposanten Standuhr an der Schmalseite des Raums, auf deren Zifferblatt die Messingzeiger mit der Gleichgültigkeit unbeseelter Materie weiterwanderten.

Halb erleichtert, halb verlegen hörte sie ihren Mann endlich sagen: »Nimm es uns nicht übel, wenn wir früh zu Bett gehen. Wir haben noch eine ganz schöne Strecke vor uns bis nach Hause. Und es war ein verflixt anstrengender Tag!«

Sein kauziger Freund lachte herzlich, hielt sich aber mit anzüglichen Bemerkungen zurück, zumindest bis Dorothea die Tür hinter sich zugezogen hatte. Derselbe Diener, der bei Tisch aufgelegt hatte, erwartete sie im Flur, um ihr das für sie vorgesehene Zimmer zu zeigen. Osmond Gilles hielt offenbar nichts von einem großen Dienstbotenstamm. Ohne die prächtige Ausstattung eines Blickes zu würdigen, stürzte Dorothea, kaum dass der Mann den Raum verlassen hatte, hinter den Paravent, der eine Ecke des Zimmers abtrennte. Nur gut, dass Robert sich an die Sitte hielt, der Braut einen zeitlichen Vorsprung zu lassen!

Mit zitternden Fingern holte sie den Schwamm und die Phiole aus ihrem Beutelchen. Die ersten Tropfen von dem leuchtend roten Blut ihrer Mutter wurden sofort von der porösen Masse aufgesogen. Der Schwamm sah genauso unschuldig wie ein ganz normaler Badeschwamm aus. Dorothea versuchte abzuschätzen, wie viel nötig wäre. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Wenn sie übertrieb, würde Robert sich danach als Grobian fühlen. Gab es jedoch keine Blutspuren, könnte er an ihrer Jungfräulichkeit zweifeln.

Als sie den Schwamm einführte, hoffte sie inständig, dass sie richtig dosiert hatte. Da sie es als unpassend empfand, sich in dieser Situation an Gott zu wenden, verzichtete sie auf das übliche Nachtgebet und schlüpfte mit vor Aufregung schweißnassen Händen zwischen die schweren Daunendecken.

Robert ließ sie nicht lange warten. Nach einem kurzen Klopfen betrat er das Zimmer, blieb an der Tür stehen und sah sie nachdenklich an. »Bist du sicher?«, fragte er mit leicht heiserer Stimme.

Dorothea nickte entschlossen. Alles war bereit. »Machst du nur bitte das Licht aus?«, bat sie und grub die Fingernägel in die Handflächen, bis es schmerzte.

Masters gehorchte, und sie lauschte auf das Rascheln seiner Kleidung, während er sich im Dunkeln auszog. Als er die Decke anhob und sich neben sie legte, biss sie die Zähne zusammen. »Ich werde nichts tun, wozu du nicht bereit bist«, sagte er leise und beugte sich über sie. »Keine Angst, ich werde dich jetzt nur küssen.«

Sosehr sie seine Rücksichtnahme bewunderte, machte sie sie doch gleichzeitig beinahe wahnsinnig. Sie wollte es endlich hinter sich bringen! Nach verspielten Zärtlichkeiten war ihr im Augenblick ganz und gar nicht zumute. Aber was blieb ihr anderes übrig, als darauf einzugehen?

Ihr Mann küsste gut. Es dauerte nicht lange, und Dorothea vergaß alles um sich herum. Im Dunkeln war es fast wie mit Miles. In einem Moment klaren Denkens wunderte sie sich darüber, dass ihr Körper genauso auf Robert reagierte. Aber dann dachte sie überhaupt nicht mehr.

Als die rosigen Nebel sich verzogen hatten, lag sie an Roberts nackte Brust geschmiegt, und sein Brusthaar kitzelte sie an der Wange. »Ich danke dir«, sagte er schlicht, griff nach ihrer Hand und drückte einen zärtlichen Kuss in ihre Handfläche. »Dass ich so viel Glück mit meiner Ehefrau haben würde, hätte ich nicht im Traum zu hoffen gewagt.«

In Dorothea regten sich heftige Gewissensbisse, die jedoch rasch von schierer Erleichterung verdrängt wurden. Ihr Mann hatte nichts gemerkt! Dabei hatte sie gar nicht mehr an ihre Rolle als jungfräuliche Braut gedacht.

Was für ein Glück!

Erst sein Angebot, ihr behilflich zu sein, riss sie aus ihrer trägen Zufriedenheit. »Nein, nein, ich wasche mich lieber allein«, sagte sie schnell, rutschte seitwärts aus dem Bett und verschwand hinter dem Wandschirm. Im Streifen Mondlicht, der genau auf die Waschschüssel fiel, sah sie ein paar dunkle Flecken auf dem Lappen und atmete erleichtert auf. Zur Sicherheit drückte sie den Schwamm noch einmal in dem Wasser aus, ehe sie ihn in einem ihrer Schuhe verschwinden ließ.

Lieber Gott, ich danke dir, betete sie stumm, aber desto inbrünstiger. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass ich es nicht verdient habe, einen so guten Ehemann zu bekommen. Aber ich will es an ihm gutmachen. Er soll es nie bereuen, mich geheiratet zu haben.