11

Dorotheas erste Wochen in ihrem neuen Heim schienen geradezu zu verfliegen. Zwischen Heathers Unterrichtsstunden, dem Reitunterricht, angeregten Unterhaltungen mit Lady Chatwick und Haushaltsdingen fand sie kaum Zeit, einige Kleider aus der umfangreichen Garderobe Claires für sich zu ändern. Glücklicherweise war die Schneiderin so vorausschauend gewesen, für zukünftige Schwangerschaften reichlich Saumzugaben einzurechnen. Davon profitierte sie nun, denn Dorotheas Taille war um gut zwei Finger breiter, als es Claires gewesen war.

Im August nahm sie all ihren Mut zusammen und gestand Robert, dass ihre Monatsblutung ausgeblieben wäre. Arglos schrieb er ihre geröteten Wangen und den gesenkten Blick ihrer Schamhaftigkeit zu. Seine Freude über die Schwangerschaft war derart ehrlich und überschwänglich, dass Dorothea sich noch schäbiger fühlte als sonst. Aber sie hatte diesen Weg gewählt und musste ihn jetzt zu Ende gehen. Auch um des Kindes willen.

Lady Chatwick nickte mit der ganzen Erfahrung einer kinderlosen älteren Dame und erklärte, es schon seit geraumer Zeit vermutet zu haben. Schließlich sei ein gesunder Appetit immer ein deutlicher Hinweis auf diesen Zustand, nicht wahr?

Heather sagte gar nichts. Während der Schulstunden hatten die beiden zu einem Verhältnis gefunden, das zwischen Duldung und vorsichtiger Zuneigung pendelte. Deswegen hatte Dorothea gebeten, es Heather selbst mitteilen zu dürfen. »Würdest du dich über ein Geschwisterchen freuen?«, fragte Dorothea zur Einleitung und war dann doch überrascht über Heathers prompte Gegenfrage: »Du bekommst ein Baby?« So viel zu ihrem Vorhaben, ihrer Stieftochter die Neuigkeit behutsam beizubringen.

»Ja«, sagte sie also. »Freust du dich?«

Das Mädchen senkte den Blick auf die Schreibplatte vor sich und zuckte stumm mit den Schultern.

»Was wäre dir denn lieber: ein Brüderchen oder ein Schwesterchen?«, versuchte Dorothea, ihr eine Reaktion zu entlocken.

»Ist doch egal.« Das klang nicht gerade enthusiastisch.

»Vielleicht hast du recht«, sagte Dorothea im Versuch, verständnisvoll zu sein. »Als ich klein war, wünschte ich mir immer eine Schwester zum Spielen. Weißt du, ich hatte nur zwei Brüder, und die fanden Mädchenspiele immer albern. Aber Jungenspiele machten mir eigentlich genauso Spaß. Was ist eigentlich dein Lieblingsspiel?«

Vergeblich. Heather zuckte nur erneut mit den Schultern und nuschelte ein kaum verständliches »Weiß nicht«. Sie hatte sich in einen inneren Bereich zurückgezogen und die Türen zugeschlagen. Auf alle Fragen antwortete sie nur noch mit enervierender Einsilbigkeit. Nicht einmal Flinders Reisebericht, dem sie vorher mit unverfälschtem Vergnügen gelauscht hatte, riss sie aus ihrer Erstarrung. Schließlich gab Dorothea ihre Versuche auf.

Lady Chatwick, bei der sie nach der missglückten Unterredung Rat suchte, legte etwas widerstrebend ihren Roman beiseite. Vermutlich war sie gerade an einer besonders spannenden Stelle. Dennoch wartete sie höflich, bis Dorothea geendet hatte. »Ich würde mir nicht so viele Gedanken machen, Liebes«, riet sie ihr dann. »Heather ist zuweilen etwas seltsam. Das muss man nicht so ernst nehmen. Spätestens wenn das Baby da ist, wird sie sich schon damit abfinden.«

Das konnte man nur hoffen! Dorothea bezweifelte im Stillen, dass Lady Chatwick recht behielte. Da diese jedoch schon wieder nach ihrem Buch gegriffen hatte, murmelte sie einen Dank und zog die Türe leise hinter sich zu. Vielleicht machte sie sich ja wirklich zu viele Gedanken.

Dorothea schob die Sorge um den Gemütszustand ihrer Stieftochter beiseite und ging in Roberts Arbeitszimmer, um dort nach Briefpapier zu suchen. Claire schien keine eigene Korrespondenz geführt zu haben: In der Schublade ihres Sekretärs befanden sich außer einem eingetrockneten Tintenfass nichts als ein paar Modejournale, ein hellblaues Strumpfband und ein zerbrochener Schildpattkamm sowie zwei tote Käfer, die zwar auf rätselhafte Weise hinein-, jedoch nicht mehr hinausgefunden hatten.

Roberts Arbeitszimmer wurde dominiert von einem riesigen Schreibtisch. An der Wand dahinter hing eine Karte von Südaustralien, auf der die Routen der Viehtrecks, die Stammesgebiete sowie diverse Lokalitäten eingezeichnet waren. Bisher hatte sie sich noch nicht die Zeit genommen, sie näher zu studieren. Diese Karte war deutlich detaillierter als die im Schulzimmer. Sie zeigte allerdings auch nicht ganz Australien, sondern nur die Kolonie Südaustralien mit den angrenzenden Gebieten von Neu-Südwales. Neugierig trat sie näher. Robert hatte ihr erklärt, dass es für ein harmonisches Miteinander mit den ortsansässigen Eingeborenenstämmen äußerst wichtig sei, nicht unwissentlich heilige Plätze oder Begräbnisstätten zu entweihen.

Handelte es sich bei den markierten Punkten um solche Orte?

Einer, ganz in der Nähe, war ihr bekannter, als ihr lieb war. Er lag am Ufer des Murray River, und sie schüttelte sich immer noch bei der Erinnerung. Einige Tage nach ihrer Ankunft hatte Robert sie dem benachbarten Stamm vorstellen wollen und war mit ihr zum Lagerplatz gegangen. King George empfing sie so würdevoll, als trüge er nicht bloß einen Umhang aus Opossumfell, sondern mindestens die halbe Brust voll königlicher Orden. Mit vor Stolz geschwellter Brust führte er sie an das Feuer, um das die Männer des Stammes herumlungerten. Dorothea empfand die Blicke der Männer als unangenehm aufdringlich. Obwohl sie ihre Garderobe bewusst schlicht gewählt hatte, hingen ihre Augen so schamlos anzüglich an ihrem schwellenden Busen, dass sie instinktiv ihr Umschlagtuch fester zog. Nur zögernd machten sie ihr Platz, und es bedurfte eines strengen Befehls von King George, um einen finster blickenden Schwarzen dazu zu bewegen, seinen Sitz aus geflochtenen Grasmatten zu räumen.

Frauen und Kinder waren keine zu sehen. Erst nachdem Robert den Beutel Tabak verteilt hatte und alle damit beschäftigt waren, ihre provisorischen Pfeifen zu stopfen, kamen einige picaninnies mit den typischen Kugelbäuchen aus den Hütten und starrten die fremde weiße Frau an. Dorothea war froh, dass sie daran gedacht hatte, eine Schachtel von Mrs. Perkins’ selbst gemachten Karamellbonbons mitzunehmen. Damit war das Eis im Nu gebrochen – vor allem, als die erwachsenen Männer sich nicht zu schade waren, ebenfalls nach den Süßigkeiten zu verlangen.

»Wo sind eigentlich die Frauen alle?«, fragte Dorothea schließlich leise ihren Mann, während die jüngeren Männer und die älteren Kinder sich lautstark um die letzten Bonbons balgten.

»Wahrscheinlich am Fluss. Muscheln sammeln«, gab er kurz zurück. Nur wenige Momente später waren Stimmen zu vernehmen, und die Frauen des Stammes, die yammaru bis zum Bersten gefüllt mit Muscheln, erschienen zwischen den Hütten.

King George bellte einen herrischen Befehl, worauf drei von ihnen sich aus der Gruppe lösten und näher traten.

»Meine Frauen«, sagte er mit unverhülltem Besitzerstolz. Dorothea konnte ihr Entsetzen kaum verbergen. Die Mädchen hätten seine Töchter, ja Enkelinnen sein können! Die Kleinste und Schwächlichste von ihnen zitterte wie Espenlaub, ihre Zähne klapperten hörbar. Ihre dunkle Haut wirkte aschfarben vor Erschöpfung. Unter ihrer schweren Last wankte sie, stolperte, und mitsamt dem yammaru glitt auch ihr Opossumfellumhang von den Schultern. Für einen Augenblick stand sie nackt da, ehe sie sich hastig wieder bedeckte. Der Moment jedoch hatte ausgereicht, den Blick auf ihren entsetzlich entstellten Rücken freizugeben. Vom Nacken bis zur Taille verliefen die kaum vernarbten, noch immer grässlich geröteten und entzündeten Wunden, die ein perverses Muster bildeten: Schnitte von gut zwei Zentimetern Länge und mit einem Abstand von nur anderthalb Zentimetern überzogen in horizontalen Reihen den gesamten Rücken.

»Mein Gott, welcher unmenschlichen Bestie ist das arme Mädchen nur in die Hände gefallen?«, entfuhr es Dorothea. King George war ihre schockierte Reaktion nicht entgangen. Ärgerlich griff er nach seinem Speer, um damit das Mädchen wegzustoßen. Dabei bohrte sich die Spitze tief in den Oberschenkel. Ungerührt überhörte er den Schmerzensschrei, knurrte nur etwas Unfreundliches in Richtung seiner Frauen und sagte dann in schmeichlerischem Tonfall zu Robert: »Sie ist noch ganz frisch. Wenn du Gefallen an ihr findest, schicke ich sie dir hinüber. Ich will nur eine Flasche Branntwein dafür.«

Dorothea bekam kaum mit, dass Robert höflich ablehnte. Sie wollte nur noch weg hier. Dass King George, den sie bisher für einen harmlosen Säufer gehalten hatte, in Wirklichkeit so brutal und roh war, entsetzte sie zutiefst.

»Warum wurde dieses Mädchen so verstümmelt? Was hat sie getan, dass sie dermaßen grausam bestraft wurde? Diese Bestien!«

Robert fuhr ihr besänftigend über den Handrücken. »Bitte, mäßige dich. Nicht, dass sie sich beleidigt fühlen. Das war keine Bestrafung. Bei einigen Stämmen hier in der Gegend ist es üblich, dass die Mädchen, ehe sie verheiratet werden, ihren Rücken tätowieren lassen. Du kannst sicher sein: Niemand hat sie gezwungen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil Moorhouse und ich darüber gesprochen haben. Er hat schon ein paar Mal eingegriffen und eine solche Operation gestoppt. Am lautesten haben dann die Betroffenen dagegen protestiert, weil sie diese Narben als Erhöhung ihrer Attraktivität sehen.«

»Das ist doch verrückt!«

Robert lächelte schwach. »Andere Länder, andere Sitten. Du kannst den Ngarrindjeri hier nicht vorschreiben, was sie schön zu finden haben. Ich persönlich finde die alltäglichen Misshandlungen schlimmer. Hast du die Narben an den Beinen der anderen Frauen gesehen? Die Männer behandeln sie schlimmer als Vieh. Beim geringsten Anlass schlagen sie sie mit ihren Waddies auf den Kopf oder stechen sie mit Speeren. Und nicht nur ein bisschen. Ich habe mich schon manches Mal geradezu geschämt, dem männlichen Geschlecht anzugehören.«

»Gibt es denn gar keine Zuneigung zwischen Mann und Frau?«, fragte Dorothea und dachte an Jane, die ihrem Tim so rührend zugetan war.

»Leider nein. Der einzige Grund für den Wunsch junger Männer nach einer Frau ist der, dass sie dann jemanden haben, der ihren Besitz schleppt, sich um Kleidung und Nahrung kümmert – kurz: ihr persönlicher Sklave ist. So wie die Männer eben, die ihre Frauen ins eiskalte Wasser zum Muscheltauchen schicken, während sie selber am Feuer hocken und es sich gut gehen lassen.«

»Kann man denn gar nichts unternehmen, um ihr Los zu verbessern?«

»Das ist schwierig. Moorhouse und die Missionare tun, was sie können. Aber es ist fast unmöglich, in kurzer Zeit etwas zu verändern, was seit Generationen so üblich gewesen ist«, gab Robert, vernünftig wie immer, zu bedenken. »Es dauert länger, eingefahrene Wege in den Köpfen zu beseitigen als Radfurchen auf einer alten Straße.«

Seit diesem Besuch hatte Dorothea es vermieden, auch nur in die Nähe des Lagers zu gehen. In ihrer Unwissenheit waren die Schwarzen an der Mission ihr harmlos erschienen. Doch je mehr sie über die Eingeborenen erfuhr, desto unheimlicher wurden sie ihr. Was, wenn so einer wie der finstere Jäger plötzlich zu der Überzeugung gelangte, eine weiße Frau sei auch nur eine Frau? Die lüsternen Blicke der Männer am Feuer waren unmissverständlich gewesen. Dorothea fröstelte plötzlich. Was, um Himmels willen, hatte Claire nur dazu bewogen, ihre Nähe zu suchen?

Robert hatte gesagt, das Briefpapier läge in der obersten Schublade, aber es gab zwei davon. Versuchsweise zog sie zuerst die linke auf. Neben einigen der gerade in Mode kommenden Stahlfedern samt Halter und einer Stange Siegellack lag ein Stapel Büttenpapier und obenauf ein paar mit krakeliger Handschrift bedeckte Briefbogen. Sie wollte sie schon achtlos beiseiteschieben, als sie innehielt. Etwas an der Schrift kam ihr sonderbar vertraut vor.

Man las keine fremden Briefe. Dennoch konnte sie nicht anders; als zwinge sie etwas außerhalb ihres Bewusstseins, verschlangen ihre Augen die letzten Zeilen des Schreibens auf der Suche nach einem Namen. Und da stand er: »Dein Ian.«

Mit einem hörbaren Plumps ließ sie sich auf den Schreibtischstuhl nieder. War das möglich?

Sicher gab es auch noch andere Männer gleichen Namens. Es musste nicht der Junge vom Schiff sein, an den sie jetzt nahezu täglich dachte: immer dann, wenn sie heimlich hinter den Stallungen mit dem Wurfmesser übte. Der Kampf mit ihrem Gewissen währte nur kurz. Mit klopfendem Herzen holte sie die Bogen aus der Schublade, suchte nach dem Anfang, und dann gab es kein Halten mehr.

Mein lieber Robert,

sicher wartest Du schon länger auf ein Lebenszeichen von mir. Ich hoffe, dass Deine Brautschau Dich gebührend in Anspruch nimmt, um nicht auf Ablenkung durch ein armseliges Schreiben meinerseits zu warten. Jedenfalls wünsche ich Dir alles Glück dieser Welt. Niemand hat es mehr verdient als Du.

Der letzte Treck nach Adelaide war die Hölle. Du hast sicher davon gehört. Robinson hatte Gouverneur Grey dringend um Geleitschutz gebeten, und wie nötig der gewesen wäre, durften wir am 26. August erleben.

Schon nachts war das Vieh merkwürdig unruhig. Wir auch, denn wir wussten nur zu gut, dass wir mitten im Gebiet der Maraura waren, die im Mai erst vier von unseren besten Leuten ermordet hatten. Und tatsächlich: Im Morgengrauen ertönte dieses nervenzermürbende Hu-ih, hu-ih aus mindestens fünfzig schwarzen Kehlen. Ein Anblick, den ich nie vergessen werde: ein Haufen Wilder, die Körper bemalt in dieser scheußlichen Art, dass man denken könnte, es mit Totengerippen zu tun zu haben. Mit den Federputzen auf den Köpfen und an Armen und Beinen hätte es komisch gewirkt wie ein palti, aber es war bitterernst.

Ununterbrochen dies infernalische Geheul ausstoßend, stürzten sie auf unseren Lagerplatz zu und versuchten, uns zu überrennen. Wir waren nur zu sechst, aber wir schossen, was das Zeug hielt, und tatsächlich gelang es einem von uns, den Häuptling zu erwischen. Wir vermuten jedenfalls, dass er es war, denn kaum sank er getroffen zu Boden, flohen die anderen wie ein Mann. Wir töteten fünf, und sicher haben wir auch noch ein paar verwundet.

Du hast mir ja gesagt, man soll sie nicht verscharren, sondern liegen lassen, damit ihre Angehörigen sie holen und nach ihren Sitten bestatten können. Das taten wir und versuchten, so rasch wie möglich weiterzukommen, ehe sie sich zu einem neuen Angriff sammeln konnten.

Einen halben Tagesritt weiter trafen wir dann endlich auf Major O’Halloran und seine Leute. Auch der gute Moorhouse war dabei und ziemlich bestürzt, als wir von den Toten berichteten. Hätte er sich etwas mehr beeilt!

Trotz allem war es gut, dass wir eskortiert wurden, denn sie griffen tatsächlich noch einmal an. An der Furt, Du weißt: die mit den alten Akazien, versuchten sie, uns zu umzingeln und ins Wasser zu treiben. Da hätten sie den Vorteil gehabt, dass wir auf den Pferden nicht so beweglich waren wie sie. Und sie können tauchen wie die Otter!

Es gab ein teuflisches Hin und Her! Die Kerle hätten es fast geschafft, den alten Tom von seinem Pferd und unter Wasser zu ziehen. Wenn ich nicht in letzter Minute einem von ihnen mein Messer in die Brust geworfen hätte, wäre es um den alten Burschen geschehen gewesen.

Ich denke nicht, dass sie bei der Untersuchung Moorhouse einen Vorwurf machen werden, dass er bei diesem Durcheinander den Überblick verlor und O’Halloran freie Hand gab. Du kannst Dir denken, dass der sich das nicht zweimal sagen ließ! Schließlich hat er seit seinem unrühmlichen Ausritt im Mai zähneknirschend darauf gewartet, es den Maraura heimzuzahlen. Endlich kam er zum Schuss, und das nutzte er gründlich! Dreißig tote Maraura, wie viele Verwundete, weiß kein Mensch.

Eine üble Geschichte.

Es wird Dich freuen zu hören, dass ich keine Verletzung abbekommen habe. Nur zwei von uns haben Speerwunden davongetragen, aber keine schweren. Und das Wichtigste: Kein Stück Vieh ist uns abhandengekommen. Du wirst also alle Tiere bekommen können, die Du bestellt hast. Es wird nur ein wenig dauern, weil ich vorher noch nach Gawlertown und Onkaparinga liefern muss.

Ich freue mich von Herzen darauf, Dich wiederzusehen, und hoffe, dann auch Deiner Braut meine Aufwartung machen zu können. Bis dahin verbleibe ich mit den besten Grüßen

Dein Ian

Dorothea ließ den Brief sinken und starrte vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen. Was für ein Zufall! Sie hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, Ian jemals wieder zu treffen. Und er hatte angekündigt, Robert besuchen zu wollen! Ob er sich sehr verändert hatte? Der Ton des Schreibens klang ausgesprochen zielbewusst und selbstsicher. Aber hatte Ian nicht schon auf dem Schiff ganz genau gewusst, was er wollte? Und wie er es bekam?

Damals waren sie fast noch Kinder gewesen, doch seine Zielstrebigkeit war schon da bewundernswert gewesen. Er hatte sich vorgenommen, lesen und schreiben zu lernen, und er hatte es gelernt. In Gedanken saß sie wieder mit ihm auf dem zugigen Deck hinter der Back und sah ihm zu, wie er konzentriert die Buchstaben nachmalte. Sicher hatte er sich alles andere notwendige und nützliche Wissen genauso angeeignet. Ob sie ihn wohl wiedererkennen würde? Und er sie?

Inzwischen war sie eine verheiratete Frau. Eine verheiratete Frau in guter Hoffnung. Ihre Gedanken und Erinnerungen wirbelten wild durcheinander. Fast hätte sie darüber vergessen, wozu sie Roberts Arbeitszimmer ursprünglich betreten hatte. Erst als sie die Schublade schon wieder zugeschoben hatte, fiel ihr ein, dass sie ursprünglich Papier für einen Brief an ihre Mutter gesucht hatte.

Robert war es, der vorgeschlagen hatte, ihr zu schreiben und sie von der Schwangerschaft in Kenntnis zu setzen. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie es längst wusste. Dorothea nahm vorsichtig eine der spitzen Stahlfedern in die Hand und prüfte sie auf dem Daumenballen. Angeblich sollte man mit ihnen sehr viel eleganter schreiben können als mit den gewohnten Gänsekielen. Sie waren sündhaft teuer und deswegen weder in der Missionsschule noch beim Register in Gebrauch gewesen. Robert hätte sicher nichts dagegen, wenn sie eine davon ausprobierte. Vorsichtig, um das kostspielige Gerät nicht aus Ungeschick zu beschädigen, steckte sie sie auf den Federhalter aus poliertem Horn, tauchte sie in das Tintenfass und begann.

Liebe Mama,

ich hoffe, Ihr seid alle wohlauf. Mir geht es wunderbar. Ich weiß wirklich nicht, wieso man sagt, dass man sich kränklich fühlen soll, wenn man guter Hoffnung ist.

Leider kann ich Euch nicht besuchen kommen, wie ich es gerne getan hätte, denn Robert ist überaus besorgt um mich und meinen Zustand. Sogar das Reiten hat er mir verboten, was sehr ärgerlich ist, denn es fing gerade an, mir Spaß zu machen.

Sonst bin ich sehr glücklich hier auf Eden-House. Alle sind ganz reizend zu mir. Ich habe meinen Entschluss noch keine Sekunde lang bereut, obwohl ich Euch natürlich alle sehr vermisse und oft an Euch denke.

Dorothea hielt unschlüssig inne. Sollte sie ihrer Mutter von Heathers seltsamem Verhalten berichten? Ihr Rat wäre sicher hilfreicher als der von Lady Chatwick. Nein, entschied sie dann jedoch nach kurzem Überlegen. Es würde sie nur beunruhigen. Ihre Stieftochter war ein Problem, mit dem sie selbst zurechtkommen musste. Also schrieb sie:

Aber Robert hat mir versprochen, dass wir einige Zeit in Adelaide verbringen werden, sobald das Kind da ist. Dann werden wir uns fast so oft sehen wie früher. Darauf freue ich mich jetzt schon, obwohl es noch so lange hin ist. Nicht, dass Du denkst, ich langweilte mich

Mit diesen Worten stürzte sie sich in eine Beschreibung ihres Tagesablaufs, um ihre Familie an ihrem jetzigen Leben teilhaben zu lassen. Sicher würde ihre Mutter den Geschwistern den Brief am Esstisch vorlesen, wie sie es mit den Briefen ihres Vaters immer getan hatte. Während des Schreibens musste sie immer wieder lächeln, wenn sie sich Augusts Kommentare zur Schilderung ihrer ersten Reitstunde vorstellte oder Lischens kugelrunde Augen bei der Aufzählung all der Kuchen und Süßspeisen, die Mrs. Perkins regelmäßig auftischte, oder Karls Begeisterung, wenn er die Abendstimmung am Murray River sehen könnte, die selbst in ihr den Wunsch auslöste, malen zu können.

Ihre Familie fehlte ihr mehr, als sie gedacht hatte. In entsprechend trüber Stimmung sah sie auf, als Robert eintrat. »Was ist los?«, fragte er sofort. »Ist es wegen Heather? Tante Arabella hat so etwas angedeutet, dass sie sich wieder in eine ihrer Stimmungen hineingesteigert hätte.«

»Ach, das wird schon wieder vorbeigehen«, sagte Dorothea. »Nein, ich bin nur etwas müde. – Würdest du den Brief morgen nach Adelaide mitnehmen?«

»Natürlich.« Er trat neben sie und beugte sich herab, um sie auf den Scheitel zu küssen. »Hast du irgendwelche speziellen Wünsche, vielleicht, was die Babyausstattung betrifft? Etwas, womit die brave Mrs. Dietrich überfordert wäre?«

»Ach, Robert!« Dorothea schüttelte den Kopf. Frau Dietrich, die Hahndorfer Näherin, wäre über solche Zweifel an ihrer Kompetenz sicher höchst entrüstet gewesen. »Es sind doch noch Monate hin. Wenn man dich so hört, könnte man meinen, die Geburt stünde unmittelbar bevor. Du bist aufgeregter als ich!«

»Du hast recht«, gab er leicht verlegen zu. »Ich habe mir immer eine große Familie gewünscht. Aber Claire …« Er sprach nicht weiter. Dorothea schmiegte die Wange an seine Hand auf ihrer Schulter, um ihn nicht ansehen zu müssen. »Ich möchte dich in ein paar Jahren hören, wenn unsere Kinder dir keine ruhige Minute mehr lassen«, neckte sie ihn. »Dann werde ich dich daran erinnern, dass es dein ausdrücklicher Wunsch war.«

»Liebling, ich weiß wirklich nicht, womit ich eine Frau wie dich verdient habe«, murmelte Robert und zog sie hoch, um sie fest in die Arme zu schließen.

Roberts Geschäfte erforderten in regelmäßigen Abständen seine Anwesenheit in der Stadt; Anfang September war es wieder so weit. Die alljährliche Schafschur stand bevor. Ein wichtiger, nein, der wichtigste Termin des Jahres für einen Züchter von Merinoschafen. Ihre Wolle war in den englischen Spinnereien hoch begehrt und wurde gut bezahlt. Merinos waren nicht zum Essen da, wie Dorothea inzwischen gelernt hatte, sondern allein wegen ihrer besonders feinen Wolle. Die war so besonders, dass Spanien über Jahrhunderte zur Aufrechterhaltung seines Monopols die Ausfuhr lebender Tiere zu verhindern gewusst hatte. Der Grundstock von Roberts Herde stammte allerdings aus Sachsen, wo Merinos erfolgreich mit einheimischen Rassen gekreuzt worden waren und den Ruhm sächsischer Wolle begründet hatten.

»Ich möchte mir die Scherer noch aussuchen können«, erklärte er Dorothea. »Die besten sind sonst schon weg.«

»Ist es wirklich so wichtig, wer denn nun die Schafe schert? Es scheint mir keine sehr anspruchsvolle Tätigkeit zu sein.«

»Da täuschst du dich gewaltig«, erwiderte Robert und löste sein Halstuch. »Ein ungeschickter Scherer kann die Tiere übel verletzen. Das bedeutet hohe Verluste, sobald die Fliegenschwärme im Sommer über die Herden herfallen.« Er legte das zerknüllte Musselintuch sorgsam über die Stuhllehne und bückte sich nach dem Stiefelknecht. »Deshalb lege ich großen Wert darauf, die deutschen Mädchen zu engagieren. Sie sind nicht die schnellsten – mehr als dreißig Tiere pro Tag schaffen sie nicht –, aber sie fügen ihnen dabei keinen einzigen Kratzer zu.« Er lachte leise. »Es sieht ziemlich komisch aus, wenn sie so dasitzen mit ihren bloßen Füßen und dem Seil, das sie um den großen Zeh gebunden haben, mit dem sie die Hinterbeine der Tiere ruhig halten. Aber die Methode ist höchst effektiv.«

»Kann ich dabei einmal zusehen?« Dorothea schien es interessant genug, um einen Bericht darüber zu schreiben. Wer in der Stadt wusste schon von solchen Dingen? Robert stieg leise ächzend aus dem ersten Stiefel. »Natürlich. Nächstes Jahr. – Vorausgesetzt, dass du dann in der richtigen Verfassung bist«, schränkte er ein.

Dorothea verzog das Gesicht, enthielt sich jedoch einer Erwiderung. Es hatte unbestreitbar Vorzüge, in Watte gepackt zu werden. Ihrer Ansicht nach machte das die Nachteile der übertriebenen Fürsorge aber nicht wett. Manchmal fühlte sie sich schon wie ein Kanarienvogel: verhätschelt, geliebt und doch nie frei zu tun, was ihr beliebte.

»Ich werde so schnell wie möglich zurückkommen«, sagte ihr Mann aufmunternd und trat auf sie zu, um sie liebevoll zu umarmen. »Es sind doch nur ein paar Tage.«

»Warum kann ich nicht mitkommen? Ein wenig durchgerüttelt zu werden wird mir schon nicht schaden.« Dorothea hörte selbst, dass ihre Stimme klang wie die eines quengelnden Kleinkinds. Sie konnte nichts daran ändern. Und im Augenblick wollte sie das auch nicht.

Ihr Mann seufzte leise und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. »Liebes, das haben wir doch wieder und wieder besprochen: Es ist unser erstes Kind. Ich will und kann nicht das geringste Risiko eingehen. Tante Arabella kannte eine Frau, die ist nur mit der Kutsche zur Kirche gefahren, und das hat schon ausgereicht, eine Fehlgeburt auszulösen.«

Dorothea biss die Zähne zusammen, um eine sarkastische Bemerkung über Lady Chatwicks Kompetenz in Sachen Schwangerschaft zurückzuhalten. Ihrer Einschätzung nach neigte die Dame ein wenig zu sehr zum Dramatisieren, was vermutlich auf die blutrünstige Lektüre zurückzuführen war, die sie so schätzte. Aber Robert das klarzumachen würde sich als vergebliche Liebesmüh herausstellen. Also winkte sie ihm am nächsten Morgen ein wenig neidisch hinterher. Männer hatten es gut: Sie konnten jederzeit beschließen, hierhin und dorthin zu reiten. Keine typisch weiblichen Befindlichkeiten behinderten sie in ihren Plänen. Kein Wunder, dass Heather die Welt der Rüschen und gestärkten Hauben so vehement ablehnte! Wurden ihr doch täglich die Einschränkungen des weiblichen Geschlechts vor Augen geführt: ihre Tante, die völlig davon abhängig war, dass jemand sie kutschierte; Mrs. Perkins, die sich erstaunlicherweise ebenfalls weigerte, auch nur die Zügel in die Hand zu nehmen, und sie, die neue Stiefmutter, die noch nicht einmal mitfahren durfte, weil ihr Zustand »zu delikat« war.

Als sie etwas Entsprechendes Lady Chatwick gegenüber äußerte, meinte die jedoch: »Liebes, das ist doch Unsinn! Wenn ich wollte, könnte ich jederzeit Sam bitten, anzuspannen und mich irgendwohin zu kutschieren. Das Gleiche gilt für Mrs. Perkins und für Heather, sobald sie alt genug sein wird. Bei dir ist es etwas anderes. Das kannst du nicht vergleichen. Wieso sollte das Kind auf dermaßen seltsame Gedanken kommen?« Lady Chatwick war so offensichtlich zufrieden mit der Welt, wie sie war, dass Dorothea darauf verzichtete, das Thema weiter zu verfolgen, und sie dem wohligen Grusel ihrer augenblicklichen Schauergeschichte überließ. Wenigstens hatte sie genug Umsicht, Heather damit zu verschonen! Nicht auszudenken, was das in ihrem kindlichen Kopf anrichten konnte.

Dorothea hatte dem Angebot, eines der Bücher zu lesen, nicht widerstehen können. Und es überlief sie immer noch eiskalt, wenn sie an die Geschichte der eisernen Jungfrau oder den neben der Leiche seiner Mutter lebendig begrabenen jungen Mann dachte.

Entsprechend panisch reagierte sie mit einem Entsetzensschrei, als sie mitten in der Nacht von einer kleinen, kalten Hand an der Schulter geweckt wurde. Sie fuhr auf und rang nach Atem, während ihr wie rasend schlagendes Herz sich beim Anblick ihrer Stieftochter langsam wieder beruhigte.

Ihr erster Impuls, das Kind scharf anzufahren, weil es sie so erschreckt hatte, verschwand sofort, als sie in das totenblasse Gesicht sah. Wenn Heather sich ausgerechnet an sie um Hilfe wandte, musste es ihr bitterernst sein. »Was ist los, Heather? Fühlst du dich krank?«, gelang es ihr schließlich einigermaßen ruhig zu fragen, während sie schon die Hand ausstreckte, um zu fühlen, ob das Kind fieberte.

Heather schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin nicht krank.« Ihre Augen blickten klar und ernst. Sie wirkte absolut gesund. Dorothea spürte Ärger in sich aufsteigen. Was sollte das?

»Würdest du mir dann erklären, wieso du hier mitten in der Nacht an meinem Bett stehst?«, fragte sie, und der Unmut, den sie empfand, klang dabei deutlich durch.

Heather erschauerte und umschlang die schmalen Schultern mit den Armen. »Ich habe den bösen Mann gesehen«, flüsterte sie mit vor Schreck immer noch ganz großen Augen.

Ein Albtraum!

Fast erleichtert hob Dorothea die Bettdecke an. »Du hast schlecht geträumt. Komm, du kannst heute Nacht hier schlafen, und morgen bei Tageslicht ist alles vergessen.«

Heather kniff die Lippen zusammen. »Ich habe nicht geträumt. Ich habe den bösen Mann wirklich gesehen«, beharrte sie und blieb stocksteif stehen.

»Unter deinem Bett?«

Die prompte Antwort war ein verächtliches Schnauben. »Du glaubst mir ja doch nicht!«

»Also gut, lass uns nachsehen, was dich so erschreckt hat«, entschied Dorothea und schlüpfte, nicht allzu begeistert davon, ihr warmes Bett zu verlassen, in ihre Pantoffeln. Die Nächte im September waren noch ausgesprochen frisch, auch wenn die Akazienknospen bereits dick und prall waren. Es war aber wohl das Zweckmäßigste, dem Kind zu zeigen, dass es diesen bösen Mann nicht gab, vor dem es sich so fürchtete. »Wir gehen jetzt zuerst in dein Zimmer, und du ziehst dir Schuhe an«, sagte sie streng, wobei sie den Gürtel ihres wattierten Morgenmantels zuband. »Und dann führst du mich dorthin, wo du ihn gesehen hast.«

Heathers Zimmer lag nach Süden hinaus, und während Dorothea darauf wartete, dass das Mädchen seine Samtslipper und ein Bettjäckchen anzog, ließ sie ihren Blick über die vom Mondschein erhellte Ebene bis zum Murray River schweifen. Einige der einzeln stehenden Bäume und Büsche warfen bizarr geformte Schatten, die man bei oberflächlicher Betrachtung durchaus mit dem Schatten eines Menschen verwechseln konnte. Wahrscheinlich hatte Heather im Halbschlaf aus dem Fenster gesehen, und ein solcher Schattenriss hatte sie genarrt.

»Fertig?«

»Willst du wirklich nach draußen gehen? Was ist, wenn er uns auflauert?« Heather schielte ängstlich aus dem Fenster.

»Sei nicht albern. Selbst wenn sich dort draußen jemand herumgetrieben haben sollte, ist er inzwischen sicher wieder verschwunden. Mrs. Perkins’ Vorratskammer ist so fest verschlossen wie die Kronjuwelen im Tower.«

Bei dem unpassenden Vergleich musste Heather kichern. Der Bann war für einen Moment gebrochen. Dann wurde sie wieder ernst. »Er war nicht bei der Vorratskammer. Er war bei der Latrine.« Mit dem Zeigefinger wies sie auf das Gebüsch bei dem Holzhäuschen, dessen Zweige sich in der nächtlichen Brise tatsächlich wie lebende Wesen zu bewegen schienen.

»Dort drüben. Er hat genau zu mir hochgesehen«, flüsterte Heather kaum hörbar. »Ich habe mich hinter der Gardine versteckt, und da hat er gelacht. So …« Sie imitierte erstaunlich treffend ein höhnisches Grinsen. »Und dann hat er ein kleines Tier hochgehalten und ihm zuerst den Kopf und danach die Beine ausgerissen.«

Jetzt wurde es Dorothea doch mulmig zumute. Heathers Erzählungen klangen so erschreckend real. Sie musste schlucken, ehe sie bemüht leichtfertig sagte: »Das hört sich ja fast wie eine von Tante Arabellas Geschichten an. Bist du sicher, dass er das arme Tier wirklich getötet hat? Konntest du sehen, was es für eines war?«

Heather schüttelte nur den Kopf.

»Dann sollten wir schleunigst nachsehen, was da vor sich gegangen ist.« Dorotheas vorherrschender Gedanke, sich vor ihrer Stieftochter nur ja keine Blöße zu geben, ließ sie mutiger handeln, als es sonst der Fall gewesen wäre. Der Vollmond schien so hell, dass sie gut auf Kerzen verzichten konnten. Als sie die Hintertür öffnete, schrie ein Vogel. Schrill wie in Todesangst. Heather drängte sich dicht an sie und flüsterte: »Wollen wir nicht doch lieber Sam wecken?«

»Sam braucht seinen Schlaf«, flüsterte Dorothea automatisch zurück. »Ich sehe nichts Ungewöhnliches bei der Latrine.« Tatsächlich gab es nicht das geringste sichtbare Anzeichen dafür, dass sich hier ein solch blutrünstiges Geschehen wie das von dem Mädchen beschriebene abgespielt hatte. »Sieh selbst, hier ist nichts.« Beinahe mit Gewalt zerrte sie das widerstrebende Kind hinter sich her, um ihm zu demonstrieren, wie normal alles war. Kein zerfetzter Tierkadaver, keine Blutlache.

Die innerliche Anspannung wich Erleichterung und einer Art Triumphgefühl. Sie hatte sich von Heather nicht ins Bockshorn jagen lassen! Also war die Geschichte mit dem bösen schwarzen Mann wirklich nichts als ein Trick, um Aufmerksamkeit zu erregen, wie sie insgeheim schon vermutet hatte. »Und hier ist auch nichts!« Entschlossen, diese Farce ein für alle Mal zu beenden, griff sie nach der Latrinentür und riss sie auf.

Da ihr Blick dabei fest auf Heathers Gesicht geheftet war, sah sie nicht, was diese sah. Das Gesicht der Kleinen schien urplötzlich zu einer Grimasse des Grauens zu zerfließen. Ihre aufgerissenen Augen starrten wie gebannt auf etwas im Inneren der Latrine, ihre freie Hand presste sie in einer verzweifelten Geste auf den Mund.

Wie der Kopf einer Marionette, gezogen von unsichtbaren Fäden, schwang auch Dorotheas herum. Im ersten Augenblick erkannte sie nicht, was da auf den Brettern vor dem Latrinensitz lag. Es war eine seltsame Form. Nein, eher verschiedene Formen. Und sie lagen in einem dunklen Fleck, der auf dem hellen Holz gut auszumachen war. War das etwa Blut?

Ihr Griff um Heathers Hand lockerte sich, und die ergriff die Gelegenheit, sich loszureißen. Wie ein verschrecktes Tier flüchtete sie ins Haus und warf die Tür hinter sich zu. Mit einem deutlich hörbaren Klacken wurde der Riegel vorgeschoben.

Na fein! Jetzt durfte sie auch noch Mrs. Perkins wecken, um sie wieder ins Haus zu lassen! Dorothea presste verärgert die Lippen aufeinander, ohne den Blick von dem sonderbaren Häufchen zu nehmen. Was daran hatte Heather so verstört? Sie konnte nicht einmal erkennen, worum es sich handelte. Es erinnerte an …

Blitzartig brach die Erkenntnis über sie herein: Es war das kleine Tier, von dem Heather gesprochen hatte. Sie versuchte, die Übelkeit zu ignorieren, die in ihr aufstieg, brach einen Ast ab und schob damit die Teile so weit aus der Blutlache, bis sie Einzelheiten erkennen konnte. Es handelte sich tatsächlich um ein Wallaby. Ein noch nahezu nacktes Jungtier. Der abgetrennte Kopf mit den geschlossenen Augenlidern rollte ein paar Zentimeter beiseite. Jetzt erkannte sie die bleistiftdünnen Gliedmaßen, die wie zerbrochene Stöckchen daneben verstreut lagen.

Mein Gott, wer tat so etwas? So etwas konnte nur die Tat eines Verrückten sein!

Fast gleichzeitig schoss ihr der zweite Gedanke durch den Kopf: War er noch in der Nähe?

Starr vor Angst versuchte sie, in den unruhigen Schatten etwas zu erkennen, lauschte mit angespannten Sinnen auf jedes Rascheln in der Nähe. Es war kein Geräusch, das sie warnte, sondern ein Geruch. Plötzlich war da dieser Gestank. Ranzig und streng. Er ähnelte nichts Bekanntem.

Sie wirbelte herum, um zum Haus zu rennen und dort an die Tür zu hämmern. Und da stand er. Unbeweglich wie eine Statue versperrte er ihr den Rückweg. Unwillkürlich wich Dorothea zurück, bis sie mit dem Rücken an die raue Holzwand der Latrine stieß.

Es war ein hochgewachsener Schwarzer. Um nicht zu sagen: riesig. Gesicht und Körper waren vollkommen mit Mustern aus weißem Ocker bedeckt, die im fahlen Mondlicht schimmerten und an ein Skelett erinnerten. Aus dunklen Augenhöhlen fixierte er sie, während aus seinem weiß umrandeten Mund gutturale Töne drangen, eine Art Beschwörung.

Schritt für Schritt kam er auf sie zu, in einer seltsam tänzelnden Bewegung wie eine Schlange, die sich ihrer Beute nähert. Genauso gelähmt wie das Kaninchen sah Dorothea ihm entgegen. Sie brachte einfach nicht die Kraft auf, ihren Blick von seinem zu lösen und den Zauber zu brechen.

Erst als er schon sein Waddy hob, um zuzuschlagen, gewann ihr Überlebenswille die Oberhand. Mit einem Schrei der Verzweiflung warf sie sich herum und tauchte in die schützenden Schatten des Unterholzes. Ohne darauf zu achten, dass die Dornen und Ranken ihr Gesicht und Hände zerkratzten, den schützenden Morgenmantel zerfetzten, hetzte sie voran, jeden Moment in Erwartung des tödlichen Schlags. Ihre panische Flucht folgte keinem Plan. Deshalb hatte sie nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand, als sie endlich völlig außer Atem in einem hohlen Red Gum Tree zu Boden sank.

Sie war so erschöpft, dass sie einfach nicht mehr weiter konnte. Hektisch tastete sie den Boden nach etwas ab, womit sie sich verteidigen könnte. Wenn sie nur daran gedacht hätte, das Wurfmesser mitzunehmen! Inzwischen war sie wieder so gut wie damals auf dem Schiff. Auf zwanzig Schritt traf sie mit einer Genauigkeit, die vollkommen ausgereicht hätte, die Halsschlagader ihres Verfolgers zu durchtrennen.

Sie musste etwas anderes finden. Einen Stein, einen dicken Ast, irgendetwas. In demselben Moment, in dem ihre Finger etwas Hartes, Spitzes berührten, durchzuckte sie ohne Vorwarnung ein scharfer Schmerz. Als ob ein Messer in ihre Eingeweide gestoßen würde.

Die Empfindung war so überwältigend, dass sie unwillkürlich einen spitzen Schrei ausstieß und sich zusammenkrümmte. Es fühlte sich ganz anders an als alles, was sie kannte. Das Messer bohrte sich durch ihren Unterleib, so heftig, dass sie vor Schmerzen fast ohnmächtig wurde. Hatte er sie etwa verletzt, ohne dass sie es vorher gespürt hatte?

Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn und Oberlippe, und sie schmeckte Galle. Es kostete sie geradezu übermenschliche Selbstbeherrschung, still und bewegungslos zu verharren. Dorothea grub die Zähne in die Unterlippe, bis der metallische Geschmack von Blut den der Galle übertönte. Sie durfte keinen weiteren Laut von sich geben! Vielleicht war sie auch so verloren, weil der eine Schrei ausgereicht hatte, ihm ihr Versteck zu verraten. Sie klammerte sich jedoch an die winzige Hoffnung, dass er ihn nicht gehört hatte und im Dunklen nicht so gut Spuren lesen konnte wie bei Tageslicht.

Plötzlich ließ der nahezu unerträgliche Schmerz nach, als hätte jemand das Messer wieder herausgezogen. Gleich darauf war es vorbei. Dafür setzte ein Ziehen in ihrem Unterleib ein, das ihr von ihren Monatsblutungen her nur zu vertraut war. Dorothea realisierte nur am Rande ihres Bewusstseins, dass sie gerade das Kind verlor. Es ließ sie seltsam unberührt: so, als ob es einem anderen Menschen zu einer anderen Zeit zustieße. Das Einzige, das zählte, war der irrsinnige Schwarze, der sie töten wollte.

Ein Rascheln wie von einem größeren Tier ließ sie vor Angst beinahe ohnmächtig werden. War er ihr bis hierher gefolgt? Würde sein Schatten gleich die Öffnung des Baums verdunkeln und ein brutaler Schlag ihrem Leben ein Ende setzen? Als könne sie die Wirklichkeit ausschließen, kniff sie die Augen wie ein Kind fest zusammen und presste sich an die raue Holzfläche des Red River Gums. In diesem unpassenden Moment kam ihr ihr Vater in den Sinn, wie er ihr einmal die Geschichte einer Nymphe vorgelesen hatte, die sich im Augenblick höchster Gefahr in einen Baum verwandelt hatte. Sie hatte auf seinem Schoß gesessen, das dazugehörige Bild betrachtet und sich gefragt, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn die eigenen Glieder zu Ästen und Borke wurden.

Auf einmal wich das Gefühl der Bedrohung. Es gab keinerlei Anzeichen, wieso. Aber ohne dass Dorothea einen Grund hätte angeben können, wusste sie einfach, dass der Mann sich entfernt hatte. Die Anspannung wich von ihr. So plötzlich, dass sie zusammensackte wie eine Stoffpuppe, ehe sie in Tränen ausbrach.

Die warme Nässe zwischen ihren Oberschenkeln erinnerte sie daran, dass sie so schnell wie möglich Hilfe benötigte. Sie musste zurück zum Haus! Ihre Knie zitterten immer noch, als sie sich vorsichtig aufrichtete und das Schwindelgefühl zu beherrschen versuchte. Als sie die Öffnung im Stamm erreicht hatte, setzte der schneidende Schmerz erneut ein. Mit einem lauten Stöhnen krümmte sie sich zusammen. Es tat so weh, dass sie kaum spürte, wie etwas aus ihr herausrutschte. Etwas Glitschiges, Warmes. Sobald der Krampf nachließ, blickte sie an sich herab und erschrak dermaßen, dass sie fast wieder zu Boden gesunken wäre.

Im fahlen Mondlicht sah der untere Teil des Nachthemds unter dem zerfetzten Morgenmantel schwarz aus. Dabei war es doch eigentlich weiß. War die klebrige Flüssigkeit, die an ihren Beinen herunterlief, Blut?

Würde sie jetzt hier sterben? Hatte der Schwarze das gewusst und sie deshalb ihrem Schicksal überlassen?

Dorothea schloss die Augen. Ihr ganzer Körper schmerzte, und sie war so müde, dass sie kaum die Augen offen halten konnte. Schlafen, nur noch schlafen. Wäre es wirklich so schlimm, wenn sie dabei in den Tod hinüberglitte?

Ihr unbedingter Lebenswille gewann die Oberhand. Ohne darüber nachzudenken, setzte sie sich in Bewegung. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie in der richtigen Richtung vorwärtstaumelte. Aber wie getrieben setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das Bellen eines Hundes und menschliche Stimmen rissen sie aus ihrer halben Betäubung. Man suchte sie, Hilfe war nah!

»Ma’am? Mrs. Masters?« Jetzt waren Sams besorgte Rufe schon deutlich zu verstehen. Sein raues Organ klang in ihren Ohren wie die schönste Musik. »Können Sie mich hören? – He, John, such mal da drüben bei den Büschen. Das könnte ein Stofffetzen sein.«

»Hier bin ich.« Dorotheas Stimme klang schwach, leicht krächzend. Sie räusperte sich und versuchte es nochmals. »Hilfe, hierher.«

In der windstillen Nacht trug ihre Stimme weit genug, um zumindest den Hund zu erreichen. Mit aufgestellten Ohren und heftig wedelndem Schwanz kam er auf sie zu. Bisher hatte sie dem Mischling, der nachts die Ställe bewachte, kaum Beachtung geschenkt. Jetzt empfand sie tiefe Dankbarkeit, als das Tier sie umsprang und dabei laut bellend kundtat, dass es sie gefunden hatte.

»Mein Gott, Madam, sind Sie schwer verletzt?« Sam war dem Hund gefolgt und warf einen entsetzten Blick auf ihr blutgetränktes Nachthemd, ehe er sie mit festem Griff an den Oberarmen packte. In letzter Sekunde, denn ihre Beine versagten jetzt endgültig ihren Dienst. John erreichte sie nur unwesentlich später, und sein Gesichtsausdruck zeigte nur zu deutlich, was er empfand.

»Nicht verletzt. Das Kind …«, gelang es Dorothea noch zu wispern, ehe es um sie herum schwarz wurde.