6

Dass Weihnachten praktisch vor der Tür stand, kam Dorothea genauso unwahrscheinlich vor wie ihre neue Position als freie Korrespondentin. Ihre Mutter hatte zwar den Kopf geschüttelt, als sie davon hörte, jedoch keine Einwände erhoben. Auch ihr Vater hatte nur gemurmelt: »Tempora mutantur. Ich hoffe nur, dass du nicht Schaden an deiner Seele nimmst, wenn du in die Niederungen menschlichen Daseins hinabblickst.«

Jane war hellauf begeistert von der Aussicht, dass nunmehr Dorothea diejenige sein würde, die ihre Geschichte aufschrieb. »Ich spreche viel lieber mit dir als mit diesem Mann«, vertraute sie ihr an. »Er wird allerdings ärgerlich sein, jetzt nicht mehr herkommen zu können.«

»Wieso denn das?«

»Ich habe gesehen, wie er dich mit den Augen verschlungen hat. Wenn es nach ihm ginge, würde er dich hinter einen Busch ziehen«, sagte Jane und lächelte vielsagend.

Dorothea schluckte bei der Vorstellung, Miles Somerhill auf diese Art näherzukommen. Er gefiel ihr wirklich ausnehmend gut. Nicht nur, dass er glänzend aussah mit seinem gut geschnittenen Gesicht, das sie an die Abbildungen römischer Büsten in den Büchern ihres Vaters erinnerte. Mehr noch zog sie sein herausforderndes Lächeln, sein bissiger Humor und der Hauch von Unverfrorenheit an, der ihn umgab. Sie hätte absolut nichts dagegen gehabt, wenn er den Versuch unternommen hätte, sie zu küssen. Irgendetwas sagte ihr, dass es keine unangenehme Erfahrung sein würde. Aber er hatte keinerlei Anstalten dazu gemacht, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie es anstellen sollte, ihn zu ermutigen.

»Jane, so etwas sagt man nicht«, brachte sie schließlich verlegen hervor. »Außerdem ist Mr. Somerhill ein Gentleman. Der würde so etwas nie tun.«

»Alle Männer sind gleich.« Die junge Aborigine war nicht im Mindesten beeindruckt. »Die Weißen, die in unser Lager kamen, wollten immer nur … Wie sagt man in eurer Sprache dazu?« Sie vollführte eine obszöne Geste, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.

»Man spricht überhaupt nicht über solche Dinge.« Dorothea bemühte sich um Fassung.

»Nie?« Überrascht hob Jane die Augenbrauen. »Nicht einmal, wenn ihr heiratet?«

»Doch, ich glaube schon. Aber nicht einfach so. Das Thema ist – wie soll ich sagen – sehr, sehr privat.«

»Bei uns im Lager sprachen alle ständig davon. Die Männer über die Frauen, die Frauen über die Männer und alle gemeinsam über die weißen Männer. Die Frauen, die oft mit Weißen hinter einen Busch gingen, sagten, dass sie sehr unterschiedlich wären. Schafhirten seien fast wie unsere Männer, aber die vornehmen aus der Stadt schwächlich wie ein Greis.« Sie lachte kehlig. »Was für ein Glück, dass Tim ein Schafhirte ist!«

Und was für ein Glück, dass weder ihre Mutter noch Lischen in Hörweite waren! Dorothea wagte nicht, sich die Reaktion Mutter Schumanns auf diese in aller Harmlosigkeit geäußerte Information auszumalen.

»Du willst damit doch nicht sagen, dass Herren aus Adelaide sich …« Dorothea fehlten die Worte.

»Aber natürlich. Oder hast du wirklich geglaubt, nur Schafhirten gingen zu lubras?«

Dorothea versuchte, das zu verdauen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Herren in ihrem feinen Zwirn, die immer so höflich den Zylinder lupften, wenn sie ihnen auf der Straße begegnete, mit Eingeborenenfrauen »hinter einen Busch gingen«, wie Jane es so malerisch ausdrückte. Ihr Widerwillen spiegelte sich so deutlich auf ihrem Gesicht, dass Jane ganz erstaunt fragte: »Hast du das denn nicht gewusst? Ach, wie dumm von mir. Ihr sprecht ja nicht darüber.« Sie lachte erneut, offenbar fand sie diese Zurückhaltung äußerst albern.

»Stört es die Männer denn gar nicht, wenn ihre Frauen mit fremden Männern … in den Busch gehen?«, erkundigte Dorothea sich. Bekanntermaßen betrugen die Eingeborenen sich nicht nach europäischen Vorstellungen von Sitte und Anstand, aber dennoch fiel es ihr schwer, zu glauben, dass es Ehemännern tatsächlich gleichgültig war, wenn ihre Frauen sich mit anderen Männern einließen.

»Nur, wenn sie keine Kompensation dafür bekommen.« Plötzlich wurde Jane ernst. »Dann ist das Gleichgewicht nicht mehr gewahrt, verstehst du?«

Dorothea nickte geistesabwesend, weil ihr eben ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf geschossen war: Ging Miles Somerhill etwa auch in den Busch? Sie brachte es nicht über sich, Jane zu fragen. Was, wenn sie es bejaht hätte? Stattdessen griff sie nach ihrem Notizbuch und sagte betont munter: »Ich denke, wir sollten dann anfangen mit dem Interview. Die meisten Leserinnen interessieren sich sicher brennend dafür, wie eine Hochzeit bei deinem Stamm gefeiert wird. Welche Zeremonien werden dabei abgehalten? Kannst du sie mir beschreiben?«

»Nachdem die Verhandlungen über den Brautpreis abgeschlossen waren, hat mein Bruder mir befohlen, alle meine Sachen zusammenzupacken und meinem Ehemann zu seinem Lager zu folgen«, sagte Jane nüchtern. »Eine spezielle Zeremonie gibt es nicht. Dafür ist es nicht wichtig genug.«

Fassungslos ließ Dorothea den Stift sinken und starrte sie an. »Nicht wichtig genug? Eine Hochzeit?!« Bisher hatten sie, auch wenn sie allein gewesen waren, weder über Janes ersten Ehemann noch über ihr Leben bei seinem Stamm gesprochen. Irgendwie hatte es sich nie ergeben. Jane kicherte. »Du solltest lieber den Mund wieder zumachen, sonst fliegt noch eine Mücke hinein«, riet sie. »Tim hat mir erzählt, dass bei den Weißen eine Eheschließung eine großartige Angelegenheit ist. Deswegen will er mich ja auch nach euren Zeremonien heiraten. Er meinte, sonst fühlte er sich überhaupt nicht verheiratet.« Sie verzog spöttisch den Mund. »Dass man vor der Hochzeitsnacht enthaltsam bleiben muss, hat er mir aber erst viel später erzählt. Damals war ich schon lange seine Frau.«

»Musstest du nicht erst von deinem Mann geschieden werden? Kommt es oft vor, dass Ehefrauen ihren Mann verlassen?«

Jane schüttelte den Kopf. »Eine Ehefrau kann ihren Mann nicht verlassen. Sie gehört ihm. Wenn sie wegläuft, weil sie Heimweh nach ihrer Familie hat oder weil er sie schlecht behandelt hat, wird sie sofort zurückgebracht und hart geschlagen. Einmal hat mir gereicht!« Sie beugte sich vor, zog ihre Haare am Scheitel etwas auseinander und ließ Dorothea einen Blick auf eine lange, hässliche Narbe auf der Kopfhaut werfen. »Du kannst mir glauben, dass es lange gedauert hat, bis es nicht mehr schmerzte und mich nicht mehr an meinen Fehler erinnerte«, sagte sie gelassen, ohne auf Dorotheas offenes Entsetzen einzugehen. »Nein, es ging alles nach den Regeln. Tim hat mich ihm abgekauft, und damit bin ich in seinen Besitz übergegangen. Jetzt gehöre ich ihm.«

»Das ist ja Sklaverei!«, empörte Dorothea sich.

»Was ist Sklaverei?«

»Es war gar nicht so einfach, Jane das zu erklären!«, sagte sie ein paar Tage später, als sie mit Miles Somerhill wieder ihre Notizen für den neuesten Artikel sichtete. Chefredakteur Stevenson hatte nach einem kurzen Blick in ihre erste Beschreibung über das »Leben einer Eingeborenen vom Kaurna-Stamm« diese als »talentiert, aber noch ein wenig ungeschliffen« bezeichnet und vorgeschlagen, dass Miles Somerhill sie in »die Tricks und Kniffe der Zeitungsschreiberei« einweihen sollte.

»Es geht vor allem darum, die Leser nicht zu langweilen«, hatte der ihr eingeschärft. »Das ist die größte Todsünde für einen Journalisten. Die zweite, jedenfalls hier in Adelaide, ist, die werte Leserschaft mit obszönen Details zu schockieren. Dass der Akt mit einem Mann dazu dient, einer Kinderseele den Weg zu bahnen, und deswegen so oft wie möglich vollzogen wird, lassen wir weg. Es reicht, wenn Sie schreiben, dass die Eingeborenen glauben, die Kinderseelen schwebten in der Geisterwelt herum und suchten sich von da aus ihre zukünftigen Mütter selber aus. Überhaupt – wir müssen aufpassen, dass wir die Empfindsamkeit der Damen der Literarischen Gesellschaft nicht beleidigen.«

Sie hatte seine Ratschläge befolgt, und das mit so gutem Erfolg, dass Dorotheas Artikel inzwischen sowohl in der Literarischen Gesellschaft, dem wichtigsten Zirkel Adelaides, als auch in Regierungskreisen äußerst wohlwollend aufgenommen und kommentiert wurden.

»Ich fürchte, ich bin inzwischen zu sehr an Janes Art gewöhnt, um noch über irgendetwas schockiert zu sein«, gab Dorothea zu. »Was ich als verabscheuungswürdig bezeichne, ist für sie bloß eine Tradition, die sie ohne Widerwillen akzeptiert. Sie ist so vollkommen anders. Manchmal werde ich ganz wirr im Kopf.«

»Interessant. Und was irritiert Sie besonders?«

»Diese Geschichte mit dem ›in den Busch gehen‹«, platzte Dorothea heraus und wurde im selben Augenblick knallrot. Was musste Miles Somerhill jetzt nur von ihr denken! Warum hatte sie nicht den Mund gehalten? »Ich meine, bei ihr hört es sich an, als ob unsereins sagen würde: Ich habe etwas gegessen«, versuchte sie zu erklären. »So, wie soll ich sagen … als wäre es ganz selbstverständlich.«

Somerhills Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. »Und wenn es für sie eben tatsächlich so selbstverständlich ist wie zu essen oder zu trinken? Schließlich wäre die Menschheit ohne diesen ›Akt‹, wie er so schamhaft genannt wird, schon längst ausgestorben.«

Dorothea wurde bewusst, dass die Unterhaltung in eine Richtung driftete, die ganz und gar nicht schicklich war. Ihre Mutter hätte sich spätestens in diesem Moment laut geräuspert, und ihr Vater hätte augenblicklich dafür gesorgt, dass das Thema gewechselt wurde. Aber keiner von beiden war anwesend. Überhaupt war niemand anwesend, wie sie auf einmal feststellte.

Verlegen fixierte sie den zweiten Knopf seiner Weste, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen. »Jetzt sehen Sie aus, als ob Sie am liebsten die Flucht ergreifen würden! Soll ich mich entschuldigen, dass ich Sie mit meinen ungehörigen Bemerkungen in Verlegenheit gebracht habe?« Seine Stimme klang sanft und dunkel. Etwas in ihrem Inneren reagierte darauf mit dem irrwitzigen Wunsch, sich in seine Arme zu werfen und ihn zu bitten, sie zu küssen. Plötzlich war das Einzige, woran sie denken konnte, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn er seine Lippen auf ihre presste. Wie würde er schmecken?

»Vertrauen Sie mir?«, fragte Somerhill sanft und erhob sich von seinem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. Unschlüssig sah sie zu ihm auf, während er langsam um den Tisch herumgeschlendert kam. Die kleine Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr riet, vor dem inneren Aufruhr, den seine Nähe in ihr anrichtete, erst einmal zu flüchten, hatte keine Chance. Wie gebannt versuchte sie, in seinem Gesicht zu lesen. Er würde sie küssen, das war klar. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie glaubte, er müsste es hören. Schließlich war er inzwischen nahe genug.

»Vertrauen Sie mir?«, fragte er erneut. Seine Stimme klang anders als sonst, irgendwie rauer. Dorotheas geschärfte Sinne saugten jeden Eindruck auf: den dezenten Geruch von Irispuder, den scharfen von Brandy, darunter eine kaum wahrnehmbare Moschusnote und ein Hauch Schweiß. Als er die Arme ausstreckte, ihre Hände ergriff und sie aus dem Stuhl hochzog, wunderte sie sich, wie unsicher sie auf den Beinen stand. Aber schon im nächsten Moment war das völlig gleichgültig. Somerhill hielt sie so fest an seine Brust gedrückt, dass sie auch nicht umgefallen wäre, wenn sie völlig den Dienst versagt hätten.

»Sieh mich an«, befahl er, immer noch mit dieser fremden, aufregenden Stimme, die ihr Schauer über den Rücken jagte. Sie gehorchte und sah scheu zu ihm auf. Somerhill war einen guten Kopf größer als sie, sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm wirklich in die Augen zu sehen. Auch sein Lächeln war anders. Fast jagte es ihr Angst ein.

»Braves Mädchen«, sagte er mit belegter Stimme und senkte den Kopf. Instinktiv schloss Dorothea die Augen, aber statt der erwarteten Leidenschaft hauchte er federleichte Küsse auf ihre Stirn und Schläfen. Zart wie Schmetterlingsflügel glitten seine Lippen über ihre Haut; kaum spürbar und doch so präsent, dass sie alles um sich herum vergaß und zitternd vor Ungeduld nur noch darauf wartete, dass er endlich Ernst machte.

Als sein Mund sich über ihrem schloss, wurde sie überrascht von dem Strudel der Gefühle, den sein Kuss auslöste. Nichts hatte sie darauf vorbereitet, dass die Welt um sie herum sich zu drehen beginnen würde. Sie umschlang Miles Somerhills sehnigen Körper fester, was ihn dazu ermutigte, den Kuss zu vertiefen. Die intensive Berührung verdrängte jede andere Empfindung. Alles, was noch zählte, war dieses schwindelerregende Einswerden ihrer Münder. Mit einem kehligen Stöhnen protestierte sie dagegen, dass er plötzlich den Kopf hob und sich von ihr löste.

»Pscht, Kleines, es kommt jemand«, flüsterte er, während er sie flink auf ihren Schreibtischstuhl drückte und nach einem der Papiere griff, die überall verstreut lagen.

»Ähm, ich würde vorschlagen, Sie konzentrieren sich also lieber auf die unverfänglichen Teile wie die Jagd, das Sammeln und solche Sachen«, sagte er in leicht gelangweiltem Tonfall, als auch schon die Tür aufgerissen wurde.

»Wie kommt ihr beiden voran? Kann ich es für die nächste Ausgabe einplanen?«, erkundigte sich der Chefredakteur, ohne Dorotheas roten Wangen und der verrutschten Krawatte von Somerhill die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.

»Alles bestens, Sir. Ich habe Miss Schumann nur gerade empfohlen, die Damen vom Zirkel mit den anstößigen Details des Eingeborenenlebens zu verschonen.«

»Wozu sind wir eigentlich ans Ende der Welt gezogen, wenn wir dann nicht den Mut haben, neue Wege zu gehen?«, brummte Stevenson, mehr zu sich selbst. »Sie haben mein volles Vertrauen, mein Junge«, sagte er laut und musterte das Durcheinander. »Übrigens, ehe ich es vergesse: Nächste Woche hält unser exzentrischer Professor Menge wieder einmal einen Vortrag bei der Literarischen Gesellschaft. Davon hätte ich gerne einen zweispaltigen Bericht.« Er hob einen Zeigefinger wie ein gestrenger Oberlehrer. »Zwei Spalten. Nicht mehr und nicht weniger.« Er fixierte Dorothea mit scharfem Blick, die gerade überlegte, ob er ihr etwas ansah. Stattdessen fragte er: »Wann ist diese Hochzeit terminiert?«

»Am 27. Januar«, sagte sie nach kurzem Zögern. Ihm war offenbar nichts aufgefallen.

»Gut, richten Sie sich schon mal auf eine Sonderausgabe ein. Ich will alles drinhaben: Kleid, Schuhe, Hut, na, eben der ganze Weiberkram. Das wird das gesellschaftliche Ereignis der Saison. Und der Höhepunkt Ihrer Artikelreihe. Ich erwarte, dass Sie Ihr Bestes geben, Miss Schumann.« Er nickte ihnen zu und war gleich darauf wieder verschwunden.

»Hättest du Lust, mich zu diesem Vortrag zu begleiten?«, fragte Miles Somerhill. »Dass es unterhaltsam wird, kann ich dir nicht versprechen – es sei denn, du hast eine geheime Leidenschaft für Mineralien und Bodenproben –, aber ich würde zu gerne einen ganzen Abend in deiner Gesellschaft verbringen.«

Augenblicklich sagte Dorothea zu. Wenn es auch nicht haargenau der Wahrheit entsprach, konnte sie ihren Eltern doch erklären, dass es sich bei dieser Verabredung um eine durch ihre neuartige Berufstätigkeit bedingte, rein geschäftliche Angelegenheit handelte. Tatsächlich erwies sich als unerwartet großes Hindernis für den gemeinsamen Abend ausgerechnet ihr Bruder August.

»Ich komme mit«, verkündete er, kaum dass sie diesen Vortrag beim Abendessen erwähnt hatte. »Überall wird schon davon gesprochen, dass der Professor sicher seine neuesten Entdeckungen präsentieren wird. Seit Jahren wartet man darauf, dass er Gold oder Kupfer findet. Schließlich hat er immer behauptet, in Südaustralien gäbe es eine Menge davon. Man müsse es nur finden. Es kann gut sein, dass es endlich so weit ist und er tatsächlich ein El Dorado aufgetan hat. Eine solche Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen.«

»Wie kommst du denn darauf? Es wird sicher fürchterlich langweilig«, versuchte sie ihn abzuschrecken. »Es geht nicht um Mineralien, sondern wo in der Kolonie die besten Böden für die Schafzucht oder für Weizenanbau zu finden sind und solche Dinge. Das interessiert dich doch gar nicht.«

»Na und? Vielleicht gelingt es mir, mit Menge ein paar Worte unter vier Augen zu sprechen«, beharrte August.

»Ich würde auch gerne mitkommen.« Alle starrten Jane an, als wären ihr plötzlich Hörner gewachsen. »Ich würde ihn gerne einmal wiedersehen.«

»Du kennst Professor Menge? Den Professor Menge?« August wirkte so irritiert, als hätte sie behauptet, mit der englischen Königin Tee getrunken zu haben.

»Wir haben ihn hier und da getroffen, wenn wir ins Winterlager wanderten«, erklärte Jane. »Er hat in den Bergen, die wir Yurrebillas Rumpf nennen, wie nannte er es doch noch …« Sie zog die Stirn kraus. »Ach ja, prosperiert. Er ist sehr nett. Er hat uns schöne Geschichten erzählt.« Sie lächelte. »Das erste Mal hielten wir ihn für einen Geist und sind schreiend weggelaufen. Er sah auch sehr seltsam aus mit seinen bloßen Füßen und den zerrissenen Kleidern.«

Professor Johann Menge war als Sonderling bekannt, der plötzlich monatelang im Busch verschwand und ebenso plötzlich wieder auftauchte. Mit den Eingeborenen verstand er sich glänzend. Mit derselben Leichtigkeit, mit der er Hindi, Farsi, Hebräisch, Lateinisch und eine beeindruckende Reihe anderer Sprachen beherrschte, hatte er sich auch die örtlichen angeeignet. Man munkelte, dass er seine Erfolge bei der Mineraliensuche zum großen Teil seinen guten Beziehungen zu den Stämmen im Hinterland verdankte.

Ob er auch mit den Frauen seiner Gastgeber in den Busch ging? Dieser Gedanke war Dorothea unwillkürlich durch den Kopf gegangen. Seit Miles sie geküsst hatte, beschäftigten solche Fragen sie zunehmend. Eines Abends beim Schlafengehen hatte sie Jane danach gefragt, wie es wäre, wenn ein Mann eine Frau »nahm«. Im Studierzimmer ihres Vaters, das er ihr zu benutzen erlaubt hatte, war sie zufällig auf eine »Menschliche Anatomie für jedermanns Hausgebrauch und zur geflissentlichen Beachtung für Studenten der Medizin« gestoßen. Darin waren nicht nur nackte Körper abgebildet, sondern sogar schematische Darstellungen des »Aktes«, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Von daher war sich Dorothea jetzt über den Vorgang an sich im Klaren. Was sie allerdings mehr als alles andere beschäftigte, war: Wie fühlte es sich an? Darüber schwieg das Buch.

Auch Jane hatte sich nicht als sehr informativ erwiesen. »Es ist ganz verschieden«, hatte sie nachdenklich gesagt. »Manche Männer sind so grob, dass es wehtut. Manche sind behutsam, dann ist es nicht schlimm. Manchmal sogar angenehm.« Sie seufzte und strich sich versonnen über den kleinen Bauch. »Ich mag es, wenn Tim sich die Zeit nimmt, mich zu küssen. Dann kribbelt es hier. Und wenn er dann …« Sie unterbrach sich und demonstrierte, was sie meinte, indem sie den Zeigefinger der rechten Hand rhythmisch durch die zu einem Kreis geschlossenen Daumen und Zeigefinger der linken Hand stieß. »Dann habe ich manchmal verstanden, wieso die Männer es immerzu wollen.« Sie lächelte etwas verzerrt. »Meine Mutter hat immer gesagt, dass die Geister der Traumzeit sich so über die Frauen geärgert hätten, dass sie ihnen ihren Teil der Freude daran wegnahmen und alles den Männern gaben.«

»Warum? Was haben sie getan?«

Jane zuckte mit den Schultern. »Das wusste sie auch nicht. Frauen dürfen so etwas nicht wissen. Solche wichtigen Geheimnisse sind allein den bourka vorbehalten.«

Bei den Kaurna durchliefen die Männer diverse Stadien. Bis zum Alter von zehn Jahren galten sie als Kinder. Erst mit Vollendung der Tatauierung, im Alter von etwa zwanzig Jahren, waren sie wilyaru, erwachsene Männer. Das fünfte Stadium, das der angesehenen bourka, wurde erst mit dem Grauwerden der Haare erreicht.

Eine vergleichbare Hierarchie für Frauen gab es nicht. Sie wurden als zu unwichtige Lebewesen angesehen, um irgendein Aufhebens um sie zu machen.

Vermutlich waren deshalb nur so wenige Mädchen unter den Schülern der Mission.

»Warst du mit diesem Mr. Somerhill im Busch?« Janes unschuldige Frage riss Dorothea aus ihren Überlegungen.

»Nein, natürlich nicht! Miles ist ein Gentleman.«

Jane grinste breit, schwieg aber.

Zu dem Vortrag in den Räumen der Literarischen Gesellschaft hatte sich fast alles eingefunden, was in Adelaide Rang und Namen hatte. Dazu gesellten sich noch eine ganze Menge unbekannter Gesichter. Offensichtlich hatte das Gerücht über die bevorstehende Veröffentlichung von Goldfunden die Runde gemacht. Normalerweise sprengte die Anzahl der an den Vorträgen Interessierten nicht die Räumlichkeiten. Heute jedoch sah es ganz danach aus, als ob man jenen Londoner Veranstaltungen Konkurrenz machen wollte, die erst als gelungen bezeichnet wurden, wenn die Gäste sich aus Platzmangel ständig gegenseitig auf die Füße traten. Sobald man die Schwelle zum Foyer überschritten hatte, tauchte man in ein Gedränge ein, das August spöttisch bemerken ließ: »Sagtest du nicht, es sei nur für Schafzüchter und Farmer interessant?«

»Da können Sie sehen, wie viele es davon in unserer schönen Kolonie gibt«, ertönte eine sonore Männerstimme hinter ihnen.

Jane fuhr herum. »Mr. Masters!« Mit strahlendem Gesicht packte sie die Rechte des hageren Herrn mit ergrauten Schläfen, der sie angesprochen hatte, und schüttelte sie kräftig. »Was machen Sie denn hier?« Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sie sich Dorothea zu und sagte: »Mr. Masters ist der Gentleman, für den Tim arbeitet. Tim und viele, viele andere.«

»So viele sind es nun auch nicht.« Die dunklen Augen hefteten sich auf Dorothea. »Darf ich mich selber vorstellen: Robert W. Masters.« Etwas steif beugte er sich über ihre Hand. Offensichtlich war der Gehstock mit dem opulenten Silberknauf nicht nur ein modisches Accessoire. »Und Sie sind vermutlich Miss Schumann, die Tochter von Pastor Schumann? Ihre Artikel über das Leben der Eingeborenen fand ich überaus interessant. Besonders den, in dem Sie über Namensgebung und Ahnenverehrung schrieben. Ich wusste gar nicht, dass es so kompliziert ist. Sie haben das wunderbar erläutert. Kompliment!«

»Guten Abend, Mr. Masters«, erwiderte Dorothea höflich. Während sie ihm August vorstellte, musterte sie ihn so unauffällig wie möglich. Auf schwer fassbare Art schien ihn eine Aura würdevoller Trauer zu umgeben. Die Augen unter den jettschwarzen Brauen gaben nichts preis, doch tiefe Stirnfalten zeugten von körperlichen oder seelischen Schmerzen. Unter den nahezu unbewegten Zügen schien etwas verborgen zu sein, das sowohl ihr Interesse wie auch ihr Mitgefühl weckte.

»Sie interessieren sich also für die Beschaffenheit der Böden Südaustraliens?«, versuchte August sich in Konversation, nachdem er festgestellt hatte, dass Professor Menge so umlagert war, dass er keine Chance hätte, zu ihm durchzudringen. »Darf ich fragen, wo sich Ihre Ländereien befinden?«

»Am unteren Murray River«, antwortete Masters freundlich. »Nördlich von Wellington. Das ist eine ausgezeichnete Gegend für Merinos. Aber ich halte auch eine kleine Herde Milchkühe für den eigenen Bedarf und ein paar Pferde.« So beiläufig, wie er das erwähnte, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass der Preis für ein gutes Reitpferd dem Jahressalär eines lutheranischen Pastors entsprach. Dorothea wusste es auch nur, weil sie erst neulich darüber mit Miles gesprochen hatte. Sie hatte ihm vorgeschlagen, sich ein Pferd zuzulegen. Daraufhin war er zuerst in lautes Gelächter ausgebrochen und hatte ihr danach haarklein vorgerechnet, was ein solcher Luxus in Adelaide kostete.

Dieser Mr. Masters musste in Geld schwimmen wie Krösus!

»Guten Abend, Miss Schumann. Jane, Mr. Schumann. Mr. Masters.« Die kalte Höflichkeit, mit der Miles Somerhill sich vor Robert Masters verbeugte, war so greifbar, dass Dorothea ihm einen erstaunten Blick zuwarf. Masters ließ mit keiner Regung erkennen, ob er es ebenfalls bemerkt hatte. Er verabschiedete sich stattdessen und gesellte sich zu einer Gruppe älterer Herren nahe der Tür, um in deren Begleitung den Vortragssaal zu betreten.

»Ich fasse es nicht, dass er sich noch in Gesellschaft wagt«, murmelte Miles verärgert. »Man sollte meinen, mein Artikel hätte ihm gereicht.«

»Was hat er denn verbrochen?« Dorothea konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Mann, den Jane so überschwänglich begrüßt hatte und der auch ihr sympathisch gewesen war, etwas getan haben könnte, das die offensichtliche Verachtung des jungen Mannes verdiente.

»Nicht jetzt«, gab Miles zurück und zog sie mit sich in den Vortragssaal, wo einige Sessel für die Pressevertreter reserviert worden waren. Während Begriffe wie Tonmergel oder Schiefer, dessen Vorkommen in Macclesfield groß genug war, um wirtschaftlich relevant zu sein, an ihrem Ohr vorbeirauschten, rätselte sie darüber, was es sein mochte, das Miles so gegen Robert Masters aufgebracht hatte. Dankbar für ihre Rolle als Pressevertreterin, die es ihr erlaubte, offen alle Anwesenden zu beobachten, schien ihr die öffentliche Meinung zweigeteilt. Einige zeigten ihm ganz ungeniert die kalte Schulter, während der andere Teil umso bemühter war, ihm seine Sympathie zu bezeugen.

Sie konnte es kaum erwarten, bis die Veranstaltung endlich beendet war. Mit keinem Ton hatte Professor Menge zur Enttäuschung eines Großteils seiner Zuhörer Metalladern erwähnt. Nichts als langweilige Ausführungen über die Zusammenhänge zwischen Bodenbeschaffenheit und Flora. Kein Wunder, dass die Männer mit den von der Sonne gebräunten Gesichtern und den schwieligen Händen nahezu geschlossen dem nächsten Pub zustrebten, um sich dort bei einem Krug Ale darüber auszulassen, dass der Professor sie wieder einmal alle an der Nase herumgeführt hatte.

Leider zeigte auch Miles wenig Neigung, ihre bohrenden Fragen nach Robert Masters zu beantworten. Dieser Mann interessierte sie. Nur zu gern hätte sie mehr über ihn und sein Schicksal erfahren. Zu ihrem Ärger blieb keine Zeit dazu, weil ein überaus enttäuschter August unmissverständlich zum Aufbruch drängte. Erst ein paar Tage später gelang es ihr, Miles Somerhill wieder darauf anzusprechen.

»Du wolltest mir noch verraten, was du Mr. Masters vorwirfst«, erinnerte sie ihn, als er sich in gewohnter Nachlässigkeit auf die Schreibtischkante hockte. Das Bein, das wie ein Uhrenpendel hin und her geschaukelt hatte, stockte.

»Eine ziemlich schlimme Sache«, sagte Miles, erhob sich und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Wenn Richter Cooper nicht alle dazu verdonnert hätte, Stillschweigen zu bewahren …«

»Er wird ja wohl niemanden umgebracht haben«, bemerkte sie spöttisch. Umso erstaunter war sie, als Miles mit plötzlich verfinstertem Gesichtsausdruck nickte. »Doch. Und er hat es sogar zugegeben. Es ist nur nicht klar, wie viele er auf dem Gewissen hat.«

»Du scherzt!« Noch während sie es aussprach, wusste sie, dass er das nicht tat.

»Masters’ Frau war todunglücklich dort draußen in der Wildnis«, begann er. »In London war sie der Mittelpunkt jeder Gesellschaft, jedes Balls gewesen, und das vermisste sie. Kann man es ihr verdenken, dass sie nicht für diese Art Pionierleben geschaffen war? In gewisser Hinsicht allerdings wusste sie sich schadlos zu halten. Recht bald kamen Gerüchte in Adelaide auf, wonach sie nicht einmal davor zurückschreckte, ihre Gunst Schafhirten und Viehtreibern zu schenken. Man hielt es für rachsüchtiges Geschwätz der Entlassenen.

Bis zu dem Tag, an dem Masters bei Richter Cooper erschien und ihm mitteilte, er habe eine Gruppe Eingeborener erschießen müssen, die seine Frau entführt und ermordet hätten.«

»Der arme Mann!«, entfuhr es Dorothea mitleidig. Wie schrecklich musste es sein, einen geliebten Menschen auf solch brutale Art und Weise zu verlieren! Kein Wunder, dass er so unglücklich wirkte!

»Hm.« Miles Somerhill schnaubte verächtlich. »So lautete seine Geschichte.« Er wartete einen Moment ab, ehe er fortfuhr. »Es kommt immer wieder vor, dass Eingeborene draußen bei den Stationen erschossen werden. Und immer wieder prangern wir vom Register es an, aber Richter Cooper steht auf dem Standpunkt, dass solche ›bedauerlichen Vorkommnisse‹, wie er sie nennt, nicht aufzuklären wären, weil Eingeborene als Zeugen vor Gericht nicht eidfähig seien. Die meisten Schafzüchter machen sich inzwischen nicht einmal mehr die Mühe, es anzuzeigen, obwohl es vorgeschrieben ist. Zu befürchten haben sie so oder so nichts.«

»Aber Mr. Masters hat es doch angezeigt?«

»In seinem Fall war das auch dringend geboten. Der Stamm, zu dem die erschossenen Männer gehörten, behauptete nämlich, die weiße Frau sei völlig freiwillig zu der Jagdgruppe gekommen. Und auch, dass es nicht zum ersten Mal geschehen wäre.«

Dorothea stockte der Atem. »Was passierte dann?«

Somerhill zuckte mit den Achseln. »Nichts. Masters hatte die Leichen der Schwarzen ja bereits beseitigt und seine Frau begraben. Sehr praktisch, dass die Sommerhitze ihm nicht die Zeit ließ, das Eintreffen von einem Arzt abzuwarten.« Miles’ Stimme hatte einen höhnischen Unterton, der Dorothea aufhorchen ließ.

»Du vermutest, dass es nicht mit rechten Dingen zuging?«

»Nicht nur ich!« Der junge Mann runzelte die Stirn. »Es war alles ein wenig zu glatt, wenn du verstehst, was ich meine. Alle Beteiligten tot, Masters der einzige Überlebende. Unter der Hand kursierte das Gerücht, er habe die günstige Gelegenheit genutzt und sich seiner Frau entledigt.«

Dorothea war schlicht entsetzt. »Das hast du doch nicht in der Zeitung geschrieben?«

»Natürlich nicht. Nur ganz dezent angedeutet. Mit dem Erfolg, dass Richter Cooper wutschnaubend bei uns auftauchte und mit ernsthaften Konsequenzen wegen Rufmords drohte.«

Janes Hochzeitstermin war für Ende Januar festgesetzt worden. Tim Burton hatte sich gewünscht, in der Trinity Church getraut zu werden. Angesichts des immensen öffentlichen Interesses hatte der anglikanische Geistliche Reverend Howard erst durch eine größere Spende von Mr. Masters dazu gebracht werden können, seine Kirche zum Theater umfunktioniert zu sehen, wie er es nannte.

Gerade mal zwei Tage vor dem Termin war der Bräutigam in der Mission aufgetaucht. Ein ziemlich grobschlächtiger Mann mit lauter Stimme und einem ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung. Dorothea mochte ihn nicht. Wie abscheulich musste Janes Leben bei ihrem Stamm gewesen sein, um dieses Großmaul als Verbesserung anzusehen? Wenigstens schien er Jane einigermaßen gut zu behandeln.

Am Morgen ihres großen Tages wirkte Jane nicht im Geringsten so nervös, wie man es gemeinhin von einer Braut erwartete. Es war Dorothea, die fahrig ihre Schublade mit den Taftbändern und dem übrigen Haarputz durchwühlte, weil sie die Seidenblumen nicht mehr finden konnte, die sie Jane ins Haar flechten wollte. In ihrer Ungeduld packte sie schließlich die ganze Lade und schüttete den Inhalt auf das Bett.

»Was ist denn das?« Jane zeigte auf das kompakte, ungewöhnlich geformte Wurfmesser. Ians Abschiedsgeschenk. Zwischen all den Spitzen und bunten Borten wirkte es unpassend martialisch. »Was macht man damit?«

»Das ist ein Wurfmesser.« Fast zärtlich nahm sie es auf und balancierte es probeweise zwischen den Fingerspitzen aus. »Das hatte ich ganz vergessen.« Tatsächlich hatte sie nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass sie Ian versprochen hatte, ihr Handgelenk geschmeidig zu halten. Wie es ihm wohl derzeit ging? Ob er an sie dachte? Gleich morgen würde sie wieder anfangen zu üben, nahm sie sich vor, bevor sie es wieder in die Schublade zurücklegte. Die Seidenblumen fanden sich schließlich in einem Spankästchen auf dem Fensterbrett. Während sie Janes drahtiges Haar zu zwei dicken Zöpfen flocht, die sie dann später zu einer Art Krone aufstecken wollte, erzählte sie ihr von Ian und wie es dazu gekommen war, dass sie Messerwerfen gelernt hatte.

»Vermisst du ihn?«, fragte Jane leise, als sie geendet hatte. »So, wie deine Stimme klingt, wenn du über ihn sprichst, muss er dir sehr nahegestanden haben.«

»Ach, Jane, du bist unheilbar romantisch«, erwiderte Dorothea und lachte auf. »Ian war ein guter Freund. Ein sehr guter Freund. Mehr nicht.«

»Nicht so wie Miles?«

»Wo denkst du hin! Ian war noch ein Junge. Miles hingegen …« Sie verstummte verlegen, während sie an vorgestern dachte, als er sie in ihrem gemeinsamen Zimmer in der Redaktion so leidenschaftlich geküsst hatte, dass sie jeden Rest Selbstbeherrschung verloren hatte. Geradezu fiebrig waren ihre Hände über seinen Rücken geglitten, seine Schultern – und wenn nicht in dem Moment einer der Setzer direkt vor der Tür gehustet hätte, hätte auch Miles sich vermutlich nicht mehr zurückgehalten. Fast unmerklich hatte sie die anfängliche Scheu vor seinem Körper verloren, und es verlangte sie nach mehr. Was war schließlich schon dabei? Miles und sie würden sowieso heiraten, sobald er die Anstellung als Redakteur bekäme, mit der er jede Woche rechnete. Jane hatte auch nicht die Hochzeit abgewartet, und es musste ja niemand erfahren, wenn sie es genauso hielte.

Als ihre Mutter einmal vorsichtig angesprochen hatte, ob es für Dorotheas Ruf nicht besser wäre, wenn sie nicht ständig »mit diesem jungen Reporter zusammen« gesehen würde, hatte ihr Vater nur gelächelt und gesagt: »Lass gut sein, mein Herz. Wozu sind wir ans andere Ende der Welt gezogen, wenn wir nicht all die lächerlichen Konventionen und Vorschriften hinter uns lassen können, die uns in der alten Welt doch bloß das Leben schwer machten. Unser Dorchen ist hier richtig aufgeblüht, und wenn diese Schreiberei sie glücklich macht, soll es mir recht sein.«

Dass nicht »die Schreiberei« die Ursache für Dorotheas Aufblühen war, ahnte er in seiner Naivität nicht. Und wenn ihre Mutter eine leise Besorgnis verspüren sollte, so behielt sie sie für sich.

Sobald die Glocken von Holy Trinity zu läuten begannen, machten sie sich auf den Weg. Voran schritten Pastor Schumann in seinem Sonntagsrock und Jane. Die junge Aborigine sah bezaubernd aus. In dem hellblauen Seidentaftkleid mit den azurblauen Ziegenlederstiefeletten, einem Geschenk von Mr. Masters, wirkte sie mädchenhaft und geradezu ätherisch anmutig. Dorothea beglückwünschte sich dazu, mit Jane das Gehen in den ungewohnten Stiefelchen geübt zu haben. Sicher schritt sie an Pastor Schumanns Arm den Weg zur North Terrace entlang. August folgte mit seiner Mutter und Schwester, danach Karl und Lischen, die vor Aufregung ununterbrochen belangloses Zeug schnatterte. Die Missionsschüler und ihre Familien bildeten den Abschluss des Zuges. Eine Hochzeit nach Art der Weißen war für sie ein großartiges Ereignis, das sicher Eingang in ihre Geschichten finden würde.

Die Straßenzüge um die Kirche waren so voller Menschen, die sie alle neugierig anstarrten, sodass Dorothea begann, sich unbehaglich zu fühlen. Dem abgerissenen Äußeren einiger Zuschauer nach zu urteilen, waren auch von den Buschstationen alle abkömmlichen Männer in die Stadt gezogen, um Zeuge der Hochzeit eines der ihren mit einer Eingeborenen zu werden. Von ihnen kamen die ersten schüchternen Vivat-Rufe, ehe einige Herren in Stadtkleidung sie aufnahmen. Jane winkte ihnen allen zu, kein bisschen eingeschüchtert. Dorothea bewunderte sie für die freundliche Gelassenheit und Würde, mit der sie ihrer zentralen Rolle in diesem öffentlichen Spektakel mehr als gerecht wurde.

Die Bänke der Kirche waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Selbst in den Seitengängen und auf der Empore drängten sich die Zuschauer, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten.

Tim Burton stand in einem vermutlich geliehenen Frack vorn am Altar und drehte seinen Hut nervös in den Händen. Ein Lächeln erhellte seine Züge, als er Jane am Arm des Pastors auf sich zuschweben sah. In diesem Moment war er Dorothea fast sympathisch.

Selbst Reverend Howards strenge Züge verloren ein wenig von ihrer hölzernen Härte, als er sie begrüßte und alle bat, auf der für sie reservierten vorderen Bank Platz zu nehmen. Von Janes Herkunftsfamilie war kein Einziger erschienen. Niemand war darüber verwundert, denn ihre Eltern waren tot, und ihr Bruder hatte sich von ihr losgesagt, als sie zu Burton gezogen war.

Die Zeremonie zog sich hin. Vor allem die englische Predigt. Dorothea ertappte sich dabei, dass ihre Gedanken abschweiften. Gerade formulierte sie im Stillen, wie sie den endlosen Sermon auf seinen wesentlichen Inhalt kürzen würde, als Reverend Howard die vor sich hindämmernde Gemeinde mit der Ankündigung aufschreckte, jetzt die Ehegelübde sprechen zu lassen. »Ich bitte das Brautpaar, zu mir an den Altar zu treten.«

»Na endlich! Ich dachte schon, er kommt überhaupt nicht zum Ende«, flüsterte August Dorothea ins Ohr. »Diese anglikanischen Geistlichen sind verflixt langatmig!«

Pastor Schumann erfüllte den letzten Teil seiner Aufgabe als Brautvater, indem er Jane ihrem zukünftigen Ehemann zuführte. Burtons »Ja, ich will« klang ein wenig belegt vor Aufregung. Janes dunkler, warmer Stimme hingegen war nicht die geringste Gefühlsregung anzumerken. Dorothea erinnerte sich, dass die kirchliche Zeremonie für sie bedeutungslos war. Sollte sie das im Artikel schreiben, oder würden sich dann einige der Leser vor den Kopf gestoßen fühlen? Es war gar nicht so einfach, die Balance zwischen der Wahrheit und der nötigen Rücksichtnahme zu finden.

Dann ging auf einmal alles sehr schnell: Tim Burton führte Jane zu dem Ochsenwagen, der auf sie wartete. Eine hastige Umarmung, ein kurzes »Ich werde dich besuchen«, und im nächsten Augenblick rumpelte der schwere Karren los, wobei er Unmengen rötlichen Staubs aufwirbelte, der die Menge rascher auseinandertrieb, als es einer Kompanie Dragoner möglich gewesen wäre.

Eigentlich war ein ausgiebiges Festessen geplant gewesen, aber Burton hatte darauf gedrängt, die Stadt möglichst schnell wieder verlassen zu können. Er fühlte sich nicht wohl zwischen »all den feinen Pinkeln« und konnte es nicht erwarten, das neue Land in Besitz zu nehmen.

»Ich hoffe, dass Jane glücklich wird«, sagte Dorothea, während sie der Staubwolke nachsah, die den Ochsenkarren ihren Blicken entzog.

»Warum sollte sie es denn nicht werden?« August warf ihr einen erstaunten Blick zu.

»Ach, es war nur so ein Gedanke«, murmelte sie. »Komm, Lischen.«