SUZANNE HAWKINS BURKE
Brianas Erbe
Suzanne schrieb diese Geschichte, weil sie, wie sie selbst sagt, »schon immer mehr über darkovanische Kinder lesen wollte, ganz besonders über Mischlingskinder, die mehr Chieri als Mensch sind.« Ihr Mann habe sie fast täglich dazu gedrängt, etwas zu dieser Anthologie beizutragen: »Er glaubt unerschütterlich daran, daß ich wunderbare Geschichten erfinden könne.« Das ist doch schon mal kein schlechter Anfang.
Suzanne besitzt gleich mehrere College-Abschlüsse, ist seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet (heutzutage eine beneidenswerte Tatsache) und hat einen fünfzehnjährigen Sohn. Sie schreibt ausschließlich auf ihrem Computer, meint aber ganz ehrlich, daß sie viel lieber ein gutes Buch lesen als schreiben würde.
Das gibt nicht jeder so ohne weiteres zu. Als ich einmal unterrichtete, fragte ich meine Schüler, wer denn später Schriftsteller werden wolle. Prompt schnellten alle Finger hoch – es meldeten sich sogar diejenigen, die nur mit Mühe lesen und gar nicht schreiben konnten. Ein schmeichelhafter Ehrgeiz, wenn auch etwas unrealistisch!
Briana vom Clan der MacGregors hockte bequem zwischen den Dachsparren der großen Scheune und schaute in die Morgendämmerung hinaus. Sie hatte sich auf einem der zahlreichen Stützbalken niedergelassen, die auf dem Heuboden kreuz und quer verliefen. Von hier oben konnte sie auch auf ihre kleine, ordentliche Kammer am anderen Ende der Scheune blicken. Briana hatte von sich aus das große Herrenhaus verlassen und war in die Scheune umgezogen, als sie acht Jahre alt war. Und seit dieser Zeit wurde sie aus sicherer Entfernung von dem unentdeckt gebliebenen Chieri überwacht. Es konnte an diesem Kind einen tiefgreifenden Unterschied feststellen.
Briana spähte noch einmal prüfend nach draußen. Der Sturm hatte sich offenbar gelegt, so daß bald ein wunderschöner darkovanischer Sonnenaufgang bevorstand. Sie bürstete ihre langen, silbrigen Haare, die noch nie geschnitten worden waren und sich daher wie ein schimmernder Umhang um ihren Körper legten und das knappe Hemdchen völlig bedeckten, das sie seit kurzem trug, falls sich jemand in diesen Teil der Scheune verirren sollte. Mit zwölf zeigten sich auch an ihrem schlanken Körper die ersten weiblichen Rundungen, und die alte, runzelige Oma, die hier immer das Stroh für den Hühnerstall abholte, hatte Briana gewarnt, daß die Jungs sie bald belästigen würden, wenn sie weiterhin nackt herumlaufen würde.
Briana saß jeden Morgen so zwischen den Sparren da und beobachtete durch die Lüftungsklappen, die sie aufgedrückt hatte, den roten Himmel. In dem tiefblauen Schatten tauchte allmählich der dunkelrote Horizont auf, und an der hohen Bewölkung zeichneten sich erste zartrosa und violette Reflexionen ab. Bald danach hob sich die Sonne behäbig über die Kilghard-Berge und strahlte rund und fett wie eine Cinni-Melone.
Tief unter Briana, in den ebenerdigen Stallungen, muhten mehrere Stumpfhornmilchkühe ungeduldig, da sie endlich gemolken werden wollten. Mit einem kleinen Freudenjuchzer über den anbrechenden Tag erhob sich Briana mühelos und balancierte in fließender Bewegung über den Dachträger zu einem Seil, das sie an dem Firstbalken festgeknotet hatte.
Keines der anderen Kinder war mutig genug, so hoch hinauf zu klettern, aber für Briana war es das reinste Vergnügen. Den meisten wurde schon vom bloßen Zusehen schwindlig, und so spielten sie auch nicht mehr auf dem Heuboden. Briana ließ sich auf ihre ganz eigentümliche Weise am Seil hinunter; es sah fast so aus, als ob sie die ganze Seillänge hinabschwebte.
In ihrer kleinen Kammer nahm sie einen einfachen Wollkasack vom Haken und zog ihn über das Hemd. Die dicken Socken und schweren Stiefel übersah sie hingegen geflissentlich; sie zwängten ihre Füße wie Schraubstöcke ein. Briana war größer und schlanker als alle anderen Kinder in ihrem Alter, und auf ihrer glatten, hellen Haut zeigte sich keine einzige Sommersprosse. Die Jungs fanden sie einfach nicht drall genug und ließen sie daher in Ruhe, aber einige der älteren Männer verfolgten sie manchmal mit merkwürdigen Blicken.
Briana stieg eine Leiter hinab und ging bis ans Ende des breiten Mittelgangs der Scheune. »Guten Morgen, meine Damen«, begrüßte sie die Kühe und legte jedem der schwerfälligen und triefäugigen Tiere etwas Heu in die Futterkrippe.
Sie drehte sich um, als ein kleiner Junge mit hellen Augen von außen ein loses Brett zur Seite schob, sich durch die so entstandene Lücke zwängte und dann polternd auf sie zugelaufen kam.
»Hallo Briana! Ich hab’ mich ganz alleine angezogen«, verkündete er stolz. »Darf ich ihnen heute den Hafer geben?«
»Na schön, aber jedem nur eine Kelle voll.« Sie schenkte ihrem kleinen Helfer, dem fünfjährigen Nathan, ein nachsichtiges Lächeln. Der Junge mit dem rotblonden Wuschelkopf war für sein Alter viel zu klein und schwächlich; außerdem hatte er einen verwachsenen Fuß. Bevor er Briana traf, hatte er selbst schon geglaubt, er sei mißgebildet und nichts wert. Und obwohl er noch so jung war, wünschte sich Nathan doch nichts sehnlicher, als gebraucht zu werden und seinem Clan nützlich zu sein. Aber seine Schwäche und der hinkende Gang hatten ihn immer wieder verzagen lassen. Briana ermutigte ihn und übertrug ihm kleine Aufgaben, ohne dabei jenen Anflug von Mitleid zu zeigen, das er bei anderen immer spürte. Und so hatte er durch die Arbeit bei Briana und den Tieren ein gewisses Maß an Stolz und Selbstachtung entwickelt.
»Mach schon Platz, Maggie. Und du auch, Bethany.« Briana klatschte den zwei Kühen mit der flachen Hand auf die Flanken und stemmte sich so lange mit ihren Schultern gegen sie, bis die beiden richtig standen, um angebunden zu werden.
»Jetzt bin ich soweit, Nathan. Bringst du mir bitte den ersten Kübel.« Sie angelte sich einen Melkschemel vom Haken und ging damit zur ersten der wartenden Kühe. Der kleine Junge, der auf der anderen Seite der Krippe stand, reichte ihr stolz den leeren Eimer.
»Heute fangen wir mal mit dir an, Eleanor.« Briana klemmte sich geschickt den einbeinigen Schemel unter und stellte mit der anderen Hand den Eimer an seinen Platz. Dann senkte sie den Kopf und lehnte ihn gegen die wärmende Seite des Tieres. Dabei übermittelte sie der Kuh instinktiv ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit, so daß sich deren Euter entspannte. Briana war sich ihrer ganz besonderen Begabung noch gar nicht bewußt. Sie streichelte die Zitzen und massierte ganz leicht das Euter und merkte dabei nicht einmal, daß sie das Tier auch mit ihrem noch nicht voll entwickelten Laran beruhigte.
Mit Daumen und Zeigefinger hielt Briana eine Zitze fest, während ihre anderen vier Finger den ersten Strahl warmer Milch so geschickt herausdrückten, daß er zielsicher im weit geöffneten rosa Maul des alten Katers landete, der unter dem Bauch der Kuh schon auf seine Mahlzeit wartete.
»So, Tom, das ist für dich. Du bist hier unser Vorkoster.« Der Scherz hatte durchaus seine ernsten Seiten. Ab und zu konnte es vorkommen, daß eine Milchkuh beim Grasen auf der Weide auch etwas giftigen Schlangenwurz rupfte, und dann war es besser, eine Katze als ein Clanmitglied zu verlieren.
Nathan konnte sein ansteckendes Kichern nicht länger unterdrücken. »Er sieht so komisch aus! Wie ein Clown beim Mittwinterfest.«
Tom leckte sich die Schnauze und strich sich mit der Pfote über die Schnurrhaare. Die anderen Katzen, die nicht so mutig wie der alte Kater waren, krochen etwas näher und maunzten ungeduldig. Sie wußten, daß auch sie bald etwas abbekommen würden.
Briana hatte inzwischen ihren Arbeitsrhythmus gefunden. Unter ihren geschickten Fingern schäumte bald die Milch im Eimer. Es war schon lange her, daß sie sich über die brennenden Schmerzen im Unterarm beklagt hatte, weil sie beim Melken Muskeln in Arm und Hand brauchte, die sie zuvor nie beansprucht hatte. Mittlerweile war sie stark geworden und der Melkrhythmus war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
Nathan war um die Krippe herumgelaufen und hatte sich zu ihr gesellt, hielt aber noch genügend Abstand, um keinen Huftritt abzubekommen. Argwöhnisch wartete er mit einem neuen Eimer.
»Warum mußt du eigentlich in der Scheune wohnen?«, fragte er unschuldig und doch auch ein wenig altklug.
»Ich muß ja gar nicht, ich darf«, stellte sie klar, ohne dabei das Melken zu unterbrechen.
»Ehrlich?« Nathan konnte nur staunen. »Und warum?«
Briana mußte heimlich grinsen; wenn sie in den letzten Wochen für jedes »Warum?« von Nathan nur eine jhizil-Nuß bekommen hätte, könnte sie jetzt bequem einen Kuchen backen! Außer diesem einen Lieblingswort sagte er aber nicht viel, und auch Briana war das Reden nicht mehr gewohnt. Seit Jahren hatte sie mit keinem so viel gesprochen wie jetzt mit Nathan.
»Als ich so alt war wie du, habe ich mit den Küchenhelferinnen im selben Zimmer geschlafen. Die haben aber nachts die Fenster ganz fest zugemacht, und deshalb war es mir immer viel zu warm. Aber dann habe ich rausgekriegt, wie ich den Fensterriegel aufbekomme, und wenn sie eingeschlafen waren, habe ich das Fenster einen Spalt weit geöffnet. Ich mußte natürlich aufpassen, daß ich auch als erste wieder aufwache, und dann habe ich sie schnell wieder zugemacht, bevor die anderen aufstanden. Die haben sich dann immer nur gewundert, warum es so kalt war im Zimmer, aber erwischt haben sie mich lange nicht – erst als es einmal in der Nacht zu schneien anfing. Ich hatte das Fenster nur einen klitzekleinen Spalt aufgemacht, aber das hat schon genügt. Jedenfalls hatte es am nächsten Morgen in ihre Schuhe reingeschneit, die direkt unter dem Fenster standen. Und damit flog, alles auf. Sie haben mich dann gehörig durchgeprügelt. Und einer ihrer Brüder hat einen dicken Pfahl geschnitzt, mit dem er den Fensterriegel festgeklemmt hat.«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Wart’s ab und bring erst mal diesen Eimer weg. Wenn du zurück bist, erzähl ich dir mehr.«
Briana tauschte die Eimer immer schon aus, wenn sie erst halb gefüllt waren, denn einen vollen Kübel hätte Nathan noch nicht tragen können. Das war einer ihrer kleinen Tricks, die Nathan noch nicht bemerkt hatte.
»Und fall nicht hin!«
»Ich paß schon auf, Briana«, versprach er und machte sich auf den Weg. Es war schon erstaunlich, wie sie mit etwas Erfindungsreichtum und Umstellung der eigenen Routine dem kleinen Jungen das Gefühl vermitteln konnte, gebraucht zu werden. Er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht und lebte jetzt richtig auf.
»Bring ihn so schnell du kannst zurück und tausch ihn gegen den nächsten Eimer aus«, rief sie ihm noch nach. Dann bekamen auch die anderen Katzen ihre Milch und Briana nahm sich das nächste Euter vor.
Sie summte eine Melodie vor sich hin, als sie so arbeitete und die Kühe friedlich wiederkäuten. Während Nathan fort war, dachte sie an ihre eigenen frühen Kinderjahre und an das, was Lady MacGregor ihr darüber erzählt hatte, als sie ihren Umzug in die Scheune besprachen.
Briana war ein Waisenkind, was auf diesem unwirtlichen Planeten durchaus keine Seltenheit war. Die rauhen und unbarmherzigen Lebensbedingungen hatten viele Opfer gefordert. Fast schien es schon in Vergessenheit geraten zu sein, daß die unbeabsichtigte Besiedelung Darkovers erst vor einigen Generationen ihren Anfang genommen hatte. Immerhin hatten sich die damals gestrandete Schiffsmannschaft und die Kolonisatoren an einen Grad der Zivilisation geklammert, der ihnen gestattete zu überleben und aufs neue zu gedeihen. Kein funktionierender Raumhafen und kein Erkundungstrupp aus Ingenieuren hatte vorher die feindliche Welt zur Besiedelung erschlossen, aber es waren Bauern und Wissenschaftler an Bord gewesen, die nun alle für das neue, gemeinsame Ziel zusammenarbeiteten, nachdem ihr ursprünglicher Bestimmungsort unerreichbar geworden war.
An ihre Mutter konnte sie sich nur noch vage erinnern. Von Lady MacGregor erfuhr Briana, daß sie Judith hieß und eine begabte Heilkundige gewesen war, die auf der Suche nach einzigartigen und wichtigen Kräutern und Wurzeln oft alleine durch die Kilghard-Berge strich. Man sagte auch, daß Judith eine eigensinnige junge Frau war, die nur wenig sprach und lieber zurückgezogen lebte, wenn nicht gerade jemand ihre Arzneien und Pflege brauchte.
Die Leute staunten nicht schlecht, als Judith eines Winters in aller Stille ein Mädchen zur Welt brachte. Niemand hatte bemerkt, daß sie schwanger gewesen war. Die schweren Winterkleider, so sagte man, mußten wohl verborgen haben, daß sie in anderen Umständen war. Man tuschelte auch über einen geheimen Liebhaber, den sie in den Bergen getroffen haben mußte. Vielleicht war es sogar eines der legendären Chieri. Einige konnten sich daran erinnern daß im vorangegangenen Frühjahr Judith allein in den Bergen von einem hereinbrechenden Geisterwind überrascht worden war.
Der Säugling gedieh jedenfalls prächtig, und die Tatsache, daß das Mädchen an jeder Hand sechs Finger besaß, galt allgemein als ein Zeichen, das Glück und Wohlstand für den gesamten Haushalt verhieß, wenn auch niemand so recht erklären konnte warum.
Lady MacGregor versicherte Briana, daß Judith sie sehr geliebt habe. Sie nahm das Baby zwar nie mit in die Berge, aber es gab immer genug hilfsbereite Nachbarn, die sich während ihrer Abwesenheit um das kleine Mädchen kümmerten. Und als Judith erstaunlich früh nicht mehr in der Lage war, selber zu stillen, fand sich auch eine Nähramme für Briana. Judith brachte ihrer Tochter oft kleine Geschenke aus dem Wald mit: einmal war es die Feder einer Schnee-Eule, ein anderes Mal eine faustgroße Eichel und wieder ein anderes Mal ein spiralförmiges Horn, das eines der wilden, ziegenartigen Tiere abgeworfen hatte.
Als Briana drei Jahre alt war, geschah das Unglück. Ihre Mutter war wieder alleine losgezogen, um ganz besondere Nachtschattengewächse zu sammeln. Am nächsten Tag fand man sie, von Skorpionameisen gebissen, tot auf. Obwohl Briana eine Nedestro-Tochter und der Vater unbekannt war, nahm Lady MacGregor sie sofort als Pflegekind auf, und so wurde sie zusammen mit einer ganzen Schar anderer Cousins und Cousinen aus dem weit verzweigten MacGregor-Clan mit der gleichen Liebe großgezogen.
Briana war ein ernsthaftes und schweigsames Kind. Sie war nicht gerade unglücklich, aber die üblichen Spiele und Pflichten im Haushalt waren nicht nach ihrem Sinn. Dennoch mußte jeder seinen Teil zum gemeinsamen Wohlergehen beisteuern. Deshalb machte sich die kleine Briana daran, in den Stallungen auszuhelfen, sobald sie stark genug war, einen Haferkübel zu tragen. Normalerweise wurden Mädchen zu solch schwerer körperlicher Arbeit nicht ermutigt, die sie ohnehin aufgeben mußten, wenn sie später heiraten und sich um die Kinder kümmern würden. Aber sie war dabei um so vieles glücklicher, daß niemand sie davon abhalten wollte.
Nathan kam zurückgeeilt und unterbrach sie in ihren Träumereien. Er versuchte, einigermaßen still zu halten und nicht zu zeigen, wie ungeduldig er auf den Ausgang der Geschichte wartete. Es hatte ihn eine halbe Ewigkeit gekostet, den Mut zu finden, sie danach zu fragen. »Was war jetzt mit dem Schnee, Briana? Was ist dann passiert?«
»Na ja, erst einmal mußte ich alle Schuhe trocknen, und als Strafe gab es eine ganze Woche lang keinen Nachtisch für mich. Das fand ich einfach ungerecht! Es war doch blöd, sich wegen so ein bißchen Schnee aufzuregen. Und dann habe ich mir gedacht, wenn die anderen schon deshalb so einen Aufstand machen, dann ist es vielleicht wirklich besser, wenn ich mir einen anderen Platz zum Schlafen suche.«
»Hattest du denn gar keine Angst?« keuchte Nathan.
»Überhaupt nicht. In der Scheune hatte ich ja schon geholfen, als ich so alt war wie du. Und für meine acht Jahre konnte ich schon ziemlich stur sein. Schließlich hatte ich ja auch sonst niemanden, der mir jeden Tag auf Schritt und Tritt gefolgt wäre. In der nächsten Woche habe ich dann meine Sachen auf den Heuboden verfrachtet. Die anderen Mädchen aus der Küche haben geglaubt, daß ich einfach in ein anderes Zimmer gezogen wäre. Es dauerte noch zwei Wochen, bevor die ganze Sache rauskam. Aber damit hatte ich schon bewiesen, daß es mir ernst war, hier draußen zu schlafen. Zunächst war jeder entsetzt und meinte, das ginge nicht. Aber ich habe dann ganz schön Theater gemacht.
Schließlich hat sich die Lady MacGregor viel Zeit genommen und ganz lange mit mir über eine Menge geredet. Wußtest du eigentlich, daß sie dir in die Gedanken schauen kann? Den anderen hat sie erklärt, daß ich meine Angelegenheiten auf meine Weise regeln müßte, und auch, daß sie bedenken müßten, daß ich ein bißchen anders sei als sie. Dann hat die Lady noch etwas von einem fait accompli gesagt, was aber keiner so richtig verstanden hat. Jedenfalls hat sie gemeint, es wäre schon in Ordnung, wenn ich hier draußen bleibe, solange ich nicht völlig verdreckt zu den Mahlzeiten im Gutshaus erscheinen würde. Und wenn ich wieder mal Probleme hätte, sollte ich gleich zu ihr kommen und darüber reden.«
Briana tauschte den nächsten Milcheimer mit Nathan aus, den dieser brav wegbrachte, während sie sich die nächste Kuh vornahm. Als er zurückkam, erzählte sie weiter.
»Nach ein paar Wochen fanden es dann alle ganz normal. Einige der Küchenmädchen haben mir sogar saubere Wäsche und andere Sachen gebracht, damit ich es wirklich gemütlich hätte. Wahrscheinlich hatten sie ein schlechtes Gewissen. Nachts lag ich dann oft lange wach und habe mich gefragt, warum ich so anders bin. Das geht mir heute noch so. Keiner erzählt mir was von meinem Vater. Dann liege ich so da und fange an, von Orten und Dingen zu träumen, die ich noch nie gesehen habe. Und ganz komische Gefühle überkommen mich! Gute Gefühle, zum Beispiel so, wie es war, als meine Mutter mich noch in den Arm nahm. Dabei ist doch keiner bei mir! Kalt wird mir jedenfalls nie. Und die Eule mit ihrem Nest oben im Scheunendach kann ich um Mitternacht fast so deutlich sehen wie am hellen Morgen. Nur letzte Nacht blies ein ziemlich starker Wind, und da hatte ich das merkwürdiges Gefühl, daß bald etwas ganz wichtiges passieren würde.«
Die Sache mit dem Eulennest wollte Nathan nicht so recht glauben. Wahrscheinlich nahm sie ihn nur auf den Arm. »Wie ist es da oben? Darf ich dich da mal besuchen?« fragte er, plötzlich mutig geworden. Er war sich nicht ganz sicher, ob es sich für einen Jungen gehörte, das Zimmer eines Mädchens zu besichtigen.
»Es ist nur eine mit Brettern abgetrennte Ecke auf dem Heuboden. Wenn du willst, helfe ich dir heute Nachmittag die Leiter hinauf.«
Nathan atmete ganz aufgeregt und nickte voller Erwartung.
Das Scheunentor ging auf und Rhoger kam hereingeschlurft. Unter der Wollmütze klebte ihm sein strähnig braunes Haar am Schädel. Er räusperte sich und spuckte auf den Boden. Ein granatroter Sonnenstrahl brach durch einen Mauerspalt und stach ihn direkt in seine blutunterlaufenen Augen. Eigentlich war es die Aufgabe des alten Mannes, das Vieh zu füttern und zu melken, aber das frühe Aufstehen behagte ihm überhaupt nicht mehr.
»Morjen, Briana«, brummelte er. Ganz offensichtlich sprach er viel lieber etwas wesentlich Stärkerem als frischer, warmer Milch zu. Wenn die Kühe gegorenes firi gegeben hätten, wäre er wahrscheinlich aufmerksamer bei der Arbeit gewesen.
»Guten Morgen, Rhoger«, erwiderte Briana gelassen, während sie die letzte Kuh versorgte. »Die hier sind schon alle gemolken. Ich gehe jetzt buttern.«
Rhoger grunzte zufrieden; gegen eine solche Arbeitseinteilung hatte er nichts einzuwenden. Überhaupt kamen die beiden ganz gut miteinander zurecht. Briana war schon in Ordnung. Wenn es ihm nur nicht immer wieder kalt über den Rücken laufen würde, sobald er ihr beim Melken mit dem überzähligen Finger zuschaute! Auch der hinkende Junge mit den treuen Hundeaugen, der ihr überall hin folgte, störte ihn. An Briana war irgend etwas Besonderes, das der alte Mann einfach nicht benennen konnte.
Rhoger hatte sich in ihrer Gegenwart schon immer etwas verunsichert gefühlt. Das Mädchen strahlte solch eine Gelassenheit und Selbständigkeit aus. Sie kümmerte sich um sich selbst und ihre Pflichten, ohne lange auf Anweisungen oder Zustimmung der Älteren zu warten. Außerdem empfand er ein gewisses Unbehagen, sie längere Zeit anzuschauen. Noch bevor er ihre Gesichtszüge näher betrachten konnte, schienen sie ihm vor den Augen zu verschwimmen.
Briana schleppte den letzten Milchkübel ins hintere Scheunenende, wo ein kurzer, unterirdischer Gang zu einer kühlen Höhle in einem Felsvorsprung führte. Der kleine Nathan fror hier immer jämmerlich, aber Briana genoß die Kälte.
Noch der alte Ian MacGregor hatte den gesamten Scheunenkomplex seines Berghofes vor dem Eingang zu dieser Granithöhle in den Kilghard-Bergen bauen lassen. Die Höhle war geräumig und reichte auf vier Ebenen tief in den Berg hinein. Die Decke war zwar niedrig, aber mehrere Luftlöcher sorgten für ständige Durchlüftung. Eine Naturquelle plätscherte munter aus einer engen Felsspalte am hinteren Ende hervor und sammelte sich in einem tiefen Loch.
Im Licht der Kieferspanfackeln war eine Felskante zu erkennen, auf der Briana die Milch erst durch ein Sieb goß und dann zum Kühlen abstellte. Dann spülten und scheuerten sie und Nathan die Eimer unter der Quelle. »Wenn du damit fertig bist, kannst du in der Scheune das Heu vom Gang fegen. Und danach darfst du zurückkommen und etwas von der Buttermilch kosten.«
Nathan schrubbte gehorsam den letzten Eimer. Diese Arbeit war ihm am unangenehmsten, denn das Wasser war eiskalt.
Briana zog die Bottiche mit der Milch vom Vortag hervor, schöpfte vorsichtig den gelben Rahm ab und füllte damit das Butterfaß. Die Gutsherrin verlangte zu ihrem Frühstück stets frische Butter, und das Buttern gehörte zu Brianas Lieblingsbeschäftigungen. Dazu hatte sie einen eigens ausgehöhlten Steinsitz, in dem sie sich zurücklehnen und vor sich hin träumen konnte, während sie zwischen ihren Knien mit der Kurbel den Rahm im Butterfaß schlug. Und Briana hatte dabei ganz wunderbare Tagträume.
»Ich bin mit den Eimern fertig«, verkündete Nathan bibbernd. Er klapperte mit den Zähnen und seine Händchen vergrub er in den Achselhöhlen.
»Oh je, du Armer, komm her, Chiyu.« Briana war aufrichtig um ihn besorgt und nahm seine verfrorenen, aufgesprungenen Hände in die ihren. Sie hielt sie umschlossen und beugte sich vor, um sie anzuhauchen. Ein Wärmestrahl schien durch ihren Arm in die Handflächen zu strömen. Noch war sie sich der Kräfte ihres Larans nicht bewußt, aber wenn sich wie jetzt die Notwendigkeit dazu ergab, meldeten sie sich instinktiv. Nach einiger Zeit wurde die Hitze fast unerträglich.
»Wie machst du das?« rief Nathan verwundert und zog mit einem Ruck seine glühenden Hände zurück.
»Wie mache ich was? Ich bin nur etwas wärmer als du, das ist alles.« Und wie zum Beweis, daß es nichts mit Zauberei zu tun hatte, breitete sie ihre Hände vor ihm aus. Dabei verschwieg sie ihm allerdings, daß sie selbst ein merkwürdiges Kribbeln in den Fingern verspürte. Nathan runzelte nur die Stirn, stellte aber keine weiteren Fragen.
»Sieh zu, daß du mit dem Fegen der Scheune fertig wirst«, wies sie ihn sanft an. »Das wird dich weiter aufwärmen.«
Während sie sich zurücklehnte und mit der Holzkurbel den Quirl im Innern des Butterfasses betätigte, versank Briana allmählich in ihrem bevorzugten Tagtraum. Vor ihr erschienen bleiche, fein geschnittene Gesichter mit langen, dünnen, silbrig-weißen Haaren. Die Wesen in ihren Träumen waren groß gewachsen, doch ihre sechsfingrigen Hände waren eher winzig. Und wie Briana hatten sie große, silber-graue Augen und einen zierlichen Knochenbau. Ihre Stimmen klangen verführerisch, und Briana stellte sich vor, wie sie ihnen beim Denken zuhören konnte.
In diesen Träumen befand sie sich stets in einer angenehm kühlen Wohnung, und selbst bei der bittersten Kälte liefen sie alle barfuß. Die einzelnen Personen oder Wesen im Raum konnte sie jedoch nicht beschreiben, da ihre Wahrnehmung stets zu verschwimmen drohte, wenn sie versuchte, sich auf Details zu konzentrieren.
Die Räume in ihren Tagträumen schienen auf Aussichtsgalerien hoch oben in den Bäumen errichtet zu sein. Oft schloß sie dann die Augen, um sich dem sanften, kaum wahrnehmbaren Wiegen genußvoll hinzugeben. Sie glaubte, das grüne Moos und die winzigen weißen Blumen an den Wänden berühren zu können, die ein silbrig schimmerndes Licht verbreiteten.
Wenn sie sich nicht in den Räumen auf den Baumkronen aufhielt, erfreute sie sich in ihren Visionen an den verschlungenen Pfaden, die auf breiten Ästen durch das Laubdach führten. Ab und zu traf sie auf drollige Wesen, die viel kleiner waren als sie und ein bleiches Fell, plattgedrückte Nasen und rote Augen hatten. Sie versuchte, sie nicht zu erschrecken, aber manchmal stießen sie schrille, vogelartige Schreie aus und verschwanden im Nebel. Eine Stimme in ihr sagte dann, dies seien die Winzlinge, die es nicht besser verstehen.
Diese zauberhaften Tagträumereien über hoch erhabene, kühle Orte waren der schönste Teil in Brianas ansonsten einsamem Leben.
Ein kurzer, erstaunter Aufschrei unterbrach sie. Nathan stand mit weit geöffneten Augen da und hielt sich die Hand vor den Mund. Briana fuhr sofort auf und versuchte, sich zu orientieren. »Meine Güte, du hast mich vielleicht erschreckt, Chiyu!« Einen Augenblick lang schlug ihr Herz schneller und sie brauchte eine Weile, bevor sie wußte, wo sie war.
Nathans Blick war starr auf das Butterfaß gerichtet, und irgend etwas daran schien ihm fürchterliche Angst einzujagen.
»Was ist denn los? Du siehst ja aus, als ob ich den Schwanz einer Kyor-Schlange in Händen hielte.« Sie umklammerte die Kurbel etwas fester und drehte sie zwei-, dreimal.
Nathan war noch immer kreidebleich. »Ich habe alles gefegt und bin dann zurückgekommen. Du hast geschlafen und die Kurbel stand still, aber trotzdem konnte ich hören, wie die Buttermilch im Faß geschlagen wurde«, platzte er hervor. Er schaute entgeistert zu Briana auf und hoffte auf eine logische Erklärung.
»So ein Unsinn«, widersprach sie gutmütig. »Die Butter schlägt sich doch nicht von ganz alleine. Ich habe nur ein bißchen die Augen zugemacht, aber dabei immer weiter gekurbelt.«
»Nein, das hast du nicht. Du hast dich überhaupt nicht bewegt, als ich reinkam«, verteidigte er sich tapfer. »Ich wollte mich ranschleichen und dich erschrecken, und dann war ich so nah dran, daß ich hören konnte, wie das Faß von selbst butterte.«
»Na, dann wollen wir mal nachsehen, ob sich ein Ungeheuer darin versteckt hält«, erklärte sie liebevoll spottend. »Ich darf doch annehmen, daß du noch immer mein Buttermilchvorkoster bist?«
Nathan senkte schnell die Augen und vergrub verschämt sein Kinn. Eigentlich gehörte es sich für einen Jungen nicht, so sehr auf Buttermilch versessen zu sein – er war doch kein Baby mehr! Aber zumindest Briana schien an seiner heimlichen Vorliebe nichts zu finden. Nie zog sie ihn damit vor den anderen Kindern auf, vielleicht lag es daran, daß sie selber Buttermilch mochte.
Briana hob den schweren Deckel ab und entfernte den tropfenden Rührstab. Dann schaute sie aufmerksam in das Butterfaß und atmete den leicht säuerlichen Geruch ein.
»Nein, kein Ungeheuer weit und breit. Außer Butter und Buttermilch ist hier nichts.« Dann blickte sie Nathan wieder ganz ernsthaft an und kniete sich dazu nieder, um ihm besser in die Augen schauen zu können. Er preßte die Lippen zusammen und zuckte nur mit den Achseln.
Briana goß die Flüssigkeit in einen großen Tonkrug ab und legte den schweren Butterklumpen auf die Steinplatte.
»So, das ist für dich.« Sie schenkte ihm eine großzügig bemessene Portion in seinen Becher ein; sie selbst begnügte sich mit einer kleineren Tasse. »Na, sag schon, ist sie gut genug?« Sie stieß mit ihm an und schluckte ihre Milch schnell hinunter; plötzlich verspürte sie einen Riesenhunger.
Während sie sich schon wieder der Arbeit zuwandte, nippte Nathan an der kühlen Köstlichkeit und bekam dabei eine richtige Gänsehaut. Er betete Briana an, aber manchmal machte sie ihm auch Angst. Die anderen Frauen nannten sie Wechselbalg, wenn sie außer Hörweite war. Nathan wußte nicht genau, wie das gemeint war, aber vielleicht hatte es etwas damit zu tun, daß sie ihre Arbeit bei geschlossenen Augen verrichten konnte. Wahrscheinlich hatte das außer ihm noch niemand bemerkt. Früher hatte er nur vermutet, daß das Butterfaß ganz von alleine arbeitete, während sie schlafend dabeisaß, aber jetzt war er sich zum ersten Mal sicher.
Briana knetete Salz in die frische Butter und füllte dann damit ein verziertes Keramiktöpfchen für den Frühstückstisch der Gutsherrin. Die restliche Menge wurde in weniger dekorativen Gefäßen aufbewahrt.
Zu Nathan gewandt meinte sie grinsend: »Du wischst dir besser noch den Milchbart von der Schnute, bevor du zurückgehst. Von mir wird jedenfalls keiner unser kleines Geheimnis erfahren. Sonst kommen noch andere Schleckermäuler angelaufen und lassen mir bei der Arbeit keine Ruhe. Kannst du mir helfen, diese Sachen ins Gutshaus zu tragen?«
Sie nahm den Krug mit der Buttermilch und das kleine Buttertöpfchen für Lady MacGregor an sich. Nathan wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, hob zwei der anderen Gefäße auf und folgte ihr aus der Höhle und durch die Scheune hinaus in den Hof.
Briana schaute über die gefrorene Steppe zu den dunklen Wäldern und den schneebedeckten Bergen. Von Lady MacGregor wußte sie, daß ihre Mutter die meiste Zeit in jener Wildnis zugebracht hatte. Die Jäger und Fallensteller berichteten, daß man eine ganze Langwoche durch bewaldetes Hügelland mußte, bevor man an den Fuß einer unüberwindlichen Fels- und Gletscherwand gelangte, die sich vor einem so hoch auftürmte, daß sie fast den ganzen Himmel verdeckte.
Briana fragte sich, ob irgend jemand sie aufhalten würde, wenn sie eines Tages einfach in diese Wälder losziehen würde. Der Gedanke, daß sie dafür Vorräte und Waffen bräuchte, kam ihr gar nicht erst. Sie träumte nur so vor sich hin, und jedesmal, wenn sie an das Fortgehen dachte, stellte sich ein merkwürdiges Jucken hinter ihren Augenlidern ein. Vielleicht war es an der Zeit, wieder einmal mit Lady MacGregor zu sprechen.
Zwischen der Scheune und dem Gutshaus wirbelten kleine Windhosen den Schnee auf. Nathan, der die beiden Buttertöpfe eng an den Körper preßte, zitterte trotz der schweren Stiefel und des dicken Wintermantels vor Kälte, während Briana nur übermütig lachte und sich den eisigen Wind um die Nase wehen ließ. Barfuß tänzelte sie über den Hof, und ihre langen, schlanken Zehen hinterließen kaum eine Spur im Schnee.
Nathan verdrehte verwundert seine Kulleraugen und stürmte der warmen Küche entgegen. Ihre Buttermilch schmeckte schon toll, aber sonst hatten die anderen recht: Briana war wirklich seltsam!
In einiger Entfernung saß hoch oben in den Wipfeln ein bleiches Chieri friedlich auf einem sanften Moospolster und richtete seinen silbergrauen weitschauenden Blick auf die erste Tochter, die es in mehr als hundert Jahren gezeugt hatte. Für das Chieri würde es eine solche Vereinigung von Körper und Geist nie wieder geben, und bei diesem Gedanken ließ eine heftige Gemütsregung seine zerbrechliche Gestalt erzittern. Andererseits war es ermutigend zu beobachten, wie vielversprechend sich die Kinder entwickelten, die bei den seltenen Begegnungen zwischen seiner langlebigen Art und den lebenstüchtigen neuen Siedlern entstanden. Eine uralte Verwandtschaft ermöglichte es der telepathischen Rasse der Chieri, zu überleben und einer neuen Generation ihre besonderen Fähigkeiten und verborgenen Kräfte einzuflößen.
Fast alle gemischtrassigen Kinder wurden in den Menschensiedlungen großgezogen, da sie schon im Hochsommer die Kälte eines Chieri-Lebens nicht aushalten konnten, ganz zu schweigen von den Wintern. Dabei war es unwichtig, ob sie väterlicher- oder mütterlicherseits von einem Chieri abstammten. Den anderen Elternteil lernten die meisten dieser Kinder nie keimen.
Briana aber war einzigartig. Es war unvermeidlich, daß das Chieri sie eines Tages für sich beanspruchen würde. Wenn alle vier Monde wieder am Himmel stehen, wird auch die erste Kireseth-Blume erblühen, dachte das Chieri. Danach werde ich sie zu mir holen, damit sie die andere Hälfte ihres Erbes antreten kann.