JANET R. RHODES
Garrons Gabe
Janet lebt mit ihrem Mann John in Olympia, Washington. Beide spielen Bluegrass und Country-Musik, er Gitarre und sie Zither. Außerdem haben sie gerade einen neuen Gemüsegarten angelegt. Janet besitzt ein Diplom in Mikrobiologie und beschäftigt sich seit Jahren mit alternativen Heilmethoden sowie in letzter Zeit mit Kräuterkunde.
Seit nunmehr beinahe zwanzig Jahren arbeitet sie für das Umweltministeriums des Staates Washington, das sie gut alle vier Jahre auf ein neues Projekt ansetzt. Es besteht also keine Gefahr, daß ich langweilig werden könnte.
Janet hat bereits Beiträge zu drei vorangegangenen Darkover-Anthologien sowie für das Marion Zimmer Bradley Fantasy Magazine geliefert.
Ein kalter Luftzug strich Melitta um die Beine, kroch unter ihren schweren Wollrock und biß ihr scharf in die nackte Haut. Sie deckte den Kochtopf wieder zu, trat einen Schritt zurück und zog den Mantel enger um ihren fröstelnden Körper. Obwohl er mit Marlfell gefüttert war, schützte er sie nur wenig gegen die morgendliche Frische. Es war Herbst geworden in den Hellers!
Im Nordosten zeichnete sich Mount Kimbi klar und rosa eingefärbt gegen den Horizont ab. Als Melitta ihren Blick von seiner Höhe abwandte und im Lager umherschweifen ließ, sah sie, daß ihr drei Jahre jüngerer Bruder Stefan noch immer eingemummelt in den Decken lag. Der eine ihrer beiden Begleiter, Lerrys, schlief auch noch, während Rafael verschwunden war, wohl, wie sie vermutete, um einem dringenden Bedürfnis nachzugehen.
Melitta seufzte. Wenn ihre schwangere Schwester Ysabet nicht dringend ihre Hilfe benötigt hätte, säßen sie und Stefan jetzt daheim in der Großen Halle an wärmenden Feuer, die in jedem Zimmer sorgfältig geschürt wurden. So aber befanden sie sich jetzt hier!
Plötzlich drückte etwas gegen ihr Bein und ließ ihren Fuß tiefer in die dünne Schicht des frisch gefallenen Schnees einsinken. Gleichzeitig stieg ihr ein tierischer Geruch in die Nase. »Igitt! Mach, daß du fortkommst!« Melitta drehte und wand sich, um das eingeklemmte Bein freizubekommen. »Runter mit dir, du dämliches Biest. Runter!«
Als sich das Chervinekalb rührte, zog Melitta schnell ihren Fuß zurück. Aber das Kalb drückte sich noch immer gegen sie und blökte dabei herzerweichend. Noch einmal schubste Melitta das Kalb weg, bis es schließlich davonstakste. Melitta stand da und wischte sich den Schlamm von ihren Händen. Sie holte ein abgelegtes Hemd hervor, das sie zum Reinigen aufbewahrte, und streifte den gröbsten Dreck ab, bevor sie sich wieder dem dampfenden Kessel mit Porridge zuwandte. Neben dem Porridge hatte sie auch einen Kessel Wasser aufgesetzt, um jaco zu kochen. Melitta rückte die Töpfe zurecht, da sie befürchtete, sie beim Gerangel mit dem Kalb verschoben zu haben. Was war nur in dieses Chervine gefahren, fragte sie sich.
Etwas Feuchtes und Kaltes streifte über ihren Handrücken. Melitta fuhr herum, als das Chervinekalb erneut versuchte, sich an ihr vorbei zu zwängen. »Nein, hat man so was schon gesehen?« Sie griff das Tier bei den Ohren, zog kräftig und drehte ihm so den Kopf in Richtung der anderen Packtiere. »Dort steht deine Mutter! Also los, nun geh schon!« Das Kalb stakste einige Schritte auf seine Artgenossen zu, wandte sich dann aber wiederum Melitta und dem Feuer zu; seine großen, dunklen Augen fixierten etwas hinter Melittas Rücken. Wieder ließ es dieses klagende Blöken vernehmen. Plötzlich stürzte sich das Chervine nach vorn. Nein, das ging wirklich zu weit. Melitta sprang hinzu, um es vom Feuer und den Töpfen fernzuhalten, und rief dabei Lerrys und Rafael um Hilfe.
Das Kalb schubste Melitta; sie stolperte über seine Beine und stürzte zu Boden. Sie hörte Geklapper und dann ein Zischen, als ob man noch grünes Holz ins Feuer warf; da wußte sie, daß der Kochtopf umgestoßen worden war und das Porridge sich in die Flammen ergoß. Melitta fand sich im Schnee wieder, niedergedrückt von dem Kalb, das jetzt hysterisch plärrte. Sie schrie, und Lerrys antwortete rauh und sonor, wie es eine Art war. Dann richtete sich das Kalb auf und trat ihr dabei mit seinen kleinen, scharfen Hufen in den Bauch.
Als sie unter dem Bauch des Chervines hervorspähte, sah Melitta, wie Lerrys aufsprang und sich mit gezücktem Messer zur Verteidigung anschickte. Im Bruchteil einer Sekunde war er am Feuer und zerrte das Kalb von Melitta weg. »Alles in Ordnung, Damisela?«
»Alles bestens. Na ja, oder auch nicht. Nur verdreckt, aber nicht verletzt. Höchstens in meinem Stolz. Dieses Kalb – « Sie sah auf. Das Tier hatte sich seinen Weg um das Feuer herum gebahnt und lief jetzt auf den Stapel Decken zu, unter dem sich Stefan verbarg. »Halt es auf!« rief sie Lerrys zu. Dieser rannte los und konnte das Kalb gerade noch abfangen, bevor es Stefan erreichte, der trotz des anhaltenden Geplärrs des Kalbes und der anderen Tiere fest weiterschlief.
Lerrys stemmte sich mit seinem gesamten Körpergewicht gegen das Kalb, das auch weiterhin auf Stefan zudrängte. Plötzlich stolperte er über Stefans Beine, fiel nach hinten über und riß dabei das Kalb mit sich, das beide unter sich begrub. Zuunterst wand Stefan sich und schrie mit erstickter Stimme.
Melitta stürzte herbei, um zu helfen. Wo war Rafael?
Einige Zweige bewegten sich an den Bäumen, die die Lichtung umstanden, und der zweite ihrer Begleiter brach aus der Deckung hervor. Noch im Rennen knöpfte er seine Hose wieder zu. »Schnell«, rief sie ihm zu, »beeil dich!«
Das Kalb hatte sich aus dem Deckengewirr herausgewunden und versuchte, Lerrys fester Umklammerung zu entkommen. Melitta eilte Stefan zu Hilfe.
Der Junge rieb sich die schläfrigen Augen. »Was ist denn los?« fragte er eher vorwurfsvoll; Schmerzen schien er nicht zu haben. Melitta seufzte erleichtert. Zumindest mußte sie nicht befürchten, mit einem verstümmelten Erben der Domäne zum Großen Haus zurückzukehren.
Melitta kümmerte sich jetzt um Lerrys. Obwohl sich nun beide gegen das Kalb stemmten, wich dieses keinen Schritt zurück. Unaufhörlich blökte es seine Verzweiflung heraus. Es erschien Melitta so, als ob das Tier ihren Bruder anrief. War es denkbar, daß Stefan durch sein Laran Verbindung mit dem Tier aufgenommen hatte?
Schwellenkrankheit? Nein, unmöglich! Er war noch viel zu jung. Melitta zitterte als sie sich daran erinnerte, wie sehr ihr eigener Körper in Aufruhr geraten war, als ihre sexuellen und psychischen Triebkräfte sich entfalteten. Aber ihr Bruder war noch viel zu jung, als daß sich sein Laran melden könnte. Und außerdem waren sie unterwegs zu ihrer Schwester Ysabet, die ihr zweites Kind erwartete, und somit hatte Melitta weder etwas von der Kirian genannten Medizin bei sich, um ihn zu behandeln, noch die Zeit, eine Leronis zu Rate zu ziehen, die ihn untersuchen könnte.
»Was ist jetzt, hilfst du uns oder nicht?« fragte sie Rafael barsch, als er endlich bei ihnen war. »Du hast ja keine Ahnung, wie leid ich es bin, mich hier von diesem Kalb zum Narren halten zu lassen.«
Rafael grinste. »Ich helfe nur zu gern, Damisela. Nur weiß ich nicht, wo ich drücken soll. Diese Seite scheint mir jedenfalls schon besetzt.«
Melitta stöhnte verzweifelt.
»Wenn wir uns alle zusammenstellen und versuchen, das Kalb zurückzutreiben, könnte es klappen«, meinte Stefan, der sich endlich erhoben hatte.
Die vier zingelten das Kalb ein und wollten sich gerade daran machen, es zu den anderen Chervines zurückzudrängen, als das Vieh urplötzlich seinen Kampf einstellte. Durch den nun fehlenden Widerstand wären die vier beinahe gestürzt und übereinandergefallen, doch gelang es ihnen gerade noch, sich gegenseitig zu stützen.
Das Kalb drehte sich um, trottete treu und brav zu seiner Mutter und machte sich unverzüglich am Euter zu schaffen, das es immer wieder feste stieß, so als wollte es sagen: »Mehr! Mehr! Ich habe einen Riesenhunger!«
Bei diesem Anblick mußte Melitta wieder an ihren verschütteten Porridge denken. »Eine schöne Bescherung!«
Stefan beobachtete seine Schwester, wie sie den angeschwärzten Kessel aus dem Feuer angelte. Was eigentlich ihr Frückstücksporridge werden sollte, köchelte nun in der schwächer werdenden Glut vor sich hin. »Bei Zandrus Höllen«, murmelte Stefan hinter ihrem Rücken. »Ein feines Frühstück war das!«
Melitta nickte nur schweigend. Der Tag hatte alles andere als gut angefangen. Sie mußten mindestens noch eine weitere Nacht unterwegs verbringen, bevor, sie Ysabets Domizil erreichen würden, und außerdem lag Neuschnee. Sie wünschte sich, einer aus ihrer Reisegesellschaft hätte das Wettergespür, doch dem war nicht so. Von den Vieren besaß nur sie selbst überhaupt ein bißchen Laran, das aber kaum der Rede wert war. Das jedenfalls hatte ihr die Leronis Mahari vom Turm zu Tramontana attestiert. Für Melitta stand fest, an diesem Tag würde alles schiefgehen, was nur schief gehen konnte: mit dem falschen Fuß aufgestanden, Porridge verbrannt, und zu allem Überfluß ein wunderliches Kalb. Andererseits hätte es auch viel schlimmer kommen können. Statt ein paar Zentimeter Neuschnee hätte er auch hüfthoch liegen können.
Sie seufzte erneut. Für eine weitere Portion Porridge fehlte ihr jetzt die Zeit. Aber da das Wasser noch immer heiß war, mischte sie Nußmehl mit getrockneten Früchten darunter. Dieser Brei war fertig, als Rafael und Lerrys ans Feuer zurückkehrten, nachdem sie das Kalb am Halfter seiner Mutter festgezurrt hatten, um so weiteres Unheil zu verhüten.
Nach dem Essen sattelten die vier ihre Pferde und beluden die Lasttiere. Lerrys auf seiner schwarzen Stute ritt an der Spitze ostwärts, gefolgt von Stefan und Melitta auf ihren Braunen. Rafael auf dem Wallach bildete das Schlußlicht, wobei die Führungsleine für die Lasttiere fest an seinem Sattel verknotet war. Es war jetzt nicht mehr ganz so kalt wie am frühen Morgen, und Melitta hoffte, sie würden das Gut noch vor dem morgigen Abend erreichen. Nur noch einmal campieren, bitte, Evanda, laß es damit genug sein. Die Zeit drängt, Ysabet steht kurz vor der Niederkunft …
Sie waren schon mehrere Stunden unterwegs, als Melitta plötzlich Lerrys schallend lachen hörte. Seine herzliche Art war unverkennbar. Stefan, der auf dem breiten Pfad zu ihm aufgeschlossen hatte und an seiner Seite ritt, zügelte sein Pferd so abrupt, daß es sich kurz aufbäumte. Während Lerrys kichernd weiterritt, wendete der Junge sein Pferd und trabte zurück, bis er auf gleicher Höhe mit seiner Schwester war. Seine buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen, murmelte er vor sich hin.
»Möchtest du mit mir darüber reden?« fragte Melitta.
»Meine Schuld war’s jedenfalls nicht, daß das dämliche Chervine das Porridge verschüttet hat.«
»Das habe ich auch nie behauptet. Solche Sachen passieren schon mal, wenn sich die Schwellenkrankheit bei uns einstellt.« Er murrte nur, und sie fragte ihn: »Was hat denn Lerrys gemeint?«
»Wo nimmt er sich eigentlich das Recht her, so mit mir zu reden?«
»Was genau hat er gesagt?«
»Daß ich mich wohl wie Ysabet oder Raynald entwickele. Aber das paßt mir ganz und gar nicht, daß mir irgendwelche Rabbithorns aus dem Wald hinterhergelaufen kommen oder ein Fohlen mich bis ins Haus hinein verfolgt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Mutter Raynald gewarnt hat, er müsse in den Stallungen schlafen, falls es sein Laran nicht besser in den Griff bekomme. Melitta, ich möchte aber nicht in einer Scheune leben!«
Melitta mußte ein Lächeln unterdrücken. Ihre Familie war mit den MacArans verwandt, und genau wie jener Clan besaßen sie die Gabe, mit allem, was da kreuchte und fleuchte, in Rapport zu treten. »Immerhin scheint es dich nicht so schlimm wie Edric erwischt zu haben. Das hätte uns auch gerade noch gefehlt – Skorpionameisen, die über unsere Bettlaken marschieren!« Aber als Stefan bei dieser Bemerkung erschauderte und ihr einen solch verzweifelten Blick zuwarf, da fühlte sie sich für sein Elend mitverantwortlich.
Am späten Nachmittag erreichten die vier den Kamm eines Höhenzuges, den sie seit Mittag hinaufgeritten waren. Vor ihnen türmte sich im Norden Mount Kimbi über den Baumkronen auf. Unter ihnen schlängelte sich der Pfad einen steilen Abhang hinab, bis er sich im tiefen, bewaldeten Talgrund verlor. Hier und da blitzte Sonnenlicht herauf, das sich in einem kleinen Fluß spiegelte.
Die Tiere schienen den Abstieg kaum erwarten zu können. Die Pferde stellten die Ohren auf und tänzelten unruhig; die Chervines muhten und blökten aufgeregt durcheinander. Der Pfad führte sie nach Norden direkt auf den Fuß von Mount Kimbi zu.
Als Lerrys sein Pferd zügelte und um die erste Kehre führen wollte, scheute die Stute. Mit weit geblähten Nüstern schnaubte sie unwillig und schielte zu ihrem Reiter, so als wolle sie sagen: »Willst du wirklich, daß ich hier kehrt mache?« Lerrys zerrte an den Zügeln und riß damit den Kopf seines Reittiers nach rechts herum. Das Pferd tänzelte seitwärts auf das nicht gerodete Gestrüpp am Ende des Pfades zu, als ob es darauf bestünde, die nördliche Richtung beizubehalten. Lerrys gab der Stute die Sporen und schlug auch mit der Peitsche zu. Da bäumte sie sich auf und brach seitlich in das Unterholz aus, bis sie vor einem Baum zum Stehen kam. Lerrys, der zwischen seinem Pferd und dem Baum eingezwängt war, griff nach einem überhängenden Ast, der ihn beinahe aus dem Sattel geworfen hätte. Er hatte gerade den Ast zu fassen bekommen, als das Pferd durchging. Nach einigen Galoppsprüngen verfiel die Stute wieder in Schritt, machte dann kehrt und blieb in der Mitte des Weges stehen. Mit gespitzten Ohren starrte sie ihren Reiter an.
Lerrys hatte sich inzwischen auf den Ast hinaufgezogen, sodaß Arme und Hände sein Gewicht abstützten und er bäuchlings über dem Astwerk hing. Seine Beine baumelten frei gut einen Meter über einer Schneewehe, und es war nur gut, daß Melitta zu weit weg war, um seine Schimpfkanonade mitanzuhören.
Schließlich atmete er tief durch und entschloß sich zu springen. Er ließ sich von dem Baum fallen, kam aber bei der Landung so unglücklich auf, daß er nach vorne taumelte. Sein rechter Fuß schien an einem Stein oder einer Wurzel umgeknickt zu sein. Kopfschüttelnd versuchte Lerrys wieder aufzustehen, sackte aber mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.
»Alles in Ordnung mit dir?« fragte Melitta, die herbeigelaufen kam.
Lerrys linste verdutzt zu ihr hoch. »Schön wär’s, aber …« Er deutete auf seinen rechten Fuß. »Ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht.« Während die anderen ihre Tiere festbanden, entschuldigte er sich noch, sie so aufzuhalten.
»Ach, vergiß es«, tadelte Rafael ihn freundschaftlich. »Solche Sachen passieren halt.«
»Ja«, pflichtete Stefan ihm bei, »und ganz besonders bei dieser Reise.«
Rafael und Stefan stützten Lerrys, während Melitta sein Pferd wieder einfing. Die Vorderhufe nach außen gestellt und den Schweif erhoben, beäugte die Stute sie mißtrauisch. Als Melitta nach den Zügeln griff, schnaubte das Pferd und wich einen Schritt zurück. Indem sie beruhigend auf die Stute einredete, gelang es Melitta schließlich, sie zu den anderen zurückzuführen.
Sie halfen Lerrys beim Aufsitzen und holten dann ihre eigenen Reittiere. Rafael und Stefan führten ihre Pferde den Pfad entlang, der jetzt in südlicher Richtung verlief. Lerrys folgte ihnen. Melitta, die die Nachhut bildete, sah, daß er seinen rechten Fuß neben dem Steigbügel baumeln ließ.
Die Pferde mußten zu jedem einzelnen Schritt angetrieben werden, und auch die Chervines zurrten unwillig an ihren Leinen. Melitta munterte ihre Stute mit Händen, Fersen und guten Worten auf. Endlich vollzog der Pfad wieder eine enge Kurve. Kaum war Lerrys um die Kurve gebogen, da brach Melittas Brauner ohne Vorwarnung in leichten Galopp aus. Der plötzliche Ruck warf sie aus dem Gleichgewicht, und noch bevor sie wieder richtig zum Sitzen kam, liefen sie auf Lerrys Stute von hinten auf. »Entschuldigung«, murmelte Melitta erst verlegen. »Hey, was soll das?« rief sie dann zornig ihrem Braunen zu, der gerade der schwarzen Stute in die Flanke biß. Diese schlug daraufhin aus, wodurch Lerrys Fuß schmerzhaft herumgewirbelt wurde.
Melitta und Lerrys brauchten einige Zeit, bis sie ihre Reittiere wieder unter Kontrolle hatten. Besonders Lerrys hatte die Anstrengung viel Schweiß und Schmerzen gekostet, aber trotzdem lehnte er es ab, als Melitta vorschlug, eine Rast einzulegen und seinen Fuß, falls nötig, zu verbinden.
Die Vier bahnten sich ihren Weg immer tiefer ins Tal. Solange der Pfad nach Süden wies, mußten sie ihre Reittiere mühsam vorantreiben; sobald er sich aber nach Norden wandte, hatten sie alle Hände voll zu tun, die Tiere zu zügeln. Halb im Scherz meinte Lerrys, die Viecher hegten anscheinend eine besondere Vorliebe für Mount Kimbi. Jedenfalls war es äußerst anstrengend, und die Nacht war bereits im Tal hereingebrochen, als die müden Reisenden ihr Lager aufschlugen. Dazu diente ihnen ein alter Unterstand am Ufer – nicht viel mehr als ein Verschlag aus drei Wänden – den Melitta beim Abstieg erspäht hatte. Dankbar begrüßte sie das beruhigende Rauschen des Baches.
Rafael band die Pferde und Chervines fest und fütterte sie, während Stefan Feuerholz zusammensuchte. Lerrys war unter Schmerzen fluchend abgesessen, und Melitta bot ihm ihre Schulter als Stütze, als er auf den Unterstand zuhumpelte.
Obwohl er störrisch behauptete, er könne sehr wohl allein zurechtkommen, bestand Melitta darauf, ihm beim Ausziehen der Stiefel zu helfen. Zu ihrer Bestürzung mußte sie feststellen, daß der Fuß bereits so stark angeschwollen war, daß der Stiefel sich nicht abziehen ließ. Sie fragte sich besorgt, ob es besser wäre, das Schuhwerk aufzuschneiden oder doch lieber als Stütze für den verletzten Knöchel anzubehalten. Da sie aber fürchtete, der Fuß könne sich unter dem engen Leder noch zusätzlich entzünden, schnitt sie schließlich den Stiefel auf. Dabei bemühte sie sich, bei Lerrys Stöhnen nicht vor Mitleid zusammenzuzucken. Stefan brachte etwas Schnee, den sie auf die geschwollene Stelle packten. »Ich glaube es einfach nicht, daß mir so was passieren muß«, sagte Lerrys immer wieder vor sich hin. Aber schließlich entspannte er sich ein wenig, als der kühlende Schnee seine Wirkung tat und die Schmerzen nachließen.
Sie waren alle viel zu müde, um noch Wasser aufzukochen, und so saßen die Vier im Unterstand und kauten an gedörrten Früchten und Trockenfleisch. Dann endlich wickelten sie sich in ihre Decken; die Füße streckten sie dem wärmenden Feuer entgegen, während Kopf und Körper im Unterstand Schutz fanden.
Als sie so zwischen Wachen und Schlaf dalag, lauschte Melitta dem friedlichen Lied des Baches und wunderte sich über das seltsame Verhalten der Tiere. Was sollte sie nur mit Stefan machen? Über solche Gedanken schlief sie ein.
In ihren Träumen durchstreifte Melitta das Grau der Oberwelt. Aus der Ferne hörte sie ein Kind rufen. Sie folgte der Stimme durch die Nebelschwaden, bis sie auf eine kleine Gestalt stieß. Das Kind konnte ihrer Meinung nach kaum älter als Ysabets Sohn Donal sein, also gerade mal zwei Jahre. Melitta wollte ihn trösten, aber der Junge wich ihr mit erstaunt aufgerissenen Augen aus. »Warum weinst du?« fragte sie.
Er drehte sich um und wies auf die leere Einöde hinter ihm. Mit einem Mal regte und bewegte sich die graue Masse, bis alle möglichen Tiere wie Hunde, Marls und Rabbithorns aus den Nebeln hervortraten und sich um den Jungen drängten. Melitta beobachtete, wie er seine kleinen Hände in die Fellknäuel grub, die Tiere wahllos streichelte und sie noch dichter an seinen kleinen Körper schmiegte. Sein Schluchzen verwandelte sich in erst leises, dann immer übermütiger werdendes Lachen, als mehr und mehr Tiere auftauchten, bis sie beide schließlich ganz von ihnen eingekreist waren. Schon bald ergossen sich Scharen von Tieren über das Kind und preßten sich gegen Melitta, so daß es ihr fast den Atem nahm.
Das Kind! Es wird ersticken!
Sie schob und drängte die Tiere zurück, um in dem geschmeidigen Gefüge der Oberwelt etwas Platz für sich und den Jungen zu schaffen. In kurzen, stoßartigen Atemzügen rang sie nach Luft. In Gedanken malte sie sich den sonnendurchfluteten Wintergarten zu Hause aus; die Pflanzen dort hatten immer eine belebende Wirkung auf sie ausgeübt. Das Gewebe der Oberwelt kräuselte sich. Das Kind! Sie mußte das Kind in Sicherheit bringen. Sie suchte im Nebel nach dem Jungen – aber er war verschwunden!
Melitta schrie auf. Immer und immer wieder rief sie nach ihm, bis sich ihre Kehle ganz trocken und wund anfühlte. Aber das Kind blieb verschwunden. Und auch die Tiere waren nicht mehr da. Was war vorgefallen?
Verzweifelt floh sie aus der Oberwelt in die kalte Herbstnacht zurück. Melitta fuhr erschrocken hoch. Der Traum war so real gewesen. Noch immer konnte sie spüren, wie sich die warmen Leiber an sie drückten, noch immer hing ihr der Geruch von Tieren, Stall und Kot in der Nase. Was war geschehen?
Vor Aufregung konnte Melitta nicht wieder einschlafen. Sie richtete sich in ihren Decken auf und starrte in die Dunkelheit. Jenseits des niedergebrannten Feuers luchste ein Augenpaar zurück. Die Pferde und Chervines stampften ruhelos auf. Sollte sie Rafael wecken? Aber noch ehe sie ihn rufen konnte, waren die Augen nach kurzem Blinzeln verschwunden. Melitta spähte angestrengt in Richtung der Büsche, ob dort vielleicht die Augen wiederauftauchten, konnte aber nichts erkennen. Nach einiger Zeit beruhigten sich auch die Tiere wieder, und Melitta kuschelte sich in ihre Decken. Doch eine Frage ließ ihr keine Ruh: Was war aus dem Kind geworden?
Am nächsten Morgen erwachten sie bei leichtem Schneefall; der ausgekühlte Boden war bereits von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Hinter dem Schirm aus tiefhängenden Wolken wirkte die blutrote Sonne Darkovers wie ein glühender Holzscheit. Avarra sei uns gnädig! dachte Melitta insgeheim. Wenn es den ganzen Tag über und noch bis in die Nacht hinein weiterschneien sollte, wäre an eine Fortsetzung der Reise tagelang nicht zu denken. Sie würden zu spät zu Ysabets Entbindung kommen. Melitta hatte ein ungutes Gefühl, das sich bei ihr auch immer dann einstellte, wenn sich im Sommer ein Gewittersturm zusammenbraute.
Stefans entsetzter Schrei lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Reit- und Packtiere. Als sie und Rafael herbeistürzten, zeigte Stefan ihnen die durchgerissenen Stricke.
Das Chervinekalb und das Muttertier waren verschwunden!
Stefan deutete auf einige Haarbüschel an den Zweigen – allem Anschein nach ein Wolf.
Melitta sank der Mut noch tiefer. Unter diesen Umständen waren die Chervines eine sichere Beute für die Wölfe.
»Ich könnte sie suchen gehen«, meinte Rafael, aber Melitta erkannte an seinem Tonfall, daß auch er die Suche für zwecklos hielt.
»Nein«, erwiderte sie barsch, was ihr gleich wieder leid tat. Auch wenn sie gereizt war, brauchte sie deshalb noch lange nicht ihren Unmut an Rafael auszulassen. Besänftigend fügte sie hinzu: »Wir haben einfach keine Zeit dazu, selbst wenn wir eine Spur hätten, der wir folgen könnten. Lerrys braucht dringend Hilfe, und Ysabets Baby kann jeden Moment zur Welt kommen!« Durch die wirbelnden Schneeflocken schaute sie nach Osten.« Bitte, Ysabet, bitte, warte noch mit dem Baby. Und um sich für ihre rüde Art ganz zu entschuldigen, erklärte sie noch: »Ich werde Vater berichten, daß der Verlust der beiden Chervines unvermeidlich war.« Rafael war sichtlich erleichtert.
Lerrys’ Gestöhn unterbrach sie. Er hatte die Decken zurückgeworfen und hielt seinen rechten Fuß, der inzwischen dunkelrot angelaufen war, in die kalte Morgenluft. Rafael brachte einige Kleiderfetzen, die Melitta rasch um den Fuß wickelte, während Lerrys tapfer die Zähne zusammenbiß. Mehr konnte sie für ihn im Augenblick nicht tun. Er bedurfte dringend die Hilfe einer Kräuterfrau oder, besser noch, der magischen Heilkünste einer ausgebildeten Leronis. Und dies war nur bei Ysabet zu erhalten.
Nach einer hastig am Feuer eingenommenen Mahlzeit sattelten sie die Pferde und beluden die Packtiere, wobei sie die Last des verschwundenen Chervines auf die zwei verbliebenen Tiere verteilten. Mensch und Tier schienen gleichermaßen gereizt zu sein. Selbst Rafaels sonst so phlegmatische Stute biß ihm in die Schulter.
Als sie den östlichen Abhang des Tales hinaufritten, murrten die beiden Chervines widerwillig gegen die zusätzliche Last. Die Pferde bockten auch weiterhin, wenn der Pfad nach Süden führte, und die Reiter mußten sie zusätzlich antreiben. Auf den nach Norden weisenden Wegabschnitten schritten sie hingegen eifrig durch den knöcheltiefen Schnee. Zum Glück blieb der Schnee auf dem kalten Boden trocken und pulvrig, und auch der Weg war nicht vereist.
So kämpften sie sich den östlichen Abhang des Tales weiter hinauf, überquerten einen Kamm und ritten schließlich in ein weiteres Tal hinab.
Melitta sah, wie zuerst Lerrys und dann Stefan aus dem Wald heraus in das Licht der Nachmittagssonne ritten. Auch sie tauchte jetzt in die Wärme ein, gefolgt von Rafael, der die Führleine der Packtiere an seinen Sattel gebunden hatte. Vor ihnen tat sich ein Geröllabhang auf, aber die Steine waren im wärmenden Sonnenlicht alle trocken. Moose und Flechten machten sich auf den Felsen breit. Nur unter den Bäumen blieben noch einige Schneefetzen liegen, zu denen die Sonnenstrahlen noch nicht vorgedrungen waren.
Die unvermutete Wärme tat Melitta gut. Den ganzen Morgen schon hatte sie diesen stechenden Schmerz im Nacken verspürt, und er war von Stunde zu Stunde schlimmer geworden. Jetzt erwärmten und lösten die Sonnenstrahlen die Muskelverspannung.
Lerrys rief ihr zu und deutete auf ein Flachstück unterhalb der Felsen. Melitta winkte zurück, und zusammen mit Rafael führte sie ihre Pferde zu dem Platz, den Lerrys ihnen gezeigt hatte. Die Tiere wieherten und schnaubten unsicher, da sie auf dem losen Geröll nur schlecht Halt fanden. Als sie endlich das Flachstück erreichten, blieb ihr Brauner mit einem Mal stehen und begann am ganzen Leib zu zittern. Melitta zog kräftig an den Zügeln, bis sich ihr Pferd wieder in Bewegung setzte und zu den anderen aufschloß. Sie bemerkte, daß der Weg sich hier gabelte; rechts führte er ostwärts zu dem Gut ihrer Schwester, geradeaus nach Norden auf Mount Kimbi zu. Der Berg türmte sich jetzt direkt vor ihnen auf, und die einförmige rosa Masse, die sie am Vortag gesehen hatten, löste sich nun in gezackte Kämme, einzelne Felsformationen und Eisfelder auf. Es war klar, daß sie Gut Castamir vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr erreichen würden. Und ebenso klar war, daß Lerrys ein schützendes Dach und ein wärmendes Bett brauchte. »Weiß jemand, was sich auf der Nordroute befindet?« fragte Melitta.
Lerrys blinzelte und schielte nach Norden, so als ob er durch die Bäume etwas erkennen könne. Hinter ihm meldete sich Rafael zu Wort. »Ein paar kleine Dörfer und Farmen.«
»Und weiter weg auch ein oder zwei Güter«, fügte Lerrys hinzu. »Ich kann mich daran erinnern, mit Eurem Vater Ysabets neue Verwandtschaft besucht zu haben. Aber wie lange wir damals unterwegs waren, weiß ich nicht mehr genau.«
Melittas Nackenmuskeln verspannten sich erneut. Sie glaubte, entfernt ein Kind lachen zu hören, und wandte sich in Richtung des Geräuschs um.
»Was ist los?« wollte Rafael wissen.
»Ich habe jemanden gehört.«
»Wo?«
Sie wies auf den nordwärts führenden Pfad. Sie fühlte eine unerklärliche Anziehung aus dieser Richtung; es war fast so, als ob ein riesiges Fischernetz ausgeworfen worden war, das die Vier mitsamt ihren Tieren umgab und jetzt Stück für Stück eingeholt wurde. Das Kind lachte und brabbelte in seiner Kindersprache. »Hört ihr es denn nicht?« Die Männer schüttelte den Kopf.
»Vielleicht ist es nur der Wind in den Bäumen«, vermutete Stefan, »oder herabfallender Schnee.«
Aber Melitta war sich ganz sicher, das Lachen eines Kindes gehört zu haben. Leide ich jetzt an der Schwellenkrankheit? Und das in meinem Alter? Oder ist da draußen wirklich jemand?
»Also, was meint ihr?« fragte sie und rieb sich dabei den Nacken. Sie wünschte sich, sie säßen längst bei Ysabet am wärmenden Feuer und tränken heißen Jaco.
»Wenn Ihr ein Kind gehört habt, befindet sich vielleicht ganz in der Nähe ein Dorf oder ein Haus«, schlug Rafael vor. Melitta sah Lerrys schmerzverzerrtes Gesicht, und daher willigte sie ein, den nördlichen Weg zu probieren.
Eine Stunde lang ritten sie nach Norden. Nichts tat sich. Es folgte eine weitere Stunde. Noch immer nichts. Melittas Kopfschmerzen kehrten zurück und wurden bei jedem Schritt schlimmer. Das Geplapper und Lachen des Kindes drängte sich immer wieder in Melittas Bewußtsein. An jeder Wegbiegung glaubte sie, dahinter müsse sie das Kind sehen. Aber jedesmal lag der Weg leer vor ihnen. Und noch immer zog es sie weiter nach Norden.
Sie hatten einen längeren, steilen Anstieg hinter sich gebracht; Melitta kam gerade auf eine Waldwiese, während die Männer schon die Bäume am anderen Ende der Lichtung erreichten. Sie richteten sich im Sattel auf und schienen darauf zu warten, daß Melitta zu ihnen aufschloß. Lerrys hatte sein rechtes Bein über das Sattelhorn geschwungen, um sich so, wie Melitta vermutete, etwas Erleichterung zu verschaffen. Stefan versuchte offenbar irgendwelche übermütigen Reiterkapriolen; er ließ seine Stute sich aufbäumen und ausschlagen. Kindereien, bei denen sich Roß und Reiter verletzen konnten! Melitta trieb ihr Pferd an, um dem Einhalt zu gebieten. Wie konnte er sich selber nur so in Gefahr bringen! Aber warte nur, bis ich dich …
Plötzlich verlagerte sich die Kraft, die sie bislang ständig nach Norden gezogen hatte. Der abrupte Wechsel riß sie zur Seite und brachte ihren Braunen zu Fall. Beim ersten Ruck hatte Melitta geistesgegenwärtig die Füße aus den Steigbügeln genommen, so daß sie jetzt leicht abspringen konnte. Ihr Brauner rappelte sich wieder auf, schüttelte die Mähne und stieß mit dem Kopf gegen ihre Brust, sodaß Melitta das Gleichgewicht verlor. Dann galoppierte ihr Pferd auf und davon. Stefan rief aufgeregt und setzte dem entlaufenden Tier nach.
»Hilf mir auf!« brüllte Melitta Rafael an, der zu ihr geritten war. Sie zog ihren Rock zurecht und streckte ihm die Hand entgegen. Und noch ehe er irgend etwas dagegen einwenden konnte fügte sie hinzu. »Ich werde bei euch bleiben, ob es euch paßt oder nicht. Notfalls reite ich sogar auf einem Chervine!« Rafael ergriff seufzend ihren Arm und half ihr, sich hinter ihm auf sein Pferd zu schwingen.
Das Netz aus Energien, das sie seit zwei Tagen gefangen hielt, zog sie nun an das Ufer eines breiten Baches, der über moosbewachsene Felsblöcke hinabstürzte. Die Pferde gingen durch und jagten auf den Wildbach zu. Rafael stemmte sich mit aller Kraft in die Zügel und versuchte, den Wallach aufzuhalten, aber es war vergebens. Für den Bruchteil eines Augenblicks konnte Melitta auf der anderen Seite des Baches Tiere und Vögel aller Art sehen: Kyorebni und Krähen hockten in den Bäumen, Pferde und Rabbithorns tummelten sich dort, und auch eine Bergkatze mit ihren beiden Jungen lag geschmeidig und nervös mit dem Schwanz schlagend auf einem erwärmten Felsen. Im Hintergrund stand ein kleines Steinhaus. Melitta hatte es kaum wahrgenommen, da stürzten die Pferde schon durch das Wasser.
Als sie die gegenüberliegende Uferböschung hinaufpreschten, sah sie einen kleinen Jungen, der mitten unter all den wilden Tieren stand. Die Pferde und Chervines eilten noch immer in vollem Galopp auf ihn zu, und Melitta fürchtete, sie würden das Kind zu Tode trampeln. Sie schrie und gestikulierte wild, und die Männer taten das gleiche. Dann stoppte der Wallach aus vollem Lauf so abrupt, daß Melitta und Rafael abgeworfen wurden und zwischen lauter kreischenden Tieren landeten. Und wie viele Tiere es waren!
Melitta rieb sich die Stirn, auf der sich eine dicke Beule bildete. Als sie aufblickte, sah sie, daß Lerrys trotz seiner Verletzung im Sattel geblieben war. Rafael stand bereits wieder und klopfte sich dem gröbsten Dreck aus den Kleidern, während Stefan vom Rücken seines Pferdes aus ungläubig und doch erleichtert das Gewusel der Tiere bestaunte.
Der Junge! Wo war der Junge geblieben? Hatte er sich verletzt? Nein, zum Glück nicht. Dort drüben stolperte er gerade auf Stefans Stute zu, als ob er durch das Gewühl beim Mittsommerfest spazieren würde. Evanda und Avarra sei Dank – ihm war nichts geschehen. Inmitten des ganzen Chaos tauchte die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht wieder auf: … ein Junge, umgeben von Tieren aller Art, die ihn fast erdrückten.
»Damisela, seid Ihr verletzt?«, fragte Rafael, der ihr den Weg durch die Tierschar freibahnte.
»Nein, nein, nur ein wenig … durcheinander.« Aber schon schreckte sie wieder zusammen, sodaß sich Rafael erneut nach ihrem Befinden erkundigte. »Dort …«, rief sie aufgeregt. »Unsere Chervines!« Und reichlich verwirrt fügte sie hinzu: »Dieses merkwürdige Gefühl, dieser Sog – es hat aufgehört!« Eindringlich starrte sie den rothaarigen Jungen an.
»Habt Ihr eine Erklärung dafür?«
»Ich? Ich kann es kaum glauben, aber die einzige Erklärung ist die, daß der Junge Laran besitzt, und zwar die MacAran-Gabe in vollem Umfang.« Dann wandte sie sich an Stefan. »Tut mir leid, Bruderherz, daß ich dir die Schuld …« Sie hätte den Satz zu Ende gesprochen, wenn nicht in den allgemeinen Aufruhr eine scharfe Stimme geplatzt wäre. Melitta drehte sich um und sah eine hagere, ausgezehrte Frau auf sie zukommen. Ihre zornige Miene und die gußeiserne Pfanne in ihrer Hand verhießen nichts Gutes.
»Wer seid Ihr?« herrschte die Frau sie an; gleichzeitig hielt sie angsterfüllt nach dem Kind Ausschau. »Garron, komm sofort hierher!« Sie riß Rafael den Jungen förmlich aus den Armen, der ihn gerade zu seiner Mutter bringen wollte.
Die Frau richtete sich auf und war, so wollte es Melitta scheinen, zum Äußersten bereit, als sie plötzlich innehielt und zuerst Melittas, dann Stefans rote Haare anstarrte und darin das charakteristische Zeichen der Edelblütigen auf Darkover erkannte.
»Vai Dom! Domna!« stammelte sie und versuchte unbeholfen einen Knicks. »Was bringt Euch hierher?« Da auch das noch kaum den höflichen Manieren entsprach, fügte sie eifrig hinzu: »Ich, Renata, stehe zu Euren Diensten.«
Melitta trat auf sie zu. »Mestra Renata, wir brauchen Hilfe für einen Verletzten.«
»Ich selbst habe nur wenig, womit ich behilflich sein könnte. Aber einen reichlichen Tagesritt nördlich befindet sich ein Dorf. Und dann gibt es noch Gut Castamir, südöstlich von hier und nicht ganz so weit entfernt.«
Melittas Blick streifte über die versammelte Tierschar, die jetzt allmählich zur Ruhe kam. Es waren so viele verschiedene Tiere! Einmal hier angelangt, würde es den Vieren wohl kaum gelingen, ihre Pferde und Chervines zum Aufbruch zu bewegen. »Ich fürchte, das könnte etwas schwierig werden. Aber vielleicht können wir alles weitere im Haus besprechen.«
Die Frau zögerte noch. Offenbar wußte sie nicht recht, welchem ihrer widerstreitenden Gefühle sie mehr trauen sollte. Aber als Lerrys mit Rafaels Hilfe von seinem Pferd stieg und beim Auftreten vor Schmerzen stöhnte, ließ sich die Frau erweichen.
Sie nahm das Kind auf den Arm und deutete ihnen an, ihr zu folgen. »Eurem Freund zuliebe.« Als sie auf die Hütte zugingen, versuchte der Junge immer wieder, sich von der Mutter loszureißen; begierig streckte er seine verschmutzten Händchen nach allen Kreaturen aus, die sich um sie scharten. Bei jedem Schritt mußte die Frau sorgfältig darauf achten, nicht über eines der Kleintiere zu stolpern.
Renata bat die Vier, in ihr spärlich eingerichtetes Haus einzutreten. Als Melitta auf dem Herd einen Topf mit Gemüse sah, schickte sie Stefan zu den Packtieren zurück, um von ihrem Proviant etwas beizusteuern.
Sogleich machte Renata sich daran, die Bettdecken glattzuziehen, aber Melitta hielt sie davon ab. »Nur keine Umstände, Mestra. Wir werden auf dem Boden schlafen.« Überrascht sah Renata zu, wie Rafael für Lerrys beim Feuer ein Lager bereitete.
Während sie aßen, erzählte Melitta, daß sie zu ihrer Schwester wollten, mit welchen Schwierigkeiten sie unterwegs zu kämpfen hatten und wie sie schließlich, angezogen von der unheimlichen Sogkraft aus dem Norden, bis zu Renatas Haus gelangt waren. Nach einigem Zögern erwähnte Melitta auch, daß sie Garron für die Quelle dieser Laran-Energien hielt, die ihnen seit zwei Tagen so zusetzten. Renata stritt heftig ab, daß Garron dazu überhaupt in der Lage sei.
Sie saßen noch immer bei Tisch, als sich einige der Tiere in die offene Tür drängten, neugierig ihre Köpfe hereinstreckten und umherschnupperten. Als die ersten Anstalten machten, in das Zimmer zu kommen, wurde es Renata zu viel; sie stand auf und verscheuchte die ungebetenen Gäste mit einem Küchenhandtuch, das sie ihnen ins Gesicht schlug. Verdutzt zogen sich die Tiere zurück, und Renata schloß die Tür hinter ihnen.
»Und du willst behaupten, das Kind habe kein Laran«, tadelte Stefan sie, als Garron daraufhin Zeter und Mordio zu schreien begann und verlangte, man solle die Tür für die ›tleinen Tie’lein‹ wieder aufmachen.
Renata schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich wußte ja, daß sein Vater adliger Herkunft sein mußte. Schon allein die roten Haare und die kostbare Kleidung! Wir haben uns beim Mittsommerfest unter den vier Monden getroffen, und ich kannte werde seinen Namen noch seine Familie. Ich habe immer geglaubt, ich würde den Rest meines Lebens hier allein verbringen, wo meine Eltern mich großgezogen haben. Sie starben vor einigen Jahren. Doch dann schenkten die Götter mir dieses Kind als Trost in meinen einsamen Tagen. Laran, sagt Ihr? Aber wie ist das möglich, er ist doch noch so jung.«
»Hast du dich denn nicht über die vielen Tiere gewundert?«
»So viele waren es anfangs ja gar nicht. Hauptsächlich ein paar Rabbithorns.«
»Und als die Bergkatzen dazukamen?«
»Na ja, zuerst habe ich mich vor ihnen gefürchtet, aber dann schienen sie richtig zahm zu sein, fast schon wie Hauskatzen.«
»Du bist mehr als geduldig«, meinte Stefan und kaute dabei, seine gute Erziehung vergessend, weiter. »Wenn Garron bei uns zu Hause großgezogen würde, hätte Mutter ihn längst in die Stallungen verbannt, wegen der ganzen Viecher, die er anzieht. Meinem Bruder folgten nur Fohlen ins Haus, und trotzdem ließ Mutter ihn eine ganze Langwoche im Stall schlafen.«
Melitta warf ihrem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu. Und zu Renata gewandt meinte sie: »Das Laran ist bei ihm offenbar viel früher entwickelt, als du es erwartet hast. Das ist alles. Du solltest wirklich mit uns zum Gut Castamir kommen, wo dein Sohn die richtige Ausbildung bekommt.«
»Diesen Ort verlassen – mein Elternhaus? Das könnte ich nie tun.«
»Aber der Junge braucht ganz dringend solch eine Ausbildung!«
»Du begreifst offenbar nicht, wie mächtig seine Gabe ist«, schaltete sich Rafael ein. »Bald werden nicht nur Rabbithorns und Chervines angelaufen kommen. Was werden zum Beispiel die Dorfbewohner sagen, wenn ihre besten Milchtiere von der Weide entspringen?«
»Außerdem dürften wir Schwierigkeiten haben, von hier fortzukommen«, erklärte Melitta. Renata schaute sie verständnislos an. »Garron hat die Tiere magisch angezogen. Ich glaube kaum, daß er sie wieder ziehen lassen wird.«
»Aber Ihr seid eine Leronis«, entgegnete die Frau. »Ihr habt einen Sternenstein. Ich sehe doch den Beutel an Eurem Hals. Ihr kennt doch sicher einen Zauberspruch, der Garron von den Tieren befreit?«
»Es verhält sich eher umgekehrt: Die Tiere müssen von deinem Sohn befreit werden.«
»Ich glaube Euch kein Wort.«
Um den Beweis anzutreten, bat Melitta Stefan, auf dem Pfad davonzureiten.
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Und ob es das ist!« entgegnete sie. »Und nimm das Kalb an der Führleine mit«, rief sie ihm nach, als Stefan kopfschüttelnd den Raum verließ.
Ohne weitere Worte zu verlieren, folgten die anderen Stefan nach draußen. Renata hielt Garron auf dem Arm, und Rafael half Lerrys, der seinen rechten Fuß noch immer nicht belasten konnte. Stefan sattelte seine Stute, holte das Chervinekalb an der Leine herbei, stieg auf und trabte den Pfad entlang. Bis zur ersten Biegung ging alles gut.
Dort hielten beide Tiere inne, stellten die Vorderhufe nach außen und weigerten sich, auch nur einen Schritt vorwärts zu tun. Stefan trieb sein Pferd mit Rufen und Tritten an, bis die Stute störrisch zu bocken begann. Schließlich gab er es auf und ritt zur Hütte zurück, wobei das Chervinekalb ihnen vorauseilte und immer wieder ungeduldig an der Leine riß. Zum Schluß trottete es direkt auf Garron zu, um seine Nüstern in dessen Hand zu vergraben. Renata blickte Melitta mit weit aufgerissenen Augen an, bevor sie ins Haus zurückkehrte.
Für heute war alles gesagt und getan. Die Dunkelheit senkte sich bereits über das Tal, die vier Reisenden waren müde und erschöpft, und so betteten sich alle sechs zur Nachtruhe.
Melitta erwachte noch vor Morgengrauen; ein wachsendes Unbehagen stieg in ihr auf. Auch Lerrys rutschte unruhig auf seiner Pritsche hin und her. Sie mußten endlich aufbrechen! Der Geburtstermin rückte immer näher, und es war höchste Zeit, daß sich ein Heilkundiger um Lerrys kümmerte. Wie konnten sie Renata nur davon überzeugen, ihr Elternhaus aufzugeben? Und wie konnte man einem Zweijährigen erklären, daß die ›hübschen Hottehüs‹ fort mußten?
Melitta half Renata bei der Vorbereitung des Frühstücks, als plötzlich ein Schrei ertönte. Stefan hatte Garron nach draußen begleitet, wo der Junge seine Spielkameraden erwartete. Als Stefan um Hilfe rief, ließ Melitta die Schüssel fallen, die am Boden in tausend Stücke zersprang. Fast gleichzeitig stürzten Renata und sie zur Tür; Rafael folgte ihnen auf den Fersen.
Melitta hörte Renata neben sich keuchen. Ein riesiger Wolf stand bedrohlich über Garron gebeugt, doch der Junge zupfte nur unbekümmert an dessen Fell, so als ob es sich bei der Bestie um ein braves Schoßhündchen handelte. Melitta war selbst vor Angst wie gelähmt, spürte aber, daß Garrons Mutter losstürzen wollte und offenbar bereit war, notfalls ihr eigenes Leben zu opfern, um ihren Sohn aus den Klauen des Wolfes zu retten. Sie legte ihre Hand auf Renatas Arm und mahnte sie, sich ruhig zu verhalten. Ein in die Enge getriebener Wolf würde sogar einen ausgewachsenen Mann anfallen.
»Wir müssen erst überlegen, dann handeln«, brachte sie mühsam hervor.
Hinter sich hörte sie Lerrys. Sie drehte sich um und sah, daß er einen Stock aufgehoben hatte, auf den er sich stützte. Langsam, ganz langsam näherte er sich dem Wolf und dem Jungen. Als Melitta begriff, was er vorhatte, war es zu spät, ihn aufzuhalten. Vier Augenpaare verfolgten aufgeregt Lerrys, als er sich von links an den Wolf und den Jungen humpelnd heranschlich.
»Der alte Narr«, murmelte Rafael halb bewundernd. Melitta hielt Renatas Arm umklammert. »Was könnte den Jungen ablenken?« zischte sie ihr zu.
Die Frage verwirrte die Frau nur ganz kurz. »Ein anderes Tier«, erwiderte sie rasch. »Ein Rabbithorn, irgend etwas Kleines und Kuscheliges.«
Die meisten Tiere hatten sich zurückgezogen und im Gebüsch Schutz gesucht. Nur die Bergkatze mit ihren beiden Jungen war noch sichtbar.
»Schnapp dir ein Rabbithorn, wenn du kannst«, flüsterte Melitta noch, bevor sie selber sich Schritt um Schritt den Katzen näherte. Diese beachteten jetzt den Wolf und den Jungen nicht mehr, sondern beäugten argwöhnisch Melitta. Sie fürchtete schon, die Katzen würden Reißaus nehmen, wenn sie sich noch näher heranwagte.
Melitta schaute zu dem Wolf hinüber, der Lerrys nicht aus den Augen ließ. Das Tier stand jetzt breitbeinig da und knurrte vernehmbar. Den kleinen Garron schien er ganz vergessen zu haben. Plötzlich stolperte Lerrys, konnte das Gleichgewicht nicht länger halten und stürzte zu Boden. Melitta mußte irgend etwas tun!
»Guck mal, Garron! Kätzchen, Garron!« Melitta versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen, obwohl ihr Herz panisch schlug.
»Schau das schöne Kätzchen, Garron«, bemühte sich auch Renata. »Komm zum Kätzchen, Garron, komm!«
Garron zog noch einmal kräftig am Fell des Wolfes, aber das Tier richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Lerrys, der sich verzweifelt bemühte wieder aufzustehen. Da der Wolf nicht reagierte, ließ Garron schließlich von ihm ab und schenkte den Katzen seine Beachtung. Er krabbelte auf sie zu. Der Wolf kauerte sich nieder, jeden Moment zum Sprung auf den verletzten Mann bereit. Sobald das Kind in einigermaßen sicherer Entfernung war, stürmten Rafael und Stefan hervor, um mit Schreien und wildem Gestikulieren den Wolf zu vertreiben.
Renata schlang tief erleichtert ihre Arme um ihren Sohn. Sie glaubte schon, das Schlimmste sei ausgestanden, aber Melitta ermahnte sie erneut zur Ruhe. Ihr Sternenstein glitt aus dem Beutel in ihre Hand. In seiner Tiefe funkelten blaue Blitze. Melitta ließ ihre Gedanken mit den Energien des Steins verschmelzen und erweiterte dadurch ihr Bewußtsein, bis es auch das des Kindes und des Wolfes mit einschloß. So nahm sie schließlich auch das Energienetz wahr, das von dem Jungen ausging. Blaue Stränge verbanden Garron mit jedem Tier. Melitta folgte jeder einzelnen Spur, bis sie endlich die Linie fand, die von dem Jungen zu dem Wolf verlief. Mit einer großen Willensanstrengung kappte sie die Verbindung.
Der Wolf, der sich bislang geweigert hatte zu entfliehen, zuckte mit einem Mal zusammen. Als ob er aus einem Traum erwachte, durchlief ihn ein Zittern vom Kopf bis in die Schwanzspitze. Er drehte sich kurz um und verschwand im Wald.
»Nun, Renata«, meinte Melitta, »fürs erste bist du und dein Kind in Sicherheit. Aber was wirst du tun, wenn ein anderer Wolf auftaucht? Oder gar Banshees? Was wirst du dann machen?«
»Banshees?« flüsterte Renata entsetzt. »Heilige Cassilda steh uns bei! Ich werde sofort meine Sachen packen!«
Melitta und ihre Begleiter erreichten erschöpft das Gutshaus. Schon eilten ihnen Diener entgegen, um die Pferde und Packtiere zu versorgen, blieben dann aber verwundert stehen und wichen sogar zurück. Einige von ihnen hielten ihre Mistgabeln wie Waffen.
Melitta ließ sich aus dem Sattel gleiten und bat darum, daß jemand die Stute in den Stall führe. Aber keiner rührte sich. Sie blickte mißmutig zu den anderen. Machte ihr Haufen wirklich einen so desolaten Eindruck? Während ihres Ritts von Renatas Haus hierher hatten die meisten Tiere es aufgegeben, ihnen hinterherzulaufen, und waren in den Wald zurückgekehrt. Nicht so die Bergkatze mit ihren beiden Jungen, die nach wie vor Garron folgten, der auf Rafaels Schoß saß. Weder durch lautes Rufen noch durch gezielte Steinwürfe waren sie zu vertreiben.
Jedenfalls hatte sie keine Zeit, sich mit dem Dienstpersonal herumzuärgern. Lerrys Verletzung mußte sofort verarztet werden und Melitta glaubte zu spüren, daß die Geburt von Ysabets zweitem Kind unmittelbar bevorstand. Sie befahl dem Nächststehenden, Lerrys ins Haus zu helfen; einem zweiten Diener drückte sie im Vorbeigehen die Zügel ihres Braunen in die Hand. Stefan würde sich um Renata und Garron kümmern.
Sie stürzte ins Haus und eilte die Treppen hinauf. Kaum hatte sie das Schlafzimmer ihrer Schwester betreten, hörte sie Ysabet und ihren Mann Brydar einen entzückten Schrei ausstoßen. Anschließend war es, abgesehen von den schweren Atemzügen, eine Zeitlang völlig ruhig im Zimmer. Und dann antwortete ihnen das Neugeborene mit seinem ersten Schrei. Die Hebamme hielt einen kleinen Jungen im Arm.