JOAN MARIE VERBA
Sicheres Geleit
Joan Marie Verba, die ich bei ein oder zwei unserer Conventions kurz kennenlernte, lebt in Minneapolis, und das Klima dort ist, wenn ich mich recht erinnere, nicht viel anders als auf Darkover. Neben mehreren Geschichten für unsere Anthologien hat sie auch zwei Sachbücher verfaßt, und zwar über Astronomie. Dieses Feld überlasse ich ihr gern. Als ich einige astronomische Abhandlung meines ersten Mannes durchblätterte, mußte ich feststellen, daß sie für mein begrenztes mathematisches Auffassungsvermögen viel zu kompliziert waren.
Orain wischte sich mit der Hand über den Mund. Blut tropfte von seinen Lippen. Behutsam betastete er seine Stirn und spürte, wie die eiförmige Beule anwuchs. Er bückte sich steif zu Boden, formte einen Schneeball und preßte ihn gegen die Schwellung. Dann wankte er zum nächsten Baum, ließ sich zwischen zwei starken Wurzelsträngen nieder und lehnte den Rücken gegen den Stamm.
In der Nähe suchte sein Chervine Mhari unter der Schneedecke nach Gras. Ein Blick genügte und Orain wußte, daß die Banditen alles, aber auch wirklich alles hatten mitgehen lassen: seine Töpfe, den Proviant, Decken und Schlafmatte, die Kleider zum Wechseln – vor allem aber das gesamte Geld, das er im Laufe eines Sommers erworben hatte, indem er in den hundert Königreichen von einem Dorf zum nächsten zog. Schon seit vielen Jahren verdiente er seinen bescheidenen Lebensunterhalt damit, im Sommer den Farmern, Jägern und Handwerkern seine Waren zu verkaufen, um dann im Winter, wenn die Wege unpassierbar wurden, in seine Heimatstadt Nevarsin zurückzukehren. Ihm behagte dieses unstete Leben, und er hatte unterwegs viele Freundschaften geschlossen. Ob es nun Glück oder Zufall war – jedenfalls war er dabei nie zuvor unter Räuber gefallen, die ihn bis aufs letzte Hemd ausgeplündert hatten.
Vielleicht wurde er allmählich zu alt für dieses Geschäft, dachte er, während er noch einmal die Finger prüfend auf die Beule legte. Vielleicht hätte er besser von der Straße gehen und sich im Wald verstecken sollen, als er das Hufgeklapper näher kommen hörte, so wie er es sicherheitshalber schon oft getan hatte. Aber die Sonne hatte gelacht und er war so gutgelaunt gewesen, daß er gar nicht erst auf den Gedanken gekommen war, daß an einem so herrlichen Tag irgend etwas Böses geschehen könnte.
Jetzt versteckte sich die Sonne hinter grauen Wolken; die ersten Schneeflocken tänzelten bereits herab. Orain rappelte sich wieder auf, ging zu Mhari hinüber und führte sie am Halfter – wenigstens das hatten die Banditen ihm gelassen – zurück auf die Straße.
Welchen Weg sollte er einschlagen? Er hatte diese ihm unbekannte Route nur gewählt, weil ihm im letzten Dorf, in dem er seine Waren verkauft hatte, einige freundliche Bewohner dazu geraten hatten; Gerüchte besagten, daß sein gewohnter Heimweg umkämpft und unsicher war. Zur linken führte der Weg zurück zum Dorf, das jetzt schon mehr als einen Tagesmarsch hinter ihm lag. Von der entgegengesetzten Richtung wußte er nur, daß er schließlich auf die Nord-Süd-Verbindung nach Nevarsin treffen würde. Auf dem Weg, den er gekommen war, hatte er keinen Unterstand entdecken können, und so setzte Orain seine Hoffnung darauf, er würde in der anderen Richtung bald auf einen solchen stoßen.
Zum Glück hatten die Räuber die Innentaschen seines Mantels übersehen, so daß ihm Handschuhe und Mütze geblieben waren. Diese zog er jetzt im dichter werdenden Schneegestöber an. Der Wind fuhr ihm eisig ins Gesicht, so daß er seinen Schal über Mund und Nase hochzog, bis nur noch ein schmaler Sehschlitz frei blieb. Vornübergebeugt kämpfte er sich voran, während Mhari ihm schnaufend und keuchend hinterhertrottete.
Der Wind wurde immer schneidender und ließ Augenbrauen und Wimpern vereisen. Mehr als einmal mußte Orain anhalten und seine Handschuhe ausziehen, um sich mit der bloßen Hand die Augenlider zu reiben. Er zitterte am ganzen Körper, seine Zähne klapperten, und auch die größte Willensanstrengung konnte das nicht verhindern.
Schließlich kamen sie an eine Wegbiegung, hinter der es einen steilen Abhang hinunterging. Orain bemerkte die dunkle Bretterwand vor ihm erst im letzten Augenblick; um ein Haar wäre er voll dagegengeprallt. Nachdem er sich etwas von dem Schrecken erholt hatte, lief er um den Holzverschlag herum, bis er eine Tür fand. Als Riegel diente eine einfache Lederschlaufe um einen Holzpflock; nachdem er den Riemen gelöst hatte, stemmte er die Tür mit der Schulter auf und trat mit Mhari im Schlepptau ein.
Als sich seine Augen endlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er durch einige Risse in Wänden und Decke Licht einfallen sehen. Er befand sich in einer Scheune. Auf der einen Seite war ein großer Heuhaufen, auf der anderen gab es einige Pferdeboxen. Orain nahm die Geräusche schnarrender Hufe und den Stallgeruch von Pferden, Heu und Mist wahr.
Er führte Mhari in eine der leerstehenden Boxen und zäumte sie dort fest. Mit etwas Stroh striegelte er ihr Fell, dann legte er ihr einen Ballen Heu als Futter vor. Nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, vergrub sich Orain im nächsten Heuhaufen. Schon bald hörte er auf zu frösteln und versank in tiefem Schlaf.
Schlurfende Schritte weckten ihn, und er hörte eine männliche Stimme undeutlich brabbeln: »Sag mal, wo kommst du denn her? Guck mal an, das Pferdchen hat ja Hörner.«
Orain wühlte sich noch rechtzeitig aus seinem Heulager heraus, um zu beobachten, wie ein junger Mann in zerlumpten Kleidern auf Mhari zuging. Das Chervine war an Fremde gewöhnt, und so soff es auch jetzt ungestört aus dem Wassertrog weiter, während der Mann ihm etwas unbeholfen den Kopf tätschelte. Jedesmal, wenn Mhari den Kopf hob, zuckte der Mann zusammen, da das Geweih seinem Gesicht gefährlich nah kam.
Vorsichtig kroch Orain aus seinem Versteck hervor. Jeder knickende Strohhalm schien ihm einen Heidenlärm zu verursachen, aber der Mann bemerkte nichts, als Orain sich auf Zehenspitzen an ihn heranschlich. Er bekam ihn von hinten zu fassen und drückte ihm mit seinem starken Arm die Luft ab, bis dieser bewußtlos zu Boden sank. Mit ein paar Lederriemen, die er an einem Haken im Stall fand, fesselte Orain sein Opfer an Händen und Füßen und verband ihm schließlich noch mit einem Taschentuch den Mund. Als er einen Schritt zurücktrat, um das Gesicht des Mannes genauer zu betrachten, erkannte Orain in ihm einen der Banditen, die ihn ausgeraubt hatten.
Er trat zur Tür. Draußen glänzte der frisch gefallene Schnee hell im Morgenlicht, und so mußte Orain kräftig blinzeln, um erkennen zu können, woher der Mann gekommen war. In einiger Entfernung stand ein halb verfallenes Steinhaus. Es war kein großes Gutsgebäude, sondern eher ein Haus, das einen der Herren aus dem niederen Adel hier einst für sich und seine Familie errichtet haben mochte. Weder in dem schneebedeckten Hof noch hinter den Fensterscheiben regte sich etwas, das Orain aufgefallen wäre.
Er kehrte zu Mhari zurück. Jetzt wäre die Gelegenheit günstig, sein Chervine aus dem Stall zu führen und auf der Straße weiterzureiten. Vielleicht würde er bald auf ein gastfreundliches Dorf stoßen, wo er sich genug verdienen konnte, um sich dann mit neuer Ausrüstung nach Nevarsin durchzuschlagen. Andererseits würde er mit Sicherheit erfrieren oder verhungern, wenn sich kein solches Dorf in der Nähe befand. Nein, wenn er seinem Ziel näher kommen wollte, brauchte er zumindest ein Jagdmesser und warme Sachen. Deshalb hastete er geduckt über den Hof zum Haus und suchte unter einem Fenstersims Deckung. Vorsichtig hob er den Kopf, legte die Hände gegen die Fensterscheibe und linste hinein. Das Zimmer war leer. Er schlich sich zum Eingang. Die Tür stand einen Spalt weit offen; Orain stieß sacht dagegen, und unter leichtem Ächzen schwang sie zurück.
Sein Herz hämmerte wild, als er sich hineinwagte. Er achtete auf jedes Geräusch, aber alles, was er hörte, war Schnarchen und Stöhnen von Leuten, die im angrenzenden Raum schliefen. Bei den knarrenden Holzbohlen setzte er jeden Schritt besonders bedächtig. Als er in das Zimmer spähte, sah er mehrere Männer am Boden ausgestreckt. Der Geruch von Schweiß und abgestandenem Bier stieg ihm in die Nase, und schlimmer noch der beißende Gestank von Erbrochenem. Einer stöhnte und drehte sich im Schlaf um. Orain drückte sich gegen die Flurwand und verharrte regungslos, bis wieder alles still war.
Beim zweiten Blick erspähte er in der gegenüberliegenden Ecke seine Sachen und sogar einige seiner Töpfe und Pfannen. Um an sie ranzukommen, müßte er sich an den schlafenden Räubern vorbeistehlen. Einem von ihnen war die Decke verrutscht; nach dieser angelte Orain jetzt und hüllte sich dann darin ein, wobei er ein Ende bis über den Kopf zog. Er hielt sich immer dicht an der Wand, als er sich an seine Sachen heranpirschte. Falls einer der Trunkenbolde aus seinem Rausch erwachen und ihn so sehen würde, konnte er Orain womöglich für einen Spießgesellen halten, der nur aufgestanden war, um einem dringenden Bedürfnis zu folgen.
Orain erschien es wie Stunden, bevor er das andere Ende des Zimmers erreichte. Immer wieder hatte er über ausgestreckte Arme und Beine steigen oder durch Bierlachen waten müssen. Doch endlich konnte er sich über die aufgestapelte Beute hermachen. Orain stopfte einen Topf in das zusammengerollte Bettzeug; gerne hätte er noch mehr mitgenommen, aber das Scheppern hätte ihn nur verraten. Dann nahm er sich seine Packtasche mit dem Jagdmesser und steckte den Geldbeutel in seine Manteltasche. Alles andere mußte er schweren Herzens zurücklassen.
Am Ausgang warf er die Decke ab und rannte über den Hof zurück zur Scheune. Beladen wie er war, stieß er die Tür mit dem Fuß auf, trat über die Schwelle …
… und stolperte prompt über den Mann, den er gefesselt hatte. Dieser hatte sich inzwischen von seinem Knebel befreit und war gerade dabei, auch seine Fesseln zu lösen. Am Boden liegend bekam Orain den einen Topf zu fassen und zog ihn dem Mann beherzt über den Schädel. Der Schlag betäubte ihn nur, aber das gab Orain genug Zeit, um seine Siebensachen zusammenzusuchen und außer Reichweite zu bringen. Er nahm weitere Lederriemen von dem Haken, schnürte damit Packtasche, Bettzeug und Topf zu einem Bündel zusammen und band dieses dann Mhari auf den Rücken.
Inzwischen war der Mann wieder zu sich gekommen. Noch immer gefesselt, flehte er Orain an. »Bitte, nimm mich mit! Ich gehör’ nich’ zu den! Ich wollt mir nur’n Pferd schnappen und abhauen!«
Orain unterbrach seine Tätigkeit und musterte den Kerl eindringlich. »Ich halte dich eher für einen von denen, die mich ausgeraubt haben.«
»Weil sie mich dazu gezwungen haben! Wenn ich es nicht getan hätte, hätten sie mich umgebracht! Bitte, glaub mir. Ich bin Jarrel, Lord Valdrins Sohn! Er wird dich fürstlich belohnen, wenn du mich zurückbringst!«
Orain drehte ihm den Rücken zu. »Und ich dachte, daß Lord Gareth hier regiert.«
»Nein, bestimmt nicht. Nur bis zur Flußbiegung, aber hier sind wir auf Lord Valdrins Gebiet.«
Orain drehte sich wieder um und betrachtete Jarrel skeptisch. »Weißt du, Freundchen, auf meinen Reisen habe ich schon so manchen gerissenen Lügner getroffen. Da mußt du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.«
»Nein, warte! Ich bitte dich!«
Orain band Mhari vom Pfosten los und nahm ihre Zügel. »So, du bittest mich also! Als nächstes bittest du mich dann, dir die Fesseln zu lösen, damit du mir eine überbraten und mich gleich noch mal ausrauben kannst. Nein danke, davon habe ich genug.«
»Ich schwör’s dir. Ich schwör’s bei allen Göttern!«
Noch einmal wandte sich Orain dem jungen Mann zu und versuchte, dessen Ernsthaftigkeit abzuschätzen. Aber dann schüttelte er abschließend den Kopf. »Wenn du wirklich hier in den Stall gekommen bist, um zu entfliehen, und nicht etwa nur, um die Pferde zu tränken …«
Jarrels plötzlich veränderter Gesichtsausdruck verriet Orain, daß er auf der richtigen Spur war. »… dann wird es dir auch gelingen, dich rechtzeitig von den Fesseln zu befreien. Die Räuber schlafen im Haus noch immer ihren Rausch aus, so daß du genügend Zeit hast, falls du keinen Lärm schlägst.«
Da das Chervine nun weit weniger an Gepäck zu tragen hatte, konnte Orain auch selbst auf ihm reiten. Er schwang sich auf Mharis Rücken und preßte ihr seine Schenkel in die Flanken.
Jarrel versuchte ein letztes Mittel. »Du hast nur mit mir eine Chance zu entkommen. Die anderen haben einen Zauberer bei sich! Mit ihm werden sie dich aufspüren! Sie werden dich zur Strecke bringen! Aber ich habe einen Sternenstein in meiner Tasche! Ich kann dir helfen, dich vor ihnen zu verstecken!«
»Danke, aber ich versuche es auf eigene Faust. Dieses Risiko geh ich ein.« Orain führte Mhari zur Tür; das Chervine folgte willig und vermied aufmerksam, Jarrel dabei zu treten. Der junge Mann schrie ihnen aufgebracht hinterher, was Orains Verdacht nur bestätigte. Schon konnte er hören, wie im Haus Stimmen auf Jarrels Rufe antworteten, als Mhari vom Hofe trottete.
Zunächst ritt Orain auf der Straße nach Nordosten. Er rechnete sich aus, daß die verkaterten Banditen einige Zeit bräuchten, um richtig zu begreifen, was vorgefallen war, und dann einen Suchtrupp zusammenzustellen und die Pferde zu satteln. Aber um ganz sicher zu gehen, lenkte Orain Mhari von der Straße weg nach Osten, sobald er außer Sichtweite war. Das Chervine konnte sich leicht einen Weg durch das Gehölz bahnen, dem Pferde nur schwer folgen würden. Und wenn Orain sich immer mehr oder weniger in nordöstlicher Richtung hielt, mußte er schließlich unweigerlich nach Nevarsin gelangen.
Bis zum Mittag trieb er Mhari ständig an; dann legte er eine Rast ein. Er war gerade dabei, seine Sachen wieder zusammenzupacken, als er plötzlich Jarrels Stimme rufen hörte: »Diesmal entkommst du uns nicht, Trödler! Diesmal bist du erledigt!«
Orain kletterte auf Mharis Rücken. Im Westen konnte er durch die Bäume eine Schar Reiter erkennen. Ihm war klar, daß bei dem Neuschnee jeder Spurenleser ihm leicht auf den Fersen bleiben konnte, aber daß Pferde ihm in diesem unwegsamen Terrain folgten konnten, grenzte schon an … Zauberei. Aber was wußte er schon von Zauberei, von den geheimen Laran-Künsten oder von Sternensteinen? Er wußte nur soviel: keinesfalls würde er sich ihnen ergeben. Vielleicht würden sie ihn wieder fangen, ihn schlagen und wieder ausrauben, ja ihn vielleicht sogar umbringen. Aber sie sollten kein leichtes Spiel mit ihm haben.
Hätte er sich in diesem Gelände besser ausgekannt, hätte er Mhari eine Schlucht oder einen steilen Geröllhang hinabjagen können, wo Chervines noch sicher treten, Pferde aber ebenso sicher nicht folgen konnten. Doch so blieb ihm nur, Mhari zum Galopp anzuspornen und sie dabei selbst den Weg finden zu lassen. Direkt vor ihnen lag ein dichtes Gestrüpp. Mharis Geweih drückte kaum die niedrigsten der herunterhängenden Zweige beiseite; immer wieder mußte sich Orain ducken, um dem ihm entgegenpeitschenden Laub auszuweichen. So schlugen sie sich durch Büsche und Unterholz, als plötzlich alles um Orain herum schwarz wurde. Er klammerte sich noch an Mharis Hals, als sie in die Tiefe abtauchte … Was war das? Er konnte es nicht ausmachen.
Nein, sie stürzten nicht. Mharis Schritt verlangsamte sich. Orain konnte spüren, wie sie sich ihren Weg einen Abhang entlang suchte, den er nicht erkennen konnte. Er rieb sich die Augen. War er plötzlich mit Blindheit geschlagen? Hatte Jarrel wirklich Zauberkünste gegen ihn angewandt?
Doch dann konnte Orain einen dünnen Lichtstrahl ausmachen. Als er aufblickte, sah er einige Risse in einem Steingewölbe. Allmählich wandelte sich die Dunkelheit zu einem Halbdunkel, in dem er die Höhle um sich herum erkennen konnte. Mhari trabte weiter auf dem engen Pfad abwärts. Zur Linken türmte sich eine Felswand auf; zur Rechten gähnte ein tiefer Abgrund. Mharis Hufschläge hallten in dem Gewölbe wider.
Als er entfernt Stimmen vernahm, drehte sich Orain zum Höhleneingang um.
»Du entgehst uns nicht, Trödler, wenn du dich im Gestrüpp versteckst«, rief Jahren. »Wir …«
Roß und Reiter schrien plötzlich auf. Orain hörte einen Aufprall, dann das kratzende Geräusch von nachgebendem Fels und Geröll und schließlich die erschütternden Schreie, mit denen Mensch und Tier verzweifelt Halt suchten, während sich der Abgrund unbarmherzig vor ihnen auftat. Das infernalische Getöse steigerte sich noch im Echo an den Höhlenwänden, erstarb dann aber, als die Schwerkraft ihren Tribut forderte und Orains Verfolger in die Tiefe hinabriß.
Als alles wieder still war, schätzte Orain seine Lage ein. Der Pfad, den Mhari gefunden hatte, war zu schmal zum Wenden; Orain konnte noch nicht einmal absteigen und neben seinem Chervine herlaufen.
»Hilfe!« winselte Jarrel.
Orain drehte sich um und sah einen Schatten an der Felswand. »Tut mir leid, aber ich kann auch nur vorwärts reiten.«
»Bitte«, flehte der junge Mann.
»Wenn du wirklich über Zauberkräfte verfügst, dann wäre ja wohl jetzt die passende Gelegenheit, sie einzusetzen«, schlug Orain ihm vor.
»Das habe ich doch bloß erfunden, damit du mich losbindest.«
»Dacht ich’s mir doch.« Orain nickte zufrieden. »Und die Geschichte von Lord Valdrins Sohn war sicher auch nur ein Märchen.«
»Ja, alles gelogen. Aber bitte, hilf mir – ich kann mich nicht länger halten.«
»Ich schaffe es nicht bis zu dir, selbst wenn ich alle Riemen zusammenbinden und dir als Rettungsleine zuwerfen würde. Ich kann nichts weiter tun als voranzureiten und zu schauen, ob ich eine Stelle zum Wenden finden.«
»Dann beeil dich!«
Orain trieb Mhari an. Fast schon hoffte er, keinen solchen Wendeplatz zu finden, denn der Bandit würde sicherlich wieder versuchen ihn auszurauben, sobald er außer Gefahr war. Andererseits mußte Orain ja selbst einen Weg aus der Höhle finden.
Endlich trat Mhari auf einen Felsvorsprung, der breit genug war. Orain wendete und hörte gleichzeitig am Höhleneingang neue Stimmen. Er erstarrte. Wenn das nun noch mehr Banditen waren …
Ein gespenstisches, bläuliches Licht erhellte die Höhle. Fünf Gestalten standen direkt an der Kante des Abgrunds. Einer der Männer kniete sich hin und streckte Jarrel eine Hand entgegen.
»Versuch bloß keine Tricks, wenn du wieder oben bist«, warnte sein Retter ihn. »Draußen warten zwanzig weitere Männer von Lord Gareth.«
Jarrel zog sich hoch, und sobald er wieder sicheren Halt unter den Füßen hatte, deutete er auf Orain.
»Der gehört auch zu uns! Der hat mich zum Stehlen angestiftet! Hat mich von zu Haus entführt!«
Orain blieb völlig ruhig. Er glaubte nicht, sie könnten ihn erreichen, wenn er blieb, wo er war – ganz egal, ob sie nun Zauberkräfte besaßen oder nicht.
Der Mann, der Jarrel gerettet hatte, glaubte ihm kein Wort. »Dann mußt du der Kerl sein, der behauptet, Lord Valdrins Sohn zu sein. Pech für dich, daß du zu habgierig bist und deine krummen Touren versuchst, wo du dich nicht auskennst. Deine Kumpane wären noch am Leben, wenn du von diesen Höhlen gewußt hättest. Und wir hätten dich nicht gefangen, wenn du im Schnee nicht eine solche Riesenspur hinterlassen hättest.« Mit diesen Worten stieß er Jarrel aus der Höhle. Dann wandte er sich Orain zu. »Komm raus, Reisender. Jetzt bist du in Sicherheit.«
Ein anderer Mann schaltete sich ein; er hielt den Stein in Händen, der das blaue Licht verbreitete. »Rhodri, ich kenne diesen Händler. In meiner Jugendzeit kam er einmal im Jahr in mein Dorf.«
Da es jetzt heller war, schafften Orain und Mhari den Rückweg zum Höhlenausgang schnell. Lord Gareths Männer folgten ihnen nach draußen.
Rhodri schaute zu Orain auf und tätschelte Mharis Seite. »Mir scheint, du hast hier einen treuen Gefährten. Und auch darauf kannst du dich verlassen«, fügte er hinzu, wobei er mit dem Finger an die Stirn tippte. »Nur wenige entgehen der Brutalität und den Schlichen dieser Banditen. Wenn Schläge nichts nützen, brauchen die Kerls nur etwas von Zauberei zu faseln, und ihre Opfer tun alles, was von ihnen verlangt wird. Dabei braucht es manchmal nur etwas Verstand, um die ganze Zauberei zu überlisten.«
Orain nickte. »Ja, wem sagst du das!«
Rhodri ergriff die Zügel seines Pferdes. »Wir können dich bis zur Grenze bringen. Dort wirst du wieder auf die Hauptstraße stoßen, und ich kann dir nur dringend raten, dich künftig an sie zu halten.«
Orain lachte. »Das werde ich ganz bestimmt, mein Wort darauf!« meinte er und folgte der Reiterschar aus dem Wald heraus.