MARION ZIMMER BRADLEY
Das Wort des Hastur
Als Herausgeberin dieser Anthologien habe ich den Vorteil, die Spielregeln festlegen zu können – und eine dieser Spielregeln besagt, daß ich jeweils mit einer meiner eigenen Geschichten zum Zuge komme!
Ich habe bereits in mehreren Darkover-Büchern das Sprichwort zitiert, daß das bloße Wort eines Hastur ebenso viel zählt wie der Eid jedes anderen Mannes. Die vorliegende Geschichte schildert nun, wie es zu diesem Sprichwort kam; sie handelt von einem jungen Hastur, der unter – gelinde gesagt – äußerst schwierigen Umständen sein Wort hielt.
Da ich es von allen anderen Autoren verlange, möchte auch ich meine biographischen Daten auf den neuesten Stand bringen. Das Seniorenalter rückt unaufhaltsam näher; im Juni 1995 wurde ich 65. Kein Grund zur Aufregung! Immerhin kann ich dann in Berkeley billiger mit dem Bus fahren. Ansonsten darf ich zuversichtlich von mir behaupten, daß ich beweisen kann, geistig noch voll zurechnungsfähig zu sein, da ich dies sogar vor Gericht bestätigen lassen mußte. (Dies nur an die Adresse all derjenigen, die mich für leicht plemplem halten.) ›Wir sind alle verrückt; du mußt auch verrückt sein, sonst wärst du nicht hier‹, heißt es schon bei Alice im Wunderland. Und ›verrückt‹ kann so vieles bedeuten, ob nun ›geistig etwas aus dem Gleichgewicht‹ oder einfach nur ›äußerst exzentrisch‹. Und das sind wir doch schließlich alle, oder?
Oder etwa nicht?
Die Heirat von Valeria Ardais mit Jeremy, dem Erben von Hastur, erregte in allen Domänen großes Aufsehen. Nicht nur die Tatsache, daß er zwei Jahre jünger war als sie, gab Anlaß zum Reden; auch intellektuell war er, so meinten viele, seiner Braut kaum gewachsen, von der allgemein bekannt war, daß sie umfassend gebildet und für eine glänzende Laufbahn im Turm bestimmt war.
Was hingegen nur wenige wußten, war der Umstand, daß es sich dabei um eine echte Liebesheirat handelte, und dies in einem Zeitalter, das für solche Sentimentalitäten nichts übrig hatte. Der Name Königin Saras, die König Rafael dem Dritten so treu ergeben war, stand stellvertretend für eine Ära der Unterdrückung und strenger elterlicher Kontrolle bei der Auswahl der Gatten für die jungen Frauen. Es blieb auch weitgehend unbekannt, daß Valeria – nachdem sie Jeremy getroffen und sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte – dem Bewahrer von Arilinn damit gedroht hatte, sie werde sich von den Zinnen des Turms zu Tode stürzen, wenn eine Heirat zwischen ihnen verhindert werden würde.
Im Lande kursierte dafür eine andere Version, die besagte, daß der Bewahrer von Arilinn – der selbst ein Hastur und Emmasaca war – dem alten Dom Maurizio erklärt habe, man solle das Mädchen, statt sie vom Selbstmord abzuhalten, sogar noch dazu ermutigen, wenn sie wirklich so töricht und pflichtvergessen sei. Das könne als warnendes Beispiel dienen und andere Töchter davon abbringen, derart aufsässig zu sein.
Es war auch kein Geheimnis, daß die meisten starrköpfigen Clanoberhäupter und Ratsmitglieder Dom Maurizio für allzu nachgiebig gegenüber der Weiberwirtschaft in seinem Haus hielten. So etwas wurde in jenen Tagen nicht offen zugegeben, galt es doch als bedauerlicher Verstoß gegen die natürliche Ordnung und die guten Sitten. Mädchen waren dazu da, um von ihren Eltern standesgemäß verheiratet zu werden. Nur einige wenige widersetzten sich dem weisen Ratschluß ihrer Väter, liefen von zu Hause weg und schlossen sich der Gilde der Entsagenden an; man erkannte sie daran, daß sie sich auf schamlose Weise die Haare kurz schneiden ließen. Ansonsten aber wurden die Comyn-Töchter, und in gewisser Hinsicht auch die Comyn-Söhne, dazu erzogen, als ihre oberste Pflicht zu begreifen, eine gute Partie zu machen und dem Clan so viele Söhne und Töchter wie möglich schenken. Noch immer war die Meinung weit verbreitet, daß das Chaos zurückkehren würde, wenn man die Frauen selbst wählen ließe.
Aber Dom Maurizo hatte bereits drei Töchter durch die Schwellenkrankheit verloren, bevor sie noch fünfzehn waren, und die drei Söhne, die ihm seine Frau geschenkt hatte, waren alle Emmasca. Und so fürchtete er nichts mehr, als daß Valeria ihre Drohung wahrmachen und sich vom Turm stürzen würde. Er ging daher zum alten Dom Hastur, um für Jeremy zu sprechen.
»Euer Vorschlag ist alles andere als klug«, erklärte der alte Dom Marco. »In Eurer Linie wie in meiner gibt es schon so viele Emmasca-Söhne; wenn die beiden heiraten, ist es so gut wie unvermeidlich, daß ich wiederum nur auf einen Emmasca-Nachkommen hoffen darf.«
Dom Maurizio ließ den Kopf hängen und erklärte entmutigt, daß er dem nicht widersprechen könne. »Aber wenn das Mädchen sich etwas antun sollte, wird sie uns überhaupt keine Nachkommen gebären. Wenn sie andererseits zuerst einen Emmasca zur Welt bringt, kann sie später vielleicht noch einen normalen Sohn bekomme. Eine Tote aber, so viel steht fest, kann ihrem Clan überhaupt keine Söhne mehr schenken.«
»Das ist wohl wahr«, räumte der alte Hastur ein. »Lieber einen Emmasca als gar keinen Enkel. Obwohl es im Rat genügend alte Käuze gibt, die genau das Gegenteil behaupten würden.«
»Denen kann ich ganz und gar nicht zustimmen«, erklärte Dom Maurizio, der selber schon ein halbes Dutzend Emmasca-Enkel hatte und sie alle aufrichtig liebte. Auch der alte Hastur seufzte und gab zu, daß vieles für Maurizios Sichtweise spräche. Und so verständigten sich die beiden Großväter und veranlaßten, wenn auch widerwillig, ihre Söhne, die Hochzeit für Valeria und Jeremy auszurichten.
Die alte Domna Camilla sprach daraufhin mit beiden kein einziges Wort mehr und weigerte sich standhaft, bei der Trauung zu erscheinen. Man hörte sie sagen, sie hätte es nie für möglich gehalten, daß ein Hastur sein persönliches Glück über das Wohlergehen des Clans stellen würde. Und bis zu ihrem Tod fünf Jahre später verbat sie es sich, daß Valeria in ihrer Gegenwart empfangen werden durfte. Natürlich gab es auch andere Stimmen, besonders unter den aufmüpfigeren Vertretern der jüngeren Generation; für sie wurden Valeria und Jeremy fast schon zu Symbolfiguren, die gegen die verstaubten Traditionen aufbegehrten.
Jedenfalls wurden die beiden in aller Form und Feierlichkeit von den Oberhäuptern ihres Clans getraut; der Bewahrer von Arilinn übernahm, allerdings äußerst widerstrebend, die Rolle des Brautführers. Er sah ›so glücklich wie ein Emmasca bei der Trauung‹ aus – ein Sprichwort, das bei dieser Gelegenheit entstand und lang zitiert wurde. Der Bewahrer beteuerte später immer wieder, daß ihn keine Schuld an dem treffe, was auf die beiden noch zukommen sollte; und niemand hätte ihm ernsthaft Vorhaltungen machen können. Es gab aber genügend Leute, die meinten, daß Armilla an der Trauung nicht hätte teilnehmen und so den Eindruck erwecken sollen, sie stimme dieser Heirat zu. Das hatte sie in Wahrheit auch nie getan, aber das ging in der allgemeinen Aufregung unter.
Die ersten drei Jahre der Ehe verliefen glücklich, obwohl das erstgeborene Kind tatsächlich ein Emmasca war, worauf das junge Paar immer wieder mit ernster Miene und betrübtem Kopfschütteln daran erinnert wurde, daß man es ihnen doch gleich gesagt hätte. Aber weder Jeremy noch Valeria schienen davon sonderlich beeindruckt oder gar zur Vernunft gekommen zu sein; sie erfreuten sich auch weiterhin ihres jungen Eheglücks und beachteten die anderen nicht.
Im darauffolgenden Jahr brach in den Bergen wieder Krieg aus, so daß Jeremy häufig von zu Hause fort war. Vielleicht hoffte der alte Hastur sogar insgeheim, daß Jeremy sich inmitten der Kriegswirren einmal vergessen und einen Nedestro-Sohn zeugen würde.
Dem war aber nicht so, oder zumindest wurde davon nie etwas bekannt. Der Krieg ging bereits ins dritte Jahr, als es hieß, Valeria sei endlich wieder schwanger. Man ließ sofort eine Leronis kommen, um das Kind zu untersuchen – eine durchaus vernünftige Vorsichtsmaßnahme bei einer Frau, die bereits ein Emmasca-Kind zur Welt gebracht hatte, das nie das Erbe von Ardais oder Hastur antreten konnte, so sehr es auch sonst geliebt wurde. Schließlich sickerte durch, – wahrscheinlich, weil die königliche Hebamme im Suff etwas ausgeplaudert hatte – daß Valeria einen gesunden Jungen erwartete.
»Du sollst aber wissen«, erklärte Jeremy, als er an jenem Abend an Valerias Seite saß und ihr die Hand hielt, »daß ich dich auch dann lieben würde, wenn du mir keine Söhne schenken könntest.«
»Nun hör sich das einer an!« spottete Valeria. »Weißt du denn nicht, daß im Rat ganze Heerscharen von Dummköpfen beiderlei Geschlechts sitzen, die schon Stoßgebete zum Himmel schicken ich solle entweder einen gesunden Sohn zur Welt bringen oder anderenfalls besser gleich im Kindbett sterben, damit ich dir nicht länger im Weg bin? Schließlich hat jeder Hastur-Erbe nur eine dringliche Aufgabe zu erledigen, nämlich seiner Domäne den nächsten Erben zu bescheren.«
Jeremy drückte ihre Hand noch etwas fester und wiederhole: »Ich liebe dich auch ohne Erben.«
»Aber, aber, mein Herr und Gebieter«, neckte ihn Valeria in gespielter Entrüstung weiter. »Wie könnt Ihr es nur wagen, so etwas laut zu äußern? Was würde wohl die Königin Mutter dazu sagen?«
Woraufhin Jeremy ihr recht vulgär erklärte, was die Königin Mutter ihn könne – zum Glück hatte dies außer Valeria, die seine Ansicht durchaus teilte, niemand gehört.
Im gleichen Jahr wurde der Erbe von Alton im Krieg, der sich noch immer hinzog, getötet. Da dessen Sohn noch keine vierzehn Jahre alt war, also minderjährig und außerdem nicht im Krieg erprobt, fiel das Kommando über die Wachen und die Armee an den jungen Hastur. Normalerweise hätte Jeremy seine Frau so kurz vor der Niederkunft nicht alleine gelassen; es war ohnehin bekannt, daß er für Kriegsführung und militärische Dinge nicht viel übrig hatte, aber kein Hastur-Erbe konnte sich in Kriegszeiten seinen Kommandopflichten entziehen, solange er noch halbwegs gesund war.
Am Abend vor der Schlacht kniete Jeremy an Valerias Bett, um sich von ihr zu verabschieden.
»Du weißt, wie verhaßt mir dieser Krieg ist. Viel lieber würde ich bei dir und unserem ungeborenen Sohn bleiben.«
»Gewiß, mein Liebster. Und dieses Wissen erleichtert mir, dir Lebewohl zu sagen; sonst könnte ich es nicht ertragen. Du mußt mir aber schwören, daß du zurückkommst, wenn das Kind geboren ist – ganz gleich, was auch geschieht.«
Jeremy drückte ihre Hand. »Ich werde zurückkommen, wenn es mir möglich ist. Aber mit einem Schwur müssen sich nur die binden, die befürchten, sich ansonsten untreu zu werden. Das Wort eines Hastur zählt ebenso viel wie der Eid eines jeden anderen Mannes.«
»Dann versprichst du mir auf dein Wort, daß du kommen wirst?« fragte sie seufzend.
»Ich verspreche es. Auf das Wort eines Hastur, das ich noch nie gebrochen habe – ich werde bei dir sein, wenn unser Sohn geboren ist!«
Valeria seufzte noch einmal. »Mögen die Götter diesen Krieg verfluchen!«
Jeremy zitterte, als sie diesen Satz aussprach. Ihm war, als ob in diesem Augenblick ein kalter Luftzug durch das Zimmer wehte. »Den Krieg ganz gewiß! Aber nicht die Männer, die ihn führen müssen! Oder würdest du auch mich verfluchen, Geliebte?«
»Niemals!« beteuerte sie. Und so verabschiedeten sie sich unter vielen Küssen und Liebeserklärungen. Im Morgengrauen ritt er davon, um sich dem Heer anzuschließen.
Die Kämpfe waren erbitternd und andauernd, und im Verlauf der schlimmsten Schlacht wurde Jeremy am Oberschenkel verwundet. Zunächst schien es nicht so gefährlich zu sein, aber einige Tage später setzte der Wundstarrkampf ein. Die Leroni, die mit der Versorgung der anderen Verwundeten vollauf beschäftigt waren, vergaßen, nach dem Hastur-Erben zu sehen, und so lag Jeremy, nur in eine Militärdecke eingehüllt, fröstelnd und allein da, bis er kurz vor Tagesanbruch starb.
Als die Nachricht auf Burg Hastur eintraf, wagte es niemand, sie Valeria zu übermitteln, da bei ihr die Wehen bereits eingesetzt und sich ohnehin schon schwerwiegende Komplikationen ergeben hatten. Drei Tage kämpfte sie gegen den Tod – aber schließlich blieben beide, Mutter und Kind, am Leben.
Der alte Dom Maurizio war selber losgeritten, um eine Leroni aus dem Turm zu holen, da er befürchtete, er werde nicht nur Valeria, sondern auch das Kind verlieren. Deshalb lag sie jetzt allein in einem der oberen Gemächer auf Burg Hastur. Plötzlich regte sich etwas in der Kammer – und Jeremy stand da.
»Jeremy!« rief sie noch schwach. »Du bist gekommen!«
»Warum überrascht dich das so sehr? Habe ich dir nicht auf mein Wort als Hastur versprochen, ich werde zu dir kommen – und zu ihm! Es ist doch ein Sohn?« fragte er und beugte sich über die Wiege, in der das Kind lag. »Ich muß schon bald wieder gehen. Und in den nächsten Tagen warten schlechte Nachrichten auf dich. Du mußt daher stark sein. Und versprich mir, unseren Sohn nicht zum Krieger zu erziehen, sondern den Krieg immer von ihm fernzuhalten.«
Er beugte sich über Valeria und küßte sie.
»Bleib bei mir!« flehte sie ihn an.
»Ich kann nicht«, erwiderte er. »Die Toten dürfen sich nicht unter die Lebenden mischen. Selbst meinem Vater darf ich mich nicht mehr zeigen. Grüß ihn deshalb von mir und sage ihm, daß ich auch jetzt nicht bereue, dich geheiratet zu haben. Dir hatte ich versprochen zu kommen, wenn unser Sohn geboren ist – und mein Wort habe ich noch nie gebrochen. Ich bin gekommen, damit du erkennst, daß das Wort eines Hastur ebenso viel zählt, wie der Eid eines jeden anderen Mannes.« Damit beugte er sich über die Wiege seines Sohnes küßte ihn und dann Valeria auf die Stirn. »Wisse, daß wir eines Tages wieder verbunden sein werden, Valeria. Bis dahin mußt du für unseren Sohn sorgen. Dir sage ich jetzt Lebewohl.« Mit diesen Worten verschwand er aus dem Halbdunkel und ließ Valeria zurück, die nicht wußte, ob sie lachen oder weinen sollte.