MERCEDES LACKEY

 

Die gestohlene Ballade

 

Als ich Mercedes zum ersten Mal traf, war sie nur eine von vielen jungen Fans mit einem Hang zur Folkmusic. Auch sie gehört zu den Autorinnen, deren erste Geschichte ich abdrucken durfte. Inzwischen hat sie eine ganze Reihe eigener Bücher verfaßt, darunter auch den bemerkenswerten Zyklus Herald Mage. Einiges erinnert mich stark an Darkover; vielleicht liegt es daran, daß auch sie sich zahlreicher meiner Lieblingsthemen widmet. Betsy Wollheim und ich haben sie dazu bestimmt, die Darkover-Bände weiter herauszugeben, wenn je der unwahrscheinliche Fall eintritt, daß ich dazu nicht mehr fähig oder gewillt sein sollte.

Auch dies ist eine der vielen, vielen Amazonengeschichten, die ich dieses Jahr erhalten habe. Die meisten davon waren entweder unheimlich abgedroschen oder unaussprechlich schlecht. Auf Mercedes Lackeys Geschichte trifft beides nicht zu, und wie immer freue ich mich, sie hiermit vorstellen zu können.

 

 

 

Tayksa mußte ein herzhaftes Gähnen unterdrücken. Leibwache des neugekrönten Königs Varzil zu spielen, mochte gewiß eine Ehre sein, aber es war auch verdammt langweilig. Der Thronsaal war etwas überheizt, – ein Zugeständnis an die Leroni in ihren leichten Roben – was Tayksa nur um so schläfriger machte. Vor Varzils Thron waren weit und breit keine Comyn-Lordschaften mit ihren reich bestickten, juwelenbesetzten Gewändern zu sehen – jedenfalls nicht heute. Vereinzelt standen einige Kaufleute herum, die die einzigen Farbtupfer in der Masse aus braunen oder grauen Einheitsfarben oder langweiligen Karos bildeten. Dies war die Stunde, die Varzil (den alle Welt nur ›den Guten‹ nannte, seitdem er das Abkommen geschlossen hatte) für die Petitionen und Beschwerden seiner weniger begüterten Untertanen vorbehalten hatte. Vor seinem Thron drängten sich Händler und Bauern, ein oder zwei Turmarbeiter, und sogar eine einzelne Entsagende, die gekommen war, um mehr Unterstützung für die Kriegswaisen zu erbitten, um die sich die Entsagenden momentan kümmerten. Es war Maria n’ha Joyse, die noch immer die staubgraue Robe der Avarra-Schwestern trug, auch wenn sie diese auf die Länge eines Kittels gestutzt hatte, unter dem die Kniebundhosen ihrer Gilde zum Vorschein kam.

Bei solch einer Versammlung ging es gewöhnlich sehr viel ruhiger zu als bei den Zusammenkünften der Adligen; trotzdem blickten viele der Bittsteller immer wieder nervös auf die Entsagende, die zur Rechten des Königs Wache hielt. Auch damit wollte Varzil ein Zeichen setzen, daß die Entsagenden unter seinem speziellen Schutz standen.

Alle fünf Tage, während der öffentlichen Audienz, dienten ausgewählte Mitglieder der Gilde aus Thendara dem König als Wachen. Diese Pflicht teilten sich normalerweise die Stadtwache und seine persönliche Leibwache; die Entsagenden übernahmen diese Rolle abwechselnd von ihnen.

Unter den Entsagenden gab es freilich nur eine gewisse Anzahl von Frauen, die diese Aufgabe erfüllen konnten; die früheren Priesterinnen der Avarra waren zahlenmäßig den ehemaligen Schwertschwestern weit überlegen, da letztere eine sehr viel kürzere Lebenserwartung hatten. Tayksa und Deena gehörten dieser besonders ausgebildeten Gruppe an. Dennoch wäre Tayksa kaum öfter als alle vier oder fünf Langwochen zum Dienst eingeteilt worden, wenn alles der Reihe nach gegangen wäre. Aber auf Grund der besonderen Verbindung, die Tayksa und Deena früher zu Varzil unterhalten hatten, bat der König fast jedesmal um die Anwesenheit einer oder beider Frauen.

Die Taktik des Königs, die Entsagenden mehr in Erscheinung treten zu lassen und seine Unterstützung für sie öffentlich zu bekunden, schien aufzugehen. Zweifellos hatte es weniger Zwischenfälle gegeben, seitdem die Entsagenden regelmäßig in königlichen Diensten auftraten.

Dennoch war es ein langweiliger Dienst, da half alles nichts. Tayksa hätte es sogar vorgezogen, irgendwelchen Hühnern auf der Farm hinterherzujagen, als sich das Geblöke dieser Schafherde mit anzuhören.

Es handelte sich um die übliche Schar von Bittstellern mit allen möglichen Beschwerden und Anliegen. Ein verarmter Comyn-Lord aus einer unbedeutenden Seitenlinie des Hastur-Clans bat um eine Mitgift für seine Tochter – wahrscheinlich reichte ihr Laran nicht aus, sie anderweitig an den Mann zu bekommen. Einige Schafhirte protestierten gegen die Einfriedung von bisher öffentlich zugänglichem Gemeindeland. Ein Falkner überreichte dem König zum Zeichen des Dankes für irgendeine gewährte Gunst einen besonders edlen Vogel. Ein fetter Händler bat um ein königliches Monopol. Ein Musiker in den Farben der Ridenows …

Halt! Was war das?

Tayksa richtete sich etwas auf, als der letzte Bittsteller vor den Thron trat. Es kam durchaus häufiger vor, daß Musiker bei diesen Audienzen erschienen, aber normalerweise waren sie ohne feste Anstellung, halb verhungert und meist noch sehr jung. Dieser Mann hingegen war schon vorgerückten Alters und seine ganze Ausstrahlung besagte, daß er schon lange nicht mehr als Künstler am Hungertuch nagte. Außerdem trug er deutlich erkennbar das Clanmuster der Ridenows. Tayksa hatte noch nie zuvor einen Musiker in voller Livree gesehen, und auch seine sorgenvolle Miene wollte nicht so recht zu ihrer Vorstellung von einem Minnesänger passen. Noch erstaunlicher aber war die Tatsache, daß Varzil ihn offenbar kannte.

Der Mann verneigte sich tief, und Varzil hieß ihn mit einem warmherzigen Lächeln willkommen. »Anndra! Welch eine Freude, dich zu sehen! Schickt dich dein Lord zu mir?«

»Nein, mein König«, entgegnete der Musiker bedrückt. »Ich komme in eigener Sache, obwohl mein Anliegen auch meinen Herrn betrifft.«

Varzil gab ihm ein Zeichen näher zu treten, um außer Hörweite der anderen zu sein. Der junge Wächter zur Linken umklammerte nervös seine Hellebarde, aber Tayksa blieb völlig gelassen. Nichts an diesem Musiker erregte ihren Verdacht; und wenn es denn jemanden gab, der einen möglichen Attentäter erkennen konnte, dann war sie es. Schließlich hatte sie früher selbst Attentate verübt.

Cemoc, der Friedsmann des Königs, bemerkte ihre entspannte Haltung und schenkte daher der Besorgnis des anderen Wächters keine weitere Beachtung.

»Mein Herr und König, ich komme mit einem Problem zu Euch, bei dem nicht nur mein Leben auf dem Spiel steht«, erklärte der Musiker Anndra unglücklich. »Es könnte mich meinen Ruf kosten, der mir weit mehr bedeutet als meine bloße Existenz.«

Bei Zandrus Hölle, es ist kein Wunder, daß er so mitgenommen aussieht. Sowohl der König als auch Tayksa nickten ihm verständnisvoll zu, wobei Anndra die Entsagende jedoch kaum beachtete, sondern seine ganze Aufmerksamkeit auf Varzil richtete. »Es handelt sich um Lord Ridenows jüngsten Sohn Jehan«, fuhr Anndra fort. »Mein Herr hat ihn meiner Obhut anvertraut; ich sollte ihn zusammen mit meinen drei Schülern in der Musik unterweisen. Der Junge ist … nun sagen wir … durchschnittlich begabt, vielleicht auch etwas weniger, aber er und mein Lord scheinen beide davon überzeugt zu sein, er habe echtes Talent. Ich fand weiter nichts dabei, den Vater in diesem Glauben zu lassen – aber es war unmöglich, dem Jungen etwas beizubringen, da er sich weigerte einzusehen, daß auch er noch etwas lernen müsse.«

»Nun, Anndra, das wird Lord Ridenow dir kaum zum Vorwurf machen können«, wandte Varzil ein, aber Anndra schüttelte nur den Kopf.

»Das ist auch gar nicht das Problem, mein König. Es ist viel schlimmer – der Junge ist ein Dieb. Nicht etwa, daß er Sachen stiehlt, nein, er klaut Ideen.«

Varzil runzelte die Stirn. »Aber Ideen kann man nicht einfach mit Namensschildern versehen«, meinte er sanft tadelnd. »Gerade du, Anndra, solltest das doch wissen.«

»Ich weiß das ebenso gut wie Ihr, aber versucht einmal, das Lord Ridenow begreiflich zu machen!« In seiner Verzweiflung vergaß der Musiker fast die höfischen Umgangsformen. »Hört mich an, mein König, und entscheidet dann, ob Ideen gestohlen werden können oder ob nicht. Unser Dilemma sieht folgendermaßen aus: Ich oder einer meiner Schüler beginnen mit einer neuen Ballade. Jehan hört sie zufällig mit an, und sofort geht er hin und schustert daraus seine eigene verstümmelte Fassung. Dann rennt er damit zu seinem Vater und spielt sie ihm vor – und danach trauen wir uns natürlich nicht mehr, unsere Lieder aufzuführen, aus lauter Angst, daß wir am Ende noch beschuldigt werden, Jehans Ideen gestohlen zu haben. Vielleicht kann man nicht direkt sagen, daß er unsere Ideen klaut, aber er verhunzt sie so, daß sie für uns unbrauchbar werden.«

»Lord Ridenow wird euch dessen bestimmt nicht bezichtigen, dazu ist er viel zu klug«, zweifelte Varzil.

Bei diesen Worten blickte ihn Anndra nur noch deprimierter an. »Auch das ist schon vorgekommen, mein König! Nur meine Behauptung, daß ich selber dem Lehrling den Auftrag erteilt hätte, eine Variation zu Jehans Thema anzufertigen, rettete ihn damals. Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Schon fragt mich Lord Ridenow, warum ich keine neuen Lieder mehr für ihn komponiere. Wie kann ich ihm nur erklären, daß sein eigener Sohn alles, was ich vorbereite, stiehlt und entstellt?«

Varzil lehnte sich mit tief besorgter Miene in die weichen Kissen seines Throns zurück. Als Zeichen seiner Macht als Laranzu und Bewahrer trug er auch jetzt noch die rote Robe. »Rafael Ridenow verliert leicht die Beherrschung«, meinte er bedächtig. »Und er ist stolz auf sein eigen Fleisch und Blut. Wenn dein Wort gegen das des Jungen stünde – «

» – würde ich alles verlieren – Stellung, Ruf, einfach alles«, pflichtete Anndra resigniert bei. »Ratet mir, mein König, was kann ich tun?«

Tayksa erriet, was Varzil durch den Kopf ging, auch wenn sie keine Leronis war, die seine Gedanken lesen konnte. Lord Ridenow war ein mächtiger Mann, der jede auch nur vermeintliche Kränkung sehr persönlich nahm. Varzils neue Stellung war noch lange nicht unangefochten und basierte auf einem prekären Machtausgleich zwischen den Lords aller Domänen. Er könnte Anndra in seine eigenen Dienste aufnehmen, falls Lord Ridenow ihn entlassen würde; aber wenn er das täte, könnte Rafael Ridenow dies als einen bewußten Affront auslegen und entsprechend reagieren. Wegen solch geringfügiger Anlässe war es in der Vergangenheit schon oft zum Krieg gekommen.

»Vielleicht ließe es sich einrichten, den Jungen eine Zeit lang anderswo unterzubringen«, überlegte Varzil laut. »Ich könnte ihn an meinen Hof bitten – aber nein, das hat keinen Zweck. Rafael würde annehmen, ich wolle ihn als Geißel behalten, und sich weigern.«

Tayksa räusperte sich vorsichtig, aber vernehmlich. Sofort blickte Varzil sie an.

»Ich vermute, du hast eine Idee, Mestra?« Der andere Wächter schaute schockiert, aber Cemoc lächelte nur nachsichtig. Tayksa traute sich, was nur wenige andere gewagt hätten, wohl auch deshalb, weil sie Varzil bereits zweimal das Leben gerettet hatte. Der König gestand ihr gewisse Freiheiten zu, die er bei anderen niemals geduldet hätte. Tayksa ihrerseits bemühte sich, nicht allzu vorlaut zu erscheinen, ergriff aber doch hier und da die Gelegenheit, sich etwas einzumischen. Der König und sie verstanden dies Spiel nur zu gut und schienen es beide zu genießen.

»Jeder wahre Künstler braucht Inspiration«, erklärte sie unbefangen. »Und jeder junge Mann muß Erfahrungen sammeln, die ihm diese Inspiration verschaffen. Welch bessere Inspiration für eine heroische Ballade, oder sogar eine ganze Reihe von Balladen, wäre denkbar als eine Reise? Vielleicht ein Besuch am heiligen See zu Hali, um zu sehen, was Ihr wiederhergestellt habt, um den rhu fead, die Kapelle, den Schleier und all die anderen heiligen Dinge aus eigener Anschauung zu erleben. Dieses Erlebnis sollte allein schon ausreichen, um bei jedem die dichterische Ader zu wecken. Außerdem wäre es ein frommes Unterfangen, das jedem jungen Adligen gut täte.«

Varzil schaute zunächst etwas verblüfft, aber dann schien er zu begreifen, worauf sie hinauswollte. »Aber natürlich! Und wenn dann zusätzlich einige Reiseberichte der Begleiter des Jungen durchsickern und, rein zufällig versteht sich, auch Anndra und seine Lehrlinge zu einem Lied anregen …«

»… dann würde deutlich, daß es nicht so sehr auf die Idee ankommt, sondern darauf, was die Begabung des einzelnen Barden daraus macht«, schloß Tayksa gewitzt. »Ganz besonders dann, wenn sich der Junge trotz der Erlebnisse als nicht besonders inspiriert erweist.« Und schließlich fügte sie noch beiläufig hinzu: »Ich darf sagen, daß meine Partnerin und ich diesen Landesteil recht gut kennen. Und ich bin durchaus in der Lage, ein paar staubtrockene Berichte über die Reise zusammenzustoppeln. Wenn Ihr also die Güte hättet, uns als Führer des jungen Lords zu empfehlen …«

Damit wäre ich für mehrere Langwochen von diesem öden Wachdienst freigestellt! Und Deena juckt es schon lange, wieder mal in die Wildnis auszureiten. Tayksa war der Gedanke nicht unangenehm. Obwohl sie ein typisches Stadtkind war, hatte auch sie die wilde Natur zu schätzen gelernt, und um Deena einen Gefallen zu tun, würde sie schon einige Strapazen auf sich nehmen, die das Campieren im Freien nun einmal mit sich brachten. Außerdem hatte die mißliche Lage des Musikers ihren Sinn für Gerechtigkeit angestachelt, und Deena hatte ohnehin gedroht, notfalls auch alleine loszureiten. Und wenn wir so ein verwöhntes Comyn-Söhnchen begleiten, dann werden wenigstens die Zelte dicht und die Betten weich sein, und ein Koch wird warme Mahlzeiten bereiten. So laß ich mir das Campen schon eher gefallen.

Varzil grinste breit. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Schon möglich, denn einem so sensiblen Telepathen wie ihm dürften sie kaum entgangen sein. »Ein äußerst großzügiges Angebot, Mestra«, meinte er gütig. »Jetzt laßt uns überlegen, wie wir diesen Plan Lord Ridenow schmackhaft machen können. Am besten wäre es, wenn er glaubte, er wäre selbst auf die Idee gekommen!« Er mußte weiterhin lächeln, als er darüber nachdachte. Plötzlich schnalzte er mit den Fingern. »Aber ja doch, was wäre besser dazu geeignet als ein Lied? Eine Ballade, die die Sehnsucht nach einer solchen Reise ausdrückt!«

Anndra schaute ihn verständnislos an. »Aber wenn der Junge nun auch diese Ballade …«, stammelte er zunächst hilflos, doch dann dämmerte es ihm. »Ja natürlich! Wenn der Junge die Idee klaut und seinem Vater vorträgt, wird Lord Ridenow überzeugt sein, es sei Jehans eigener Wunsch!«

»Und als nachgiebiger Vater wird er ihn sicher gewähren«, beendete Varzil den Gedanken. »Zumal auf solch einer frommen Reise und bei solchen Führern dem Jungen wirklich keine Gefahren drohen!«

 

Von Anfang an erwies sich Jehan als die reinste Nervensäge. Obwohl es eine der sichersten Reisen war, die Tayksa je unternommen hatte, glaubte der Junge offenbar, in äußerster Lebensgefahr zu schweben, sobald auch die kleinste Kleinigkeit schief ging. Hätte Tayksa nicht den wahren Zweck dieser Expedition gekannt, wäre ihr mehr als einmal der Geduldsfaden gerissen.

Obgleich auch sie während des Rittes nach Hali und zurück auf ihre Kosten gekommen war, was nicht zuletzt an Deenas Begleitung lag, war Tayksa mehr als froh, endlich die Türme der Burg Ridenow wiederzusehen. Als sie sich umblickte, um zu sehen, wie sich die anderen im Troß fühlten, verrieten ihr die erleichterten Mienen, daß Jehans ständige Quengeleien auch ihnen zugesetzt hatten.

Und dabei war die Reise alles andere als beschwerlich.

Wie erwartet hatte Jehan die Ballade, die Anndra über die Sehnsucht nach dem heiligen See von Hali verfaßt hatte, prompt imitiert, und Lord Ridenow hatte daraus geschlossen, daß sein Sohn sich nichts sehnlicher als eine solche Reise wünschte. Jehan saß in der Falle. Natürlich konnte er nicht zugeben, daß das Lied eigentlich von seinem Lehrer stammte und noch weniger wollte er zugeben, daß er selbst nie auf einen solchen Gedanken gekommen wäre. Was blieb ihm also anderes übrig als loszuziehen? Natürlich hatte Lord Ridenow den König um Erlaubnis und zusätzlichen Begleitschutz für seinen Jüngsten gebeten, was dieser nur all zu gern bewilligte. Außerdem bot Varzil die Dienste ›zweier meiner ehemaligen Kampfgefährten, die sich in dieser Gegend bestens auskennen‹ an. Es war schwer zu sagen, ob Lord Ridenow beunruhigt war, daß sich unter Varzils Abordnung auch zwei Entsagende befanden; jedenfalls ließ er es sich nicht anmerken. Vielleicht hatte er bei Varzils allgemein bekannter Protektion nichts anderes erwartet.

Die kleine Expedition gestaltete sich, ganz wie Tayksa gehofft hatte, geradezu luxuriös. Die Zelte und Ausrüstung waren vom Feinsten, und man hatte ihnen die besten Chervines mitgegeben; eine ganze Wagenladung war dem Proviant vorbehalten, hinzu kamen eine Feldküche und ein Koch, der ihnen morgens und abends warme Mahlzeiten bereitete. Jehan erhielt Lord Ridenows Kommandozelt, voll ausgestattet mit Teppichen, allen nur erdenklichen zusammenklappbaren Möbeln und sogar einer Badewanne. Alles in allem entsprach es Tayksas Vorstellung vom Campen, auch wenn Deena insgeheim über ›diese Weicheier‹ schimpfte.

Einige durchaus erwartbare Unannehmlichkeiten konnten dennoch nicht ausbleiben. Zweimal waren sie nach Stürmen mehrere Tage lang eingeschneit, und bei einem Angriff durch Katzenmänner hatten sie ein Chervine verloren. Aber ernsthaft verletzt wurde niemand, und nicht eine einzige Mahlzeit mußte ausfallen.

Dennoch fühlte sich der Junge – denn einen Mann konnte Tayksa ihn wirklich nicht nennen, obwohl er seinen vierzehnten Geburtstag längst hinter sich hatte und das Schwert und alle anderen Anzeichen eines Erwachsenen trug – hundeelend. Während der Stürme war er felsenfest davon überzeugt, daß jeden Augenblick Ya-Männer über sie herfallen würden. Als sie eingeschneit waren, erteilte er so viele widersprüchliche Befehle, daß die Männer ihn schließlich ganz ignorierten und nur den Anweisungen ihres Hauptmanns folgten. Beim Angriff der Katzenmänner verkroch er sich im Proviantwagen und traute sich erst wieder hervor, als alles vorbei war.

Sogar Tayksa, die sich selber für eine abgebrühte Zynikerin hielt, war bewegt, als sie den geheimnisvollen Nebelsee von Hali und die heilige Stätte rhu fead am anderen Ufer sah. Natürlich durften Deena und sie sich nicht allzu nahe heranwagen, denn nur den Comyn war es gestattet, das gegenüberliegende Ufer zu betreten. Aber schon beim Anblick aus der Ferne lief es Tayksa kalt den Rücken hinunter, und ihre Partnerin war zu Tränen gerührt. Sie hatten damals selber gesehen, wie nach dem Kataklysmus der See zerstört war. Und nie würden sie vergessen, wie Lord Varzil neben den Ruinen von rhu fead stand, sein weißes, fast unmenschliches Gesicht unter den kupferroten Haaren, während er mit den vereinten Kräften des Kreises seiner Leroni darum rang, die Wunden des Sees zu heilen.

Deena drängte es, Jehan von jener Zeit zu erzählen. Drei Tage und drei Nächte lang hatte Varzil wie zu einer Statue erstarrt am Ufer gestanden, hatte weder gegessen noch geschlafen. Um ihn herum schlugen die ganze Zeit bläuliche Blitze ein, und aus Angst, getroffen zu werden, wagte es keiner, sich ihm zu nähern. Dann, am Ende der dritten Nacht, bot sich seinem Heer ein grandioser Anblick: der See war wiederhergestellt zu seiner alten, geheimnisumwitterten Größe, erneut gehüllt mit Nebelschwaden, die so dicht waren, daß kein menschliches Auge sie durchdringen konnte. Hätte Varzil in jenem Augenblick verlangt, ihn als Hastur und wiedergeborenen Sohn des Aldones anzureden, kein einziger aus seinem Gefolge hätte ihm diesen Titel verweigert.

Aber das tat Varzil nicht; stattdessen handelte er einfach nur wie jeder gewöhnliche Mann nach einer großen Anstrengung: Er verschlang ein halbes Chervine, ging dann zu Bett und schlief die nächsten beiden Tage und Nächte durch. Auch nachdem er wieder erwachte, meldete er keine weiteren Ansprüche an. Er befahl seiner Armee schlicht und einfach den Rückmarsch nach Carcosa.

Doch Jehan blieb von dieser Geschichte genauso ungerührt wie vom Anblick des Sees und des rhu fead. Er traute sich noch nicht einmal, zum anderen Ufer überzusetzen. Nachdem er alles aus sicherer Entfernung betrachtet hatte, beschloß er, der Zweck seiner Reise sei damit erfüllt, und ordnete die Rückkehr an.

Und obwohl er ständig eine Harfe bei sich trug, hatte Tayksa ihn nie länger darauf spielen oder wenigstens üben hören. Es schien ihm zu genügen, das Instrument zur Schau zu stellen und damit sein Ansehen als ›Musiker‹ zu begründen, ohne je zu beweisen, daß er wirklich einer war. Gewiß, ab und zu griff er zu der Harfe und spielte ein Stück vor, daß er angeblich selber komponiert hatte. Aber sobald klar wurde, daß seine Zuhörer keineswegs freiwillig lauschten und nur mühsam ihren Unmut verbargen, brach er ab und erklärte beleidigt, daß er seine ›Kunst offenbar an diese Banausen verschwende‹. Solche Kostproben seines ›Könnens‹ waren schon selten genug; eigene Kompositionsversuche unterließ er offensichtlich ganz.

Deena erklärte einmal, ganz gegen ihre sonstige Natur sarkastisch, daß Jehan wie eine Spottdrossel sei: wenn er niemanden nachahmen kann, verstummt er.

Selbst Deena hat es bemerkt; jetzt wollen wir sehen, ob sich auch Lord Rafael überzeugen läßt.

Tayksa hatte eigentlich nicht damit gerechnet, den weiteren Verlauf der Geschichte persönlich mitzuerleben, vielmehr hatte sie damit gerechnet, daß man ihr und Deena eine symbolische Belohnung für ihre Dienste aushändigen und dann nach Thendara zurückschicken würde. Sie hatte sich sogar schon einen Plan zurechtgelegt, wie sie sich lange genug bei der Burg aufhalten konnte, um dann irgendwie von Anndra zu erfahren, was durchgesickert war. Aber das war alles nicht nötig, denn kaum war sie abgestiegen, führte man sie in die Burg, bot ihr dort ein heißes Bad und frische Kleider an, und schließlich erhielt sie eine Einladung, an den Feierlichkeiten zu Ehren Jehans Heimkehr teilzunehmen. Da sie sich schon tagelang nach einem Bad gesehnt hatte, die Kleider auch für eine Entsagende tragbar waren und die Feierlichkeiten für jeden interessant zu werden versprachen, nahm sie alles freudig an.

Man wies ihr und Deena einen Platz unter der Dienerschaft an, was aber beide nicht im geringsten störte. Sie konnten gar nicht weit genug von Jehan entfernt sein, der neben seinem Vater an der Herrentafel saß. Und neben Jehan stand seine Harfe …

Vor der Tafel warteten Anndra und seine drei Schüler auf ihren Auftritt. Auf ein Zeichen Lord Ridenows nahm der jüngste der Knaben seine ryll und begann zu singen und zu musizieren. Die erste Strophe war noch nicht verklungen, da bestand kein Zweifel mehr, daß die Ballade den ersten Sturm schilderte, den sie überstanden hatten. Tayksa war nicht schlecht erstaunt, als sie ihre eigenen dürren Worte in dieser beschwörenden und poetischen Fassung wiedererkannte. Sie hätte jederzeit bereitwillig erklärt, daß sie keinen Funken Poesie besäße, und doch hörte sie jetzt ihre eigenen trockenen Berichte, wenn auch ausgeschmückt und in eine lyrische Form gebracht.

Jehan schien davon nichts zu bemerken. Er applaudierte halbherzig, als der erste Junge geendet hatte, und machte sich dann wieder über sein Essen her. Der zweite Knabe trat mit seinem Lied vor das Publikum. Dieses Thema hätte auch Jehan bedichten können, wäre er dazu begabt genug gewesen. Es handelte von einem jungen Mann und seiner ersten Bewährung im Kampf mit den Katzenmännern.

»Nur zu schade, daß es sich nicht ganz so abgespielt hat«, flüsterte Deena ihrer Partnerin zu und entlockte ihr damit ein Grinsen. Tayksa hatte in ihren Berichte Jehans Feigheit eher kaschiert, aber das Getuschel an den Tischen verriet, daß die anderen Wächter und Diener, die sie auf dieser Reise begleitet hatten, offenbar nicht so zurückhaltend gewesen waren. Jehan besaß immerhin noch Anstand genug, ziemlich betreten dreinzublicken. Der Applaus galt dem Sänger, während der Besungene einige höhnische Blicke erntete.

Tayksa hatte erwartet, daß das Thema des Besuchs am heiligen See Anndras Vortrag vorbehalten blieb, aber sie hatte sich geirrt. Der dritte Musikant, ein junger Mann, der kaum älter war als Jehan, besang den See und die Heldentaten Varzils und schilderte dann auf bewegende Weise, welche Ehrfurcht dieser Ort ihm eingeflößt hatte. Inzwischen versank Jehan immer tiefer in seinen Kissen; noch ein Lied und er würde höchstwahrscheinlich unter den Tisch kriechen.

Dann erhob sich Anndra, und bei seinem Vortrag erkannte Tayksa, warum er bis zuletzt gewartet hatte. Er nahm die Themen der ersten drei wieder auf und führte sie zusammen. Dies geschah in Form einer Schilderung von Gedanken, die einen Mann auf der Heimkehr zu seiner geliebten Familie bewegten. Dieses Lied hätte Jehan keinesfalls schreiben können, denn die darin geäußerten Einsichten verrieten Reife und Erfahrung. Tayksa begriff nun auch, warum Varzil von Anndra so beeindruckt gewesen war – der Mann war ein gottbegnadeter Künstler. Während er sang, dachte sie sehnsuchtsvoll an ihr eigenes Heim, das Gildenhaus in Thendara; sie dachte an alle ihre Freundinnen und Schwestern dort; und sie dachte an all diejenigen, die nicht wieder heimkehren sollten, die durch Kriege und Verfolgung umgekommen waren, noch bevor das Gildenhaus Gestalt annahm. Als Anndra endete, hatte Tayksa feuchte Augen, und sie war nicht die einzige, der es so ging.

Die Zuhörer schwiegen ergriffen – ein Moment der Stille, der der höchste Lohn für einen Künstler ist – bevor der Applaus losbrach und Hochrufe das ganze Gewölbe erfüllten.

Anndra verbeugte sich einmal und nahm dann wieder seinen Platz ein. Tayksa konnte auf seinem Gesicht keinerlei Gefühlsregung ausmachen. Sie selbst erwartete voller Anspannung den Höhepunkt dieses Schauspiels.

»Nun, Jehan«, meinte Lord Ridenow aufmunternd, »du hast die Lieder gehört, die Anndra und seine Schüler zu deiner Begrüßung geschrieben haben. Ich muß gestehen, daß ich es kaum erwarten kann zu hören, was du komponiert hast. Welch wunderbare Inspiration muß diese Reise für dich gewesen sein! Ich habe deine Harfe herunterbringen und für dich stimmen lassen. Bitte, mein Sohn, spiel uns eines deiner Lieder! Wenn schon die Schilderungen aus zweiter Hand uns so sehr bewegten, wird deine Musik dem in nichts nachstehen!«

Das glaube ich kaum.

Jehan hätte sich vor Verlegenheit am liebsten unter den Tisch verkrochen. Er murmelte etwas zur Entschuldigung, aber offenbar so undeutlich, daß selbst sein Vater es nicht verstehen konnte.

»Sprich lauter, mein Junge«, ermahnte Lord Ridenow ihn scharf. »Was hast du gesagt?«

Stille ringsum. Eine gespanntes Schweigen. Jehan richtete sich etwas auf, jetzt anscheinend trotzig davon überzeugt, daß nur noch die Flucht nach vom ihn retten konnte. »Ich sagte, daß ich keine Lieder mitgebracht habe, Vater«, wiederholte er. Seine Worte fielen in die Stille wie Kieselsteine in einen tiefen Brunnen. »Es war alles ganz anders, es war eine fürchterlich langweilige Reise. Und jetzt darf ich mich entschuldigen. Das ganze hat mich doch sehr mitgenommen.«

Lord Ridenow schaute ihn nur völlig ausdruckslos an. Dann geschah etwas, womit Tayksa nicht gerechnet hatte. Der Lord warf Anndra einen kurzen Blick zu, den dieser mit einem ebenso kurzen Kopfnicken erwiderte. Dann wandte er sich wieder an seinen Sohn, dem dies alles offenbar entgangen war.

Seine Stimme klang gefaßt, aber Tayksa vermutete, daß die vorgegebene Ruhe des Lords für Jehan nichts Gutes bedeutete. »Aber natürlich, mein Sohn, geh nur. Ich habe mit Anndra und Captain Lerrys eine Menge zu besprechen, das dich nur noch mehr mitnehmen würde.«

Während der Junge sich hastig erhob, tauschte der Lord mit dem Barden und dem Hauptmann der Wache, der die Expedition nach Hali begleitet hatte, weitere bedeutungsvolle Blicke. Jehan bemerkte wieder nichts; oder vielleicht wollte er es geflissentlich übersehen.

Kurz darauf zog sich auch Lord Ridenow zurück, und bald kamen Diener, die Lerrys und Anndra aufforderten, dem Lord zu folgen.

Ich gäbe was drum, bei dieser Unterredung Mäuschen spielen zu können …

Doch die endgültige Entscheidung fiel erst, als die beiden Entsagenden längst wieder nach Thendara zurückgekehrt waren. Und erst als sie mit dem Ehrenwachdienst wieder an der Reihe war, sollte Tayksa den ganzen Ausgang der Geschichte erfahren.

 

Nachdem die Bittsteller ihre Anliegen vorgebracht hatten, kehrte wieder Ruhe ein. König Varzil sprach mit dem Hauptmann der Stadtwache absichtlich so laut, daß Tayksa jedes Wort mitbekommen konnte.

»Sag mir, Rafe, wie macht sich der junge Ridenow?« fragte er mit gespielter Beiläufigkeit.

»Jehan? Der ist schon wieder zum Strafdienst abkommandiert«, erwiderte Captain Rafe nicht ohne heimliche Schadenfreude, die er augenzwinkernd mit Tayksa teilte. »Der Junge hörte nicht auf sich zu beschweren. Jetzt hat er die Quittung dafür.«

Varzil schüttelte seufzend den Kopf. »Lord Rafael hat uns seinen Segen dazu gegeben, daß wir alles unternehmen, um aus dem Jungen einen richtigen Mann zu machen. Aber sei nicht allzu streng mit ihm, Rafe. Er ist bisher so schrecklich verwöhnt worden, da braucht es Zeit, bis er sich an eine andere Gangart gewöhnt hat.«

»Wenn Ihr meine Meinung hören wollt, mein Lord – «, setzte Rafe an, wartete dann aber erst die Antwort des Königs ab.

»Du weißt, wie sehr ich sie schätze. Bitte, fahr fort.« Varzil zeigte großes Interesse. »Ich habe schon gehört, daß du einen Plan gefaßt hast, den du mir vorlegen willst.«

»Mir scheint, daß es noch viele von diesen verzogenen jungen Comyn gibt, denen eine harte Hand gut täte. Und Ihr selbst habt geäußert, daß Ihr es begrüßen würdet, wenn Ihr Mittel und Wege finden könntet, sie an Eurem Hof zu versammeln, damit sie endlich begreifen, was es heißt zusammenzuarbeiten. Darum hier mein Vorschlag: Warum ordnet ihr nicht an, daß jeder Comyn mit Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs Dienst in der Wache leisten muß?« Rafe erschrak fast über seine eigene Courage, denn er war mit dem König keineswegs so vertraut wie Tayksa; dennoch fuhr er unbeirrt fort. »Wir würden die Jungs schon ordentlich heranziehen, darauf dürft Ihr Euch verlassen. Sie würden lernen, was ehrliche Arbeit heißt; und sie würden tagein, tagaus zusammen leben. Wenn man erst einmal mit dem anderen zusammen gedient hat, wird man nicht mehr so leicht eine Fehde gegen ihn anzetteln.«

Varzil schaute seinen Hauptmann voller Bewunderung an. »Du überraschst mich, Rafe. Das ist eine vorzügliche Idee! Ich werde sie sofort dem Rat unterbreiten. Vermutlich müßten wir dazu spezielle Gesetze erlassen, die die Sicherheit der Jungen gewährleisten. Zum Beispiel, daß sie für die Dauer ihrer Rekrutenzeit von allen anderen Kriegsdiensten und Fehden freigestellt sind. Aber ich glaube, das ließe sich machen. Und wenn sich der junge Ridenow gut hält, könnten wie ihn vielleicht mit dem Kommando über diese – sagen wir ›Kadetten‹ – betrauen.«

»Den? Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich!« meinte Rafe verächtlich. »Wir können schon froh sein, wenn der Junge ein bißchen mehr Rückgrat entwickelt. Aber Altons ältester Sohn … ich habe im Krieg unter ihm gedient …«

»Gut, Rafe, dann überlasse ich dir die weitere Planung. Komm wieder, wenn du genaueres weißt.«

Der Hauptmann nickte und verabschiedete sich. Varzil wandte sich jetzt fragend an Tayksa. »Nun, Mestra, was hältst du von Jehan und dem plötzlichen Ende seiner Laufbahn als Musiker?«

»Als Musiker«, erwiderte sie feinsinnig, »ist Jehan am besten mit dem Krummhorn zu vergleichen.«

»Dem Krummhorn? Wie meinst du das?«

»Das Krummhorn gilt als ›ein näselndes Holzblasinstrument, dem nur schwer gute Töne zu entlocken sind‹. Das ließe sich doch in mancherlei Hinsicht auch von Jehan sagen.« Sie grinste, und Varzil schloß sich diesem Grinsen an. »Vielleicht sind beide am besten als ›Zündholz‹ zu gebrauchen. Vielleicht trägt Jehans Beispiel dazu bei, in anderen das ›wahre Feuer‹ zu entfachen.«

»Wie wahr«, lachte Varzil. »Wie wahr!«