LYNNE ARMSTRONG-JONES

 

Der Katzenmann

 

Lynne ist Mitte dreißig, Mutter eines kleinen Sohnes und einer ebenfalls noch recht jungen Tochter und lebt in Kanada. Sie ist nicht nur eine der produktivsten Autorinnen, die ich kenne, sondern gibt auch Sprachunterricht für Erwachsene und hat vor kurzem sogar noch mit Karatetraining begonnen.

Lynne arbeitet an einem Roman, aber bei so kleinen Kindern, die zu versorgen sind, wird sie wohl noch einige Zeit brauchen, bevor sie das fertige Manuskript an Verleger schicken kann. Wir wünschen ihr, daß es nicht allzu lange dauert!

 

 

 

Dafür war sie einfach zu alt! Davon jedenfalls war sie überzeugt.

Ihr Herz hämmerte wie wild, und während sie nach Luft rang schlug es unaufhörlich dumpf gegen den Brustkorb. Trotzdem kämpfte sie sich weiter – sie hatte keine andere Wahl.

Die Zunge klebte ihr am völlig ausgetrockneten Gaumen; ihre Kehle war so angeschwollen, daß sie kaum schlucken konnte. Sie blieb kurz stehen und stützte sich mit einer Hand am Stamm eines kleinen Baumes ab. Keuchend, ja beinahe schluchzend, sog sie die kostbare Luft ein. Ihre andere Hand wischte zitternd den Schweiß von der Stirn, glitt langsam hinab und ruhte auf dem Seidenbeutel, den sie um den Hals trug.

Ihr Sternenstein! Einst fast schon ein Teil von ihr; nein, nicht fast – er war ganz und gar ein Teil ihrer Selbst, oder war es zumindest gewesen. Ein Tor zur Oberwelt, ein Schlüssel zu ihrer Macht, ein Beweis ihrer Identität als Ginevra, der fähigen und allseits respektierten Leronis. Bis dann mit fortschreitendem Alter ihr Laran nachgelassen zu haben schien.

Ginevra biß sich auf die Lippen und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr den Blick trübten, kämpfte auch gegen den Kloß, der ihr schmerzhaft in der Kehle saß und sich nicht lösen wollte. Blinzelnd hielt sie die Tränen zurück und mußte hilflos mit ansehen, wie vor ihr im Wald die beiden Kinder fortgeschleppt wurden. Die Kinder, die man ihr anvertraut hatte und die ihr das Kostbarste waren!

»Nein!« flüsterte sie leise. »Nein! Das darf ich nicht zulassen!« Während ihre Finger bereits den Sternenstein umfangen hielten, schloß sie die Augen und versuchte, ihre Gedanken auszusenden – doch sie verloren sich nur im schwarzen Nichts.

»Nein«, wiederholte Ginevra und erhob sich mühsam, um die fliehenden Gestalten der Kidnapper im Auge zu behalten. Nein! Auch wenn sie dabei sterben sollte, so wollte sie es doch versuchen. Carletta und der kleine Eduin durften in dieser schäbigen Schlacht kein Faustpfand werden! Zähneknirschend raffte Ginevra ihr Kleid zusammen und kämpfte sich weiter zwischen den Bäumen hindurch, wobei sie die Gruppe vor ihr nie aus dem Blick verlor.

Aus der Verzweiflung wurde Wut: Wut auf die Dorns und ihre ständigen Streitereien über Gebietsansprüche; Wut auf die Kidnapper, die ihr die liebsten Kinder entführten; Wut aber auch auf sich selbst, weil sie die Kräfte, die sie über lange Zeit trainiert und noch vor wenigen Jahren so geschickt eingesetzt hatte, nicht mehr besaß.

Diese Wut im Bauch schürte einen kleinen Funken, der zur Flamme wurde und sie in ihrer Verfolgung vorantrieb. Noch einmal umschlossen ihre Finger den Sternenstein, so als wollten sie nicht glauben, was Ginevra immer wieder durch den Kopf ging: zwecklos – es ist alles zwecklos, hilflos – ich bin hilflos, hoffnungslos – es ist alles hoffnungslos …

Doch die Wut hielt sie aufrecht. Trotzig schüttelte sie den Kopf. Nein! Das würde nicht geschehen! Es durfte nicht geschehen!

Plötzlich verspürte Ginevra einen Schlag, der sie fast zu Boden riß. Mit einer Hand hielt sie sich den Kopf, mit der anderen suchte sie an einem nahen Stamm Halt. Was …

Ginevra blickte zu dem dunklen Himmel auf, aber die funkelnden Sterne und der Glanz des vierten Mondes verrieten ihr, daß es kein Donner gewesen sein konnte. Ihre Finger glitten abermals über den Sternenstein. Die Energie kam von dort! Sie war vorhanden, zwar schwindend … schlummernd … fast erstorben, wie Ginevra geglaubt hatte, und doch regte sich jetzt ein schwaches Anzeichen.

Ja! Ihre Finger umstrichen den Stein, und sie schloß fest die Augen. Hatte sie noch die Kraft? Könnte sie …?

Nein! Nicht daran denken! Konzentriere dich einfach nur, finde deine Mitte … schüttle alle Sorgen ab, bis nur noch Platz ist für … Laran!

Jetzt konnte Ginevra sie sehen, konnte sie mit Hilfe ihres Larans wahrnehmen: Zwei kräftige Männer und zwei Kinder. Das unschuldige Gesicht des kleinen Jungen, der über die breite Schulter des einen Mannes spähte und dessen große Augen sich trotz der unruhigen Flucht immer wieder schläfrig schlossen. Der andere Mann schleppte das Mädchen, das ältere der beiden Kinder, unsanft über die Schultern geworfen, fort. Ihre Gliedmaßen hingen schlaff herunter. Wie schlaff! Oh, Heilige Avarra, laß ihr nichts zugestoßen sein!

Ginevra kämpfte um jeden Funken an Energie und um die letzte Glut, die sie noch in sich entfachen konnte. Chiya, höre mich, spüre mich! In ihrer Vision sah sie, wie das Kind sich regte, hörte und spürte das Stöhnen und Wimmern, als das Kind wieder zu Bewußtsein kam. Dann herrschte Stille. Kein einziger Laut. Und Dunkel, nichts als tiefschwarzes Dunkel …

Ginevra öffnete die Augen, schloß sie wieder, sie hatte den Kontakt verloren. Wie eine schwere Decke senkte sich Müdigkeit auf ihre Schultern und drückte sie nieder. Der Rapport mit dem Mädchen war abgebrochen.

Aber sie mußte die Kinder finden! Sie mußte es einfach! Wieder biß sie die Zähne zusammen, schürzte ihre Kleider fester an sich und machte sich in die Richtung auf, die das Laran ihr gewiesen hatte.

Ein nutzloses, altes Weib – so werde ich enden! So gut wie kopfblind!

Einige Zeit später konnte Ginevra einen schwachen Lichtschein vor sich ausmachen. Offenbar legten sie eine Rast ein. Schwer atmend näherte Ginevra sich so leise wie möglich dem Feuer, in dessen Widerschein sie die Männer sehen konnte. Diese eingebildeten Mistkerle! Sie waren sich ihrer Sache so sicher, daß sie sich sogar die Zeit nahmen zu rasten und zu essen!

Ginevra schloß die Augen, atmete tief ein und dann ganz langsam wieder aus. Was konnte sie schon ausrichten? Eine Frau, auf sich allein gestellt und nahezu kopfblind, gegen zwei ausgewachsene und bewaffnete Männer! Wenn sie nur ihr Laran einsetzen könnte. Ja, wenn …

Plötzlich durchfuhr es Ginevra. Sie richtete sich auf, streckte ihre verkrampften Glieder und schüttelte mit einer heftigen Kopfbewegung ihre Kapuze ab. Ohne zu zögern zog sie ihren Sternenstein unter der Bluse hervor und hielt ihn in der offenen Hand. Dann trat sie aus ihrem Versteck in den Lichtschein des Feuers, begierig, die Kinder wiederzusehen.

Der kleine Eduin schlief auf einer Decke neben dem Baumstamm, auf dem der schmächtigere der beiden Kerle saß. Neben dem größeren kauerte Carletta einsam und verloren. Ginevra trat noch einen Schritt auf sie zu, wobei sie intensiven Blickkontakt mit dem Mädchen aufnahm. Lies in meinen Augen, Chiya! Dort erkennst du meine Botschaft!

Der größere der Männer stand langsam auf und spuckte verächtlich auf den Boden. Seine braunen Augen erwiderten selbstbewußt und herausfordernd Ginevras Blick. Er grinste seinem Kumpan zu: »Was sagste dazu, Greg! Sieht so aus, als ob wir noch ‘ne Geisel haben! Oder glaubste, die Dame hier sucht nur ein bißchen Gesellschaft?«

»Vorsicht, Dev! Die hat einen Sternenstein. Die ist bestimmt die Leronis des Hauses, Dev!« Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »In Zandrus Namen, Dev, die hat Laran!«

Dev verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, spuckte erneut aus, und blickte dann abwechselnd zwischen Ginevra und seinem Spießgesellen hin und her.

»Ne alte Schachtel wie die, Greg? Du machst wohl Witze!«

»Doch, es stimmt«, piepste eine junge Stimme neben ihm. Carletta stand auf, aber Dev drückte sie sofort wieder unsanft zu Boden.

»Ich bin Ginevra, die Leronis im Hause Dom Lennarts. Im Namen Avarras und Evandas verlange ich die Freilassung der Kinder.« Ihre Stimme klang nicht scharf, aber doch bestimmt.

Dev schaute seinen Kumpan an, der ihm aufgeregt zunickte, doch er wandte sich trotzdem noch einmal überheblich an die Leronis. »Es heißt aber, daß es im Haus von Lennart gar keine Leronis gibt. Früher mal, ja, aber ihre Kräfte sind längst verbraucht und erloschen, sagt man. Wenn du das bist, haben wir jedenfalls nichts zu befürchten, Alte.«

Ginevra trat einen Schritt auf Dev zu und starrte ihm dabei unverwandt in die Augen. »Ich bin Dom Lennarts Leronis. Versuche nicht, dich mir zu widersetzen!«

»Hör schon, Dev! Hör auf sie! Ich, also ich hab’ schon gesehen, was die mit Laran alles …«

»Halt die Klappe! Sei endlich still, damit ich nachdenken kann.« Dev richtete seinen Blick wieder auf die Frau. In seinen Augen funkelte noch immer diese Selbstgefälligkeit. Und doch hatte Ginevra für einen kurzen Augenblick auch bemerkt, wie er zusammenzuckte und zögerte. Sie benetzte ihre Lippen …

KRAK!

Wieder fuhren die beiden Schurken erschrocken zusammen, und diesmal schlug sogar der kleine Eduin die Augen auf.

»Ein Katzenmann«, erklärte Ginevra kühl, »und er gehorcht nur meinem Laran. Solltet ihr euch meinen Forderungen widersetzen, werde ich ihn auf euch hetzen!«

Dev schaute zu seinem bibbernden Komplizen und sah, daß der bereits dabei war, die Fesseln des Jungen zu lösen.

»Tu das nicht! Sie blufft doch nur. Unser Spitzel hat uns doch gesagt, daß sie schon lange keine Gefahr mehr darstellt.«

»Ach ja? Und was war dann, bitte schön, das da – dieser Lärm?«

»Was weiß ich. Irgend etwas. Nur ein Tier – nichts weiter.«

»Nichts weiter, Dev? Nur ein Tier? Das klang verdammt wie ein Katzenmann! Da geh’ ich doch lieber durch Zandrus sieben Höllen!« Und Dev mußte, mit dem Rücken zu Carletta, um das Feuer herumlaufen, um seinen Kumpanen zurückzuhalten.

KRAK! KRAK!

Diesmal klangen die Geräusche noch näher. »Dev! Hast du das gehört, Dev?«

»Ja doch, du Narr. Jetzt laß mich schon los!«

Ginevra, die zuvor Blickkontakt mit dem Mädchen gehalten hatte, starrte jetzt Dev so durchdringend wie nur möglich an. »Wünscht ihr eine kleine Kostprobe meiner Macht?«

»NEIN!«

»Ja.«

Die beiden Männer warfen einander wütende Blicke zu, aber dann wiederholte Dev, wieder an die Leronis gewandt, ruhig sein »Ja!«

Ginevra senkte ihren Blick auf den Sternenstein. »Tod dem Mädchen«, befahl sie leise. »Der Tod ist dem Schicksal, das sie bei Euch zu erwarten hat, vorzuziehen.«

Und Stille umgab die kleine Gruppe, wenn auch nur für kurze Zeit. Dann ertönte ein erstickter Schrei! Er kam von Carletta, die zusammensackte und zur Seite fiel; zwischen ihren Lippen quoll Blut hervor und hinterließ eine scharlachrote Spur.

»Nein!« Eduin versuchte verzweifelt, seine Schwester zu erreichen, konnte sich aber nicht von seinen Fesseln befreien.

»Das gleiche kann ich mit dem Katzenmann machen«, erklärte Ginevra ruhig. »Aber das werde ich erst tun, wenn ihr mir den Jungen ausgehändigt habt. Sonst werde ich ganz einfach auch ihn töten. Was würde wohl euer Herr und Meister, der gute Dom Arran, dazu sagen, wenn ihr ihm die Kinder tot brächtet? Schon möglich, daß er wütend genug wäre, euch töten zu lassen. Oder vielleicht tue ich das ja selber? Aber … nein. Ich habe es dem Katzenmann versprochen!«

Jetzt reichte es auch Dev; willenlos ließ er sich von Greg fortzerren. Wenig später konnte die Leronis in der Ferne das Wiehern ihrer Reittiere und das immer schwächer werdende Hufgetrappel hören. Mit einiger Genugtuung dachte Ginevra daran, was die beiden von ihrem Herrn zu hören bekommen würden, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrten.

Es dauerte noch eine Weile, bis das Wimmern des kleinen Jungen Ginevra voll ins Bewußtsein drang. »Ach, Chiyu!« Sie eilte an seine Seite, um ihn zu befreien.

»Sind wir jetzt in Sicherheit, Ginevra?« fragte die andere junge Stimme.

»Aber ja, Chiya. Ganz gewiß.«

Sie schaute zu dem Mädchen, und dort sah sie nicht etwa ein schmutziges und müdes Kind, sondern eine aufgeweckte junge Persönlichkeit, bald schon erwachsen, die eines Tages sehr gut allein zurechtkommen würde.

»Aua!« jammerte das Mädchen noch ein wenig. »Hätte ich mir bloß nicht ganz so fest auf die Lippe gebissen!«

»Aber wenn du das nicht getan hättest, Chiya, dann hätten sie uns doch nicht geglaubt!« Sie half Carletta auf und umarmte dann beide Kinder. »Und dank dir schön, daß du so schnell reagiert hast und die Steine geworfen hast, als dieser Kerl dir den Rücken drehte. Das klang täuschend echt nach den Schritten eines Katzenmanns!«

KRAK! KRAK!

Das Mädchen lachte. »Ich danke dir, denn du bist die geschickteste Leronis, die ich kenne!«

Ginevra seufzte. Es war ganz egal, was sie war. Ihre Lieblinge waren in Sicherheit – und nur das allein zählte!