DEBORAH WHEELER

 

Die Bewahrerin

 

Wie es der Zufall so will, handelten gleich mehrere von den vielen Geschichten, die ich dieses Jahr erhielt, von Varzil, der den Beinamen ›der Gute‹ trägt – eine Figur, die ich selbst in Die Zeit der hundert Königreiche verwendete und auf die ich vielleicht eines Tages wieder zurückgreifen werde. Drei der Geschichten habe ich schließlich für diese Anthologie ausgewählt.

Deborah ist eine der ersten Autorinnen, die ich entdeckt habe, und außerdem eine der besten. Sie lebt in Südkalifornien, zusammen mit einem Rolfing-Therapeuten, einem Doktor der Laserspektroskopie sowie Sarah und Rose, die ich beide zu meinen ›Ehrenenkelinnen‹ ernannt habe. Ihr SF-Romane Jaydium erschien im Mai 1993.

Ich rechne es mir als Ehre an, Deborahs erste Geschichte abgedruckt zu haben; inzwischen hat sie zahlreiche Veröffentlichungen vorzuweisen. Und darauf bin ich nicht weniger stolz, als wenn ich diese Geschichten selber geschrieben hätte.

 

 

 

Als sich der Leichenzug langsam auf Hali zubewegte, dachte Asharra Alton, daß es keinen merkwürdigeren Tribut und geeigneteren Platz für Varzil den Guten gäbe als diesen geheimnisvollen Wolkensee, den er selbst geschaffen hatte. Die Hälfte der Türme Darkovers hatte ihre Bewahrer entsandt, um Varzil zu ehren, und jetzt trugen sie zu dem feierlichen, gemessenen Rhythmus der Totenklage seinen in Seide gehüllten Leichnam an jenen ehrwürdigen Ort, den rhu fead, wo seine sterblichen Überreste zusammen mit den anderen heiligen Grabbeigaben bis zum Ende der Zeit ruhen sollten. Einige ließen ihren Tränen freien Lauf, andere verbargen ihren Schmerz hinter versteinerten Gesichtern. Die meisten der großen Lords hatten ihre Fehden für die Zeit der Trauer ausgesetzt. Mit seiner Weisheit hatte Varzil sie alle bewegt – er hatte nicht nur die Wunden des Kriegs und Chaos geheilt, sondern auch die verheerenden Auswirkungen des großen Kataklysmus, der den See zerstört hatte, behoben.

Ich hätte nicht geglaubt, daß ich ihm so bald nachfolgen sollte. Asharra hüllte sich noch tiefer in ihr Trauergewand, als sie auf der ihr angemessenen Position als Unterbewahrerin des Turm von Neskaya in der Prozession entlangschritt. Die meisten hielten sie für ein zierliches Wesen, kaum größer als ein Kind, mit zarten Gesichtszügen und Augen, die so blaß waren, daß sie fast farblos wirkten. Aber Varzil hatte hinter der zerbrechlichen äußeren Erscheinung ihre wahre Natur erkannt. »Körperlich magst du klein sein, aber dein Geist ist reinstes blaues Feuer«, hatte er ihr erklärt, als sie das erste Mal nach Neskaya kam.

Als Asharra sich jetzt wieder daran erinnerte, stolperte sie auf dem matrixgeglätteten Pflaster. Ihr Herz quoll über vor Schmerz – eine Last, die zu schwer war zu ertragen. Doch dieser Anflug von Schwäche verging rasch. Asharra konnte sich auf die Ausbildung stützten, die Varzil ihr, und nur ihr allein, erteilt hatte, damit sie ihr Versprechen erfüllen konnte: Asharra sollte als erste Frau Bewahrerin von Neskaya werden.

»Die anderen Bewahrer werden dich bekämpfen«, hatte Varzil sie gewarnt. »Du mußt dich ständig darauf vorbereiten, noch viel stärker als sie zu sein, und darfst niemals Rücksicht zeigen.«

Ich bin deine Nachfolgerin, Varzil, und was immer sie auch unternehmen mögen, nichts wird mich davon abbringen!

 

Am Abend nach Varzils Begräbnis kamen alle anwesenden Mitglieder der Türme, angefangen vom ältesten Bewahrer bis hin zum jüngsten Novizen, in der großen Halle von Hali zusammen. Asharra, die bei den anderen aus Neskaya saß, hielt die Augen gesenkt, aber ihre Nerven erzitterten unter dem Eindruck der hier versammelten Laran-Kräfte. Tief in ihrem Innersten spürte sie, wie sich etwas schmerzlich regte, das diese Kräfte bündeln und ihrem Willen unterwerfen wollte. Genau dieser Instinkt, so hatte Varzil vorausgesagt, würde sie eines Tages zur Bewahrerin machen, und zwar zu einer der mächtigsten in der Geschichte Darkovers.

Arnad Delleray, Bewahrer von Arilinn, erhob sich. Das Fackellicht schimmerte auf seinem Silberhaar. Er war der älteste noch lebende Bewahrer und hatte am erbittertsten gegen Varzils Vorhaben gekämpft, Frauen zu Bewahrerinnen auszubilden. Als er sich nun an die Versammlung wandte, verriet er nicht die geringste Spur von Trauer. Die offiziellen Ehrbekundungen waren vorüber, die Trauerfeierlichkeiten abgeschlossen. Jetzt erinnerte Arnad die Anwesenden an die einzigartige historische Bedeutung dessen, was sie hier zu entscheiden hatten. Traditionsgemäß wählte jeder Bewahrer seinen eigenen Nachfolger schon zu Lebzeiten aus, prüfte ihn auf seine Befähigung und bildete ihn dann aus.

Genau so, wie Varzil mich ausgebildet hat! dachte Asharra.

»Es liegt an uns, als vereinigter Rat der Türme zu handeln und einen neuen Bewahrer für Neskaya zu wählen«, schloß Arnad derweil seine Rede.

Ellimara Aillard vom Corandolis-Turm stand auf, und im Saal entstand eine gewisse Unruhe, als sich alle zu ihr umwandten. Ellimara war nicht nur Bewahrerin, sondern auch Comynara von Geburt; keiner würde es wagen, ihr das Rederecht streitig zu machen. »Es ist allgemein bekannt, daß Varzil nur eine einzige Unterbewahrerin gewählt und ausgebildet hat. Ganz gewiß wollte er, daß sie seinen Platz einnimmt. Es wäre anmaßend, wenn irgend jemand von uns diese Entscheidung in Zweifel ziehen wollte.«

Überall im Saal begann man zu tuscheln. Mit Hilfe ihres Larans konnte Asharra einige der geflüsterten Kommentare aufschnappen: »Das kann sie nicht im Ernst meinen …«

»Was hast du denn erwartet? Schließlich ist sie auch eine Frau.«

»Jawohl, die einzige Bewahrerin – und das wird auch so bleiben, wenn du mich fragst!«

Arnad brachte mit einem einzigen strengen Blick die Versammlung wieder zum Schweigen. »Wer wünscht zu diesem Punkt das Wort?«

»Ich«, rief Mikhail Storn-Aillard, Bewahrer des Comyn-Turms, und sprang auf. Er trug sein dunkelrotes Haar in langen Locken, die ihm über die Schultern fielen und zusammen mit seinem Bart sein Gesicht eindrucksvoll umrahmten. »Varzil war ein Vorkämpfer, der stets alles in Frage stellte und Neues ausprobierte. Wer sonst hätte die Auswirkungen des Kataklysmus abwenden und den See wiederherstellen können? Wer sonst hätte die mächtigen Lords zu Friedensverhandlungen zusammenbringen können? Doch Varzil wußte auch, daß nicht jedes Experiment erfolgreich verläuft und daß es Zeit braucht, bis sich neue Ideen durchsetzen. Und dazu gehört auch die Ausbildung von Frauen zu Bewahrerinnen. Meine Cousine Ellimara«, spielte er auf ihre entfernte Verwandtschaft an, »ist der lebende Beweis, daß eine Frau dieses Amt ausüben kann. Aber nur weil eine Frau ausreichend begabt ist, bedeutet das noch lange nicht, daß alle Frauen dazu befähigt sind. Aber wir sind nicht hier versammelt, um über die Rolle aller Frauen zu diskutieren.« Er atmete noch einmal tief ein und plusterte seinen ohnehin beträchtlichen Brustkorb gehörig auf. »Wir sind hier versammelt, um zu entscheiden, wer Neskaya am besten als Bewahrer dienen kann.«

Das Echo auf Mikhails Rede war so stark, daß Arnad seine Stimme laut erheben mußte, um die Versammlung zur Ordnung zu rufen. Überall waren Leute aufgesprungen und warteten darauf, daß ihnen das Wort erteilt würde. Auch Asharra gehörte zu ihnen. Sie hielt sich mit erhobenem Kinn stolz aufrecht. Arnads Blick ruhte eine ganze Zeit lang auf ihr, doch dann wandte er sich um und nickte einem der Überwacher aus Arilinn zu.

Asharra ballte die Hände zu Fäusten, als sie sich wieder setzte. Es war klar, daß man ihr nicht gestatten würde zu sprechen.

Geschweige denn, daß sie mir glauben würden, ganz egal, was ich auch sage.

Immer deutlicher wurde ihr bewußt, wie vergeblich ihre Sache stand, als sie der Diskussion über mögliche Kandidaten folgte. Einige von den Genannten besaßen weit weniger Training als sie, und keiner hatte direkt mit Varzil zusammengearbeitet.

Asharra schaute die anderen Arbeiter aus Neskaya an und erschrak. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein, nicht früher zu erkennen, was da auf ihren Gesichtern geschrieben stand: die Angst vor der Veränderung – und der verzehrende Neid darauf, daß man ihr, Varzils Liebling, die wichtigste Aufgabe übertragen könnte, während sie selbst übergangen wurden.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Debatte. Der Turm in Tramontana hatte mehrere Unterbewahrer, darunter auch einen Mann, der dem Alter nach schon längst die Bewahrerwürde tragen sollte. Corus MacAran stammte aus guter Familie, und Mikhail Storn-Aillard verbürgte sich für dessen Kompetenz.

Asharra konnte es kaum glauben. Sie hatte Corus ein oder zweimal vorher getroffen und hielt ihn für äußerst ehrgeizig, aber mehr als an ihrem Laran schien er daran interessiert gewesen zu sein, sie beim Mittsommerfest in sein Bett zu bekommen. Und er war noch nicht einmal anwesend – aus Tramontana oder Dalereuth hatte es keiner geschafft, die lange Reise rechtzeitig anzutreten.

Sie ziehen einen Mann, den sie nicht einmal gesehen haben und befragen können, einer Frau vor, die hier direkt vor ihnen, steht und bereit ist, sich jeder ihrer Prüfungen zu unterziehen.

Asharra konnte nicht länger schweigen. Sie sprang erneut auf, und es kostete sie einige Mühe, die Fassung zu wahren und ein Zittern zu unterdrücken. Ihr mächtiges Laran ließ sie wie eine aktivierte Matrix sanft erglühen, auch wenn sie selbst dies nicht wahrnahm. Alle im Saal verstummten und starrten sie an.

»Das kann ich nicht zulassen«, erklärte Asharra mit klarer, heller Stimme. »Die Wahrheit muß gesagt werden.« Sobald sie einmal begonnen hatte zu reden, schienen ihr die Worte wie von selbst zuzufliegen. Ihr Zittern ließ nach.

»Varzil weilt nicht länger unter uns, um Euch sein€ Wünsche mitzuteilen. Was immer Ihr auch glauben mögt, es war seine Absicht, daß ich nach ihm Bewahrerin von Neskaya werde. Wenn dies aber nicht geschehen sollte, so muß ich die Entscheidung dieses Rates akzeptieren und so gut ich kann auf andere Weise dienen …« Sie unterbrach ihre Rede, und ihre bleichen Augen sprangen aufgeregt von einem Gesicht zum nächsten. »Dienen – ja, aber nicht unter Corus MacAran! Zum Unterbewahrer mag er durchaus befähigt sein, aber er hat keine Ahnung von dem, was Varzil in Neskaya zu erreichen versuchte. Und überhaupt – hätte er wirklich das Zeug zu einem Bewahrer, dann hätte man ihn doch schon längst in seinem eigenen Turm dazu gemacht!«

Nun sprang Mikhail auf, und seine Stimme donnerte durch die Halle. »Kann es jetzt noch irgendeinen Zweifel geben, daß diese Frau völlig ungeeignet ist, Bewahrerin zu sein?«

Im Handumdrehen wurde Corus MacAran als neuer Bewahrer von Neskaya bestätigt. Mittels der Matrix-Relaisstationen würde man ihm mitteilen, daß er sofort aufbrechen solle.

Raimond Lindir, der Bewahrer von Hali, meldete sich zu Wort. Beim Anblick des hochgewachsenen, hageren Mannes mit der hellen Haut konnte man leicht auf den Gedanken kommen, daß in seinen Adern das Blut der Chieri floß. Asharra kannte ihn von der Arbeit in den Relais, und sie hatte dabei immer seine Gelassenheit und Tüchtigkeit bewundert. »Wir können es uns nicht leisten, auf eine so hohe Laran-Begabung wie Asharras einfach zu verzichten. Mit dem richtigen Training könnte sie noch viel für uns erreichen. Und wenn irgendwelche Schwierigkeiten bestehen, daß sie unter Corus MacAran in Neskaya weiterarbeitet, dann kann sie hier bei uns in Hali bleiben.«

»Wir haben aber außer ihr keinen weiteren Unterbewahrer«, schaltete sich einer der Techniker aus Neskaya ein. »Wenn wir jetzt auch noch Asharra verlieren, sind wir hoffnungslos unterbesetzt.«

»Dann wirst du nach Neskaya zurückkehren und dort unter deinem neuen Bewahrer dienen«, befahl Arnad von Arilinn ihr streng. »Und damit genug von deinen kindlichen Flausen oder heimlichen Ambitionen. Hast du mich verstanden?«

Asharra verneigte sich in demonstrativer Unterwürfigkeit. Jedes weitere Wort würde sie nicht nur um ihre Stellung in Neskaya bringen, sondern auch um die Möglichkeit, je wieder in einem Turm arbeiten zu können.

Varzil, ich werde deinen Traum nicht verraten! Ich werde einen Ausweg finden. Das schwöre ich dir!

 

Sobald er sich im Neskaya-Turm eingerichtet hatte, ließ Corus MacAran Asharra in sein Laboratorium rufen, das er für seine privaten Forschungen übernommen hatte. Sie erwartete eine schwierige Unterredung, aber zu ihrer Überraschung zeigte er sich höflich, ja fast umgänglich. »Du bist eine der fähigsten Matrixarbeiter, und ich brauche dich für mein Sonderprojekt.«

»Ich bin aber schon dazu eingeteilt, die neuen Techniker an den Relais zu überwachen«, versuchte Asharra vorsichtig einzuwenden.

»Das kannst du ruhig vergessen. Das ist reine Routinearbeit! Ich werde jemand anderes dazu bestimmen. Ich möchte, daß du diesen Abschnitt übernimmst.« Dabei wies er auf einen Tisch, auf dem sich zahlreiche Pläne und Entwürfe stapelten.

Da ihre Neugierde geweckt war, beugte sich Asharra über das oberste Diagramm. Sie konnte zwar die altertümlichen Zeichensysteme einigermaßen gut entziffern, hatte aber bisher noch nie etwas derartiges gesehen. Es schien sich dabei um die Teilbeschreibung einer größeren Vorrichtung zu handeln.

»Was ist das?« wollte Asharra wissen.

»Nun, das wirst du schon noch sehen, wenn es soweit ist«, entgegnete Corus. Die Schärfe in seiner Stimme verriet ihr, daß es nicht ratsam war, zu viele Fragen zu stellen, wollte sie nicht schon bald wieder aus dem Projekt ausgeschlossen sein.

Varzil hätte mich nicht so wie ein Kind behandelt, dachte sie bei sich, während sie gehorsam den Kopf neigte. Und es wird der Tag kommen, an dem auch du dies nicht mehr wagst.

 

Asharra saß allein im Dunkeln, unempfänglich für alle äußeren Einflüsse, so kalt und regungslos wie die blanken Steine der Wände in ihrer engen Kammer. Die Wohnquartiere des Turms lagen still, alle schliefen. Nur Asharra hielt die selbst auferlegte Nachtwache und unterzog sich den strengen Konzentrationsübungen, die ihr Varzil beigebracht hatte.

Zunächst reagierte Asharra auf das Klopfen an der Tür nicht. Dann blinzelte sie, ließ ihren Körper wieder voll zu Bewußtsein gelangen, erhob sich aus der Meditationshaltung und ging zur Tür. Bellisma, die junge Novizin, die mit ihr an Corus’ Projekt arbeitete, stand vor ihr und zitterte so heftig, daß von der Kerze in ihrer Hand Wachs auf den Steinfußboden tropfte. In ihrem erhöhten Wahrnehmungszustand erkannte Asharra sofort, daß die Energiekanäle im Körper der jungen Frau angeschwollen waren. »Heilige Cassilda steh uns bei, was ist dir zugestoßen?«

»Ich …« Bellisma sackte lautlos zusammen. Asharra fing sie auf und zog sie zu ihrem Bett. Die Kerze fiel dem Mädchen aus der Hand und verlöschte, aber Asharra brauchte kein Licht. Sie beugte sich über die fast Bewußtlose und strich mit ihren Händen über Bellismas Leib. Die verstopften Kanäle pulsierten und erglühten in einem matten Dunkelrot. Bellismas Herzschlag flatterte wie der eines eingesperrten Vogels.

Asharra preßte die Lippen zusammen. Sie wußte, was geschehen war. Bellisma ist ein hübsches Mädchen und für ihr Alter körperlich reif und gut entwickelt. Asharra hatte bemerkt, wie begehrlich Corus sie betrachtete, hatte auch gehört, wie er davon sprach, welch eine Verschwendung es sei, auch dann zölibatär leben zu sollen, wenn man gerade nicht an den großen Energonringen arbeitete. »Das ganze Gerede davon, sich ›um der höheren Einsicht willen rein zu halten‹, ist doch der reinste Aberglauben«, hatte er gespottet.

Durch die erwachende Sexualität des Mädchens wurden jetzt genau jene Kanäle blockiert, die ihr Laran transportieren sollten. Die mächtigen Energien, an ihrem natürlichen Fluß gehindert, drohten nun, lebenswichtige Organsysteme übermäßig zu belasten. Im Augenblick war Bellisma nur krank, aber sollte sie versuchen, in diesem Zustand zu arbeiten, dann …

Asharra war insgeheim dankbar, daß ihre kindliche Erscheinung sie vor den meisten Annäherungsversuchen bewahrte; sie schätzte sich glücklich, daß ihre Periode noch nicht eingesetzt hatte und auf Grund ihres rigorosen Trainings vielleicht nie kommen würde.

Die blockierten Kanäle des Mädchens zu reinigen, war eine einfache Aufgabe, die jede ordentlich ausgebildete Überwacherin erledigen konnte. Aber Asharra wußte, daß damit das Problem nicht aus der Welt geschafft war. Die eiserne Disziplin, die Varzil dem Turm abverlangt hatte begann zu bröckeln. Es war kein Wunder, daß Bellisma bei ihr und nicht bei ihrem Bewahrer Hilfe gesucht hatte

Ich darf das Leben dieses Kindes nicht aufs Spiel setzen, dachte Asharra und war sich dabei bewußt, daß sie damit die Verantwortung einer Bewahrerin auf ihre Schultern lud. Varzil hatte ihr gezeigt, wie man Laran auf Dauer umleiten könne, hatte sie aber gleichzeitig davor gewarnt, dies nur im allerdringlichsten Notfall zu versuchen.

Als Asharra schließlich fertig war, pulsierten Bellisma Kanäle wieder so rein und regelmäßig wie bei einem Kind. Jetzt mußte man ihr nur noch beibringen, jede Form der sexuellen Erregung zu vermeiden, so daß selbst eine bewußt erotisch gemeinte Umarmung ihr kaum prickelnder und reizvoller erscheinen würde als drei Tage alter, abgestandener Haferbrei.

Ich hatte keine andere Wahl, sagte sich Asharra. Varzil hätte mich verstanden.

Bellisma drehte sich murmelnd zur Seite und schlief sofort ein. Lächelnd streckte sich Asharra neben ihr auf dem Bett aus, und so lagen sie dort beieinander, Seite an Seite, keusch wie das Mondlicht.

 

Asharra blieb oft länger im Laboratorium, wenn die Techniker schon gegangen waren, um die Schaltungen und ungewohnten Anordnungen der Batterien zu überprüfen. Die Überwacher des Turms bestanden darauf, sie regelmäßig zu untersuchen, da sie sich darüber Sorgen machten, mit wie wenig Schlaf und Nahrung Asharra auskam, aber sie überraschte sie immer wieder mit ihrem anhaltend guten Gesundheitszustand. Manchmal benahmen sich die Überwacher, als ob die gesamte Belegschaft des Turms intensiver Pflege bedürfe. Aber Asharra sorgte sich um andere Dinge.

Allmählich nahm die Vorrichtung Gestalt an, doch noch immer konnte Asharra nicht erkennen, wozu sie dienen sollte. Die Laran-Batterien waren auf merkwürdige Art miteinander verbunden; sie waren eindeutig nicht dazu bestimmt, eine gewöhnliche Speicherfunktion zu übernehmen. Asharra konnte Mechanismen zur Übermittlung kurzer, äußerst kräftiger Energiestöße ausmachen – aber zu welchen Zweck? Als sie Corus erneut danach fragte, wies er sie ab; ebensowenig wollte er verraten, woher er die Pläne habe oder für wen dieses Projekt bestimmt sei.

Eines Abends saß Asharra noch spät auf und versenkte sich in die Pläne des fast fertiggestellten Geräts. Irgend etwas ließ ihr keine Ruhe. Jetzt, da die Grundkonstruktion vor ihr stand, erkannte sie, daß sie so etwas irgendwo schon einmal gesehen hatte. Vor ihrem geistigen Auge entstand ein Bild, eine Aufzeichnung aus jenen Tagen, als die Türme den großen Lords der Domänen dienten und schreckliche, Laran-gesteuerte Waffen herstellten: Haftfeuer, Knochenwasser und viele mehr.

Eine Waffe? Ist es möglich, daß Corus den Auftrag zum Bau einer Waffe angenommen hatte – ausgerechnet hier, in Varzils Turm?

Asharra zwang sich, ruhig zu bleiben, als sie die Pläne zusammenpackte und damit den Korridor zu Corus’ Privatgemach entlangschritt. Die feine Verästelung eines Laran-Strahls zeigte ihr an, daß er anwesend war und noch nicht schlief. Sie klopfte, und gleich darauf öffnete sich die Tür.

»Asharra … es ist schon spät«, wunderte sich Corus und trat einen Schritt zurück, um sie einzulassen. Mit einem Blick erkannte Asharra, wie die Kanäle seines Unterleibs rot anschwollen. Welche Gedanken ließ er nur zu, die ihn derart erregten?

»Corus, ich muß mit dir sprechen.« Sie hielt ihm die Pläne entgegen. »Ich muß wissen, was das hier ist und wozu es eingesetzt werden soll. Das ist doch eine Waffe, oder?«

Corus drehte ihr den Rücken zu, durchschritt den Raum und setzte sich in seinen großen Polstersessel. »Ich habe gewußt, daß ich ein Risiko eingehe, wenn ich dich in das Projekt miteinbeziehe. Aber ich habe geglaubt, du würdest dich schon noch beruhigen … Geh schlafen, tu deine Arbeit und überlasse Entscheidungen denen, die mehr davon verstehen.«

»Es ist eine Waffe«, wiederholte Asharra ruhig.

Er fixierte sie, und seine Augen blitzten im Kerzenschein. »Asharra, ich warne dich! Du brauchst darüber nicht mehr zu wissen.«

»Welche Art von Waffe?«

Corus schlug mit einer Handfläche auf die Sessellehne und sprang auf. »Und wenn ich es dir sagen würde, was würdest du mit dieser Information tun? Welchem Ziel würdest du dienen? Von der Welt außerhalb der Türme hast du doch keine Ahnung! Und vergiß nicht: Ich bin dein Bewahrer, und nicht umgekehrt!«

»Varzil war mein Bewahrer!«

Corus schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht und brachte sie zum Taumeln. Die Flut seiner Gedanken, möglicherweise noch angefeuert durch die unterdrückte sexuelle Energie, schäumte und kochte förmlich über. Unwillkürlich öffnete Asharra sich dem Gedankenstrom und fing bruchstückhaft ein Bild auf. Schockiert riß sie die Augen auf.

Eine Kataklysmus-Apparatur, genau wie jene, die den See von Hali zerstörte!

»Nein!«, schrie sie entsetzt. »Das darfst du nicht tun! Ich werde die anderen Türme warnen!«

»Wer wird dir schon glauben? Niemand hegt auch nur den geringsten Verdacht. Die eine Hälfte der Vorrichtung ist hier, die andere befindet sich noch immer sicher in Tramontana. Und wenn wir sie nicht bauen, werden es andere tun, die keine Skrupel bei ihrer Anwendung haben werden!«

Asharra erhob sich vom Boden, hielt die Pläne fest umklammert und entgegnete bestimmt: »Eher werde ich das bisher Gebaute vernichten, bevor ich zulasse, daß eine solche Zerstörungskraft entfesselt wird.«

»Du bist unfähig, den wahren Sinn in dieser Angelegenheit zu erkennen!« Corus stürmte auf sie zu, so als ob er sie noch einmal schlagen wollte. »Du wirst augenblicklich den Turm verlassen, und bis du das Tor passiert hast, wird jeder deiner Schritte überwacht. So lautet mein Befehl als Bewahrer dieses Turms. Ich werde deine ständige Fragerei und Aufsässigkeit nicht länger dulden! Wenn es das ist, wozu dich Varzil ermuntert hat, dann ist es nur gut, daß er tot ist!«

Asharra bebte vor Zorn, als er ihr die Pläne aus den Fingern riß. Mit einem Mal durchzuckte sie die Versuchung, ihn mit ihrer Alton-Gabe anzugreifen und ihn zu zwingen, seine Gedanken vor ihr bloßzulegen. Aber das käme einer Vergewaltigung gleich, würde allem widersprechen, was Varzil sie gelehrt hatte und woran sie glaubte. Also widerstand Asharra dieser Gefühlsregung. Auch jetzt bewährte sich Varzils Vorbild.

Sie ließ es geschehen, daß man sie zu ihrem Zimmer brachte, wo sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackte. Bereits eine Stunde später saß sie, eingehüllt in einen dicken Reisemantel, auf einer alten, klapprigen Stute. Kein Luftzug regte sich, nur der Boden war mit einer feinen Schicht frisch gefallenen Schnees bedeckt. Ein paar Wolken glitten über den nächtlichen Himmel, getaucht ins sanfte Licht dreier Monde.

Asharra hielt den Kopf hoch erhoben. Corus mochte glauben, er könne sie demütigen, indem er sie unter völliger Mißachtung ihres Ranges und Standes mitten in der Nacht allein und ohne würdige Begleitung davonjagte. Er mochte glauben, sie würde zu ihrer Familie zurückkriechen, um dann an irgendeinen Emporkömmling verschachert zu werden, der so darauf erpicht war, bei den Altons einzuheiraten, daß er selbst sie noch nehmen würde.

»Nein«, schwor sie sich insgeheim, »ich werde nicht nach Armida zurückkehren, sondern nach Hali gehen, so wie Raimond Lindir es mir angeboten hat. Was immer geschehen mag, Varzils Traum darf nicht sterben!«

 

Vor Kälte und Erschöpfung wie betäubt stand Asharra eine Stunde nach Sonnenuntergang vor den Toren Halis. Sie brauchte einige Zeit, um die Kraft zu finden, an der Klingelschnur zu ziehen. Auf ihrem beschwerlichen Weg hatte es Tage gegeben, da nur die Wut auf Corus MacAran und die anderen Narren sie aufrecht hielt und vorantrieb. Die letzten Meilen war sie zu Fuß gegangen, nachdem ihr Klepper zusammengebrochen war.

Jetzt reckte sie ihr zierliches Kinn in die Höhe und sprach zu dem verschlafenen Türsteher. »Ich bin Asharra Alton, Unterbewahrerin vom Neskaya-Turm, und ich bin gekommen, um auf Einladung von Raimond Lindir hier zu dienen.«

Die fürsorgliche Frau, die den Haushalt in Hali leitete, brachte Asharra ohne viel Umschweife in einen geheizten Raum, versorgte sie reichlich mit Essen und steckte sie dann unter drei Daunendecken ins Bett, ohne auch nur ein Wort der Erklärung hören zu wollen.

Während Asharra schlief, schweiften ihre Gedanken im formlosen Grau der Oberwelt umher. Hier spürte sie keinen Schmerz, keinen Hunger oder Durst, keine Mattigkeit der Glieder. Ihr Körper erschien ihr so leicht wie eine Feder. In einiger Entfernung sah sie eine menschliche Gestalt, die ihr nur zu vertraut war, die sich aber von ihr fortbewegte.

Sie erkannte Varzil sofort.

Es war immer gefährlich, sich in der Oberwelt aufzuhalten, besonders dann, wenn man erschöpft und von Sorgen erfüllt war. Asharra sehnte sich danach, Varzil zu folgen, bei ihm zu sein, sein Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören – und sei es auch ein letztes Mal. Aber sie wußte auch, daß sie vielleicht auf ewig in der Oberwelt umherirren würde, wenn sie versuchte, ihm zu folgen. Nur mit ihrer letzten Willenskraft hielt sie sich zurück. In ihrer Verzweiflung stellte sie sich vor, wie eine blaue Flamme sie umgab und von jeglicher Versuchung abschirmte. Feuerwände aus kaltem Azur loderten um sie herum und verfärbten sich bei jedem Aufflackern noch tiefer. Asharra klammerte sich an sie, so als ob sie mit ihrer frostigen Schönheit verschmelzen könne. Im nächsten Augenblick war Varzils Gestalt ihrem Blick entschwunden. Sie glitt zurück in ihren Körper.

 

Am nächsten Morgen wurde Asharra offiziell von Raimond Lindir empfangen. Er vertraute ihr an, daß die Straßen derzeit wieder unsicher waren, da die Hastur-Lords bereits wieder Rebellion und Kriegsgeschrei verbreiteten. »Ich hätte nicht gedacht, Euch hier so bald begrüßen zu können«, setzte er dann ohne die leiseste Gefühlsregung hinzu. »Aber Neskayas Verlust ist unser Gewinn.«

»Ich werde alles tun, um mich Eures Vertrauens würdig zu erweisen«, erwiderte Asharra.

»Welche Gründe Corus auch sonst noch gehabt haben mag, Euch zu entlassen, so kann ich doch nicht leichtfertig den offensichtlichen Ungehorsam übersehen. Ihr werdet Euch das Recht auf Eure vorherige Stellung erst verdienen müssen. Ich kann Euch nur den Status eines Technikers einräumen.«

Asharras Gesichtsausdruck blieb unbewegt. Was hatte sie anderes erwarten können? Und immerhin hatte Raimond davon gesprochen, das sie ihr Recht verdienen konnte. So sollte es denn sein! Sie würde ihm schon beweisen, was für einen Bewahrer Varzil aus ihr gemacht hatte!

 

In den folgenden Tagen kam Asharra wieder zu Kräften, mit denen sie dann sogleich alle Aufgaben anging, die man ihr zuteilte. Erstmals seit Varzils Tod begann sie daran zu glauben, daß auch sie glücklich werden könne. Raimond Lindir war ein ganz anderer Bewahrer als Corus. Er verschwendete keine Zeit, indem er sich von Gefühlen ablenken ließ, und Asharra konnte nie auch nur die geringste Regung eines sexuellen Interesses bei ihm feststellen. Man hätte glauben können, er sei nach der alten Tradition zum Emmasca gemacht worden.

Asharra blieb oft bis spät in die Nacht auf und praktizierte Varzils Atemübungen, mit denen sie sich in Trance versetzen konnte. Um dabei einen unkontrollierten Energieabfluß zu vermeiden, hatte sie um ihren Raum eine Laran-Barriere errichtet.

Eines Abends – Asharra befand sich nun schon seit ein paar Monaten in Hali – schien alles friedlich, bis plötzlich eine aufgeregte Stimme auf dem Flur laut wurde. Asharra war sofort hellwach, griff nach einem dicken Wollschal und riß die Tür auf. Cheria, eine der jungen Überwacherinnen, stürzte auf sie zu. Die Haare hingen ihr aufgelöst über die Schultern, ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet.

»Asharra!« stieß sie hervor. »Komm schnell – Ihr müßt uns helfen!« Sie schaute sich noch einmal verzweifelt um, während sie schon zum nächsten Zimmer fortstürmte und dort um Hilfe flehte.

Asharra überlegte kurz, dann weckte sie ihre Laran-Kräfte. Mit ihren nun gesenkten Barrieren konnte sie wahrnehmen, wie Raimonds geschliffener Geist den Turm in einem Kreis zusammenrief.

Sie war kaum ein paar Schritte den eisigen Korridor entlanggeeilt, als ein unmenschlich starker mentaler Energiestoß sie gegen die Wand schleuderte. Asharra taumelte und konnte sich kaum auf den Füßen halten.

Heilige Cassilda! Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie etwas derartiges verspürt – Laran ohne das geringste Anzeichen einer menschlichen Regung, sondern eine abnorme Deformation der Urkräfte, die die Materie zusammenhielten. Asharra rappelte sich auf und eilte weiter.

Mit vor Konzentration angespannter Miene beugte sich Raimond über den großen Matrixschirm, der das Herz von Hali ausmachte. Bleich und gespenstisch in seinem blauen Widerschein saßen die Unterbewahrer, Techniker und Überwacher um ihn versammelt. Asharra schlüpfte in den Kreis, nahm Raimond gegenüber Platz, und ergriff die Hände ihrer beiden Nachbarn.

Ohne Vorwarnung verformte sich das übersinnliche Gedankengewölbe des Kreises, gerade so, als ob die Natur selbst entwurzelt wäre. Es preßte Asharra die Luft aus ihren Lungen, und ihr wurde schwarz vor Augen. Steinwände barsten: der Turm schien in seinen Grundfesten zu erzittern!

Mit einigen gezielten Atemzügen gelang es Asharra, ihren Körper in Trance zu versetzen. Einen Augenblick lang schwebte sie über dem Turm von Hali. Von dort schaute sie auf ihn und den schimmernden See hinab, sah auch das Dorf, wo überall Feuer ausgebrochen waren und Männer wie aufgescheuchte Insekten umhereilten, um sie zu löschen. Dann wandte sie ihren Blick in die Ferne; die Farben verschwammen zu Schatten. Dort loderte der Turm von Neskaya wie eine Höllenfackel.

Ein Blitzstrahl schoß aus dem Turm und richtete sich gegen Thendara. Corus mußte die Einzelteile der Apparatur zusammengesetzt haben; er hatte davon gesprochen, sie zu einem bestimmten Zweck einzusetzen. Asharra wünschte sich, sie hätte der jeweiligen Tagespolitik und ihren Machtkämpfen mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Varzil hatte es immer für wichtig gehalten; und hatte er nicht etwas über einen Hastur-Lord in Thendara erwähnt?

Aber darauf kam es jetzt nicht an. Der Blitz spannte sich im Bogen über ihr, schwoll an und verästelte sich. Immer neue Ranken schossen aus seinem Stamm hervor und züngelten zur Erde hinab, wo sie mit Donnergetöse auftrafen. Felsen wurden zu Staub pulverisiert, Bäume und Gebäude in Rauchschwaden verwandelt.

Mit ihrer besonderen Wahrnehmungsgabe spürte Asharra den Zerfall eben jener Kräfte, die die Materie im Innersten zusammenhielten. Wie ein mythologisches Monster schien die Apparatur aus jeder Zerstörung neue Kraft zu schöpfen.

Von dort, wo sich ihre körperliche Hülle befand, drangen verzweifelte Angstschreie zu ihr. Asharra konnte die anderen Arbeiter nur schwach nach Atem schnappen und stöhnen hören. Einer schrie auf, sank nieder und schlug dumpf auf dem Boden auf. Einzig Raimond hielt stand und versuchte verzweifelt, den Kreis zusammenzuhalten. Aber seine Leroni entglitten ihm, und er alleine war zu schwach, sie zu halten.

Raimond! Asharra stellte Kontakt zu ihm her, und als Raimond dies erkannte, schloß er die Gedankenverbindung mit ihr. Sie suchte im Turm nach denen, deren Willenskraft und Verstand noch nicht durch die überwältigenden Kräfte, die um sie herum tobten, gebrochen war. Es waren weniger als die Hälfte der Mannschaft, die sie nun im Kreis versammelte. Rasch bündelte sie deren Laran, verwob die einzelnen Stränge wie feinste Seide und spann daraus ein undurchdringliches Netz, das den Turm schützend umgab.

Das Donnergetöse ebbte zu einem dumpfen, kaum hörbaren Grollen ab. Der Boden unter ihren Füßen stabilisierte sich.

»Den Göttern sei Dank«, murmelte jemand. »Wir sind gerettet.«

Der Kreis wollte sich gerade auflösen, als Asharra befahl: »Nein! Wir müssen es zerstören!«

»Zerstören?« Raimond starrte sie aschfahl an. »Aber wie? Das steht nicht in unserer Macht! Ich kann es nicht.«

»Aber ich!« Aber dazu müßte sie sich mit den Kreisen anderer Türme zusammenschließen – doch die waren außerhalb der Reichweite gewöhnlichen Larans gelegen. Es gab aber noch eine andere Möglichkeit …

Asharra bündelte erneut die gesamte Laran-Energie des Hali-Kreises und stieß damit in einer Glut aus blau schimmerndem Feuer in die Oberwelt vor. Klaffende Risse, rot und schwarz, durchschnitten die sonst konturlose, graue Landschaft. Hügel und Spalten aus blutgetränktem Staub umgaben Asharra. Auf der einen Seite wand sich der Comyn-Turm in Thendara schreiend wie ein verendendes Tier. Seine Verteidiger im Inneren wurden von den Flammen ergriffen, loderten auf und verkohlten wie Holzscheite. Ihre Schreie durchdrangen Asharras Gedanken und hallten dort wider.

Auf der anderen Seite stand auch Neskaya in Flammen, spie aber immer weiter übernatürliches Feuer aus. Alles, was davon ergriffen wurde, verwandelte sich zu Asche und löste sich in Sekunden in Nichts auf. Es war verheerender als jedes Haftfeuer. Selbst im Gefüge der Oberwelt taten sich klaffende Löcher auf. Dann ließ der Angriff nach, so als ob sich die Maschinerie von neuem aufladen müsse.

Asharra!

Hinter ihr stand eine junge Frau, in der Asharra sofort Ellimara von Corandolis erkannte, oder vielmehr ihr Abbild in der Oberwelt. Sie streckte ihr die Hand entgegen. Asharra ergriff sie und verspürte im selben Moment ein Anschwellen der Kraft – Ellimara und ihr gesamter Kreis (oder was davon noch übrig geblieben war) hatten sich mit ihr verbunden.

Mit all ihrer angeborenen Begabung und Fähigkeit, geschärft durch jahrelanges, unablässiges Training, stellte sich Asharra vor einen Kreis, der sich über das gesamte Gebiet aller Domänen erstreckte. Sie hatte also recht daran getan, den Kampf in die Oberwelt zu verlagern – hier spielten Entfernungen keine Rolle. Von allen Seiten sah sie sich jetzt von menschlichen Gestalten umgeben, einige fast greifbar, andere nur schemenhaft und körperlos. Mit der Autorität einer Bewahrerin zwang sie alle in ihren Kreis – Arilinn, Nevarsin, das entlegene Dalereuth und auch Tramontana. Selbst Mikhail vom Comyn-Turm antwortete ihr.

Im Geist verbunden, die Hände einander gereicht, umstanden sie das Inferno, das einst Neskaya gewesen war. Mit einer flinken, geschickten Berührung verknüpfte Asharra die Kräfte aller zu einem Netz, formte daraus eine Decke und warf diese über den Turm.

Zunächst passierte überhaupt nichts; doch dann erschütterte ein Ausbruch blindwütiger Energie Neskaya. Die Explosion drohte, den Schutzschild des Kreises zu zerstören. Asharra war auf das Äußerste angespannt, aber ihr Kreis hielt.

Plötzlich bemerkte sie, wie sich der Brennpunkt der Apparatur verlagerte. Ihre zerstörerische Kraft war nicht länger gegen Thendara gerichtet, sondern zielte jetzt unmittelbar auf ihren Kreis.

Die Oberwelt erzitterte wie ein Lebewesen, und die Decke, die Asharra gewoben hatte, zerriß in kleine Fetzen. Überall sprangen Flammen hervor, züngelten durch das Energiegewebe hindurch und verwandelten sich auf ihrer Bahn der Zerstörung in gezackte, weiße Blitze.

Haltet zusammen! donnerte Asharra immer noch, als das Gewebe ihrer Decke zu Lumpen zerfiel. Das Feuer wälzte sich über ihren Kreis und ergriff Männer und Frauen. Ihre Geistkörper verflüchtigten sich immer mehr, bis Asharra nur noch die skelettartigen Umrisse der glühenden Kanäle ihres Larans sehen konnte.

Schreie gellten durch die Luft – und es waren Schreie voller Todesqualen. Arnad von Arilinn entschwand ihrem Blick; sein altes Herz vermochte der Belastung nicht länger standzuhalten. Mikhail vom Comyn-Turm bäumte sich noch einmal auf; sein Körper war wie von geschmolzenem Metall glutrot überzogen. Etwas in seinem tiefsten Inneren zerbarst und riß seinen Körper in tausend Stücke.

Asharra versuchte verzweifelt, den Kreis neu zu ordnen, aber selbst Varzil hätte nicht die Kraft gehabt, ihn zusammenzuhalten. Dann erkannte sie etwas anderes – ein Muster drängte sich ihr förmlich ins Bewußtsein. Viele der Leroni wanden sich und starben, aber andere, wenn auch immer weniger, blieben stark und kämpften weiter. Des Rätsels Lösung lag plötzlich direkt vor ihr – es war die rot pulsierende sexuelle Energie, die ihre Kanäle blockierte! Die mörderische Apparatur war irgendwie auf diese Energie abgestimmt! Alle Männer und Frauen, die jemals sexuell aktiv gewesen waren, wurden jetzt kämpfend in das pervertierte Muster hineingezogen.

Nur ich kann dem widerstehen, erkannte Asharra. Ich und meinesgleichen.

Sie machte sich sofort daran, in ihrem Kreis diejenigen Arbeiter auszusuchen, die entweder durch ihr Training oder persönliche Entscheidung keusch geblieben waren. Und mit ihnen verband sie ihren Geist zu reinstem, blauen Feuer! Asharra schuf Wände aus massivem, undurchdringlichem Eis, die die Blitze der Apparatur nach allen Seiten abblockten.

Von Minute zu Minute ließ die Glut des Feuers nach. Dann erschütterte eine gewaltige Explosion die Oberwelt, doch sie wurde innerhalb des blauen Eiskristalls, den Asharras Kreis bildete, aufgefangen und erstarb allmählich zu völliger Stille.

 

Tage später erwachte Asharra, leicht zitternd, in ihrem Zimmer im Turm zu Hali. Cheria, die junge Überwacherin, beugte sich mit besorgter Miene über sie. Asharra richtete sich auf und versuchte zu sprechen. Aber sie war noch zu erschöpft, die Lippen zu bewegen; zu erschöpft auch, um mit ihrem Laran Verbindung aufzunehmen. Doch trotz aller Erschöpfung wurde ihr bewußt, daß von allen Bewahrern auf Darkover nur drei übriggeblieben waren: Ellimara von Corandolis, das Chieri-Halbblut Raimond Lindri, und sie selbst.

 

Die anderen Türme boten ihr kaum noch Widerstand, selbst die kläglichen Überreste von Neskaya nicht. Sie hatten nur die Wahl, entweder Asharras Bedingungen anzunehmen oder ihrem traurigen Ende entgegenzusehen. Mit ihren verbliebenen Unterbewahrern konnten sie sich bestenfalls noch ein paar Jahre durchschlagen, wenn sie hauptsächlich einfache Arbeiten verrichteten. Aber um die weitverbreiteten Zerstörungen, die die Kataklysmus-Apparatur trotz Asharras Eingreifen angerichtet hatte, zu beheben, bedurfte es weitaus größerer und längerer Anstrengungen.

»Ich werde Eure neuen Bewahrerinnen ausbilden«, teilte Asharra ihnen mit, »aber ich werde es nach meinen Vorstellungen tun.«

Sie hatten zugestimmt und ihr die besten Novizen geschickt – ausnahmslos junge Mädchen, so wie sie es verlangt hatte.

Doch Asharra erinnerte sich auch daran, daß bei Männern das Gedächtnis so kurzlebig war wie ihre Dankbarkeit. Man brauchte sich nur anzusehen, wie rasch sie Varzils Lehren aufgegeben hatten, als es ihnen zweckdienlich erschien.

Ich werde nicht zulassen, daß dies noch einmal geschieht. Varzil mag gestorben und vergessen sein, aber mir wird das nicht passieren!

Asharra nahm sich vor, so lange jungfräuliche Bewahrerinnen auszubilden, wie sie dazu in der Lage war; danach wollte sie in Thendara einen neuen Turm bauen: Asharras Turm! Von dort würde sie Mittel und Wege finden, die Arbeit fortzusetzen, bis niemand mehr wagen würde, ihre Methoden in Frage zu stellen.

Sie konnte nicht ahnen, daß es in ferner Zukunft, nach hunderten von Jahren, des Todes von Cleindori Aillard bedurfte, um den Schaden rückgängig zu machen, den sie im Begriff war anzurichten.