C. FRANCES
Das Blau einer Matrix
Woran jedes Jahr Mangel besteht, sind gute, aber kurze Geschichten. Normalerweise ist das, was gut ist, nicht gerade kurz, und umgekehrt. Auch aus diesem Grund war ich so begeistert, als ich diese Geschichte erhielt: ein kleines Juwel für eine Frau die befürchten muß, ihren Platz im Turm zu verlieren. Dies ist kein ungewöhnliches Thema, wurde aber bislang selten so gelungen behandelt. Als ich die Geschichte kaufte, wußte ich über C. Frances nicht das Geringste, ja nicht einmal, ob sich hinter der Initiale Männlein oder Weiblein verbarg. Nur so viel stand fest und mehr brauchte ich nicht zu wissen: Er oder sie kann schreiben – und vor dem Herausgeber sind alle gleich.
Als dann die biographischen Angaben nachgereicht wurden, fand ich heraus, daß Ms. Frances zur Zeit an der San Francisco State University studiert und in Theaterwissenschaften den Magistertitel anstrebt; im Nebenfach hat sie Musik belegt. Sie besitzt eine Katze und lebt mit ihrer Mutter, Schwester, zwei Hunden, einer weiteren Katze und zwei Vögeln zusammen.
Als Laria in den Bach blickte, sah sie die blaue Matrix wieder vor sich, und ihre Augen begannen zu schmerzen. Sie hatte jede einzelne Anweisung des Tenerezus genauestes befolgt, aber der Stein war leb- und regungslos geblieben, ja nicht einmal das geringste Gefühl der Benommenheit hatte es bei ihr ausgelöst. Aber wie war es nur möglich, daß sie kein Laran besaß – diese wertvollste der Göttergaben? Sie war unter Leroni groß geworden und konnte dabei ständig mit ihnen in Rapport treten. Auch die Schwellenkrankheit hatte sie durchgemacht, was doch eigentlich auf das Erwachen von Laran schließen ließ. Aber vielleicht hätte sie nicht so lange warten sollen, sich untersuchen zu lassen. Sie war einfach davon ausgegangen …
Larias Brust senkte sich unter einem heftigen Seufzer, und beinahe traten ihr wieder Tränen in die Augen, als ihr so recht bewußt wurde, daß sie jetzt zum Clan ihres Vaters zurückkehren mußte. Leute, die Laria kaum kannte, und – was noch schlimmer war – die sie nicht kannten. Der Freitod erschien ihr der bessere Ausweg, wenn sie nur den Mut zu diesem letzten Schritt aufbrächte. Sie konnte sich kaum an einen Kopfblinden erinnern, der sich im Umfeld des Turms aufhielt, ganz zu schweigen davon, daß solche Leute im Turm geduldet wurden. Auch sie hatte ihn bislang noch nicht betreten, und jetzt würde ihr dieser Weg auf immer verwehrt bleiben.
Laria spritzte sich ein paar Wassertropfen ins Gesicht. Doch auch das machte ihre Gedanken nicht klarer. Aus dem Tiefland schlichen sich immer wieder Banditen über die Grenze – falls Laria sich nur lange genug draußen aufhalten würde, könnte sie Glück haben und in deren mörderischen Hände fallen …
Avrons Stimme schreckte sie aus solchen wirren Gedankengängen hoch. Er hatte ihr schon immer Halt gegeben. Gleich bei ihrer ersten Begegnung hatten sie Gefallen aneinander gefunden, aber momentan schien Laria ihn fast vergessen zu haben. Avron arbeitete bereits in einem Kreis. Eigentlich sollten die beiden sich bald verloben, aber jetzt …
»Alles in Ordnung mit dir, Laria? Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als du nicht gekommen bist. Besonders nachdem du so lange beim Tenerezu warst. Sie sagten nur, du seist einfach davongelaufen.« Avrons Freude, sie endlich gefunden zu haben, wich der Ernüchterung, als er ihre rot verweinten Augen sah.
»Was geht die das an?« Jetzt wußte es also schon der ganze Turm!
»Laria, bitte, sprich mit mir. Wir sind einander so gut wie versprochen.«
»Das gilt nicht mehr, Avron. Es geht nicht! Nichts ist mehr so, wie es war.«
»Dann nenne mir bitte nur einen Grund.« Wenn nur der Test positiv ausgefallen ist!
»Du mußt jemand anderes finden, Avron.« Ich liebe dich. »Ich habe kein Laran.« Und ich werde dir nicht im Wege stehen.
Laria sah keinen Ausweg mehr. Sie konnte unmöglich beim Turm bleiben, selbst wenn man sie dazu aufgefordert hätte, solange Avron dort ständig in ihrer Nähe war. Andererseits konnte sie den Gedanken nicht ertragen, ihr Zuhause verlassen zu müssen.
Avron hatte mit solch einem Problem nie gerechnet. Nach allem, was sie miteinander geteilt hatten, konnte er es einfach nicht glauben. Sie mußte doch Laran besitzen, wenigstens ein bißchen! Avron wollte sie in den Arm nehmen, aber ihre abweisenden blauen Augen hielten ihn zurück. Warum mußte das Laran so viel bedeuten?
»Gut, du hast kein Laran. Aber sollte uns das trennen?«
»Nein, das sollte es nicht. Aber so ist es. Und du weißt es ebenso gut wie ich.« Es versetzte Avron einen Stich ins Herz, als er erkannte, daß Laria recht hatte. Und ihr bekümmerter Blick verriet ihm, daß sie den gleichen Schmerz spürte.
Sie senkte ihren Kopf. »Ich gehöre nicht mehr hierher. Ich werde dir nie die vertraute Nähe schenken können, die du bei jedem anderen Mitglied des Turms findest. Ich habe immer gehofft, ich besäße wenigstens etwas davon.« Jetzt hielt er sie doch im Arm und spürte, wie ihre zierliche Gestalt unter dem Schluchzen erzitterte.
Avron war so aufgewühlt, daß er am liebsten den Turm zum Einsturz gebracht hätte. Warum mußte Laran alles verändern? Konnte Laria denn nicht sehen, wie sehr sich alle zu ihr hingezogen fühlten? In seinem Kreis sprach man oft von ihr und ihrem positiven Einfluß auf die Matrixarbeiter. Niemand wollte sie verstoßen, und ei am allerwenigsten.
»Auch ich wünschte mir, du hättest Laran«, seufzte er. »Aber was noch viel wichtiger ist: Ich liebe dich, Laria. Wenn auch du mir deine Liebe und Zuneigung schenkst, ist mir das genug.« Dann löste er sich aus der Umarmung. Ihm kam ein Gedanke, der an Selbstmord grenzte. Aber er konnte Laria doch nicht einfach so aufgeben; sie war das Ein und Alles in seinem Leben. Es mußte eine Möglichkeit geben, Laria in dieses Leben miteinzubeziehen. Und es gab sie …
Vorsichtig machte sich Avron daran, sich von seiner Matrix zu trennen. Als er sich Laria wieder zuwandte, hielt er ihr seinen persönlichen Sternenstein entgegen. Er hatte keine Angst. Larias Berührung hatte ihn nie geschmerzt, sondern Wärme und Leben in sein Dasein gebracht. »Nimm ihn!«
Laria starrte auf seine Hand. Dort lag die auf ihn abgestimmte Matrix – ein lebendiger Teil seiner selbst. Sie ohne Ausbildung zu entfernen, konnte sein Leben gefährden. Und genau das wollte Avron ihr anbieten – sein Leben. Nur einmal hatte Laria sie berührt, als sie gemeinsam die Matrix in ihren Händen hielten und sich feierlich gelobten, füreinander da zu sein.
»Ich kann es nicht.« Was könnte ich ihm bieten? »Ich liebe dich, und gerade deswegen werde ich dich nicht behindern.« Nicht als seine kopfblinde Frau, und schon gar nicht, indem ich sein Laran vermindere.
Sie riß sich los und stürzte die Uferböschung hoch. Immer wieder glitt sie aus. Sie wollte nur noch fliehen, wegrennen, weg von hier, weg aus diesem Leben. Doch dann hielt sie inne. Hatte da jemand nach ihr gerufen? Etwas hielt sie zurück. Aber was? Als sie sich im Unterholz umdrehte, erblickte sie die Banditen, die sie bereits umzingelten. Ihr Herzschlag setzte aus, als ein Dolch an ihr vorbeizischte, hinunter zum Bachbett flog und die Matrix in Avrons Hand zertrümmerte. Erst da wurde Laria klar, daß die Banditen sie gar nicht wahrgenommen hatten. In panischer Angst stürzte sie zu Avron zurück.
Laria konnte nicht mehr denken, sondern nur noch reagieren. Sonst hätte sie gewußt, daß Avron tot war. Als sie in die leblose Hülle Avrons schlüpfte, verlangsamte sich ihr Atem und ihre Gedanken wurden klar. Ihre Seele verband sich mit der von Avron und führte beide zurück ins Leben.
Avron wußte nicht, was vorgefallen war. Er hatte Laria noch hinterhergeschaut, als plötzlich Blitze seine Hand und Donnergetöse seine Ohren trafen. Sein gequälter Geist schrie auf. »Warum bin ich nicht tot?« Und dann: »Ich wünschte, ich wäre tot!« An Leib und Seele zerrissen trieb es ihn in die Oberwelt. Doch ganz allmählich glitt er zurück in seine eigene Gestalt, in seine eigenen Gedanken, in den vertrauten Kontakt mit seiner Matrix. Und Laria hielt ihn.
Laran durchströmte mit einem Mal Laria. Es war Avrons Laran, und sie wurde sein Verstärker. Ihre blau flammenden Augen richteten sich auf die Banditen, und Laria wußte, daß sie mit Avrons Laran alle töten konnte. Sie kochte vor Zorn, aber Avrons Willenskraft, von neuem lebendig und fürsorglich, besänftigte sie. Und so geschah der erschreckten Räuberbande nichts weiter, als daß sie in die Luft geschleudert wurde und Meilen entfernt zwar unsanft und verblüfft, ansonsten aber unverletzt, landete.
Als sie sich später wieder im Innern des Turms befanden, konnte Avron nicht davon ablassen, in Larias matrixblaue Augen zu schauen. Jetzt konnte nichts mehr ihre Handreichung verhindern.