DIANA L. PAXSON
Avarras Spiegel
Egal, was Diana Paxson schreibt, es ist gut, und darum arbeite ich auch mit ihr zusammen an dem Roman über das Römische Britannien, an dem ich vorher schon mein halbes Leben geschrieben habe. Diana geht beim Recherchieren von historischem Material weitaus sorgfältiger vor als ich – und gerade an diesem Buch hatte ich bereits so lange gearbeitet, daß ich schon nicht mehr den sprichwörtlichen Wald (genauer gesagt: den Wald von Albion) vor lauter Bäumen sah.
Ich weiß gar nicht genau, wie alt Diana ist – jedenfalls scheint sie im Vergleich zu mir jung zu sein; aber das ist kein Kunststück, schließlich ist im Vergleich zu mir jeder jung, vielleicht mit Ausnahme von Lester del Rey. Die vorliegende Geschichte spielt im Zeitalter der Schwarzen Schwesternschaft und handelt von einer terranischen Expedition unter der Leitung einer Freien Amazone. Und obwohl schon viele – viel zu viele! – Geschichten, die ich zu lesen bekam, sich an diesem Thema versuchten, ist Diana die erste, die es so gut meisterte, daß ich sie auch wirklich abdrucken wollte; wenn ich für jede wenig originelle und völlig fantasielose Amazonengeschichte, die ich gelesen habe, auch nur einen Groschen bekäme, könnte ich wesentlich mehr von den guten Geschichten veröffentlichen.
Diana lebt in Berkeley, Kalifornien, nur etwa eine Meile von mir entfernt. Sie kann stolz auf ihre zahlreichen Bücher sein und hat außerdem zwei erwachsene Söhne, Ian und Robin.
Lian n’ha Galia beugte sich über die Antriebsmaschine des Kettenfahrzeuges; es war das einzige Transportmittel der Expedition des terranischen Instituts für Xeno-Archäologie auf der Suche nach dem sagenumwobenen Schrein der Waldläufer.
»Na, glauben Sie mir nun? Wie ich gesagt habe, das Gestänge hat sich vollkommen verzogen – und es sind garantiert keine Ersatzteile zwischen hier und Thendara zu, bekommen!« Tony Righteous, der Transportingenieur der Expedition, trat einen Schritt zurück und wischte sich die Hände an seinem Overall ab. »Bis zum Einbruch der Dunkelheit wird die Maschine ihren Geist völlig aufgegeben haben.« Er blinzelte zum Horizont. Das Licht der roten Sonne war immer etwas trüb, aber die Dämmerung war deutlich fortgeschritten, seitdem sie sich mit der Reparatur herumschlugen. »Es ist dieses lausige Klima; kälter als Satans Hinterteil!« Die Duraluminiumlegierung schepperte hohl, als er dagegentrat.
Lian beobachtete ihn, wie er durch den schmutzigen Schnee zu der Anhöhe stapfte, wo die anderen das Lager aufschlugen. Jemand entfachte ein Feuer, das mit seinem orangen Flackern den Ort etwas freundlicher erscheinen ließ. Dahinter tauchten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die Berge ringsum in grelles Lila und tiefes Rosa. Als Marschleiterin der Expedition wäre es Lian lieber gewesen, sie hätten Chervines oder Ponies mitgenommen, mit denen sie umzugehen verstand. Je länger die Reise dauerte, desto weniger wußte sie, was sie hier eigentlich zu suchen hatte.
Sie kniff die Augen etwas zusammen, als sie das grauhaarige Haupt des Wälsungen, Wandirr Gar’hi, erblickte. Er war der Leiter der Expedition, Direktor des Instituts für Xeno-Archäologie, und damit auch ihr direkter Arbeitgeber, dem gegenüber sie ihren Treueeid abgelegt hatte. Wie konnte sie ihm nur beibringen, daß die Expedition, die er so lange vorbereitet hatte, schon wieder zu Ende war?
Eines der vielen Sprichwörter ihrer Waffenmeisterin fiel ihr wieder ein: Faule Eier werden mit der Zeit auch nicht frischer. Ihr Mund verzog sich zu einem eher gezwungenen Lächeln, als sie leichtfüßig über den holprigen Boden zum Feuer ging.
»Man sollte doch meinen, ein terranischer Ingenieur könne uns wenigstens erklären, was mit seiner Maschine nicht stimmt …«
Lian erkannte den Mann an seinem kultivierten und leicht selbstgefälligen Tonfall noch bevor sie ihn sah. Es war Vasco-Mikhail Donato, der Waffenträger und Begleitschutz der Expedition. Lian ging sofort einen Schritt schneller.
»Die Teilnehmer an dieser Expedition wurden alle mit großer Sorgfalt ausgewählt, Donato. Jeder ist ein Experte auf seinem Gebiet«, knurrte Wandirr Gar’hi. »Keiner von ihnen hat einen Anlaß zur Sabotage.« Und das stimmte: Tony verfügte zwar über das technische Wissen, war aber viel zu stolz dazu. Sara Jordin, die Botanikerin, besaß nicht die nötigen Kenntnisse. Der Scholar Wandirr hatte die Expedition selber geplant; er hoffte, hinter den Legenden der Waldläufer über die Kraftfelder eine längst verloren gegangene Technologie nachweisen zu können. Blieb noch Deuu, ihr Führer und selber ein Waldläufer.
Streng genommen war Deuus Volk eine humanoide Rasse, aber ihr kleiner Wuchs, die stark behaarten Körper und ihre primitive Kultur ließen den Terranern die Waldläufer noch fremdartiger erscheinen als den Wälsung Wandirr oder sogar Tee, der Assistent der Botanikerin. Seit unzähligen Generationen lebten die Waldläufer abgeschieden in einigen wenigen dicht bewaldeten Tälern zwischen den Hellers und dem Wall um die Welt; Deuu hätte, selbst wenn er es versucht haben sollte, nicht gewußt, wie er die Maschine lahmlegen könnte.
Und was ist mit mir? überlegte Lian. Würde ich versuchen, die Expedition aufzuhalten, wenn ich wüßte, was wir finden werden?
»Ich weiß nicht, was da schief gelaufen ist, aber ich werde es herausbekommen!« erklärte Tony lautstark. »Ich kann hier beim Fahrzeug bleiben, während die anderen zurück nach Thendara marschieren und einen neuen Motor oder schlimmstenfalls wenigstens ein paar Ersatzteile auftreiben.«
»Soll das heißen, daß wir nach Thendara zurückkehren?« wollte Donato wissen.
»Diese Frage stellt sich in der Tat«, entgegnete Wandirr besänftigend.
»Zurück? Aber warum?« Sara Jordin blickte von den Pflanzenproben auf, die sie gerade verpackte.
»Bitte kommen Sie her, und auch Sie, Meister Tee. Ich glaube, wir haben etwas zu besprechen.« Mit einer Geste wies Wandirr auf den Platz an seiner Seite.
Sara verzog beim Anblick des matschigen Bodens das Gesicht, breitete ihren Regenschutz neben dem Feuer aus und setzte sich hin. Tee trottete ihr treu hinterher und rollte sich in ihrer Nähe zusammen. Im Gegensatz zu den meisten anderen vernunftsbegabten Wesen hatte Tees Gattung nie den aufrechten Gang angenommen. Sie blieb im wesentlichen eine sechsfüßige Echsenart, so daß Tees Erscheinung an ein besonders wendiges terranisches Krokodil mit einem zusätzlichen Paar Gliedmaßen mit vier Zehen und einem kürzeren, weniger furchteinflößenden Kopf erinnerte. Sara, die recht klein für eine Terranerin war, sagte immer, sie sei froh, nicht ständig zu ihrem Assistenten aufsehen zu müssen, und außerdem besaß Tee einen untrüglichen Instinkt beim Aufspüren seltener Pflanzenarten, ganz abgesehen davon, daß er immer gutgelaunt war und so gut wie keine Furcht zu kennen schien.
Wandirr gab Deuu ein Zeichen. Der Waldläufer las ein paar Holzscheite auf und schichtete sie vorsichtig ins Feuer, wartete noch, bis die ersten Flammen sie umzüngelten, und kehrte dann auf seinen Platz im Dunkeln zurück.
»Diese Reise steht unter keinem glücklichen Stern, Sir!« Tonys gewählte Ausdrucksweise bekräftigte dies nur noch. »Schickt jemanden zurück, um ein weiteres Transportfahrzeug zu organisieren. Oder geht selbst. Ihr könnt es ein anderes Mal probieren.«
Wenn es ein anderes Mal gibt, dachte Lian. Die Gerüchte besagten, daß Wandirr sich nicht nur gegen seine Mitstreiter am Institut, sondern auch gegen die eher fremdenfeindlich gesinnten Mitglieder des Comyn-Rates durchsetzen mußte, um diese letzte Chance zu erhalten, seinen Namen unsterblich zu machen.
»Nun, Sara, was sagen Sie dazu?« fragte Wandirr.
»Uns kann es egal sein«, meinte sie achselzuckend. »Tee und ich könnten uns ein Jahr und mehr allein mit der Aufnahme des Pflanzenbestandes dieser Gegend beschäftigen. Ich bin dafür, daß wir hier warten.«
Wandirr nickte und schaute durch das Feuer zu Deuu hinüber. »Und wenn wir solange warten, wie jemand nach Thendara und zurück braucht, bleibt uns dann noch genug Zeit, um den heiligen Platz zu erreichen?«
Deuus Fell kräuselte sich, was Ablehnung zum Ausdruck brachte. »Jetzt Jahresplatz – nur bei Sonnenwende. Jetztzeit, ihr Fremdweltler – « und dabei gestikulierte er, als ob dieses Wort eine dämonische Bedeutung besäße, »ihr zurück. Nur das Volk kann sehen das Schimmerfeld. Andere verbrennen.«
Lians Nackenhaare stellten sich auf, als sie erkannte, wie ernst es dieser Kreatur war. Vasco-Mikhail Donato packte Deuu unwirsch an den Schultern.
»Ihr wollt wohl alles für euch allein behalten?« Deuu winselte vor Schreck, als Donato ihn zu sich hoch riß und gefährlich nah ans Feuer hielt. »Aber daraus wird nichts. Avarra und ihre Werke gehören meinem Volk, nicht deinem!«
Lian war bereits zur Seite gesprungen, als Donato aufblickte. Es zuckte unwillkürlich in ihrem schwertführenden Arm, als sie dem Waffenträger in die bleichen Augen starrte.
»Und was gedenkst du nun zu tun, Amazone?« In seiner Stimme lag wieder diese herausfordernde Selbstgefälligkeit. »Du bist ziemlich kaltschnäuzig, aber deswegen jagst du mir noch lange keinen Schrecken ein!« Mit zur Schau getragener Lässigkeit setzte er Deuu ab, behielt dabei aber Lian stets im Auge.
Sie erwiderte unerschrocken seinen Blick. Bereits am ersten Tag ihrer Expedition hatte sie festgestellt, daß Donato zu jenen altmodischen Männern von Darkover gehörte, die so viele der Freien Amazonen veranlaßt hatten, dem anderen Geschlecht zu entsagen. Was sah er in ihr? Eine Kriegerin oder nur eine großgewachsene, kräftige Frau mit kurzgeschorenen braunen Haaren und wenig femininen Gesichtszügen? Sie zwang sich dazu, nicht nach dem Köcher zu greifen, der in Wahrheit als Scheide für das große Schwert diente, das sie – entgegen dem Gesetz – mit sich trug.
»Ob wir nun bleiben oder weitermarschieren, wir brauchen auf jeden Fall unseren Führer«, sagte sie gelassen. »Also laßt ihn!«
Ob kaltschnäuzig oder nicht, jedenfalls hatte sie kein Mann mehr geschlagen, seitdem sie mit ihrem Zwillingsbruder das Fechttraining aufgenommen hatte. Das war noch vor jener Blutsfehde gewesen, in der ihre gesamte Familie umkam und die auch ihren Bruder das Leben gekostet hatte. Lian ging zu ihrem Platz zurück, während Donato sich demonstrativ die Hände abwischte.
Die Glut in Wandirrs Augen, die während der Auseinandersetzung kurz aufgeflackert war, erlosch wieder, als er seufzend bemerkte: »Ich bin ein alter Mann. Ich kann nicht noch ein Jahr auf den richtigen Zeitpunkt warten, dieses Schimmerfest zu finden. Wir werden weitermarschieren.«
Am anderen Morgen war das Kettenfahrzeug nur noch ein klägliches Mahnmal für den Stolz der Terraner. Deuu berührte zaghaft den unbeweglichen Metallhaufen, zog aber seine Hand gleich wieder zurück. Als Lian dies beobachtete, wünschte sie sich, sie wüßte mehr über diese Eingeborenen, die in den Wäldern jenseits des Hellers lebten. War es denkbar, daß er oder ein anderer aus ihrer Gruppe die Maschine aus Angst sabotiert hatte? Oder war es Donato gewesen, den das darkovanische Mißtrauen gegen jede hochentwickelte Technologie zu dieser Tat getrieben hatte?
Lian schnürte ihre Packtaschen und schaute zu den anderen hinüber. Sie fragte sich, wie viele von ihnen heimliche Motive hatten, die ebenso gut verborgen blieben wie ihr eigenes. Sie erinnerte sich an ihre letzte Unterhaltung mit Mutter Callea:
»Ich zittere bei dem bloßen Gedanken, was passieren könnte, wenn einige der Gerätschaften aus dem Zeitalter des Chaos in die falschen Hände geraten sollte«, hatte die alte Frau ihr erzählt. »Oder daß dieses Ding, nach dem sie suchen, etwas noch Ungeheuerlicheres sein könnte. Als Rafaella n’ha Doria von ihrer Suche nach der Stadt der Schwarzen Schwesternschaft zurückkam, berichtete sie von sagenumwobenen Artefakten, die sich in Höhlen unter der Eisdecke befänden und aus einer Zeit stammen sollten, als noch kein menschliches Wesen diese Welt besiedelte. Und wie ich weiß gibt es im Imperium Leute, die für eine neue Technologie sogar ihre eigene Mutter verkaufen würden.«
»Aber sind das nicht Angelegenheiten, um die sich besser die Comyn kümmern sollten? Warum sollten wir uns in diese Sache hineinziehen lassen?« hatte Lian wissen wollen. Ihr größter Fehler, und zugleich ihre Stärke, war normalerweise ihr Tatendrang. Aber diese Expedition hatte bereits Begleitschutz: einen Comyn-Bastard, der in der Stadtgarde gedient hatte und eindeutig dazu bestimmt war, für die Comyn Augen und Ohren offen zu halten.
»Falls dieser Platz wirklich etwas mit Avarra zu tun hat, wie die Legenden behaupten, dann werden möglicherweise nicht einmal die Türme es völlig verstehen. Das Schmiedevolk hat Sharras Matrix all die Jahre verborgen gehalten; wer weiß schon, welche Geheimnisse die Waldläufer bewahren? Dem Rat wäre es natürlich am liebsten, wenn die ganze Sache in Vergessenheit geraten würde; deshalb wagen sie es auch nicht, eine Leronis zu entsenden. Aber eines ist sicher: Dieser Donato wird einem der Türme Bericht erstatten.«
Danach hatte Mutter Callea eine Zeit lang geschwiegen; sie war sich bewußt, daß sie Lians Frage nicht wirklich beantwortet hatte.
»Du wirst die Expedition nicht im Auftrag der Comyn oder der Türme begleiten, und auch nicht im Namen der Gilde«, hatte sie schließlich gesagt. »Die Priesterinnen Avarras haben sich seit fast einer Generation in Schweigen gehüllt. Aber jetzt hat man uns wissen lassen, daß auch sie glauben, dieser Ort könne eine längst verloren geglaubte Zufluchtsstätte der Göttin sein. Wenn dem so ist, muß eine von uns, die den Eid der Schwesternschaft abgelegt hat, dorthin gehen …«
»Was ist, Amazone, kommst du mit oder willst du lieber den ganzen Tag lang mit den Füßen im Matsch und dem Kopf in den Wolken herumstehen?«
Lian fuhr herum und sah sich Donato gegenüber; instinktiv hatte sie eine Verteidigungshaltung eingenommen, was sie nun mühsam zu vertuschen suchte. Möglichst ausdruckslos erwiderte sie seinen Blick.
»Ihr seid hier der Begleitschutz«, sagte sie verbindlich. »Also führt Ihr die Gruppe an.«
Fast schon enttäuscht über das unerwartete Entgegenkommen wandte sich der Krieger um. Lian schaute ihm nach und bemerkte die lässige Stärke in seinem Gang. Zweifellos strahlte er den ganzen Stolz eines Comyn aus. Dieser Stolz, dachte sie, für den mein Bruder sterben mußte …
Die anderen liefen noch immer aufgeregt hin und her. Lian riß sich zusammen. Wenn sie nicht bald aufbrachen, würde es kaum mehr einen Unterschied machen, wessen Geheimnisse enthüllt würden.
»Alles marschklar! Überprüft das Gepäck und die Stiefelschnallen. Vorwärts!« Mit einem angedeuteten Gruß an Wandirr nahm Lian ihren Platz am Ende der Kolonne ein.
Mehrere Tage lang marschierten sie ohne Zwischenfall unter tiefhängenden Wolken, die den Horizont verschleierten, durch eine Wüstenlandschaft aus Eis und Felsblöcken. Deuu stolperte ihnen immer ein Stück weit voraus; er zitterte vor Kälte und sehnte sich offensichtlich danach, bald wieder in seine vertrauten Wälder abzusteigen.
Am fünften Tag wurde die Eintönigkeit der Landschaft durch eine Schlucht unterbrochen, die tief in die Oberfläche der Hochebene einschnitt, so als ob Riesenhände versucht hätten, den Planeten in zwei Hälften zu zerreißen. Die Abhänge stürzten in schattige, bewaldete Tiefen hinab. Der gegenüberliegende Cañongrund lag etwas tiefer, und das Land, das sich dahinter erstreckte, bestand aus dichtem Wald und von Gletschern abgeschliffenen Hügeln. Dort irgendwo mußte ihr Ziel liegen.
»Wie es aussieht, hätte uns das Kettenfahrzeug hier auch nichts genutzt«, meinte Tony Righteous entmutigt. »Wir wären mit dem Ding da nie rübergekommen.«
»Und wie sollen wir da rüberkommen?« Sara linste über den Rand des Abgrunds und fuhr schaudernd zurück.
»Kommen!« Deuu fuchtelte ungeduldig mit den Händen. »Nicht gut im Dunkeln die Wunde überqueren.«
Erst wenn man den Mut gefunden hatte, sich über den Rand der Schlucht hinauszuwagen, wurde deutlich, daß es da tatsächlich einen Pfad gab, der aber so gefährlich war, daß man Bergsteigerausrüstung benötigte. Deuu kletterte voran und setzte dabei geschickt seine Hände und Greifzehen ein, während Tee sich aufgeregt hinab schlängelte und die anderen eine Seilschaft bildeten und sich vorsichtig an den Abstieg machten.
Plötzlich verlor Tony den Halt und trat dabei einige Steine los, die Lian beinahe mit der sich daraus entwickelnden Lawine aus Schlamm und Geröll in die Tiefe rissen. Fluchend stemmte sich Donato ins Seil und sicherte die anderen.
»Du terranischer Tölpel«, fuhr er Tony an. »Hab’ ich dir nicht gesagt, auf diesen Felsvorsprung aufzupassen? Steh schon auf – hier können wir nicht bleiben!«
Tony, der unter seinem dreckverschmierten Gesicht und den Sommersprossen kreidebleich geworden war, legte den Kopf schräg zur Seite. »Ich kann nicht mehr auftreten!«
»Mir gleich, ob dein Bein gebrochen ist. Vorwärts!« Donatos rostrote Augen zogen sich zusammen. Er strahlte eine ungeheure Kraft aus. »Wir können nicht noch mehr Zeit verlieren!«
»Laßt mich hier zurück«, jammerte Tony. »Dieser Planet hat was gegen mich … Laßt mich in Ruhe!«
Die anderen beobachteten die beiden von unten; ihre bleichen Gesichter verschwanden schon fast im Nebel. Lian durchschnitt das Seil, das Tony mit Sara verband.
»Führt die anderen weiter, Donato«, erklärte sie ruhig. »Ich werde mit Tony nachkommen.«
Donato stieg die Zornesröte ins Gesicht, mußte aber seinen Einwand unterdrücken, als Wandirr die Zustimmung gab. Lian beachtete ihn ohnehin nicht, sondern beugte sich bereits über Tony. »Es ist nicht mehr weit bis zur Talsohle«, munterte sie ihn auf, »und auf der anderen Seite wird es leichter werden.«
Das stimmte zwar nicht ganz, aber mit Lians Geschicklichkeit gelang es ihnen schließlich, die anderen später wieder einzuholen. Als sie die Schlucht endlich überwunden hatten, brauchte Tony seinen Fuß nur noch leicht zu schonen. Er behauptete sogar schon wieder, daß Saras ständige Suche nach Pflanzensorten sie mehr Zeit kostete als seine Verstauchung.
»Sie sollten beide in einem Basislager hier zurückbleiben«, riet Donato an diesem Abend, als Lian gerade versuchte, den feuchten Zweigen ein paar Flammen abzutrotzen. »Wir sind schon viel zu lange aufgehalten worden. Dieses Ding, was immer es auch sein mag, kann man nur zur Sonnenwende sehen, stimmt’s? Wenn der Waldläufer die Wahrheit sagt, dann bleiben uns nur noch vier Tage, um dorthin zu kommen! Außerdem wird unser Proviant kaum für Hin- und Rückweg reichen, wenn wir uns nicht an den Marschplan halten.«
Lian schaute von dem frisch entfachten Feuer auf und versuchte, Donatos Gesichtsausdruck zu deuten. Warum war ausgerechnet er so erpicht darauf, dorthin zu gelangen? Selbst wenn der legendäre Schrein eine Waffe enthielte, würde der Comyn-Rat deren Gebrauch sofort verbieten. Wandirr war derjenige, für den die Expedition wichtig war, denn nur durch sie hatte er die Chance, seinen Namen unsterblich zu machen.
Der alte Wälsung seufzte: »Ich weiß … ich weiß … aber ich möchte die Gruppe trotzdem nicht aufteilen. Es lauern hier einfach zu viele unbekannte Gefahren! Laßt uns jetzt schlafen gehen. Morgen sieht alles schon ganz anders aus, und dann werden wir auch eine Lösung finden.«
Aber am anderen Morgen war Tony Righteous tot. Und die Zeit, die sie gehofft hatten einzusparen, verbrachten sie jetzt damit, ihn zu begraben.
Sie hatten den Ingenieur nur einige Schritte vom Lager entfernt am Boden ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten gefunden. Der Untergrund war dort viel zu rauh, um irgendwelche Spuren erkennen zu können, so daß Lian nicht wußte, ob ihm jemand aus dem Lager gefolgt war. Aber hätte er nicht um Hilfe rufen können? Es gab keine Anzeichen auf einen Kampf, nur Tonys Leiche, die wie eine ausrangierte Puppe dalag. War dies, ebenso wie der vorherige Sabotageakt, ein Versuch, sie vom Weitermarsch abzuhalten?
Oder war es die Tat von jemandem, der um jeden Preis sicherstellen wollte, daß sie ihr Ziel erreichten?
Für das nächste Unglück konnte niemand aus der Expedition verantwortlich gemacht werden. Sie erklommen gerade eine der Hügelketten und kämpften sich beharrlich durch die elenden Geröllfelder, angespornt von Deuus Versprechen, es seien jetzt nur noch zwei Tage bis zu dem Schrein – aber der Waldläufer hatte nicht mit jenem schrecklichen Wesen gerechnet, dessen schriller Schrei jetzt aus einer Felsspalte vor ihnen donnerte.
»Banshee!«
Der Name war ein einziger Schreckensruf, den Deuu ausstieß, als er zu den anderen zurückstürzte. Lian versuchte ihn abzufangen, als er an Wandirr vorbeirannte, berührte aber nur kurz seine drahtigen Muskeln, die sich unter dem weichen Fell verkrampften, bevor er sich auf einen Felsblock kauerte und verzweifelt klagte.
Hinter ihm brach eine riesige Kreatur zwischen Felsen hervor, deren Klauen viel schneller zuschlugen, als es einem Wesen dieser Größe eigentlich möglich sein sollte. Mit einem Sprung nach hinten entging Donato dem ersten Angriff; fluchend versuchte er, seinen Eispickel als Waffe einzusetzen, und Lian verwünschte das Gesetz, das sie zwang, ihr großes Schwert verborgen zu halten. Statt dessen zückte sie nun ihr Langmesser.
Sara, von Wandirr schützend gegen die Felswand gedrückt, schrie auf, als sich Tee mit den glucksenden Lauten, die bei seiner Gattung Vergnügen ausdrückten, nach vorne schnellte. Dann schlug Tee seine Kiefer mit den scharfen Zähnen tief in das Fleisch des Banshee, das vor Schmerz aufbrüllte, sich krampfartig schüttelte und den kleinen Saurier durch die Luft schleuderte. Donato hieb von der Seite auf das Ungetüm ein, aber die stählerne Klinge traf nur unzureichend, drang kaum durch das dicke Federkleid und ritzte lediglich an der Oberfläche der Haut. Das Banshee richtete sich auf und schlug wild mit den Flügeln, als Donato erneut mit dem Pickel ausholte.
Lian bewegte sich geschickt und jeden unbedachten Schritt vermeidend vorwärts. Sie konzentrierte sich ganz auf den über ihr wütenden Schrecken und wog dabei kühl die Gefahren von Schnabel und Krallen ab, während sie innerlich jenen energetischen Zustand zu erreichen suchte, der ihre Handlungen zu fließender Harmonie verwandelte, wie es den geheimen Lehren der Schwertschwesternschaft entsprach.
Donato sprang schreiend nach vorn; sein Schwert schimmerte matt, als es auf den Hals des Banshees niedersauste. Benommen stierte das Untier auf die beiden menschlichen Gestalten, und in diesem Augenblick schlich sich Lian vorwärts, Schwertarm und Körper zu einer fließenden Bewegung aufeinander abgestimmt. Geschickt wich sie den nach allen Seiten schlagenden Klauen aus, packte Donatos Schwert beim Griff, zog die Klinge wieder heraus und schwang sie so geschickt, daß sie mit einem einzigen Hieb dem Banshee die Kehle durchschnitt und seinen rechten Flügel abtrennte.
Lian hielt ihr Messer weiterhin gezückt, jederzeit zum Zustechen bereit, während Donato dem Banshee erneut den Pickel in den Nacken rammte. Endlich stürzte es mit einem wuchtigen Schlag zu Boden, richtete sich noch einmal im Todeskampf auf, fiel erneut hin und verendete unter stets schwächer werdenden Zuckungen, während sein übelriechendes Blut hervorquoll und die Erde tränkte.
»Was seid Ihr? Man hat mir gesagt, Ihr wäret eine Darkovanerin, aber die Frauen auf diesem Planeten lernen nicht, so das Schwert zu führen!« Wandirr blickte Lian verwundert an; in seinen Augen war etwas von dem strahlenden Glanz zurückgekehrt.
»Die Entsagenden sind die einzigen Frauen in unserer Welt, denen es gestattet ist, Waffen zu tragen – und dann auch nur solche, von denen die Männer meinen, es würde ihre Vorherrschaft nicht bedrohen«, erklärte Lian. Vor langer Zeit hatten sich die Schwertschwesternschaft und die Priesterinnen der Avarra zur Gilde der Entsagenden zusammengeschlossen und so die besonderen Fähigkeiten beider Gruppen bewahrt, auch wenn man sie nicht gerade ermunterte, diese Fähigkeiten öffentlich zu zeigen.
»Mir scheint, Ihr führt Euer Langmesser genauso gut wie ein Schwert«, sagte Wandirr lächelnd.
Lian zuckte verlegen mit den Achseln. Die wohlgemeinten Komplimente rührten an zu vielen alten Wunden. Es war nicht einzusehen, daß sie ihre Fähigkeiten verbergen sollte, nur um dem Stolz einiger Männer zu genügen!
Bei der ersten Gelegenheit nach der Felsenge, wo sie mit dem Banshee gekämpft hatten, errichteten sie ein improvisiertes Lager. Donato und Sara hoben für Tee ein Grab aus. Während Sara sich ihre rotgeweinten Augen wischte, blickte der Schwertmann mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Neugierde zu Lian hinüber. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Auch ohne Laran konnte Lian erraten, was er dachte. Einige Leute bewunderten jene Amazonen, die auch Kämpferinnen waren, oder hielten sie doch zumindest für romantisch; andere fürchteten sie; für wieder andere, und Lian vermutete, daß Donato zu ihnen gehörte, war ihre bloße Existenz eine Herausforderung.
Wandirr zog Lians Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Mich beschäftigt noch immer die Frage, warum man mir Eure Fähigkeiten nicht mitgeteilt hat.«
»Spielt das denn eine Rolle?« fragte sie und fühlte sich plötzlich nicht wohl in ihrer Haut. Ein einmal gegebener Eid mußte gehalten werden, bis der Vertrag beendet war – und sie konnte nur beten, daß sie dabei nicht mit ihren anderen Treuepflichten in Konflikt geriet. »Mein Wort verpflichtet mich, Euch zu dienen. Betrachtet mich einfach als einen zusätzlichen Schutz, von dem Ihr vorher nichts gewußt habt.«
Sie war froh, daß Wandirr darauf verzichtete, weitere Fragen zu stellen, und nach einigen Minuten verließ sie ihn, um den anderen beim Begräbnis zu helfen.
Später, als Sara nur noch ausdruckslos ins Feuer starrte und dort eine Antwort auf ihre Fragen zu suchen schien, setzte sich Donato zu Lian.
»Wirklich interessant.« Wie immer machte sein süffisantes Lächeln es schwer, seine Worte richtig einzuschätzen. »Ich wollte schon immer eine Freie Amazone im Kampf erleben. Zumindest gegen ein Tier weißt du deinen Mann zu stehen.«
Lian war zu müde, um mit ihm zu streiten, wußte jetzt aber genau, worauf er hinauswollte.
»Doch was nutzt Kampfkraft ohne Intelligenz?« fuhr Donato fort. »Wenn wir zu dem Schrein kommen, werden wir ja sehen, ob du noch eine andere Kraft einzusetzen verstehst.«
»Wenn es da überhaupt etwas einzusetzen gibt«, erwiderte Lian. Die Leronym der geheimen Schwesternschaft hatten alle beteuert, daß sie das Potential für Laran in sich trage, aber keiner von ihnen war es je gelungen, es zu erwecken. Lian war immer davon überzeugt gewesen, daß alle Talente, die in ihr schlummerten, sich auf den Umgang mit dem Schwert konzentrierten.
»Oh, aber ganz gewiß doch – es muß einfach der Fall sein!« schloß Donato. »Gute Nacht, Amazone!«
Sein spöttischer Abschiedsgruß klang Lian noch nach, als sie zu ihrem Landeplatz zurückging. Aber bevor sie einschlafen konnte, sollte sie noch eine weitere kurze Unterhaltung führen. Sie war gerade in ihren Schlafsack geschlüpft, als Deuu aus dem Dunkeln auftauchte. Sie setzte sich wieder auf.
»Krieger-Frau kämpfen gut … in Alt-Zeit das Volk kämpfen gegen Monster. Jetzt schwach. Jetzt Eis und Schnee töten uns … Jagdgründe klein, viel klein bei jedem Fest …«
Lian wollte etwas erwidern, aber der Waldläufer war bereits wieder verschwunden.
Sie schlief sehr schlecht. In ihren Träumen quälte sie eine Vision von drei Frauen, in schwarzen Roben gehüllt, um deren Köpfe kreischende Krähen kreisten. Ihr war so, als ob die Frauen ihr einen Spiegel vorhielten, aber als sie sich vorbeugte, um hineinzusehen, starrte sie die häßliche Fratze eines Banshees an.
Lian blinzelte durch die silbrigen Nebelschwaden und glaubte einen Augenblick lang, die Wolkendecke sei etwas dünner geworden. Aber dann sank sie auf den Felsen zurück, den sie als Platz für ihre Mittagsrast ausgewählt hatte. Vor lauter Müdigkeit bilde ich mir schon Dinge ein. Jenseits des Hellers ändert sich das Wetter nie!
Deuu ließ sich in der Nähe auf dem Boden nieder, und einer plötzlichen Eingebung folgend sprach Lian ihn an: »Lösen sich die Wolken hier nie auf? Hast du schon jemals den Himmel gesehen?«
Deuus Gesichtsausdruck verinnerlichte sich. »Vom Schimmerfeld wir sehen Tiefen Himmel am Festtag. Dann Zeit, wenn Schöpfer der Kraft erwacht, nur dann. Wir kommen zu früh, zu spät – nichts da.«
Lian nickte. »Vor kurzem hast du gesagt, daß dieser Ort für jeden, der nicht deinem Volk angehört, gefährlich wäre. Was hast du damit gemeint? Bewacht ihn jemand? Du weißt, daß die Ältesten eures Stammes uns die Erlaubnis erteilt haben zu kommen.«
»Geister wachen«, sagte Deuu verklärt. »Nur das Volk weiß zu sehen. Wenn Groß-Zeit wiederkommt, Schimmer gibt uns Kraft. Wenn Kraft kommt, Groß-Zeit ist da …« Er stand auf und stapfte davon, und Lian wußte, daß sie momentan nicht mehr aus ihm herausbekommen würde. Der Waldläufer hatte sich bisher keinem von ihnen gegenüber besonders gesprächig gezeigt; um so erstaunlicher war es, daß er mit einer Frau darüber redete. Was hatte ihn dazu bewogen? Vielleicht, weil sie ihn gegen Donato in Schutz genommen hatte? Oder weil sie das Banshee getötet hatte?
Plötzlich rief jemand. Lian sprang auf und registrierte sofort, wie bestürzt Sara war und wie Wandirr mit jeder Faser seines Körpers vor Zorn zitterte. Der Wälsung sah sich mit Donato konfrontiert, der in einer Hand die Tasche mit den Nahrungskonzentraten hielt. In der anderen hatte er einen kleinen Betäuber.
Donato! Seitdem dieser Mann erfahren hatte, daß Lian im Kampf erprobt war, lag in seinem Verhalten etwas Bedrohliches, Herausforderndes. Aber warum richtete er seine Waffe gegen Wandirr? Und was hatte das terranische Gerät überhaupt auf Darkover zu suchen? Auch in Lian regte sich jetzt die Wut, als sie den beiden Kontrahenten gegenübertrat. Ihre eine Hand ruhte auf dem Knauf ihres Langmessers.
Donato fixierte abwechselnd Wandirr und Lian. Wandirr rang um Worte.
»Die Nahrungskonzentrate …«
»Der Proviant muß rationiert werden«, fuhr Donato ihm schneidend ins Wort. »Wir liegen sehr weit hinter unserem Marschplan zurück. Wenn wir die Zeit nicht aufholen, werden wir weder den Schrein finden noch früh genug zum vereinbarten Treffpunkt zurückkehren. Deshalb werden wir nur dann essen, wenn ich es sage. Und wer nicht mithalten kann, wird zurückbleiben müssen.«
»Aber das ist lächerlich«, rief Sara Jordin. »Tony und Tee sind tot, also haben wir ihre Rationen zusätzlich.«
Donato zuckte nur mit den Schultern. »Erst müssen wir den Schrein erreichen.«
»Hat Wandirr nicht ein viel größeres Interesse daran als Ihr?« Lian versuchte, die Gemüter zu beruhigen. »Gewiß sollte er entscheiden, was wir tun. Schließlich ist er der rechtmäßige Leiter dieser Expedition.«
»So, ist er das?« fragte Donato mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich stelle gar nicht seine Absicht in Frage, sondern seine Befähigung. Und was die Rechtmäßigkeit betrifft, so wurde die Genehmigung für diese Expedition …«
»… vom Hauptquartier des Imperiums erteilt. Und zwar dem Institut für Xeno-Archäologie, das wiederum mir das Kommando übertrug!« Wandirr hatte endlich seine Stimme wiedergefunden, aber Donato schnitt ihm auch diesmal das Wort ab.
»Weder das Imperium noch das Institut hätten Ihnen die Bewilligung geben können, auch nur einen Fuß auf Darkover zu setzen, wenn es nicht im gemeinsamen Interesse der Terraner und des Comyn-Rates läge. Haben Sie sich denn nie gefragt, warum plötzlich alles so glatt verlief, nachdem Sie sich solange vergeblich um Unterstützung bemüht haben?«
Jetzt wandte sich Donato wieder Lian zu. »Und aus genau diesem Grund wirst auch du dich mir nicht widersetzen, Entsagende!« Aus seinem Mund klang das Wort wie eine Beleidigung. »Ich handle im Auftrag des Comyn-Rates, der auch den Fortbestand deiner Gilde garantiert. Und das berechtigt mich dazu, das Kommando zu übernehmen, falls ich es für notwendig halte. Deshalb hast du dich mir gegenüber zu verantworten!«
Lian starrte ihn an. Ihr Eid verpflichtete sie, die Gesetze der Gilde zu schützen und einzuhalten, aber diese Regeln besagten auch, seinem Dienstherrn treu zu dienen. Keiner hatte ihr je gesagt, was zu tun sei, wenn diese beiden Forderungen einander widersprachen. Unwillkürlich fuhr ihre Hand wieder zum Griff ihrer Waffe, und bei dieser Berührung tauchte eine alte Erinnerung in ihr auf.
Die Fechtkünste, die sie von ihrem Bruder erlernt hatte, hatten ihr einen großen Vorsprung verschafft, als sie bei den Entsagenden eintrat. Die alte Waffenmeisterin war begeistert gewesen, eine so begabte Schülerin zu haben, und hatte sie in einige der alten, von der Schwertschwesternschaft ererbten Lehren eingeweiht, die anderen vorenthalten blieben.
»Alle Frauen steigen zu den Pforten des Todes hinab, wenn sie Kinder gebären«, hatte die greise Lehrerin ihr erklärt. »Aber wir, die wir mit der Klinge leben, kennen Leben und Tod nach Frauenart und Männerart. Wir stehen am Rand, zwischen beiden Geschlechtern, so wie die Leronis zwischen den Welten lebt. Und so dienen auch wir, auf unsere Art, Avarra. Ihre Wahrheit mußt du suchen, zwischen allen Gesetzen, mit denen Männer und auch Frauen dich binden wollen. Es ist die Wahrheit, die du im Glanz deiner Schwertklinge erkennst …«
Lian atmete tief ein, wie sie es auch vor einem Kampf zu tun pflegte, um ganz in sich zu ruhen. Beim Ausatmen spürte sie diese innere Ruhe einkehren. Dieses Ziel hatte sie erstrebt, genau wie ihr Vorbild, die legendäre Camilla n’ha Kyria, die auch ohne Laran die größte Kriegerin ihrer Zeit gewesen war. Einige Gerüchte mochten besagen, daß sie am Ende ihrer Tage bei den Schwestern der Avarra deren Zauberkünste erlernt hatte, aber Lian schenkte dem keinen Glauben. Sie brauchte nichts und niemanden. Welchen Unterschied machte es schon, wessen Befehle sie gehorchte, so lange sie ihr Wort hielt?
»Wir alle wollen den Schrein erreichen. Der Ruhm für mögliche Entdeckungen wird Wandirr zufallen, ganz egal, wer uns dorthin führt.« Ihre Hand löste sich vom Griff ihrer Waffe.
Auch wenn das kein völliges Zugeständnis war, reichte es Donato offenbar aus. Er lachte und erteilte dann Sara und Deuu barsch den Befehl, weiterzumarschieren.
Als sie ihren Platz am Ende der kleinen Kolonne einnahm, überlegte Lian, daß ihre einzige Alternative gewesen wäre, Donato an Ort und Stelle zum Kampf herauszufordern. Aber unter den gegebenen Umständen konnte es sich die Gruppe einfach nicht leisten, einen ihren Beschützer zu verlieren. Diesem Argument war nicht zu widersprechen – und trotzdem konnte Lian das Gefühl nicht loswerden, als sie den gebeugten Rücken Wandirrs vor sich sah, daß nicht nur er, sondern auch sie getäuscht worden war.
»Ist das alles?« Sara Jordin sprach aus, was alle insgeheim dachten, als sie den tiefschwarzen Steinhaufen ausmachten, der sich im beginnenden Dämmerlicht wuchtig gegen den Himmel abzeichnete. Sie hatten die heilige Stätte bei Dunkelheit erreicht, nachdem sie sich auf einem alptraumhaften Marsch am Rand des Stammesgebietes der Waldläufer vorbeigeschlagen hatten. Mehr als einmal hatten sie geglaubt, Deuu habe den Weg verloren. Jetzt aber lag der Wald vor ihnen, in ihrem Rücken türmte sich der Gletscher zu einer weißen Wand auf, und zu beiden Seiten flackerten in den Felsen die Feuer der Waldläufer wie rote Augen.
»Still! Sie fürchten, Götter werden strafen, weil Fremde hier.« Deuu musterte seine Stammesgenossen argwöhnisch, als ob er damit rechnete, sie könnten jeden Moment mit Steinen und Speeren angreifen. Dann machte er sich zu ihnen auf, um jene merkwürdig ineinander verschlungenen Riemen mit den aufgereihten Perlen zu zeigen, mit denen die Stammesältesten der Expedition freies Geleit zugesichert hatten; damit sollte es möglich sein, sie zu überzeugen, daß die Anwesenheit von Fremden nicht gleich den Zorn der Götter hervorrufen würde.
»Was ist Eurer Meinung nach dieses Schimmerfeld?« fragte Lian, auch um sich und die anderen von Mutmaßungen darüber abzulenken, ob Deuus Überredungskünste Erfolg haben würden oder nicht.
»Das ist mir ganz egal!« erwiderte Sara verbittert. »Sinn und Zweck meiner Arbeit bestand in der Reise selber. Das ist nun erledigt. Ich habe zwei neue Spezies der Eriacaea entdeckt, die ich nach Tee benennen werde.«
Es verstrich einige Zeit, bevor Wandirr antwortete: »Ich bin hier endlich an mein Ziel gelangt, und damit sind all unsere vorherigen Strapazen vergessen.« Seine Stimme klang heiser; unablässig blickte er in Richtung der Schatten, die den Schrein verbargen. »Die Gesänge an den Lagerfeuern der Waldläufer bestätigen, was ich schon immer vermutet habe. Dies ist eine heilige Stätte, und irgendwo dort zwischen all diesen Felsen befindet sich eine Statue oder ein anderes Relikt aus den alten Tagen. Wenn ich es in Augenschein nehmen kann, werde ich wissen, ob die Waldläufer eine eigene Kultur besaßen oder ob sie ein Geheimnis bewahren, das die Comyn längst vergessen haben. Ich werde für das Institut eine Monographie verfassen, und diese Entdeckung wird meinen Namen tragen.«
Es wurde immer heller, als die rote Sonne über der Wolkendecke aufstieg und zartrosa- und lavendelfarbene Lichtkreise durch die Nebel zauberte. Lian konnte jetzt erkennen, daß der Abhang in einem Amphitheater aus Stein auslief; die Felsen waren aber derart verwittert, daß man unmöglich mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie von Menschenhand geformt waren oder einer Laune der Natur entsprangen. In der Mitte befanden sich flache Steinplatten, dahinter öffnete sich ein Spalt im Fels, der aber noch im Schatten lag.
Die Lagerfeuer verlöschten eins nach dem anderen. Deuu kam zurück und trat ihr eigenes Feuer aus. Im kalten Schatten der Gletscherwand kondensierte ihr Atem zu kleinen Wölkchen, als sie den weiteren Tagesanbruch abwarteten.
»Und wie steht es mit Ihnen?« fragte Sara Donato. »Warum sind Sie so begierig herauszufinden, was wir hier finden werden?«
Die Waldläufer hatten inzwischen einen eigentümlich rhythmischen und melancholischen Gesang angestimmt, der zu der Öde des Platzes paßte. Donato verzog beim Klang dieses Singsangs das Gesicht. Seine Schulterhaltung verriet eine gewisse Anspannung, und selbst bei dem schwachen Licht könnte Lian das Funkeln in seinen Augen erkennen.
»Ich glaube, es ist eine Waffe aus dem Zeitalter des Chaos«, antwortete er schließlich. »Die Waldläufer besitzen keine eigene Kultur, aber unsere Legenden berichten von wundersamen Dingen – von Waffen, die selbst die Terraner fürchten würden!«
»Sie würden also einen geheiligten Ort zerstören, nur damit noch größere Zerstörung angerichtet werden kann?« knurrte Wandirr. »Die Erlaubnis der Ältesten und Eures Comyn-Rates bezog sich auf reine Forschungszwecke. Wenn wir irgend etwas von hier entwenden, brechen wir unser Wort!«
»Gelehrtengeschwätz! Wenn das Schicksal einer ganzen Welt auf dem Spiel steht, zählen kleinliche Versprechen wenig!« Donato rutschte ungeduldig hin und her, als sich der Rhythmus des Gesangs beschleunigte. Wandirr brummte nur verärgert, antwortete ihm aber nicht.
Eid steht gegen Eid, wenn Visionen aufeinandertreffen, dachte Lian. Aber was bedeutet mir das Schimmerfeld? Die Sprichwörter ihrer Waffenmeisterin ließen ihr keine Ruhe, und besonders eines fiel ihr jetzt ein: »Ein Treuetest ist ein Spiegel, in dem jede ihr eigenes innerstes Wesen sieht.« Wenn ich es sehe, sagte Lian sich selbst, werde ich auch das andere erkennen.
Sie atmete mehrmals tief ein, um sich Klarheit zu verschaffen. Der Schrein würde sie zu einer Entscheidung zwingen, ganz gleich, wie sein Geheimnis auch geartet war. Sie mußte zur Ruhe kommen, damit ihre Handlungen aus Harmonie hervorgingen, das hatte die Schwesternschaft ihr beigebracht. Eine andere ihrer Lehren schob Lian im Augenblick weit von sich – nämlich, daß es manchmal das klügste war, gar nichts zu tun.
Unmerklich entspannte sich ihr Körper in einer Meditationshaltung. Der Gesang der Waldläufer und die Gesprächsfetzen aus ihrer Gruppe traten ebenso wie die grauen Felsen und treibenden Wolken in den Hintergrund. In ihrem erweiterten Bewußtseinszustand nahm sie viele zusätzliche Dinge wahr – das Gewicht, das sie mit der Erde verband, die Regungen der Luft, sowie die subtileren Umstände von Raum und Zeit, für die es keine Worte gab.
Mit zunehmendem Tageslicht verwandelten sich die Wolken in scharlachrote und goldene Spiralen. Der Rhythmus des Gesangs wich unvermittelt einem erregten Geschrei, als sich die Schleier einen Augenblick lang teilten und der Himmel in tiefem Lavendelblau wie ein Juwel erstrahlte.
Lian war klar, daß der Morgen schon weit vorangeschritten sein mußte. Es war jetzt hellichter Tag, auch wenn die dahintreibenden Wolken nur einen opalisierenden Schimmer durchließen, in dem die Felsen ebenso schemenhaft wirkten wie die Wolken selbst. Diese teilten sich immer wieder, und durch das Silbergrau der Wolken brachen Strahlen reinsten Goldes.
»Schaut!« rief Sara. In einem der Felsen funkelte es jetzt selbst, ein Lichtmuster, das aufblitzte, wieder verschwand, erneut leuchtete und mit jeder Wolkenbewegung stärker wurde. »Oh, wie schön es ist!«
»Das sind Schemata!« erklärte Wandirr. Lian aber erkannte darin die Lichtgestalt in einer Kristallmatrix wieder, und es erregte bei ihr die gleiche Übelkeit, die sie schon gespürt hatte, als man sie vor langer Zeit gezwungen hatte, in eine solche Matrix zu blicken. War es möglich, daß hier ein riesiger Sternenstein vergraben war?
Inzwischen erglühten auf jedem Felsen tänzelnde Lichtspuren und Feuerspiralen, und Lian wurde es immer schwindliger. Die Waldläufer schrien und sangen und schirmten ihre Augen gegen das gleißende Licht. Kein Zweifel, hier erwachte eine ungeheure Kraft! Energie pulsierte im auflodernden Licht. Jetzt lag nur noch die Öffnung zwischen den Felsen im Dunkeln – und der Kontrast zu dem sie umgebenden Glanz ließ sie nur noch schwärzer erscheinen.
Donato sprang auf und starrte in den dunklen Schlund, der sich im Stein auftat. »Dort drinnen ist es – ich weiß es! Und wenn ich es wiedererlange, werden sie mir mein Geburtsrecht anerkennen müssen!« Er stürzte nach vorn, und in seinen Augen tanzte der Abglanz des Feuers.
Donato hatte das Ende des Felsabsturzes erreicht und bereits die flachen Steinplatten vor der Öffnung betreten, noch bevor irgend jemand reagieren konnte. Erst jetzt schrie Wandirr »Halt!« und stürzte ihm nach. Donato fuhr herum, stieß den alten Wälsungen mit einem Arm beiseite und zückte mit der anderen Hand seine Waffe. Wandirr rappelte sich auf, erstarrte beim Anblick der Waffe und rief Lian um Hilfe.
Diese war bereits hinzugeeilt. Ihre Benommenheit war durch den Adrenalinstoß, den Donatos beabsichtigter Bruch aller Vereinbarungen hervorrief, wie weggeblasen.
»Steckt dieses Ding wieder ein!« Lian stellte sich zwischen Donato und Wandirr. »Ihr übertretet das Gesetz gleich zweifach, indem Ihr diese Waffe zückt und die Zeremonie stört.«
Donato konzentrierte sich völlig auf Lian. Mit einem aufgesetzten Lächeln ließ er den Betäuber in das Halfter zurückgleiten, während Wandirr sich über die Platten zum Abhang schleppte. Einen Augenblick lang glaubte Lian, sie habe gewonnen – doch dann fuhr die Hand des Waffenträgers zum Knauf seines Degens, während er einen Schritt zurück auf die flachen Steine trat. Sein Lächeln verzerrte sich zu einem breiten Grinsen.
»Aber nicht doch, Amazone – mir wirst du keine Befehle erteilen, nicht hier und jetzt! Von Geburt, Rang und Geschlecht bin ich dir überlegen. Du schuldest mir Gehorsam, und solltest du den verweigern, hast du jedes Anrecht auf Schutz, wie er einer Frau sonst zukommt, verwirkt. Den törichten Ingenieur habe ich bereits aus dem Weg geräumt, und der war mir nur lästig. Glaub mir, ich habe weitaus bessere Gründe, dich auszuschalten!« Seine Klinge schnellte aus der Scheide, indem er die en-garde-Position einnahm.
Lian starrte ihn an. Hatte es überhaupt noch einen Sinn, mit Vernunftsgründen an ihn zu appellieren? Donato brachte nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch alle Abkommen, die der Comyn-Rat getroffen hatte – mit den Waldläufern, mit den Terranern und auch unter den Domänen. Während ihr dieser Gedanke noch durch den Kopf schoß, taxierte ihre Kämpfernatur schon kaltblütig den Gegner auf seine körperliche und geistige Verfassung.
Ein wahrhaft würdiger Gegner, der durch die Schule der besten Fechtlehrer der Garde von Thendara gegangen war, dachte Lian, als sie ihr Langschwert aus dem Versteck in ihrem Köcher hervorzog. Unzählige Siege hatten ihn selbstsicher und stolz werden lassen. Sie fragte sich, ob Donato sich strikt an die klassische Fechtkunst hielt oder einen eigenen Stil entwickelt hatte.
All diese Überlegungen verblaßten, als sie in das glänzende Licht der steinernen Arena trat. Donato tänzelte mit vorgehaltener Klinge auf sie zu. Lian war von der aufblitzenden Waffe halb geblendet, als der Degen zustach, entging ihm aber mit einer geschickten Körperdrehung zur Seite und schwang nun ihrerseits ihr Schwert in einem glatten Bogen über Kopf und Schultern, dem der Degen nicht viel entgegenzusetzen hatte.
Donato, für den Augenblick überrascht, wich rasch zurück und nahm eine Verteidigungsposition ein. Sekundenlang standen sich beide Auge in Auge gegenüber – Donato durch die erste Riposte vorsichtiger geworden, Lian darauf bedacht, ihn zu entwaffnen.
Durch die Felsen um sie herum strömten beständig Lichtimpulse. Lian spürte Energie unter ihrer Haut prickeln, und Muster zeichneten sich auf ihrer Netzhaut ab. Das war keine zufällige Erscheinung, das alles folgte einem höheren Zweck! Benommen geriet sie ins Stolpern, und mit einem beherzten Ausfall griff Donato sie an. Nur durch ihren Sturz verfehlte seine Klinge Lians Kehle.
Avarra, steh’ mir bei! flehte Lian am Boden liegend. Es klirrte metallisch, als die beiden Klingen wieder und wieder aufeinandertrafen. Die Felsen durchlief ein überirdischer Gesang. Lian, die wieder auf die Beine gekommen war, schwankte im pulsierenden Kraftstrom. Ein erneuter Hieb verfehlte ihr Haupt nur um Haaresbreite, aber die Degenspitze ritzte ihren Oberarm auf. Donato lachte triumphierend auf; gefangen in der Wahnvorstellung seines eigenen Traums sprang er über die Steinplatten.
Lian wich keuchend vor ihm zurück. Die Sonne, die jetzt fast beständig durch die Wolken brach und den heiligen Ort verwandelte, verwirrte ihre Gedanken.
Verbinde dich mit der Kraft, die dich umgibt. Dienerin der Avarra, sei Ihr Schwert!
Und da endlich verstand Lian.
Sie gab sich ganz der sie umgebenden Herrlichkeit hin, ließ sich mit hocherhobenem Schwert von dem Kraftstrom nach vorne tragen, und in der Pracht, die vor ihren benommenen Sinnen aufblühte, erkannte sie, wozu dieser Ort diente.
»Donato! Zurück von der Öffnung!« Genauso entschlossen, wie sie zuvor ihren Gegner verfolgt hatte, suchte Lian jetzt hinter den Felsen Deckung.
Donato sah ihr noch einmal nach, und in diesem Augenblick konnte Lian bei ihm die gleiche Euphorie erkennen, mit der auch ihr Bruder jeder Gefahr begegnet war. Dann wandte Donato sich wieder der Öffnung zu und streckte die Hand aus, um zu ergreifen, was immer sie verborgen halten mochte. Sein Mantel glühte, als der Himmel endlich ganz aufriß und das volle Sonnenlicht durchließ; doch dann schien eine Explosion schierer Strahlkraft, die aus dem Inneren der Felsspalte hervorbrach dem Sonnenlicht zu antworten.
Donatos Schrei ging in dem Freudentaumel unter, mit dem die Waldläufer ihre Gottheit priesen, und es blieb ungewiß, ob Donato vor Ekstase oder Schmerzen geschrien hatte. Mit noch immer weit ausgebreiteten Armen verwandelte er sich in eine Feuergestalt, und sein Degen wurde zu einer lebenden Flamme. Die Felsen erbebten, als ob etwas seit langem unter ihnen begraben lag, das jetzt wieder zum Leben drängte – und Donato brach zusammen.
»Avarra sei uns gnädig!« flüsterte Lian.
Sie hatte ihn nicht getötet, und doch war er nicht mehr am Leben. Sie hatte auf des Schwertes Schneide gestanden; im Innersten fühlte sie sich wie ausgebrannt. Als die ersten Wolkenschleier den Himmel wieder verhüllten, sah Lian, noch immer halb blind, wie die Farbspiele verblichen und die Feuerspuren auf den Felsen erstarben.
Ihre Gefährten kamen nach und nach zu ihr, und alle starrten auf das Häufchen Asche, das einst Donato gewesen war.
»Es war also doch eine Waffe«, erklärte Wandirr heiser.
»Nein«, widersprach Sara und legte dabei ihre Hand auf seinen Arm. »Es war wunderschön.«
Lian rieb sich die Augen, und wie in einer sich nachträglich einstellenden Vision sah sie das überschattete Gesicht einer Frau aus uralten Zeiten. »Für Donato war es eine Waffe, für andere bedeutet es Schönheit. Leben und Tod, Feuer und Eis – alles aufgehoben in Avarras Spiegel.«
»Und was ist es für Sie?« fragte Wandirr und wies dabei auf die Waldläufer.
Lian schaute Deuu und seine Stammesgenossen an, die sich um die Fremden scharten. Und mit einem Mal formte sich die Energie, die Lian durchströmt hatte, zu Worten: »Begreift ihr denn nicht? Dies ist tatsächlich ein Kraftfeld. Deuu, kennt dein Volk noch andere solche Plätze?«
»In den Groß-Tagen«, antwortete der Waldläufer. »Jetzt nicht.«
»Ich glaube, ihr würdet weitere finden, wenn ihr an den Gletscherrändern sucht. Sie speichern die Sonnenwärme, aber die Leitungen sind blockiert. Die Techniker aus den Türmen könnten euch vielleicht dabei helfen, sie wieder in Gang zu setzen. Damit könnte man das Eis schmelzen und mehr Land für euer Volk gewinnen. Es wird kälter auf Darkover, aber die Terraner versichern uns, daß dies schon öfters vorgekommen sei. Ich glaube, die Spiegel wurden vor langer Zeit geschaffen, damit euer Volk in solchen Eiszeiten überleben kann.«
»Aber wie können Sie das wissen?« fragte Sara.
Darauf konnte Lian keine Antwort geben. Sie wußte es einfach, genauso wie sie wußte, daß Wandirr bereits im Geiste seine Monographie schrieb und daß Sara sich fragte, ob man ihr gestatten würde, die Rückkehr der Vegetation zu studieren, wenn die Gletscher zurückgingen. Und zu guter Letzt verstand sie auch den Schmerz, der Donato hinter all seinem Stolz verzehrt hatte.
In Avarras Spiegel zu schauen war keine Flucht vor den Schmerzen dieser Welt, sondern bedeutete, alles – wirklich alles – hinzunehmen. Lian hatte sich zu Recht vor dem Erwachen ihrer Gaben gefürchtet, aber nach diesem Erlebnis hatte sich etwas in ihr verändert. Sie hatte keine Angst mehr.
Lian wischte sich etwas Feuchtes von ihren Wangen – ja, das Eis begann zu schmelzen. Doch dann erinnerte sie sich, daß die Waldläufer die Spiegel ja noch gar nicht benutzten. Nein, das, was Lian spürte, waren Tränen.