Kapitel 20

Ich habe sie gefunden«, war alles, was Dan herausbringen konnte, als er vom Krankenhaus aus Clara in ihrem Hotel anrief.

Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen, durch den Raum tanzen oder sich hinknien und Gott danken sollte. Ganz gewiss war er nicht dazu in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu führen.

»Erzählen Sie es ihnen, ich kann nicht«, bat er und reichte den Hörer an den Polizisten weiter, der bei ihm war. »Sagen Sie ihnen, ich würde sie später anrufen, wenn ich wieder bei Verstand bin«, fügte er hinzu und konnte nicht aufhören zu grinsen.

Er ging von dem Privatzimmer, in dem man Fifi untergebracht hatte, den Krankenhausflur hinunter, und an einer abgelegenen Stelle fern von anderen Menschen trat er vor ein Fenster mit Blick auf den Parkplatz. Es regnete noch immer in Strömen, und es war fast dunkel, obwohl es erst sieben Uhr war, aber Dan hatte das Gefühl, heute gesegnet worden zu sein, und ein solch heiliger Zustand sollte nicht durch Erklärungen verdorben werden, zumindest jetzt noch nicht.

Er würde niemals vergessen, wie er den schmalen Feldweg hinuntergefahren war, mit Fifi an seiner Seite, die auf dem Beifahrersitz in sich zusammengesunken war. Blitz beugte den Kopf von der Rückbank nach vorn, seine lange Nase ruhte auf ihrer Schulter. Clive, der ebenfalls auf der Rückbank saß, bombardierte ihn mit Fragen.

Von Clives Haus aus hatte er die Polizei verständigt, aber erst nachdem er Fifi ihr erstes Glas Wasser zu trinken gegeben hatte. Er würde ihren Anblick dabei niemals vergessen: Sie hätte fünf Liter getrunken, wenn er es zugelassen hätte. Aber man wurde krank, wenn man zu viel auf einmal trank, daran erinnerte Dan sich noch aus alten Western.

Wie es ihm gelang, bei der Polizei zusammenhängende Sätze über die Lippen zu bringen, seinen Namen zu nennen, die Lage der Scheune zu beschreiben und von der Leiche zu erzählen – das wusste er später nicht mehr zu sagen. Außerdem rief er unverzüglich einen Krankenwagen in die Hurst Road. Und er hatte selbst nur mit knapper Not eine Tasse Tee getrunken, und das in der Tür stehend.

Er lächelte bei der Erinnerung an Jean, Clives Mutter; eine ganz normale Mum in einem geblümten Kittelkleid und mit zu einer engen Dauerwelle gelegtem Haar. Sie war so erschrocken, als er hinter Clive mit Fifi auf den Armen durch die Tür gestürzt war! Wahrscheinlich würde Clive noch wochenlang von diesem Abenteuer plappern und seine arme Mutter schier in den Wahnsinn treiben. Dan wollte sie bald einmal anrufen, alles erklären und ihr in aller Form danken, ganz zu schweigen von der fälligen Entschuldigung dafür, dass er ihren Sohn in eine potenziell gefährliche Situation gebracht hatte.

Erst kurz bevor die für Bexley zuständige Polizei ins Krankenhaus gekommen war, war es Fifi gelungen, Dan zu erzählen, dass Yvette sich das Leben genommen hatte. Er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie noch viel, viel mehr hätte sagen wollen, aber sie war zu schwach.

Dan erging es ganz ähnlich. Schon bald würde er der Polizei sein Vorgehen bis in alle Einzelheiten erklären müssen – bisher hatte er ihnen nur die wichtigsten Tatsachen skizziert –, aber im Augenblick interessierte ihn nur eines: Fifi lebte! In einigen Tagen würde es ihr wieder gut gehen, hatten die Ärzte ihm versichert, und das war alles, was zählte.

Dan spürte eine Hand auf seiner Schulter. Es war wieder der Polizist. Ein netter Beamter in mittleren Jahren, mit rundlichem Gesicht und einer väterlichen Art.

»Ich habe Ihren Schwiegereltern so viel erklärt, wie ich konnte«, meinte er mit einem warmen Lächeln. »Aber da ich selbst nicht viel weiß, war das ziemlich schwierig. Sie sind jetzt auf dem Weg hierher; ich habe einen der Beamten aus Kennington zu ihnen geschickt, und er wird sie herbringen. Fühlen Sie sich der Anstrengung gewachsen, mit ihnen zu reden? Und soll ich Sie noch einmal zur Hurst Road fahren, damit Sie Ihren Wagen holen können, während wir auf Ihre Schwiegereltern warten?«

Dan atmete tief durch. »Der Wagen gehört nicht mir, er gehört Jack Trueman. Ich habe Ihnen erzählt, dass er der Mann ist, der hinter all dem steckt. Hat der Polizist aus Kennington Ihnen gesagt, ob er inzwischen gefunden worden ist?«

Der Polizist lächelte schwach. »Ja, das wissen wir. Der Kollege meinte, Sie hätten dem Recht auf sehr massive Art zur Geltung verholfen. Das war töricht, denn nach allem, was man hört, ist Trueman ein ausgesprochen unangenehmer Kunde.«

Jetzt erst fiel Dan die Pistole in seiner Tasche wieder ein. Er konnte nicht zugeben, dass er eine Waffe besaß, weil er Johnny damit möglicherweise in die Bredouille gebracht hätte. Er musste hinausgehen und sie irgendwo verstecken, bevor die Polizei von Kennington ankam, außerdem wollte er wieder zurück zu Fifi.

»Ich möchte nicht unhöflich sein«, erwiderte er. »Doch ich würde gern ein wenig nach draußen gehen und eine Zigarette rauchen, bevor ich zu Fifi zurückkehre. Ich weiß, Sie brauchen vernünftige Erklärungen, aber im Augenblick fühle ich mich ein wenig zittrig. Kann das warten?«

Der Polizist legte ihm verständnisvoll eine Hand auf die Schulter. »Natürlich kann es warten, mein Junge. Sie haben Ihre Sache großartig gemacht. Dank Ihnen ist Ihre Frau jetzt in Sicherheit. Gehen Sie ruhig, und wenn Sie schon dabei sind, besorgen Sie sich auch etwas zu essen. Sie sehen so aus, als hätten Sie ebenfalls seit Tagen nichts mehr gegessen. Detective Inspector Roper wird mit Ihnen reden wollen, wenn er herkommt, und Sie werden ihm nicht viel nutzen, wenn Sie vor Hunger ohnmächtig werden.«

»Deine Mum und dein Dad werden bald hier sein«, berichtete Dan, als er sich ein wenig später an Fifis Bett setzte. Er hatte die Pistole in ein Handtuch aus dem Bad gewickelt, sie in einen Plastikbeutel gelegt und den Beutel hinter einem Baum neben einem der Krankenhausgebäude versteckt. Dort würde die Waffe bis zum nächsten Tag sicher aufgehoben sein. Er hatte eine Zigarette geraucht, eine Tasse Tee getrunken und ein Brötchen gegessen, dann war es ihm endlich gelungen, die Stationsschwester zu überreden, ihn wieder zu Fifi zu lassen.

Aber jetzt, da er allein mit ihr war, fand er die Worte nicht, die er sprechen wollte.

Sie sah so dünn und blass aus, ihre Augen waren glanzlos und ihre Lippen brüchig, und ein jäher Zorn wallte in ihm auf, dass ein Mensch bereit gewesen war, sie wissentlich verdursten zu lassen. Sie war durch die Hölle gegangen, so viel stand fest, und es würde vielleicht einige Zeit dauern, bis sie in der Lage war, ihm davon zu erzählen.

Der freundliche Polizeibeamte hatte ihm gesagt, dass er zwei Mal einen Fall gehabt habe, bei dem sich jemand erhängt hatte, und beide Male sei er noch Wochen danach ein Wrack gewesen. Welche Wirkung würde das schlimme Erlebnis also auf Fifi haben? Yvette war für sie keine Fremde gewesen, sondern ihre Freundin, und sie hatte dort bei der Leiche bleiben müssen und vielleicht geglaubt, ebenfalls in dieser Scheune zu sterben. Dans Zorn war so übermächtig, dass er Fifis Entführern mit Freuden die Schädel eingeschlagen hätte.

»Es ist so schön, es wieder warm zu haben«, flüsterte Fifi. Ihre Stimme war brüchig gewesen, als er sie gefunden hatte, aber jetzt, da sie mehrere Gläser Wasser getrunken hatte, war sie nur noch heiser. Außerdem hatte Fifi einen Teller Suppe und etwas Reispudding zu sich genommen. Der Schwester zufolge hatte Fifi um mehr gebeten, doch sie würde sich noch eine Weile gedulden müssen. Die Ärzte wollten sich erst davon überzeugen, dass ihr Körper die Nahrung auch annahm.

Sie hatten sie gewaschen, ihr das Haar gebürstet und ihr versprochen, sie am nächsten Tag zu baden und ihr die Haare zu waschen.

»Mir geht es wieder gut«, behauptete sie, aber Dan wusste, dass sie von jeder Normalität noch weit entfernt war, auch wenn sie sich ein wenig besser fühlte.

»Ich dachte, du würdest viel mehr Fragen stellen«, sagte sie. »Bist du immer noch wütend auf mich?«

»Wütend?«, wiederholte Dan erstaunt. »Natürlich nicht. Warum sollte ich wütend sein?«

»Nun, die letzten Worte, die wir vor dieser Geschichte gewechselt haben, waren sehr wütend.«

»Das ist elf Tage her«, tadelte er sie. »Ich hatte alles vergessen, sobald ich deinen Brief bekam.« Er erzählte ihr kurz, dass er an jenem Abend in die Dale Street zurückgekehrt sei und Verdacht geschöpft habe, als sie nicht nach Hause gekommen war.

»Mir kommt es so vor, als wäre viel mehr Zeit vergangen«, antwortete sie, griff nach seiner Hand und betrachtete die aufgeplatzte Haut auf seinen Knöcheln. »Ich bin mir nicht einmal sicher, welchen Tag wir heute haben.«

»Dienstag«, erwiderte Dan. »Du warst eine Woche in diesem Schuppen. Aber mir kam es so vor wie ein Monat. Ich war vollkommen verzweifelt vor Sorge. Erst als deine Eltern am Samstag erschienen sind, hatte ich endlich jemanden, der dein Verschwinden ernst nahm.«

Die Tür wurde geöffnet, und Clara und Harry traten ein.

»Liebling«, rief Clara und stürzte sich mit weit ausgebreiteten Armen auf ihre Tochter. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie wunderbar es war, diesen Anruf von Dan zu bekommen, auch wenn er nicht viel gesagt hat.«

Dan beobachtete die Vereinigung der Familie genau. Fifi erwiderte die Umarmung ihrer Mutter und versicherte ihr, dass es ihr bereits besser gehe, aber zwischen den beiden Frauen herrschte immer noch eine leichte Kühle. Zu ihrem Vater war sie herzlicher und hielt seine Hand fest, während ihre Mutter von den Reportern berichtete, von der endlosen Warterei und der Freude ihrer Geschwister, als sie sie angerufen und ihnen von Fifis Rettung erzählt hatte.

»Jetzt werden wir dich nach Hause bringen, sobald du von hier fort darfst«, erklärte Clara bestimmt. »Du brauchst gutes Essen und jede Menge Schlaf, um wieder zu Kräften zu kommen.«

Fifis Züge verkrampften sich. »Ich bleibe bei Dan«, erwiderte sie.

Clara drehte sich zu Dan um, und er konnte nur die Schultern zucken.

»Dan kann auch mitkommen«, meldete Harry sich zu Wort. »Wir wollen euch gewiss nicht trennen.«

»Natürlich kommt Dan mit, nicht wahr, Dan?« Clara sah ihn Hilfe suchend an.

»Ich werde hingehen, wo immer Fifi hingeht«, antwortete er. Es überraschte ihn, dass Clara nicht von selbst begriff, was das Verhalten ihrer Tochter zu bedeuten hatte. Fifi konnte unmöglich wissen, dass sich seit ihrem Verschwinden alles zwischen ihm und ihren Eltern geändert hatte. Ihre Mutter hätte es ihr wirklich erklären sollen!

»Dan!«, rief Clara tadelnd, und er grinste.

»Es liegt bei dir, Ma«, erwiderte er, und das Du kam ihm ganz selbstverständlich über die Lippen. »Fifi ist vieles, aber ich glaube nicht, dass sie eine Hellseherin ist.«

Wie die Sonne, die hinter einer Wolke hervorkam, malte sich plötzlich ein Lächeln in Claras Zügen ab, als sie die Bedeutung seiner Worte begriff.

Sie wandte sich wieder zu Fifi um und streichelte ihre Wange. »Möchtest du mich nicht unserem neuen Schwiegersohn vorstellen? Er ist wunderbar, alles, was wir uns je für unsere Tochter gewünscht haben.«

Die Ausgelassenheit und das Glück in ihrer Stimme trieben Dan die Tränen in die Augen. Am liebsten hätte er Clara umarmt, denn sie konnte nicht wissen, wie viel ihm ihre Worte bedeuteten.

»Ihr habt Freundschaft geschlossen?«, fragte Fifi, und ihre Augen leuchteten auf.

»Wir waren schon Freunde, lange bevor er zum Helden geworden ist«, meinte Clara lächelnd. »Ich weiß, ich denke immer, ich hätte in allem Recht, aber in Dans Fall habe ich mich so sehr geirrt, wie ein Mensch sich nur irren kann.«

»Daddy?« Fifi blickte zu ihrem Vater auf.

Harry kicherte leise. »Hm, ich muss zugeben, dass ich ihn von Anfang an amüsant fand, doch zu Hause wäre die Hölle los gewesen, wenn ich das zugegeben hätte. Wir hätten die vergangene Woche ohne ihn nicht überstehen können, Fifi. Wir sind über die Maßen erstaunt über seinen Mut, und wir hoffen, dass er von jetzt an immer ein großer Teil unseres Lebens sein wird.«

Fifis Augen füllten sich mit Tränen, und Dan hatte ebenfalls Mühe, die Tränen im Zaum zu halten.

»Weißt du, was er getan hat?«, fragte Clara ihre Tochter. »Detective Inspector Roper hat uns angerufen, bevor wir das Hotel verlassen haben. Dan ist ganz allein zu diesem schrecklichen Gangster gegangen, der hinter all dem steckte; er ist ihm sozusagen in seiner eigenen Höhle entgegengetreten. Er hat ihn windelweich geprügelt und gefesselt, und dann hat er ihn gezwungen, ihm deinen Aufenthaltsort zu verraten. Anschließend hat er sich mit dem Wagen des Mannes auf die Suche nach dir gemacht. Ist das nicht das Wunderbarste, Tapferste und Romantischste, was du je gehört hast?«

Zwei Tränen rannen über Fifis Gesicht, als sie zu Dan aufblickte.

»Willst du jetzt nach Hause kommen?«, fragte Clara.

Dan nickte Fifi zustimmend zu.

»In Ordnung, Mum, wir kommen schrecklich gern.« Fifi schniefte gegen die Tränen an. »Du weißt ja nicht, wie schön es war, dich all das sagen zu hören!«

Während der restlichen Besuchszeit spürte Dan die Wärme in der Atmosphäre. Vielleicht begriffen ihre Eltern ebenso wie er, dass Fifi noch Schonung brauchte, denn sie versuchten nicht, ihr Fragen zu stellen, und sprachen auch nicht von ihrer eigenen Verzweiflung. Wenn ein Fremder gehört hätte, wie Clara von den Jungen und Patty redete, hätte er gedacht, sie und Harry seien nur für ein paar Urlaubstage nach London gekommen.

Dan war damit zufrieden, einfach nur am Fußende des Bettes zu sitzen und zuzuhören. Alles, was Fifi jetzt brauchte, waren Sicherheit und Zuneigung. Es genügte vollkommen, wenn Fifi ihnen morgen berichtete, was sie durchgemacht hatte. Vielleicht würde sie aber auch niemals davon reden wollen.

Plötzlich schob der Polizeibeamte, der sie hergebracht hatte, den Kopf durch die Tür, um die Browns zu fragen, ob sie ins Hotel zurückgefahren werden wollten.

Clara sah ihre Tochter ängstlich an. Sie fand offensichtlich, dass es noch viel zu früh sei, sie allein zu lassen.

»Geht ihr nur«, sagte Fifi. »Und fahrt morgen zurück nach Bristol. Ich weiß, ihr seid nicht gern lange fort, und Peter, Robin und Patty brauchen euch ebenfalls.«

In diesem Moment wurde klar, dass Fifi während der vergangenen Woche sehr viel erwachsener geworden war. In ihrer Stimme lag Sorge, in ihren Zügen Zärtlichkeit.

»Das können wir nicht!« Clara wirkte empört.

»Natürlich könnt ihr das, ich bin schon wieder auf dem Weg der Genesung«, erklärte Fifi hochfahrend. »Es hat keinen Sinn, dass ihr weiter hier herumhängt. Dan wird mich nach Bristol bringen, sobald ich entlassen werde. Und wir können telefonieren.«

Clara stimmte schließlich zwar zu, aber als sie ging, waren ihre Augen voller Tränen. Dan vermutete, dass sie genauso empfand wie er; sie hatte Angst, Fifi aus den Augen zu lassen.

Nachdem ihre Eltern gegangen waren, kam Detective Roper herein. Er stellte Fifi keine Fragen. »Ich bin sehr froh, dass Sie in Sicherheit sind, und ich wünsche Ihnen eine schnelle Genesung«, sagte er nur. »Ich werde morgen Früh noch einmal herkommen, um mit Ihnen zu reden, Mrs. Reynolds.« Aber er bat Dan, ihn für ein paar Minuten nach draußen zu begleiten.

Im Schwesternzimmer fragte Roper als Erstes, warum Dan sich in der Sache mit Trueman nicht an ihn gewandt habe.

Dan sah keinen Sinn darin, um den heißen Brei herumzureden. »Ich hatte Angst, dass jemand auf dem Revier Informationen durchsickern lässt«, antwortete er. »Dieses Risiko konnte ich nicht eingehen.«

Roper runzelte die Stirn, enthielt sich jedoch jeder Bemerkung. »Wer hat Sie auf Trueman aufmerksam gemacht?«, wollte er wissen.

»Ich habe einen Mann im Pub über ihn reden hören; er sagte, John Bolton habe für Trueman gearbeitet«, log Dan. »Danach habe ich mich umgehört und in Erfahrung gebracht, wie er aussah und dass er einen roten Jaguar fuhr. Das hätten Sie übrigens auch herausfinden können«, fügte er spitz hinzu. »Und wie kommt es, dass Sie in Nummer elf seine Fingerabdrücke nicht gefunden haben?«

»Überraschenderweise hat der Mann keine Vorstrafen«, sagte Roper mit einigem Bedauern. »Er ist der Londoner Polizei zwar seit fast vierzig Jahren bekannt, aber wir konnten ihn niemals festnageln, wir hatten nicht einmal genug in der Hand, um ihm die Fingerabdrücke abzunehmen. In diesem Fall haben wir seine Beteiligung nicht vermutet, weil seine Interessen sich normalerweise auf das Gebiet südlich des Flusses beschränken.«

»Aber Bolton hat einen seiner Clubs gemanagt!«

»Bolton hatte mit dutzenden von Clubs zu tun.« Roper zuckte die Schultern. »Wir sind noch immer damit beschäftigt, sie alle zu überprüfen. Vergessen Sie nicht, dass ein Mann wie Trueman Menschen durch Angst beherrscht. Niemand geht das Risiko ein, Informationen an uns weiterzugeben. Aber für den Augenblick wollen wir es dabei bewenden lassen. Wie viel konnte Ihre Frau Ihnen von ihrer Entführung erzählen?«

»Noch gar nichts«, erwiderte Dan. »Nur dass Yvette sich erhängt hat. Das muss ein furchtbarer Schock gewesen sein, und ich bin mir nicht sicher, ob sie dieses Erlebnis jemals verwinden wird. Also liegt es jetzt bei Ihnen, in Erfahrung zu bringen, warum ein mächtiger Mann wie Trueman mit einem Stück Scheiße wie Alfie verkehrt hat. Dieser Teil des Ganzen ergibt für mich einfach keinen Sinn.«

Roper erklärte, am nächsten Morgen zurückzukommen, und setzte hinzu: »Ich hoffe, dass Ihre Frau bis dahin ebenfalls in der Lage sein wird, eine Aussage zu machen. Es war sehr mutig, es mit Trueman aufzunehmen«, bemerkte er noch und sah Dan mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Respekt an. »Niemand bei der Truppe empfindet etwas anderes als tiefe Bewunderung für die Art, wie Sie Ihre Frau gerettet haben. Bitte, richten Sie ihr von uns aus, dass wir alle finden werden, die an diesem Verbrechen beteiligt waren, und dass die Nachforschungen Angelas Tod betreffend zum Abschluss gebracht und der Schuldige seiner gerechten Strafe zugeführt werden wird.«

Als Roper gegangen war, fragte Dan die Stationsschwester, ob es möglich sei, die ganze Nacht über bei Fifi zu bleiben. »Ich kann einfach den Gedanken nicht ertragen, sie allein zu lassen, und ich fürchte, sie könnte Albträume haben.«

Die Schwester war sehr mitfühlend und nickte. »Sie müssen nicht auf dem Stuhl schlafen, Mr. Reynolds; ich werde Ihnen ein Feldbett ins Zimmer stellen lassen.«

Fifi schlief, als Dan in ihr Zimmer zurückkehrte, daher nutzte er die Gelegenheit, das Krankenhaus zu verlassen und sich eine Portion Fisch und Chips zu besorgen. Bei seiner Rückkehr schlief Fifi immer noch, daher legte er sich auf das Feldbett.

Es war recht gemütlich in dem kleinen Raum. Die Rollläden waren heruntergelassen worden, und die einzige Lampe über dem Bett warf ihr Licht auf einige dürre Blumen, die er an einem Blumenwagen vor den Krankenhaustoren erstanden hatte.

Draußen auf dem Flur war es sehr still, nachdem die Besucher gegangen waren. Er hörte nur gelegentlich das Knarren von Tabletten oder Getränkewagen und die Schritte der Schwestern, die durch die Gänge eilten. Am nächsten oder am übernächsten Tag würde er nach Hause gehen müssen, um Fifi saubere Sachen zu holen, und wahrscheinlich sollte er auch im »Rifleman« anrufen und den Wirt bitten, Frank, Miss Diamond und Stan von Fifis Rettung zu erzählen. Aber obwohl er die gute Neuigkeit gern mit allen geteilt hätte, um sie von ihren Sorgen zu befreien, wusste er, dass seine Nachbarn sehr betroffen über Yvettes Schicksal sein würden. Sie mochte eine recht eigenartige Frau gewesen sein, doch sie hatte lange Zeit in der Dale Street gelebt, und die Leute hatten sie gemocht.

Es war seltsam; er hatte auf den Tod der Französin im Grunde gar nicht reagiert. Er war natürlich entsetzt gewesen, sie dort hängen zu sehen, das war absolut furchtbar gewesen. Aber sobald er die Scheune mit Fifi verlassen hatte, hatte er Yvette quasi ausgeblendet.

Neben seiner Bestürzung über ihren Tod erwachte jetzt jedoch die Neugierde in ihm. Wann hatte sie sich das Leben genommen? Hatte Fifi versucht, sie daran zu hindern?

Er hoffte inbrünstig, dass Fifi sich bis zum nächsten Tag hinreichend erholt haben würde, um reden und Fragen beantworten zu wollen; erst dann würde er wirklich glauben, dass sie auf dem Weg der Besserung war. Aber er wusste nicht, wie er erklären sollte, auf welche Weise er von Jack Trueman erfahren hatte. Dan war jedenfalls fest entschlossen, Nora Diamonds Anteil daran nicht preiszugeben. Dan hätte selbst gern gewusst, was der Mann ihr angetan hatte. Aber gewiss würde Nora es ihm niemals erzählen.

Es gab so viele Fragen, auf die er eine Antwort brauchte! Und wenn er schon so viele Fragen hatte, wie viele würde erst die Polizei morgen haben? Er wünschte, er hätte Fifi jetzt einfach mitnehmen und irgendwo hinbringen können, wo es schön und friedlich war.

Aber in die Dale Street würde er sie nicht mehr zurückbringen, niemals. Vielleicht wäre es das Beste, auf Dauer in Bristol zu bleiben, sodass es nichts mehr gab, was sie an all das erinnern würde. Am Zwanzigsten dieses Monats war ihr erster Hochzeitstag. Was für ein schreckliches Jahr es gewesen war! Höchste Zeit, dass endlich etwas Gutes geschah!

Fifi schrie plötzlich auf, und Dan war innerhalb von zwei Sekunden von seinem Feldbett aufgesprungen und an ihre Seite geeilt.

»Es ist alles gut, ich bin hier«, flüsterte er besänftigend, während er sie in die Arme nahm.

Eine Sekunde lang sah sie so aus, als wüsste sie nicht, wo sie war, und in ihren Augen stand furchtbare Angst. »Es waren die Ratten«, wisperte sie. »In meinem Traum waren sie so groß wie Katzen, und sie kamen immer näher.«

»Die einzige Ratte hier bin ich«, erwiderte er in betont munterem Ton. »Und ich bin eine von der kuscheligen Sorte.«

Sie lächelte schwach. »Es war so real«, seufzte sie. »Vor den Ratten habe ich mich nach Yvettes Tod am meisten gefürchtet. Wir haben sie nachts immer rascheln hören, aber gesehen haben wir sie nicht.«

»Wann hat sie es denn getan?«, fragte Dan sanft und drehte sich ein wenig, sodass er mit dem Rücken am Bettgeländer lehnte, während er Fifi in den Armen hielt. »Hast du es mit angesehen?«

Fifi schüttelte den Kopf und erklärte, was geschehen war. »Ich denke, am Ende war sie ein wenig wahnsinnig. Sie sprach Französisch und meinte zeitweilig, bei ihrer Mutter zu sein. Aber das war nicht weiter überraschend, nach allem, was sie durchgemacht hatte.«

Stockend erzählte sie ihm dann, was Yvette als jungem Mädchen in Paris widerfahren war. Dan war entsetzt, nicht nur wegen der Grausamkeit des Ganzen, sondern weil er immer den Eindruck gehabt hatte, Yvette sei die geborene alte Jungfer. Ganz gewiss konnte er sie sich nicht in einem Bordell vorstellen.

»Ich nehme an, sie hatte einfach nichts, an das sie sich klammern konnte«, murmelte er. »Ich meine, sie hatte niemanden, keinen Freund, der nach ihr suchte.«

»Das war es nicht«, antwortete Fifi mit gepresster Stimme. Sie drehte sich zu ihm um, barg das Gesicht an seiner Brust und hielt sich an ihm fest. »Oh Dan, als sie mir davon erzählte, kam es mir einfach nicht real vor. Nichts war real, während wir in dieser Scheune waren. Aber jetzt!«

Sie begann zu schluchzen, ein heiseres Geräusch, das aus den Tiefen ihrer Kehle kam.

Dan drückte sie fest an sich und flüsterte Liebkosungen. »Jetzt ist ja alles gut, mein Liebes«, versicherte er ihr immer wieder. Er hatte erwartet, dass sie zusammenbrechen würde, sobald sie erst einmal über ihre Erlebnisse nachgedacht hatte.

»Was kam dir denn nicht real vor?«, hakte er nach einer Weile nach. Er hielt es für das Beste, sie zum Reden zu bringen. »Sprichst du von Yvettes Leichnam, der dort hing?«

»Nein, das war grausam real«, schluchzte sie. »Es war etwas, das sie gesagt hat.« Wieder klammerte sie sich mit aller Kraft an ihn.

Dan schob sie ein wenig zurück, hob ihr Gesicht und trocknete ihre Tränen mit dem Zipfel der Decke. »Vielleicht war es ja gar nicht real. Erzähl es mir, dann werden wir sehen, was ich davon halte.«

»Du wirst es nicht glauben«, flüsterte sie. »Ich denke, niemand wird es glauben.«

»Willst du es nicht wenigstens versuchen?«

»Yvette hat Angela getötet.«

Dan hätte am liebsten laut aufgelacht, doch im Stillen fürchtete er, dass Fifi tatsächlich den Bezug zur Realität verloren haben musste. »Das ist unmöglich, Liebes. Vielleicht hat sie behauptet, es getan zu haben, aber sie war offensichtlich nicht mehr ganz bei sich. Möglicherweise meinte sie, es sei ihre Schuld, dass Angela gestorben ist, weil sie die Muckles nicht angezeigt hatte, obwohl sie wusste, dass sie ihre Kinder schlecht behandelten.«

»Nein, Dan, sie hat sie wirklich ermordet«, rief sie aus.

Während sie ihm langsam die Geschichte jenes Freitagabends erzählte und von der Ankunft der Kartenspieler berichtete, begriff Dan, dass sie nur wiederholte, was sie von Yvette wusste. Zuerst hörte er ihr bloß zu, um ihr einen Gefallen zu tun, ohne ihre Worte wirklich ernst zu nehmen. Aber als sie schilderte, wie Yvette in ihrem Garten gekauert und beobachtet hatte, wie Molly Angela zum Verkauf darbot, wusste er, dass es sich wirklich so zugetragen hatte. Plötzlich war es beinahe so, als stünde er ebenfalls in diesem Garten.

»Sie hat den Mann im oberen Stockwerk mit Angela gehört«, stieß Fifi unter Tränen hervor. »Sie sagte, sein Name sei Jack Trueman, und das ist auch der Name, den du heute dem Polizisten gegenüber erwähnt hast. Ist das der Mann, den du verprügelt hast?«

»Ja.« Dan fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, überwältigt von Übelkeit, dass ein Mann ein Kind auf solche Weise verletzen konnte. »Sprich weiter, was ist als Nächstes passiert?«

Sie berichtete von den Ereignissen am nächsten Tag, bis zu dem Moment, als Yvette Angela das Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte. »Sie hat es getan, Dan, ich weiß es«, schluchzte sie. »Sie hat mir sogar beschrieben, wie sie das saubere Laken über Angela ausgebreitet hat.«

Dan war absolut sprachlos. Hätte er am Mittag gewusst, dass Trueman Angelas Vergewaltiger war, hätte er sich nicht damit zufriedengegeben, nur auf den Mann einzuschlagen. Er hatte nichts als maßlosen Abscheu für diesen Kerl und all die anderen übrig, die in jener Nacht im Haus der Muckles gewesen waren, und dieser Abscheu ließ Yvettes Tun beinahe gütig erscheinen. Doch das war es natürlich nicht gewesen! Yvette hätte Hilfe für das Kind holen müssen, sobald sie erriet, was geschehen würde. Es war nicht an ihr, Gott zu spielen und den Beschluss zu treffen, dass der Tod eine Erlösung für das Kind sein würde!

»Sie muss wahnsinnig gewesen sein«, rief er, so erschüttert von dem Gehörten.

»Sie meinte, Angelas Tod sei das ›kleinere Übel‹ gewesen«, sagte Fifi elend. »Und ich glaube, sie hat sich erhängt, weil auch das in ihren Augen das kleinere Übel war.«

»Nun, es hat ihr jedenfalls eine öffentliche Verhandlung erspart«, erwiderte Dan grimmig.

»Nein«, entfuhr es Fifi, und sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. »Das war ganz sicher nicht der Grund für ihren Selbstmord. Sie war ein durch und durch moralischer Mensch, und ich denke, sie hatte das Gefühl, bestraft werden zu müssen. Aber wenn sie mit mir verhungert wäre, hätte das bedeutet, dass niemand jemals von ihrer Tat erfahren hätte. Selbst wenn wir gerettet worden wären, ist es aufgrund der Umstände zweifelhaft, dass man sie gehängt hätte. Indem sie sich selbst getötet hat, hat sie das, was sie als die geziemende Strafe ansah, auf sich genommen.«

»Scheiße«, murmelte Dan entsetzt.

Sie schwiegen eine Zeit lang, während Fifi in Dans Armen lag und er ins Leere starrte. Er konnte im Moment nicht über die weiter reichenden Ausmaße von Yvettes Tat nachdenken. Ihn beschäftigte einzig die Frage, wie sich die albtraumhafte letzte Woche auf Fifi auswirken würde.

Plötzlich richtete sie sich auf und wandte sich ihm wieder zu. »Die Frage ist, soll ich der Polizei davon erzählen?«

»Hm, natürlich«, erwiderte Dan.

»Aber wenn ich es ihnen erzähle, werden sie Molly und Alfie freilassen müssen, nicht wahr?«

Dan sah sie bestürzt an. »Warum?«

»Sie können sie dann nicht mehr wegen Mordes im Gefängnis behalten, oder?«

Dan begriff, was sie meinte. »Aber der Verkauf seiner siebenjährigen Tochter muss doch eine ziemlich schwer wiegende Anklage sein.«

»Welchen Beweis gibt es dafür?«, hakte Fifi nach. »Yvette ist tot. Jack Trueman wird wohl kaum zugeben, Angela gekauft und vergewaltigt zu haben. Und du kannst darauf wetten, dass alle anderen Männer, die an jenem Abend dort waren, es ebenfalls abstreiten werden. Also, was würde übrig bleiben, um Alfie und Molly anzuklagen? Sie haben John Bolton nicht getötet, ebenso wenig wie sie Yvette und mich entführt haben.«

Es beeindruckte Dan, dass Fifi nach einem solchen Martyrium noch so klar denken konnte, und er verstand, worauf sie hinauswollte. Jeder vernünftige Mensch würde sich wünschen, dass Alfie und Molly für immer hinter Schloss und Riegel blieben. »Aber wenn sonst niemand zugibt, Angela vergewaltigt zu haben, wird man es Alfie zur Last legen.«

»Und was wird er dafür bekommen?«, fragte Fifi verächtlich. »Fünf Jahre vielleicht? Und die auch nur, wenn die Polizei genug Beweise finden kann, um ein Geschworenengericht von seiner Schuld zu überzeugen. Molly wäre in jedem Fall aus dem Schneider, nicht wahr? Sie wird weinen und beteuern, wie sehr sie ihre Kinder liebt und dass sie nichts von den schrecklichen Vorgängen gewusst hat. Bevor du bis drei zählen kannst, wird sie wieder zusammen mit ihren Kindern in diesem Haus sein!«

Dan glaubte, dass Alfie mehr als nur fünf Jahre bekommen würde, und seiner Meinung nach würde es Molly wohl kaum gelingen, sich so ohne weiteres aus der Verantwortung zu stehlen oder ihre Kinder zurückzubekommen. Aber Fifis Argument war einleuchtend: Es gab nicht allzu viele greifbare Beweise gegen die Muckles, nicht nachdem Trueman Yvette und Fifi entführt hatte. Wenn Fifi ihr Wissen für sich behielt, wäre es eine Art von poetischer Gerechtigkeit, wenn Alfie und Molly für das einzige Verbrechen, das sie tatsächlich nicht begangen hatten, gehängt würden oder eine lebenslängliche Freiheitsstrafe bekämen. Sie waren in der Vergangenheit so oft ungeschoren davongekommen, obwohl sie sich furchtbare Dinge zu Schulden hatten kommen lassen.

»In Ordnung. Aber wenn du schweigst, was wird dann mit Trueman geschehen? Ich möchte nicht, dass er nur wegen Mordes an John Bolton und Entführung angeklagt wird. Ich möchte ihn für die Vergewaltigung Angelas an den Pranger gestellt sehen.«

Fifi nickte. »Ja, doch selbst wenn ich der Polizei erzähle, was in jener Nacht wirklich geschehen ist, wird er ungeschoren davonkommen, falls nicht irgendjemand, der damals anwesend war, meine Aussage bestätigt«, erklärte sie müde. »Er wird auch nicht zugeben, etwas mit Boltons Tod zu tun gehabt zu haben, oder? Damit bleibt nur die Entführung übrig.«

»Und du kannst darauf wetten, dass er in diesem Augenblick und selbst aus einem Krankenbett heraus irgendetwas aushecken wird, um seine Rolle dabei zu vertuschen«, meinte Dan düster. »Außerdem hat er genug Geld, um sich einen erstklassigen Anwalt leisten zu können.«

Sie verfielen beide für eine Weile in Schweigen und dachten konzentriert darüber nach, was dafür sprach, Yvettes Geständnis zu enthüllen, und was dagegen.

»Ich glaube, du musst die Wahrheit sagen«, bemerkte Dan schließlich widerstrebend. Wie er das Ganze auch betrachtete, es schien ihm nicht recht zu sein, etwas so Ernsthaftes zu verschweigen. »So abscheulich die Muckles auch sind – du kannst nicht zulassen, dass sie für einen Mord verurteilt werden, den sie nicht begangen haben. Das würde für immer auf deinem Gewissen lasten.«

»Molly hat keine Skrupel, den Menschen die schlimmsten Dinge anzutun«, wandte Fifi ein. »Als Yvette damals nach England kam, hat sie Molly von dem Pariser Bordell erzählt. Damals dachte sie, Molly sei ihre Freundin, und sie brauchte jemanden zum Reden. Molly hat sie damit erpresst. Sie hat kein Geld von ihr verlangt wie bei Frank, doch sie hat sie mit diesem Geheimnis eingeschüchtert, damit sie den Mund über die Vorgänge in Nummer elf hielt.«

»Das ist ziemlich widerwärtig, da gebe ich dir Recht.« Dan nickte. »Aber Yvette hätte wegziehen können – niemand, der auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand hat, wäre geblieben und hätte sich mit all dem abgefunden.«

»Verurteile sie nicht so unbarmherzig, Dan.« Fifi griff nach seiner Hand und küsste sie. »Sie war ganz allein, und irgendwann glaubte sie, Molly verfüge über beinahe hexenhafte Fähigkeiten, um sie aufzuspüren. Was Yvette im Krieg durchgemacht hat, hat sie zerstört, und ihre Schuldgefühle haben sie bis zu ihrem letzten Atemzug gequält. Ich glaube, sie fühlte sich irgendwie betrogen, weil sie nicht ebenfalls in Auschwitz oder Bergen-Belsen gelandet war.«

Dan nickte. »Also gut. Doch hier geht es um mehr als nur die Möglichkeit, irgendjemanden für Angelas Tod verantwortlich zu machen. Alfie und Molly waren keine unschuldigen Zuschauer. Trueman und die anderen Männer, die an jenem Abend in Nummer elf waren, haben sich vermutlich nur deshalb in Alfies Schweinestall gesuhlt, weil er ihnen Dinge bot, die sie sonst nirgendwo bekommen konnten. Du hast gesagt, Yvette habe durchblicken lassen, dass es in der Vergangenheit andere junge Menschen gegeben habe. Meinst du nicht, man sollte dieser Frage nachgehen? Eine solche Ermittlung könnte Truemans Schläger so sehr erschüttern, dass sie der Polizei Informationen über ihn geben würden, Dinge, die vielleicht dazu führen würden, dass auch er nie wieder aus dem Gefängnis freikommt.«

»Du hast wahrscheinlich Recht«, sagte Fifi erschöpft. »Ich wünschte nur, ich hätte niemals meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten gesteckt. Ich werde es gewiss nie wieder tun.«

»Darf ich dich auf dieses Versprechen festnageln?«, fragte Dan grinsend.

Martin erfuhr die Neuigkeit, dass Jack Trueman zusammengeschlagen worden war, als er am Dienstag um halb sechs in die »Bastille-Bar« kam, um die Tageseinnahmen abzuholen. Patsy, die kleine blonde Managerin, rief ihn in die Küche und erzählte ihm von den Neuigkeiten.

»Heute Nachmittag hat es hier nur so gewimmelt von Polizisten, und wir haben einen Krankenwagen gehört, aber zu der Zeit dachten wir uns noch nichts dabei. Dann kam eins der Mädchen aus dem ›Mirabelle’s‹ herbeigelaufen und erzählte, die Polizei sei in das Büro gestürmt und habe Jack gefesselt und zu Brei geschlagen vorgefunden.«

Martin war so verblüfft, dass er Patsy nur mit großen Augen anstarren konnte. Wollte sie ihn vielleicht zum Narren halten? »Wer hat das getan?«, fragte er schließlich.

»Nun ja, Trisha hat von Janice gehört, dass es dieser gut aussehende Bursche gewesen sei, der an dem Morgen ins Büro gekommen war. Er hatte Janice zum Mittagessen eingeladen. Aber er ist nicht aufgetaucht, und als sie ins Büro zurückkam, hing ein Zettel an der Tür mit der Anweisung, sie solle nicht hineingehen, sondern auf die Polizei warten. Die Polizei ist dann auch kurz darauf erschienen, und sie haben Janice ins ›Mirabelle’s‹ geschickt, während sie ihre Nachforschungen anstellten. Kurz darauf kam dann der Krankenwagen und brachte Jack fort.«

Sofort stieg ein Gefühl der Furcht in Martin auf, denn falls dies der Beginn einer Fehde zwischen Gangstern war, wusste er, was Jack von all seinen Männern erwarten würde: Sie mussten hart und schnell zurückschlagen.

»Es ging um diese beiden Frauen, die vermisst wurden; es stand auch in der Zeitung«, fuhr Patsy fort und tippte ihm leicht auf den Arm, weil er nicht zuzuhören schien. »Trisha vermutet, dass der Bursche der Ehemann der hübschen Blondine war.«

»Wie bitte?«, rief Martin. »Nein, das ist unmöglich!«

»Hm, genau das hat sie die Bullen sagen hören«, gab Patsy zurück. »Aber wenn Jack diese Frauen entführt hätte, würdest du doch davon wissen, nicht wahr?«

Martin gefror das Blut in den Adern. Er behauptete, davon keine Ahnung zu haben, und schützte Eile vor, angeblich, weil er noch weitere Gelder einsammeln müsse, dann nahm er den Beutel mit den Tageseinnahmen und stürzte davon.

Er setzte seine tägliche Abendrunde durch die Geschäfte fort, sammelte die Einnahmen ein und legte sie in den Nachtsafe der Bank, doch sein Verstand arbeitete auf zwei verschiedenen Ebenen. Einerseits bewunderte er Dan Reynolds für seinen Mut, es mit Jack Trueman aufzunehmen, und er hoffte, dass Fifi und die Französin mittlerweile gerettet worden waren. Vielleicht war Trueman ja so schwer verletzt, dass er entweder starb oder sich aus seinen Geschäften würde zurückziehen müssen? Martin konnte sich dieser Hoffnung nicht erwehren.

Aber andererseits wusste er eines mit Bestimmtheit: Er würde in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Fifi konnte ihn und Del identifizieren.

Um neun Uhr traf er sich mit Del im »Cindy’s«, dem Stripclub in der Greek Street. Del erzählte ihm, dass er soeben eine Nachrichtensendung im Radio gehört habe. Man hatte die Frauen in Bexley gefunden. Eine der beiden sei ins Krankenhaus gebracht worden, aber die andere sei tot. Außerdem hatte die Polizei offenbar einen Mann festgenommen.

Jetzt musste Martin ihm sagen, was er wusste.

Alles prahlerische Gehabe fiel von Del ab. Er wirkte mit einem Mal sehr verängstigt. »Scheiße, ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen«, rief er. »Ich meine, machen wir weiter unsere Arbeit? Oder sehen wir zu, dass wir uns verpissen?«

»Wenn Jack im Bau sitzt, kann er uns nicht bezahlen«, sagte Martin. Seiner Meinung nach wäre es am besten, sofort zu verschwinden, solange sie es noch konnten.

»Ja, aber wenn wir uns verpissen und er rauskommt …« Del beendete seinen Satz nicht. Das war auch nicht nötig, denn sie wussten beide, was sie in diesem Fall von Jack zu erwarten hatten.

»Hm, ich werde jedenfalls nicht hier herumhängen und warten, bis die Bullen uns hochnehmen.« Martin zuckte die Schultern. »Ich gehe nach Hause zu meiner Gran. Bis wir wissen, was los ist.«

»Was hat denn das Lächeln auf Ihr Gesicht gezaubert, Sir?«, fragte Sergeant Mike Wallis, als er ins Büro kam und seinen Vorgesetzten außerordentlich zufrieden vorfand.

Es war Donnerstagvormittag, und Roper hatte sich den ganzen vergangenen Tag über aufgeführt wie ein Bär mit Kopfweh.

»Ich hatte gerade die Bow Street an der Strippe«, antwortete Roper grinsend. »Sieht so aus, als hätte einer von Truemans Laufburschen ihnen sein Herz ausgeschüttet. Im Allgemeinen halte ich es mit dem Sprichwort ›Es gibt keine Ehre unter Dieben‹, aber allem Anschein nach gefällt es diesem hier nicht, wenn Kinder oder hübsche junge Damen verletzt werden.«

»Was Sie nicht sagen!« Sergeant Wallis lachte leise. »Ich würde eher vermuten, dass das Ganze über dem Burschen zusammengebrochen ist und er versucht, seine Haut zu retten.«

»Es schert mich nicht im Mindesten, welche Gründe er für seine Beichte hatte, das Ergebnis ist alles, was zählt. Wir beide fahren jetzt nach Brixton, um Alfie Muckle einen Besuch abzustatten.«

Fast unmittelbar nachdem die Polizei am Dienstagnachmittag auf Dan Reynolds’ Anruf hin zum St. Anne’s Court gefahren war, hatte sie auch einen Durchsuchungsbefehl für Truemans Haus in Essex erwirkt. Aber als die Beamten wenige Stunden später dort erschienen waren, waren der Aktenschrank und der Safe leer gewesen, und die Tür hatte offen gestanden. Irgendjemand war der Polizei zuvorgekommen und hatte alle belastenden Beweise entfernt.

Als John Bolton tot aufgefunden worden war, bevor Roper ihn nach dem Mann hatte fragen können, mit dem man ihn in der Dale Street gesehen hatte, war ihm für einen Moment lang der Gedanke gekommen, es könnte auf dem Revier eine undichte Stelle geben, aber dann hatte er das Geschehene als bloßen Zufall abgetan. Selbst als Dan Reynolds im Krankenhaus denselben Verdacht geäußert hatte, hatte Roper lediglich gedacht, Reynolds sei ein wenig paranoid. Und das wäre unter den gegebenen Umständen durchaus erklärlich gewesen.

Doch als er eine knappe Stunde später vor dem leeren Safe stand, musste er einräumen, dass Reynolds’ Verdacht berechtigt war. Weniger als zehn Menschen hatten von der bevorstehenden Hausdurchsuchung bei Trueman gewusst, und sie alle waren Polizisten. Wenn man mit der Durchsuchung bis zum nächsten Tag gewartet hätte, hätte Roper vielleicht geglaubt, einer von Truemans Handlangern habe die Initiative ergriffen, nachdem er von der Verhaftung seines Arbeitgebers erfahren hatte. Aber die Schnelligkeit, mit der auf die Situation reagiert wurde, sagte ihm etwas anderes. Roper hatte das Gefühl, als hätte er einen Tritt in den Magen bekommen.

Den Mittwochmorgen verbrachte er dann im Middlesex-Hospital und versuchte, etwas aus Trueman herauszubekommen. Der Mann lag in Handschellen auf dem Bett, und vor der Tür war ein Beamter postiert, aber Roper saß dennoch auf glühenden Kohlen, weil er damit rechnete, dass Truemans Männer versuchen würden, ihn zu befreien. Jack Trueman weigerte sich zu sprechen, er lag einfach nur reglos da und mimte den Taubstummen. Roper fühlte sich versucht, Dan Reynolds’ Werk fortzusetzen; Schmerzen schienen das Einzige zu sein, was einige Schurken zum Reden brachte.

Dann fuhr er zur Befragung Fifi Reynolds’ zu dem Krankenhaus in Südlondon hinüber, und sie ließ die Bombe platzen: Angela Muckle war von der Französin erstickt worden!

Die ganze Zeit über war Roper davon überzeugt gewesen, dass Alfie Angela getötet hatte, und die Aussicht darauf, ihn bald hängen zu sehen, hatte ihm so manchen schlimmen Tag erhellt, denn die Muckles waren fast während der gesamten Zeit seiner Berufstätigkeit ein Dorn in seinem Fleisch gewesen. Roper hatte eine fünfundzwanzig Zentimeter dicke Akte mit Beschwerden über sie, und es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie bis zu einem gewissen Maß an der Hälfte aller Verbrechen in seinem Revier beteiligt gewesen waren. Doch wann immer er geglaubt hatte, endlich genug Beweise für ihre Verhaftung in Händen zu halten, war eine Entlastung oder ein hieb und stichfestes Alibi aufgetaucht, und seine Beweise hatten sich in Luft aufgelöst.

Diesmal hatte Roper geglaubt, auf der sicheren Seite zu sein. Nicht einmal als mit Stanislav und Ubley zwei falsche Fährten gelegt worden waren, hatte er sich entmutigen lassen. Glücklicherweise gab es keine handfesten Beweise gegen sie, und nicht einmal der Anwalt der Muckles war allzu optimistisch gewesen, dass er seine Klienten würde reinwaschen können. Der Fund von Boltons Leiche und die Entführung der beiden Frauen hatten die Wasser ein wenig getrübt. Offenkundig war in der Dale Street Nummer elf noch etwas anderes vorgefallen, von dem er und die Kollegen nichts wussten. Doch während der ganzen Zeit hatte Roper sich nicht von der eigentlichen Anklage ablenken lassen, der Vergewaltigung und Ermordung eines kleinen Kindes. Alfie – und hoffentlich auch seine Schlampe von Ehefrau – würden dafür hängen, so viel stand für ihn fest.

Als er dann erfuhr, dass auch Jack Trueman in die Sache verwickelt war, hätte er vor Freude tanzen mögen. Viele Jahre lang war Jack Trueman der Mann gewesen, den jeder ältere Beamte in London gern in den Bau geschickt hätte. Sie hatten vermutet, dass er auf irgendeine Weise in die Hälfte aller schweren Verbrechen in der Londoner City verwickelt war, doch er war ein raffinierter Bastard und der Polizei immer um einen Schritt voraus gewesen. Trueman hatte seine Spuren stets sorgfältig verwischt und gleichzeitig seine zwielichtigen, aber legalen Geschäfte zur Schau gestellt. Wenn Roper ihn festnageln könnte, würde das für ihn eine Beförderung und für all seine Männer einen Grund zum Feiern bedeuten.

Dann machte Fifi ihre Aussage über Yvette und erklärte, es sei Trueman gewesen, der Angela vergewaltigt hatte, und damit waren all seine Hoffnungen, Alfie und Molly für immer aus dem Verkehr zu ziehen, zerstoben.

Am vergangenen Abend war er vollkommen verzweifelt gewesen, weil er wusste, dass er bei der Lage der Dinge nichts Konkretes gegen diese Leute in der Hand hatte. Wahrscheinlich würden sie eine geringfügige Strafe für die Vernachlässigung ihrer Kinder bekommen, aber er bezweifelte, dass mehr als etwa ein Jahr Gefängnis dabei herauskommen würde.

Was Trueman betraf, würde es ihm mit einiger Gewissheit gelingen, sich von aller Schuld an Boltons Tod reinzuwaschen, und ohne einen Augenzeugen würde es praktisch unmöglich sein, ihm die Vergewaltigung Angelas nachzuweisen. Yvette hatte sich das Leben genommen, und damit blieb nur die Anklage wegen Entführung an Jack Trueman hängen; keine große Sache, nachdem Roper auf so viel mehr gehofft hatte.

Fifis Aussage zufolge hatte Yvette behauptet, in Nummer elf seien noch andere junge Menschen sexuell missbraucht worden, doch dies wusste sie lediglich vom Hörensagen – zumindest würde das Gericht es so bewerten. Und sie hatten die Identität der anderen Männer, die an jenem Abend im Haus der Muckles gewesen waren, noch immer nicht ermitteln können.

Am vergangenen Abend hatte er beschlossen, seinen Job an den Nagel zu hängen und in eine andere Stadt zu ziehen. Roper konnte es nicht ertragen, mit anzusehen, wie Alfie und Molly freigelassen wurden, ihm eine lange Nase drehten und weiter das Leben vieler Menschen ruinierten.

Aber beim Aufwachen an diesem Morgen hatte er festgestellt, dass die Sonne wieder schien. Sogar im Radio hatte man vom Altweibersommer gesprochen. Das erschien ihm als ein gutes Omen. Dann hatte er den Anruf eines Mannes namens Martin Broughton erhalten, einem von Truemans Lakaien. Broughton war am vergangenen Abend in der Bow Street erschienen, und er war bereit zu plaudern.

Jetzt hatte die Bow Street ein ganzes Dossier über Trueman, Einzelheiten über sein schmuddeliges Imperium, an die sie normalerweise niemals herangekommen wären. Und Roper hatte erfahren, wer der Informant auf dem Revier war!

Er hatte Inspector William Hall nie gemocht. Ein Gewaltmensch, ehemaliger Privatschüler und protzig obendrein – kein Wunder, dass er es sich leisten konnte, in Barnes zu wohnen und einen Zephyr 6 zu fahren. Und sie hatten alle geglaubt, es sei ererbter Reichtum!

Aber heute war er festgenommen und für die Dauer der Untersuchung vom Dienst suspendiert worden.

Jetzt hieß es jedoch zuerst einmal auf nach Brixton. Roper hatte sogar eine Idee, wie es ihm gelingen könnte, Alfie in die Falle zu locken.

»Sie sind wohl gegen eine Tür gelaufen, wie?«, bemerkte Roper sarkastisch, als ein Gefängniswärter Alfie in den Verhörraum brachte.

Der Mann hatte zwei blaue Augen, und er humpelte stark. In der grauen Gefängnisuniform wirkte er klein und bedeutungslos, und er hatte seit seiner Verhaftung abgenommen.

»Ein Streit in unserem Flügel«, sagte Alfie in dem jämmerlichen Versuch, den starken Mann zu geben. »Ich habe versucht, die Streithähne auseinanderzubringen, und das ist der Dank dafür.«

»Dann haben Sie also keine Freunde hier drin?«, fragte Roper, nachdem Alfie ihm und Wallis gegenüber am Tisch Platz genommen hatte. »In anderen Gefängnissen wird es Ihnen nicht besser ergehen. Ihre Frau singt wie ein Kanarienvogel, was Sie betrifft, und Jack Trueman ebenfalls.«

Bei der Erwähnung Truemans blickte Alfie erschrocken auf.

»Jawohl, wir haben ihn«, fuhr Roper hämisch fort. »Er singt genauso schön wie Molly. Sagt, Sie hätten Angela bei der Kartenpartie für zwei Riesen verkauft, und Molly behauptet, sie hätte verzweifelt versucht, Sie davon abzuhalten.«

Wallis blickte zu Roper hinüber; diese unverschämte Lüge verblüffte ihn wahrscheinlich. Trueman hatte bisher noch kein Wort gesagt.

»Das ist eine verdammte Lüge«, brüllte Alfie.

»Was ist eine Lüge? Dass er dort war – oder Mollys Behauptung?«

»Er war da, das stimmt«, knurrte Alfie. »Aber es war Molly, die Angie verkauft hat. Ich war zu besoffen, um irgendetwas dagegen zu unternehmen.« Alfie versteifte sich, als ihm plötzlich klar wurde, was er soeben eingestanden hatte, und in seine Augen trat ein gehetzter Blick.

Roper bemerkte zu seiner Freude, dass Wallis jetzt sehr aufrecht dasaß und ein leises Grinsen um seine Lippen spielte.

»Sie haben nun nichts mehr von Trueman zu befürchten«, erwiderte Roper beschwichtigend. »Er hat eine ordentliche Tracht Prügel bezogen und liegt im Krankenhaus, mit Handschellen ans Bett gefesselt und mit einem Beamten draußen vor der Tür. Sobald er so weit wiederhergestellt ist, dass wir ihn verlegen können, wandert er ebenfalls hinter Gitter. Wir werden ihn natürlich nicht hierher bringen, nicht wenn Sie uns dabei helfen, die losen Enden zusammenzuknüpfen.«

Roper hielt gerade lange genug inne, um Alfie Zeit zu geben, diese neue Entwicklung zu verdauen, dann sprach er weiter. »Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass er an jenem Abend in Ihrem Haus war. Molly hat uns erzählt, sie habe es mit ihm getrieben.«

»Das hat sie Ihnen erzählt?«, fragte Alfie ungläubig. »Er hätte sie nicht mal mit der Kneifzange angefasst!«

»Ich bitte Sie, Alfie«, schmeichelte Roper. »Molly ist eine attraktive Frau, Sie können ihr keine Vorwürfe machen, dass sie sich versucht fühlte, zu ihm zu ziehen. Er hätte ihr ein viel besseres Leben bieten können als Sie.«

Wallis putzte sich lautstark die Nase, wahrscheinlich um ein Kichern zu tarnen, und Alfie sprang sichtlich erbittert auf. »Sie lügt das Blaue vom Himmel runter«, platzte er heraus. »Jack Trueman mag sie gern jung, egal, ob Mädchen oder Jungen. Eine alte Vettel wie Molly würde er nicht mal ansehen.«

»Da habe ich aber etwas anderes von ihm gehört.« Roper schüttelte den Kopf. »Er behauptet, er habe im Wohnzimmer Molly gebumst, während Sie mit Angela oben waren.«

»Das ist eine verdammte Lüge. Ich bin nie mit Angela nach oben gegangen. Er war es! Er hat sie für zweihundert Mäuse gekauft und sie gebumst.«

So sehr Roper sich wünschte, die Wahrheit aus Alfie herauszuholen, drehte es ihm doch den Magen um, einen Mann so schnippisch von der Vergewaltigung seiner Tochter sprechen zu hören. Aber er musste seinen Ekel niederkämpfen und weitermachen. »Kommen Sie, Alfie!«, rief er. »Sie erwarten doch nicht, dass ich Ihnen das glaube? Ich habe unzählige Male mit Ihnen gesprochen, und Sie haben mir alles Mögliche erzählt, doch das höre ich jetzt zum ersten Mal. Sind Sie einfach sauer, weil er Molly hinter Ihrem Rücken gebumst hat?«

»Er könnte Molly direkt vor meinen Augen bumsen, und es würde mir nichts ausmachen«, wütete Alfie, dem jetzt weißer Schaum auf den Lippen stand. »Aber ich lasse mir nicht nachsagen, ich hätte unsere Angela angefasst, denn ich bin’s nicht gewesen. Ich war an dem Abend so besoffen, dass ich keinen hochgekriegt hätte, selbst wenn Jane Mansfield hereinspaziert wäre und mich angefleht hätte.«

Roper lächelte schwach. Alfie hatte beharrlich geleugnet, Angela vergewaltigt zu haben, der einzige Teil seiner Version der Ereignisse jenes Abends, der unverrückbar blieb. Doch selbst nachdem Roper jetzt wusste, wer das Mädchen vergewaltigt und getötet hatte, hatte er nicht die Absicht, diese Laus Alfie davonkriechen zu lassen. Er wollte ihn so wütend machen, dass er noch weitere seiner abscheulichen Geheimnisse preisgab.

»Trueman meint, Sie hätten Angst gehabt, Molly könne Sie verlassen, weil sie diejenige gewesen sei, die Ihnen junge Vögelchen beschafft hat.«

»Sie hat sie nicht mir beschafft, sondern ihm, für Geld«, explodierte Alfie und schlug auf den Tisch. »Und Jungen auch. Ich mag richtige Frauen, nicht diese mageren kleinen Dinger.«

Roper fuhr noch eine Weile so fort und ließ jeder Frage eine beleidigende und absolut unwahre Behauptung folgen, die angeblich von Trueman oder Molly stammte. Alfie geriet zunehmend in Rage, bis er kurz davorstand zu platzen, dann plauderte er plötzlich alles aus.

»Ich werd Ihnen sagen, wie’s wirklich war, verdammt noch mal. Ich hab seit Jahren freitags Kartenpartien gegeben, ich war berühmt dafür, weil die Einsätze immer hoch waren und wir gewöhnlich auch ein paar hübsche Vögelchen da hatten. Vor ungefähr einem Jahr kommt dann Jack Trueman daher, und weil er all diese Clubs und die anderen Geschäfte oben im West End hat, denkt Molly, er wär Graf Rotz persönlich. Sie braucht nicht lange, um auszuknobeln, was ihm gefällt und dass er gut dafür bezahlen würde. Als sie das erste Mal so ein junges Ding mit nach Hause gebracht hat – noch keine fünfzehn Jahre alt –, hab ich ihr gesagt, dass uns so was großen Ärger einbringen kann und dass er bald immer jüngere Mädchen verlangen würde. Aber sie hat verdammt noch mal nicht auf mich gehört. Und zu zweit hatten sie mich vollkommen in der Hand.«

Alfie schwadronierte fast zehn Minuten lang darüber, wie er versucht hatte, die Kartenpartien wieder zu dem zu machen, was sie früher einmal gewesen waren, doch Trueman hatte Molly nur eine Hand voll Geldscheine unter die Nase zu halten brauchen, und sie hatte ihm besorgt, was immer er wollte.

Wahrscheinlich entsprach dies der Wahrheit, Roper vermutete jedoch, dass Alfie auch einige Gaunereien für Jack Trueman erledigt hatte, sodass er keinen Rückzieher hatte machen können, als Trueman begonnen hatte, andere Männer mit denselben Neigungen zu den Kartenpartien mitzubringen.

Alfie erklärte auf seine einzigartig ordinäre Weise, dass Jack Trueman und seine Spießgesellen sich gern ein Kind miteinander teilten, weil das Zusehen sie ebenso anstachelte wie der eigentliche Sex. Es kümmerte sie nicht, ob es Mädchen oder Jungen waren, Hauptsache, sie waren jung. Und Molly lieferte sie ihnen.

Die Kinder waren Alfie zufolge häufig von zu Hause weggelaufen, angezogen von Londons hellen Lichtern. Molly fand sie auf den Straßen von Soho, freundete sich mit ihnen an und bot ihnen ein Bad, eine Mahlzeit und ein Bett für die Nacht an.

Roper konnte sich gut vorstellen, was für eine glaubwürdige Mutterfigur Molly sein konnte, wenn sie es darauf anlegte. In der Vergangenheit hatte sie ihn beinahe davon überzeugt, dass sie eine freundliche, ziemlich naive Frau war. Mike, Alfies Neffe, hatte ebenfalls anfangs geglaubt, sie sei »richtig nett«. Das hatte er Roper während eines Verhörs erzählt.

Inzwischen gab es für Alfie kein Halten mehr, und sie erfuhren weitere Einzelheiten. Molly suchte im Allgemeinen donnerstags die Kinder aus, machte viel Aufhebens um sie und schenkte ihnen sogar neue Kleider. Wenn dann der Freitag kam, erzählte sie ihnen, dass am Abend eine Party stattfinden würde. Bevor die Gäste kamen, gab sie den Kindern ein paar Drinks, um sie gefügig zu machen, und in den meisten Fällen glaubten die jungen Menschen bei den ersten Annäherungsversuchen von Seiten eines der Gäste, es geschehe aus reiner Zuneigung. An dieser Stelle flößte Molly ihnen einen Drink ein, in den sie zuvor einige Tropfen Beruhigungsmittel gegeben hatte.

»Keine Ahnung, was das für ein Zeug war«, behauptete Alfie, »ich weiß bloß, dass sie es von jemandem in Soho bekommen hat.«

»Einmal war nachts ein Junge da, und sie haben ihn einer nach dem anderen gebumst, bis er blutete«, erklärte Alfie entrüstet. »Ich konnte es nicht mehr ertragen und hab gesagt, es müsse endgültig Schluss damit sein. Aber Trueman hat sich ein Messer gegriffen und geantwortet, er werde mir den Schwanz abschneiden und ihn mir ins Maul stopfen, wenn ich ihm Ärger mache. Und es war sein Ernst. Ich hab gehört, dass jeder, der ihm in die Quere kommt, irgendwie verschwindet.«

»So wie John Bolton im Fluss gelandet ist?«, fragte Wallis.

»Er ist was?«, rief Alfie.

»Das wussten Sie nicht?«, erwiderte Roper, dem durchaus klar war, dass es so sein musste. Alfie wurde zu seiner eigenen Sicherheit die meiste Zeit über in Einzelhaft gehalten, daher war es unwahrscheinlich, dass ihm irgendwelche Gerüchte oder Neuigkeiten von außen zu Ohren kamen. »Nun ja, ich nehme an, hier drin hören Sie solche Dinge nicht. Es ist Sonntag letzte Woche passiert. Es heißt, er sei drauf und dran gewesen, Trueman zu verpfeifen.«

Zu Ropers Überraschung wirkte Alfie aufrichtig erschüttert. »John war ein guter Kerl, ich hab ihn mein Leben lang gekannt«, antwortete er mit zitternden Lippen. »Er hat mir gesagt, dass ich mich mit Trueman übernehme. Und Recht hatte er, da braucht man sich nur anzusehen, wo ich jetzt bin!«

»Aber er hat Trueman mit Ihnen bekannt gemacht, nicht wahr?«, hakte Roper nach.

»Nein, wer hat Ihnen denn das erzählt? Es war irgendein Kerl, den Molly kannte. Der hat Trueman das erste Mal mitgebracht.«

»Aber Bolton wurde gesehen, wie er zusammen mit Trueman Ihr Haus betrat.«

»Die beiden waren ein Mal zusammen da, ja. John hatte irgendetwas für Trueman erledigt und ihn bei mir abgesetzt. Ich hab John auf einen Drink um der alten Zeiten willen eingeladen. Doch er ist nicht lange geblieben.«

Das war vermutlich die Wahrheit, denn John Bolton hatte etwas Ähnliches ausgesagt, als man ihn nach Angelas Tod zu einer Routinebefragung vorgeladen hatte. Er hatte zugegeben, als Junge mit Alfie befreundet gewesen zu sein, und er hatte unumwunden eingestanden, dass er aufgrund ihrer früheren Verbindung im Juni ein Mal in Nummer elf Karten gespielt habe. Es hatte jedoch kein zweites Mal gegeben, weil ihm Alfies Lebensweise und das, was aus ihm geworden war, nicht gefiel. Aber es war ihm schwergefallen, den Mann gänzlich zu ignorieren, da sein Freund aus Kindertagen aufgrund seiner familiären Umstände niemals eine Chance gehabt hatte.

»Was glauben Sie, was Bolton uns über Trueman erzählen wollte?«, fragte Roper.

»Wahrscheinlich hat er erraten, was vorgegangen ist.« Alfie blickte ein wenig töricht drein. »John mochte solche Sachen nicht. Er war immer irgendwie ein Gentleman, selbst damals, als wir Kinder waren. Außerdem waren er und Trueman einander ohnehin nicht grün. Trueman hat ihn aus seinem Club rausgeworfen, weil John keinen Kotau vor ihm machen wollte. Verstehen Sie, John war kein Lakai, für niemanden, wenn Sie wissen, was ich meine?«

Genau diesen Eindruck hatte auch Roper immer von John Bolton gehabt. Ein Schurke, jedoch einer mit Stolz und einer Art Ehrgefühl.

»Trueman hat mein Leben zerstört!«, begann Alfie zu lamentieren. »Meine alten Freunde wollten nicht mehr zu den Kartenpartien kommen, und Molly ist von Woche zu Woche habgieriger geworden. Sie wusste schon immer, auf welcher Seite das Brot gebuttert war, aber nachdem Trueman aufgetaucht war, war sie einfach unmöglich. Dieser Kerl wusste, wie er mit ihr umgehen musste: Er machte ihr Komplimente, wie schön sie wäre und so weiter, aber das hat er nur getan, damit sie ihm beschaffte, was er wollte.«

Roper fand Alfies Versuch, sich als Opfer darzustellen, ein wenig ermüdend; ihm war es lieber, wenn der Mann prahlte und sich in Großtuerei erging. Doch er spürte, dass Alfie sich diese Dinge von der Seele redete, weil er sich in Sicherheit wähnte, jetzt, da Trueman hinter Schloss und Riegel saß und ihm nichts mehr anhaben konnte. Wenn Roper noch ein wenig mehr Druck ausübte, würde er vielleicht weitere Einzelheiten preisgeben.

»Molly sagt, Sie hätten diesen Jungen ebenfalls gebumst«, log Roper und glaubte beinahe an seine eigene Lüge, weil er sie so gelassen hervorbrachte. »Sie meint, Sie hätten es nicht erwarten können, endlich an die Reihe zu kommen.«

»Sie sagt was?« Alfies Gesicht wurde purpurrot, und die Augen traten ihm beinahe aus den Höhlen. »Ich bin kein Schwuler. Ich steh nur auf Frauen. Mir ist schon schlecht geworden, wenn ich hörte, wie sie es trieben, diese verfluchten Perversen! Und dann haben sie von mir erwartet, dass ich ihre Schweinerei in Ordnung bringe.«

Ein Schauer lief Roper über den Rücken. Alfie war nicht gerade der Redegewandteste, und diese letzte Bemerkung konnte alles Mögliche bedeuten, angefangen von der Notwendigkeit, den missbrauchten Jungen zu trösten, bis hin zum Putzen des Bodens. Aber Roper hatte das Gefühl, dass erheblich mehr dahintersteckte. Er blickte Wallis von der Seite an und sah, dass auch er darauf reagiert hatte. Er versteifte sich, beugte sich über den Tisch und ließ Alfie nicht mehr aus den Augen.

»Molly hat uns erzählt, dass der Junge gestorben ist«, bluffte Roper. »Aber sie hat nicht davon gesprochen, dass Sie die Leiche fortschaffen mussten. Wo haben Sie den Jungen hingebracht?«

Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung wirkte Alfie ehrlich erschrocken, und sie konnten seine Angst förmlich riechen. Er öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Offensichtlich war ihm klar, dass er sich selbst ein Bein gestellt hatte.

»Es ist schon gut, Alfie«, sagte Wallis gelassen. »Molly hat uns das alles bereits vor einer Ewigkeit erzählt. Wir haben Sie bisher nicht danach gefragt, weil wir warten wollten, bis wir Trueman in Gewahrsam hatten. Molly behauptet, Sie seien derjenige gewesen, der den Jungen getötet hat, aber wir glauben das nicht. Es war Trueman, nicht wahr? Sie können es uns ruhig erzählen, hier kommt er nicht an Sie heran.«

Alfie schluckte so heftig, dass es so aussah, als würde sein Adamsapfel aus seiner Kehle springen. »Er wollte ihn nicht töten«, platzte er heraus. »Einer der Männer meinte, er hätte dem Jungen wohl versehentlich das Genick gebrochen, als er ihn festhielt.« Alfie stand auf und bewegte sich nach vorn, als beugte er sich über jemanden, dessen Hals er festhielt. Bei dieser schrecklichen Pantomime stieg Ekel in Roper auf, denn es war offenkundig, dass Alfie ein interessierter Beobachter bei dieser Mehrfachvergewaltigung gewesen war.

»In der einen Sekunde hat der Junge noch geweint, in der nächsten war er dann plötzlich ganz schlaff. Er war tot.«

Roper war übel, und er brauchte Wallis nicht einmal anzusehen, um zu wissen, dass es ihm genauso ging. Aber jetzt mussten sie fortsetzen, was sie begonnen hatten. Eine Leiche zusammen mit einer Aussage würde genügen, um Alfie und Molly im Gefängnis zu behalten, und Trueman würde hoffentlich hängen.

»Und von Ihnen hat man verlangt, die Leiche wegzuschaffen? Wo haben Sie sie hingebracht?«

»Ich weiß es nicht genau, es war dunkel, und so weit draußen auf dem Land kenne ich mich nicht aus. Es war irgendwo weit hinter Lewisham, so viel weiß ich noch. Trueman hat Chas befohlen, uns zu fahren. Er kannte den Weg.«

Roper schloss für eine Sekunde die Augen. Er hätte eigentlich jubilieren sollen, denn es fügte sich alles zusammen. Er war davon überzeugt, dass Alfie von demselben Ort sprach, an den man die beiden Frauen gebracht hatte. Außerdem war er sich ganz sicher, dass Trueman oder einer seiner Handlanger nach dem Tod des Bauern das Land gekauft hatte.

Harry Brown hatte von der Möglichkeit gesprochen, einer der Männer auf Dan Reynolds’ Baustelle könnte etwas mit Fifis Entführung zu tun haben, und Roper hatte einige der Männer überprüfen lassen. Charles Bovey, besser bekannt als Chas, hatte zwar kein Vorstrafenregister, war aber ein bekannter Schläger. Und es waren zwei Beschwerden in den Akten zu finden, denen zufolge er junge Mädchen sexuell belästigt haben sollte, doch in beiden Fällen war die Anklage zurückgezogen worden. Roper hatte nichts in der Hand gehabt, um ihn vorzuladen, da es keine konkreten Hinweise gegeben hatte, die ihn mit Fifis Verschwinden in Zusammenhang gebracht hatten.

»Fährt Chas Bovey einen schwarzen Daimler?«, fragte er beinahe beiläufig. Er wusste recht gut, dass Chas einen grünen Consul hatte, aber zwei verschiedene Zeugen hatten behauptet, gelegentlich freitagabends einen schwarzen Daimler in der Dale Street gesehen zu haben, und er hoffte, von Alfie den Namen des Besitzers zu erfahren.

Alfie schüttelte den Kopf. »Nein, er fährt einen Consul.«

Roper heuchelte Überraschung. »Molly meinte, es sei ein Daimler!«

»Sie kann einen Morris Minor nicht von einem Leichenwagen unterscheiden«, erwiderte Alfie mit einem hässlichen Grinsen. Er schien nicht einmal zu bemerken, dass er zugegeben hatte, an Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. »Vielleicht hat sie die Karre ja mit dem Wagen von Truemans Freund, Tony Lubrano, verwechselt. Lubrano hat einen Daimler, und Molly hat ihn immer angebettelt, dass er sie damit mal rauf ins West End fahren soll.«

Bei dem Namen von Tony Lubrano hatten beide Polizisten die Ohren gespitzt. Wie Trueman leitete Lubrano mehrere zwielichtige Geschäfte in Soho, und auch für ihn interessierte sich die Polizei seit Jahren brennend.

»Da könnten Sie Recht haben, Alfie«, meldete sich Wallis zu Wort, der genauso geschickt log wie Roper. »Molly hat davon gesprochen, dass Tony an jenem Abend im Haus war, und wir dachten, sie hätte gesagt, dass Sie in seinem Wagen weggefahren seien.«

»Ja, er war da, aber wir haben nicht seinen Wagen genommen, sondern den Consul.«

»Wann ist das passiert, Alfie?«

Alfie Muckle musterte ihn argwöhnisch. »Hat Molly Ihnen das nicht erzählt?«

Roper schluckte. Er hatte inzwischen angenommen, Alfie sei ein kompletter Narr, und das war ein Fehler gewesen, denn was ihm an Intelligenz mangelte, machte er mit hinterhältiger Schläue wett. Er musste den Mann noch ein Weilchen umgarnen, so lange, bis er seine Aussage unterzeichnet hatte.

»Das hat sie auch getan, aber da sie in fast allen Dingen gelogen hat, möchte ich, dass Sie mir diesen Punkt bestätigen«, erwiderte Roper honigsüß. »Mein Gott, Alfie, Sie tun mir wirklich leid. Molly versucht, das alles auf Sie abzuwälzen. Was um alles in der Welt haben Sie ihr angetan, dass sie sich so an Ihnen rächt? Ich dachte immer, Sie würden zusammenhalten wie Pech und Schwefel.«

»Keine Ahnung.« Alfie schüttelte bekümmert den Kopf. »Aber ich werd nicht zulassen, dass sie mir das alles in die Schuhe schiebt. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Ich hab Ihnen noch nicht mal die Hälfte erzählt, was Molly betrifft.«

Roper war der Meinung, für einen Tag mehr als genug gehört zu haben. Das Ganze widerte ihn auf eine Art und Weise an, wie er es während seiner ganzen Laufbahn als Polizist noch nie erlebt hatte. Der Junge, der so grauenhaft und brutal getötet worden war, war wahrscheinlich ein Kind gewesen, das aus einem Fürsorgeheim weggelaufen war. Ungeliebt von Geburt an und ohne einen Menschen, der seinen Tod betrauerte. Und diese anderen jungen Menschen – was war nach ihrem Martyrium aus ihnen geworden? Das Erlebte hatte sie mit Sicherheit für ihr Leben gezeichnet.

Aber Roper konnte jetzt nicht aufhören. Sie brauchten weitere Einzelheiten, Namen und Daten, um sicherzustellen, dass Trueman, Alfie und Molly nie wieder aus dem Gefängnis kamen und dass die anderen Beteiligten verhaftet und angeklagt werden konnten. Hoffentlich kann ich das Gespräch zu Ende bringen, ohne mich übergeben zu müssen, dachte er mit einem unhörbaren Seufzer.

Zwei Stunden später standen die beiden Polizisten vor den Gefängnistoren, zündeten sich eine Zigarette an und schwiegen einen Moment lang, um sich zu fassen.

Sie glaubten, endlich die Wahrheit zu kennen, und sie hatten eine unterschriebene Aussage dafür, aber das Gehörte hatte sie so sehr verstört, dass sie einander kaum ansehen konnten.

»Ich werde wohl nie wieder die Dale Street entlanggehen können, ohne die grauenhaften Bilder der Ereignisse in Nummer elf vor mir zu sehen«, hatte Wallis gesagt, nachdem sie den Verhörraum verlassen hatten.

»Ich glaube, für mich wird’s langsam Zeit, in den Ruhestand zu treten«, meinte Roper seufzend. »Es wird immer schlimmer. Als ich zur Truppe gekommen bin, haben wir Männer verhaftet, die einfach nur Diebe waren. Man konnte verstehen, warum sie stahlen, denn sie waren in Armut hineingeboren worden, Arbeit war nur schwer zu bekommen, und sie hatten Familien zu ernähren. Aber jetzt muss man sich mit solch unfassbar abscheulichen Dingen abgeben!«

»Haben Sie sein Gesicht gesehen, als er sagte, sie hätten den toten Jungen kurz vor Weihnachten vergraben?«, fragte Wallis ungläubig. »Diese widerwärtige Zufriedenheit, dass es Neujahr geschneit hat und der Schnee wochenlang liegen blieb! Er dachte wohl, er spräche mit Männern, die die gleiche kranke Mentalität haben wie er!«

Roper schauderte. Er hatte das Gefühl, in Desinfektionsmitteln baden zu müssen, um sicherzugehen, sich nicht an all dem Widerwärtigen, das von Alfie ausging, angesteckt zu haben. »Ich bin mir nicht so sicher, ob ich stolz auf mich sein kann«, gestand er. »Ich habe all diesen Dreck nur zu Tage gefördert, indem ich Alfie angelogen habe. Jetzt müssen wir mit Molly ebenso verfahren. Aber ich glaube nicht, dass sie genauso schnell umfällt wie ihr Mann.«

»Waren die beiden schon so verkommen, als sie sich kennen lernten, oder haben sie einander zu dem gemacht, was sie heute sind?«, überlegte Wallis laut, während sie zum Wagen gingen.

»Darüber möchte ich nicht einmal nachdenken.« Roper lächelte schwach. »Wenn ich es täte, könnte ich mich versucht fühlen, all ihre Kinder und Enkelkinder zusammenzutreiben und lebenslänglich in Einzelhaft zu stecken, um sicherzustellen, dass sich die Muckle’schen Gene nicht weiter ausbreiten.«