Kapitel 18
Am späten Sonntagabend begleitete Dan seine Schwiegereltern zu ihrem Hotel in Paddington.
»Wollen Sie noch auf einen Schlummertrunk mit hereinkommen?«, schlug Harry vor.
Dan wollte eigentlich gleich wieder nach Hause. Seine Nerven lagen blank, und die Hotelbar war voller ausländischer Touristen. Er glaubte nicht, ihren Frohsinn oder das Durcheinander verschiedener Sprachen ertragen zu können, aber er hatte Angst, vielleicht ungehobelt zu wirken, wenn er die Einladung ausschlug.
»Also schön, auf einen schnellen Drink«, antwortete er müde.
Es war das schlimmste Wochenende seines Lebens gewesen. Es war schwer gewesen, Clara Brown wieder gegenüberzutreten, nach all den unfreundlichen Dingen, die sie bei ihrem ersten Zusammentreffen zu ihm gesagt hatte und die ihm noch immer in den Ohren klangen. Er musste allerdings zugeben, dass sie diesmal nicht ein einziges hartes Wort für ihn gehabt hatte, auch wenn er davon überzeugt war, dass sie ihm insgeheim die Schuld an Fifis Verschwinden gab. Aber die Angst in ihren Augen und das Zittern in ihrer Stimme waren irgendwie noch schlimmer als Vorwürfe.
Mit Harry war es einfacher gewesen, denn er war ein logisch denkender Mann und hielt seine Gefühle im Zaum. Wann immer Dan glaubte, er sei dem Zusammenbruch nahe, legte Harry ihm eine Hand fest auf die Schulter, eine stillschweigende Botschaft, dass sie diese Sache gemeinsam durchstehen würden, zusammengeschweißt durch ihre Liebe zu Fifi.
Den größten Teil des Samstags hatten sie auf dem Polizeirevier verbracht, und Dan war Bücher mit Verbrecherfotos durchgegangen, um festzustellen, ob er irgendwelche Gesichter erkannte, die er in der Dale Street schon einmal gesehen hatte. Am Abend waren sie in den »Rifleman« gegangen, da Dan die schwache Hoffnung gehegt hatte, dass einige nützliche Informationen an die Oberfläche kommen würden, wenn er die Browns mit den Stammgästen dort bekannt machte.
Selbst wenn Dan von Anfang an eine enge Beziehung zu Harry und Clara gehabt hätte, wäre es schwierig gewesen, mit dem Druck fertig zu werden, sie ständig um sich zu haben. Im Grunde waren sie Fremde, und Dan musste die ganze Zeit über auf der Hut sein. Er musste Acht geben, was er sagte, wie er sich benahm, musste Harry und Clara von Pessimisten und ungehobelten Leuten fernhalten. Und er musste versuchen, sich zuversichtlich zu zeigen, obwohl er in Wirklichkeit nichts als tiefste Verzweiflung empfand.
Heute waren sie von mehreren Reportern interviewt worden, was sie alle noch mehr aufgewühlt hatte. Zuerst waren die Reporter so mitfühlend und freundlich erschienen, doch eigentlich waren sie nur an einer Sensation interessiert gewesen, das hatte Dan schnell begriffen. Als Clara ausgeplaudert hatte, dass Fifi und Dan heimlich geheiratet hatten, hatten die Augen der Reporter aufgeleuchtet, weil sie eine Entfremdung der Familie witterten. Dan hatte eingreifen müssen, um Clara daran zu hindern, noch mehr zu offenbaren, was gedruckt zu sehen sie entsetzt hätte.
Der Himmel war den ganzen Tag über grau wie Blei gewesen; es war ein eisiger Wind gegangen, und Dan hatte vor seinem inneren Auge ständig Fifi gesehen, wie sie an einem kalten, dunklen Ort lag, halb wahnsinnig vor Angst. Er hatte immer geglaubt, mit so ziemlich jeder Situation fertig werden zu können, mit der das Leben ihn konfrontierte. Aber dieses Warten, die Unfähigkeit, irgendetwas zu unternehmen, um seine Frau zu finden, war unerträglich.
Sie suchten sich einen freien Tisch, und Harry bestellte bei einem Kellner die Drinks. »Ich will mich nur schnell erkundigen, ob irgendwelche Nachrichten für uns gekommen sind«, sagte er, als der Kellner wieder ging. »Und ich möchte auch schnell zu Hause anrufen.«
Dan beobachtete, wie Clara ihrem Mann nachsah, als er durch die Bar ins Foyer und zu den Telefonen ging. Sie hatte sich gut gehalten, aber wann immer Harry den Raum verließ, trat ein Ausdruck von Panik in ihre Augen, als fürchtete sie, auch er werde verschwinden.
Dan wusste jetzt, wie sehr er sich geirrt hatte, als er geglaubt hatte, die Ehe der Browns sei mehr oder weniger eine arrangierte Verbindung ohne echte Liebe. Im Laufe des Wochenendes hatten die beiden viele Male ihre Gefühle füreinander offenbart. Und die Liebe, die sie verband, war so stark wie ein Felsen, das erkannte Dan an der Art, wie sie die Hände des anderen suchten, wenn sie Angst hatten, an den Blicken, die sie tauschten, den kleinen Zärtlichkeiten. Jetzt schämte er sich dafür, Clara einmal unterstellt zu haben, ihre Probleme mit Fifi hätten ihren Grund in Eifersucht.
Außerdem hatte er viele Ähnlichkeiten im Charakter der beiden Frauen beobachtet. Wie Fifi wusste auch Clara stets alles besser. Clara war genauso neugierig, und auch sie konnte sich benehmen wie ein verwöhntes Kind. Allerdings verstand sie sich nicht so gut wie ihre Tochter darauf, locker auf andere Menschen zuzugehen, und sie war starrer in ihren Ansichten. Aber Dan vermutete, dass das größtenteils an ihrer Erziehung lag und an dem behüteten Leben, das sie geführt hatte.
Doch er hatte auch viele bewundernswerte Eigenschaften an seiner Schwiegermutter entdeckt. Ihre Haltung gefiel ihm, ebenso ihre Direktheit. Und sie war auch kein so schrecklicher Snob, wie Fifi behauptet hatte. Sie reagierte mit Entsetzen auf schlechte Manieren, aber es spielte keine Rolle für sie, welcher sozialen Schicht die Person angehörte, die durch schlechtes Benehmen auffiel. Sie rümpfte die Nase über Leute, die auf der Straße aßen, sie fand die Frage des Journalisten nach ihrem Alter unhöflich. Dennoch behandelte sie Menschen, die niedere Arbeiten verrichteten, wie das Zimmermädchen im Hotel, Kellner oder Taxifahrer, mit Wertschätzung. Im »Rifleman« war sie sehr charmant gewesen. Selbst als Stan ihr von seiner Arbeit als Müllmann erzählte, zuckte sie nicht mit der Wimper und bemerkte später, was für ein Gentleman er sei.
Clara hatte natürlich angenommen, ihre Tochter würde einen Akademiker heiraten, das hatte ja auch nahegelegen! Ihr Mann war schließlich einer. Aber Dan begriff jetzt, dass es Fifi mit ihrer Heimlichtuerei gewesen war, die Claras schlimmste Ängste geweckt hatte. Wenn sie ihn nur gleich mit nach Hause gebracht hätte, wäre Clara zu Anfang vielleicht trotzdem steif und abweisend gewesen, doch ihre tief eingefleischten guten Manieren hätten sie nach seinen positiven Seiten suchen lassen.
Dan wusste es, denn er konnte es auch jetzt, während ihres Aufenthaltes in London, beobachten. Als sie am frühen Samstagabend zu dritt in die Dale Street zurückgekehrt waren, hatte er ihnen Tee aufgebrüht und Sandwiches gerichtet und Claras Überraschung gesehen, als er den Tisch gedeckt hatte. Sie hatte offenkundig erwartet, er würde die Sandwiches und den Tee auf den Boden stellen und sie auffordern, »ordentlich reinzuhauen«. Früher einmal hätte ein solches Verhalten vielleicht zu ihm gepasst, aber Fifi hatte ihn gut unterwiesen.
Später hatte Clara einige Dinge bewundert, die er gebaut hatte. »Die haben Sie mit viel Liebe gemacht, Dan. Und mit großem Geschick«, hatte sie anerkennend gesagt. »Harry ist ein hoffnungsloser Fall mit seinen Händen.«
Es war keine Entschuldigung dafür, dass sie ihn bei ihrer ersten Begegnung so voreilig verurteilt hatte, doch andererseits erwartete er keine Entschuldigung von Clara. Es freute ihn einfach, dass sie endlich Seiten an ihm entdeckte, die ihr gefielen.
Der Kellner brachte ihre Drinks, und als Dan Geld aus der Tasche zog, winkte Clara ab.
»Ich lasse es auf unsere Rechnung setzen«, sagte sie.
Sie nippten schweigend an ihren Getränken. Clara betrachtete eine Gruppe amerikanischer Touristen am Nachbartisch. Sie hatten laute Stimmen und waren grell gekleidet.
»Früher war London voller eleganter Menschen«, bemerkte sie leise. »Selbst während des Krieges haben alle sich Mühe gegeben. Aber an diesem Wochenende habe ich nicht einen gesehen, der gut gekleidet gewesen wäre.«
»Ich schon«, entgegnete Dan. »Sie.« Es war ihm ernst damit; sie sah so adrett und weiblich aus in ihrem dunkelblauen Kostüm mit der weißen Rüschenbluse darunter. Er war stolz gewesen, sie im Pub als seine Schwiegermutter vorstellen zu können.
Sie lächelte müde. »Ich fühle mich wie ein Wrack«, bekannte sie.
»Nun, so sehen Sie aber nicht aus«, antwortete er. »Nur ein wenig erschöpft.«
Sie sah ihn lange und durchdringend an, und Dan machte sich auf eine scharfe Erwiderung gefasst.
»Ich habe Sie falsch eingeschätzt, Dan«, erklärte sie leise, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Es tut mir so furchtbar leid.«
Er war so verblüfft, dass ihm nichts zu sagen einfiel, doch als ihr die Tränen über die Wangen rannen, rutschte er unwillkürlich auf seinem Stuhl vor, griff nach einer Papierserviette und wischte ihr die Tränen sanft vom Gesicht, wie er es bei Fifi getan hätte.
»Die Vergangenheit spielt keine Rolle«, antwortete er, aber Claras Augen hatten solche Ähnlichkeit mit Fifis Augen, dass es ihm plötzlich die Kehle zuschnürte.
»Wir werden auch keine Zukunft haben, wenn wir sie nicht unversehrt zurückbekommen«, flüsterte sie und griff nach seiner Hand. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Dan, glauben Sie, dass sie bereits tot ist?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte er hastig. »Ich bin davon überzeugt, ich würde es wissen, wenn sie tot wäre. Außerdem hätte die Polizei inzwischen ihre Leiche gefunden, wenn man sie ermordet hätte.«
Claras Gesicht entspannte sich für einen Moment, dann wurden ihre Züge wieder starr. »Was kann nur in diesem Haus vorgefallen sein?«, fragte sie. »Es muss um mehr gegangen sein als um ein kleines Mädchen, das von seinem Vater getötet wurde.«
Dan nickte. »Aber ich habe keine Ahnung, was das sein könnte«, gestand er. »Fifi hat oft davon gesprochen, wie eigenartig es sei, dass irgendjemand den Wunsch verspüren sollte, mit Alfie Karten zu spielen. Ich habe nie ganz begriffen, was sie meinte. Jetzt wünschte ich, ich hätte besser zugehört und mit ihr über ihre Gefühle gesprochen, dann hätte sie es vielleicht nicht für notwendig erachtet, zu diesem Depot zu gehen.«
»Ich muss mir viel schlimmere Vorwürfe machen«, entgegnete Clara unglücklich. »Ich hätte mich mehr um sie kümmern sollen, nachdem sie das Baby verloren hatte. Ich wollte nicht so abweisend sein, aber wir hatten eine lange Zugfahrt hinter uns, und sie war nicht im Mindesten erfreut, mich zu sehen. Ich wünschte, ich würde endlich lernen, meine scharfe Zunge im Zaum zu halten.«
»Das alles spielte für Fifi keine Rolle mehr, nachdem Sie sie besucht hatten. Und was immer Sie gesagt oder getan haben, Sie hätten dies hier nicht verhindern können«, redete er beschwichtigend auf sie ein. »Wenn sich irgendjemand Vorwürfe machen muss, dann bin ich es. Ich hätte verständnisvoller sein sollen, nachdem sie Angela gefunden hatte, doch als sie sich später so in diese Sache hineinsteigerte, habe ich die Geduld verloren. Ich konnte nur daran denken, dass ich mehr arbeiten musste, um das Geld für einen Umzug in eine andere Gegend zusammenzubekommen. Wenn ich nur für sie da gewesen wäre und zugehört hätte, wäre sie vielleicht nicht auf die Idee gekommen, den Dingen auf eigene Faust auf den Grund zu gehen.«
»Das bezweifle ich, Dan«, widersprach Clara. »Sie hat schon immer getan, was sie wollte. Ich habe nie eine Möglichkeit gefunden, ihre Neugier zu bezähmen. Als sie noch klein war, habe ich unzählige Male nach ihr suchen müssen. Sie schlüpfte zum Tor hinaus, wenn ich nicht hinsah, und unternahm lange Streifzüge, um ihre Umgebung zu erkunden. Manchmal fand ich sie dann in einem fremden Garten, und wenn die Tür offen gestanden hätte, wäre sie direkt in das Haus hineinspaziert. Ihr fehlte einfach jedes normale Gefühl für Gefahr.«
In diesem Moment wurden sie von Harry unterbrochen, der zu ihnen zurückkehrte und sich auf seinen Stuhl sinken ließ. »Es gibt nichts Neues«, erklärte er bekümmert. »Patty hat erzählt, dass etliche Leute, bei denen sie nach Fifi gefragt hatte, sich noch einmal gemeldet haben, um zu hören, ob es etwas Neues gebe. Sie sagte, alle seien sehr freundlich gewesen.«
Clara berichtete Harry, worüber Dan und sie gesprochen hatten.
»Ich möchte, dass ihr beide aufhört, euch Vorwürfe zu machen«, erklärte Harry, als sie geendet hatte. Er musterte seine Frau und Dan mit einem strengen Blick. »Wir alle wissen, wie gern Fifi dramatisiert, und wenn es kein Drama gibt, dann schafft sie eins. Es hat keinen Sinn, wenn Sie darüber nachgrübeln, dass Sie sie nicht nach London hätten bringen sollen, Dan. Sie mussten herkommen, weil Sie hier eine Arbeit finden konnten, und der Platz einer Frau ist an der Seite ihres Mannes. Es tut mir leid, dass wir Sie nicht in unserer Familie willkommen geheißen haben. Wir waren töricht und kurzsichtig. In den letzten beiden Tagen haben wir selbst herausfinden können, warum Fifi Sie liebt.«
Ein solch offenes Eingeständnis und die liebevolle, väterliche Zuwendung Harrys im Anschluss an Claras Entschuldigung waren zu viel für Dan, und plötzlich brach er in Tränen aus. Er versuchte, sich zu beherrschen, konnte es aber nicht, und er schlug die Hände vors Gesicht, entsetzt, in aller Öffentlichkeit zu weinen.
Clara stand auf und legte die Arme um ihn. »Sie armer Junge«, flüsterte sie und wiegte ihn sanft hin und her. »Bleiben Sie heute Nacht bei uns im Hotel, wir werden uns um Sie kümmern.«
Ihre Worte waren ein großer Trost, denn Dan konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm jemals jemand angeboten hätte, sich um ihn zu kümmern, nicht einmal, als er noch ein Kind gewesen war.
In diesem Augenblick sah er die echte Clara hinter der Fassade. Sie hatte eine raue Schale, so viel stand fest, sie setzte gern ihren Kopf durch, und sie war halsstarrig. Aber die raue Schale diente dazu, den weichen Kern in ihr zu schützen, und sie war genau wie jede andere gute Mutter, bereit, für ihre Kinder zu kämpfen und alles daranzusetzen, um sie vor möglichem Schaden zu bewahren. Und als solchen hatte sie ihn in der Vergangenheit angesehen.
»Vielen Dank, ich weiß Ihr Angebot sehr zu schätzen«, flüsterte er und riss sich zusammen. »Ich werde schon zurechtkommen, das war nur ein kurzer Ausrutscher. Aber ich werde jetzt nach Hause gehen. Ich fühle mich Fifi näher, wenn ich all ihre Sachen um mich herum habe.«
Sie begleiteten ihn ins Foyer des Hotels, und Clara umarmte ihn abermals und küsste ihn auf die Wange. »Versuchen Sie zu schlafen«, riet sie liebevoll. »Man kann nie wissen, vielleicht hat die Polizei morgen Früh ja gute Neuigkeiten.«
Auch Harry umarmte Dan. »Wir werden morgen rüberkommen und gemeinsam zum Revier gehen«, sagte er. »Möchten Sie, dass ich Sie später zu Ihrer Arbeit begleite? Sie müssen wirklich mit Ihrem Chef reden; Sie wollen doch nicht zusätzlich zu allem anderen auch noch Ihren Job verlieren.«
Dan nickte. Er hatte sich seit Donnerstag nicht mehr bei seiner Firma gemeldet, und das musste er unbedingt nachholen, auch wenn sein Job ihm im Augenblick unwichtig erschien. »Das wäre schön«, antwortete er und versuchte zu lächeln. »Schlafen Sie gut, und machen Sie sich keine Sorgen um mich, ich komme schon klar.«
»Das arme Lämmchen«, meinte Clara nachdenklich, während sie Dan nachschauten, der zur U-Bahn-Haltestelle hinunterging. »Mittlerweile begreife ich, warum Fifi sich in ihn verliebt hat; er ist keineswegs der dreiste, auf seinen Vorteil bedachte Ganove, für den ich ihn gehalten habe.«
Harry legte seiner Frau einen Arm um die Schultern und schob sie sanft zurück ins Hotel. »Ich bin stolz darauf, ihn als Schwiegersohn zu haben«, antwortete er mit rauer Stimme. »Er ist aus einem guten Holz geschnitzt.«
Fifi war starr vor Schreck über das, was Yvette gerade gesagt hatte.
Es war zu dunkel, um ihr Gesicht zu sehen; sie war lediglich eine dunkle Gestalt auf der Matratze, und nur das Weiß ihrer Zähne und der Kragen ihrer hellen Bluse schimmerten schwach.
»Du kannst Angela nicht getötet haben«, stieß Fifi hervor. »Sei nicht dumm.«
»Ich ’abe es getan«, beharrte Yvette.
»Aber warum?«
»Es war – wie sagt ihr Engländer noch gleich? Das kleinere Übel?«
»Das verstehe ich nicht. Und ich glaube dir auch nicht; du könntest niemanden töten, erst recht kein Kind«, entgegnete Fifi entrüstet. »Und was meinst du mit dem ›kleineren Übel‹?«
Von der Französin kam ein tiefer Seufzer, als versuchte sie, ihre Gedanken zu sammeln. »Manchmal muss man zwischen zwei schlechten Dingen wählen. Wenn man zum Beispiel die Entscheidung treffen muss, ob man ein sehr krankes Tier be’andeln und vielleicht weiter leiden lassen oder es einschläfern soll. Mama musste sich entscheiden, ob sie mich fortschicken oder bei sich be’alten wollte, und dann wären wir vielleicht beide in ein Lager gekommen. In solchen Zeiten versuchen wir, uns für das kleinere von zwei Übeln zu entscheiden.«
Plötzlich stand Fifi ein lebhaftes Bild von Angela vor Augen, wie sie nackt und mit Blut auf den gespreizten Oberschenkeln auf dem Bett lag. Ebenso deutlich stand ihr die junge Yvette vor Augen, die in einem Bordell in Paris vergewaltigt wurde.
»Dann dachtest du also, Angela würde auf dieselbe Weise missbraucht werden wie du?« Sie spürte eine leichte Bewegung, als hätte Yvette genickt. »Also schön, erzähl mir, was an diesem Morgen geschehen ist, von Anfang an.«
»Es ’at am Abend zuvor begonnen«, berichtete Yvette zögernd. »Ich ’öre diese Männer ankommen. Es ist ’eiß, die Fenster ste’en offen. Ich ’öre alles, als wäre ich im selben Raum.«
»Komm, legen wir uns hin«, sagte Fifi sanft. »Es ist zu kalt, um ohne Decke hier zu sitzen.«
Sie legte sich nieder, und als Yvette sich an sie schmiegte, zog sie die Decke über sie beide. Fifi wartete geduldig ab, denn sie wollte Yvette nicht zur Eile drängen. Der Atem der Französin ging in gequälten Stößen; Fifi wusste nicht, ob der Grund dafür die Ungeheuerlichkeit dessen war, was sie soeben gestanden hatte, oder ein Symptom ihres geschwächten Zustands. Eigentlich müsste ich Angst haben, ging es ihr kurz durch den Kopf, aber eigenartigerweise verspürte sie nichts dergleichen.
»Erinnerst du dich daran, wie ’eiß es in dieser Nacht war?«, fragte Yvette.
»Hmhm«, antwortete Fifi.
»Ich ’abe es immer ge’asst, wenn sie drüben in ’eißen Nächten diese Partys ’atten, weil die Männer den Garten als Pissoir benutzten. Der Geruch steigt in meine Küche und das Schlafzimmer. Ich ’öre sie trinken und lachen und denke, dass Molly kichert wie eine Wahnsinnige.«
Es war Mollys irres Gekicher, das Yvette bei diesen Partys stets am schlimmsten zugesetzt hatte. Das Gelächter der Männer klang nicht anders als die Geräusche aus einer überfüllten Bar, aber Mollys Stimme war schrill und irrsinnig.
Zuerst kamen die Geräusche aus allen Räumen im Erdgeschoss, Musik aus dem Wohnzimmer, schallendes Gelächter, das Klirren von Gläsern und Flaschen aus der Küche und ab und zu Kinderstimmen, die sich unter die der Erwachsenen mischten.
Früher am Tag hatte Yvette Alan und Mary voller Aufregung über den am nächsten Tag geplanten Ausflug nach Southend reden hören, und gegen zehn Uhr hatte sie mitbekommen, wie Molly sie mit derben Schimpfworten zu Bett geschickt und sie gewarnt hatte, dass sie den Ausflug abblasen würde, wenn sie am Abend noch einmal die Treppe hinunterkämen. Yvette dachte, auch Dora und Mike wären zu Bett gegangen, da sie die Stimmen der beiden nicht noch einmal hörte.
Gegen halb elf zog sich die gesamte Gesellschaft in den hinteren Raum zurück, und der Lärm verebbte ein wenig, während sie mit dem Kartenspiel begannen. Die Geräusche, die jetzt noch zu hören waren – das Knarren von Stühlen, Seufzer und häufige Schimpfworte –, störten Yvette nicht, da sie zumindest bedeuteten, dass dies nicht eine von jenen Nächten würde, in denen schrecklichere Dinge geschahen.
Auch Mollys Stimme war nicht mehr zu vernehmen, aber das war keineswegs ungewöhnlich – sie saß vielleicht betrunken im Wohnzimmer oder lag mit einem der Männer in ihrem Bett –, doch ihr Verschwinden ließ vermuten, dass an diesem Abend tatsächlich nur Karten gespielt wurde.
Yvette, die bei geschlossenen Vorhängen am Fenster des Wohnzimmers saß, beschäftigte sich mit ihren Näharbeiten. Sie war müde, aber sie wusste, dass es sinnlos war, zu Bett zu gehen, da die Party bis in die frühen Morgenstunden dauern würde, und sobald alle Gäste betrunken waren und das Interesse an den Karten verloren, brach im Nachbarhaus häufig ein Höllenlärm aus.
Später sagten ihr die erhobenen Stimmen von nebenan, dass dort etwas Ungewöhnliches vor sich gehen musste. Es war keine Seltenheit, dass Flaschen oder Gläser geworfen und Möbel umgestoßen wurden, und obwohl ihr das alles zuwider war, wusste sie zumindest immer, dass die Party sich dann ihrem Ende näherte. Aber heute Abend war etwas anders als sonst; die Männer trommelten auf den Tisch, und in ihren erhobenen Stimmen schwang Erregung mit.
Es war keineswegs Yvettes Gewohnheit, irgendwelchen Dingen, die nebenan geschahen, auf den Grund zu gehen. Im Laufe der Jahre hatte sie am eigenen Leib erfahren, was dann geschehen konnte. Einmal hatte man eine volle Bierdose nach ihr geworfen, ein andermal war sie mit Urin bespritzt worden, und es reichte schon aus, dass sie an ihrer Küchenspüle entdeckt wurde, und ihre Nachbarn schrien ihr wilde Beschuldigungen zu, dass sie ihnen nachspioniere.
Aber diesmal gewann ihre Neugier die Oberhand, und sie stahl sich leise in den Garten hinaus, wobei sie sorgfältig Acht gab, sich hinter dem Zaun zu halten, der die beiden Häuser voneinander trennte. Als sie den unteren Teil des Gartens erreichte und in den Schutz der Bäume dort trat, stellte sie sich auf eine alte Kiste, um ins Haus zu spähen.
Sie hatte einen unverstellten Blick in das zum Garten hinausgehende Zimmer im Erdgeschoss der Muckles, und da dort helles Licht brannte, konnte sie alle Männer deutlich sehen, bis auf zwei, die in unmittelbarer Nähe des Fensters standen und ihr den Rücken zukehrten. Es waren sechs Männer insgesamt, Alfie eingeschlossen, und der Tisch war übersät mit Gläsern, Flaschen, überquellenden Aschenbechern und Karten, und in der Mitte lag ein Häufchen Geld.
Molly stand an der Tür zum Flur, oder genau genommen hatte sie sich dort in eine verführerische Pose geworfen. Sie trug ein dürftiges rotes Negligee, und sie hielt Angela an der Hand.
Ein schneller Blick auf die lüsternen Gesichter der Männer, auf Mollys kokette Miene und Angelas Ausdruck absoluten Unverständnisses genügten Yvette, um genau zu wissen, was Molly ihren Gästen da anbot.
Ihren Körper oder den des Kindes zum Tausch gegen das Geld auf dem Tisch.
Hätte sie als Kind nicht genau das Gleiche erlebt, hätte sie vielleicht glauben können, Angelas Anwesenheit sei nur ein Zufall, dass sie zu einem ungünstigen Augenblick nach unten gekommen war, um sich etwas zu trinken zu holen. Aber in den Zügen der Männer lag unverkennbare Gier, und nichts anderes konnte eine so geladene Atmosphäre geschaffen haben, gewiss nicht Mollys Körper, der schon für eine Flasche Schnaps oder weniger zu haben war.
»Es liegen über zweihundert Pfund auf dem Tisch«, schrie einer der Männer. »So viel ist sie gar nicht wert.«
Yvette begann zu zittern. Sie krampfte die Hände ineinander und sprach ein stummes Gebet, dass die Männer eine Mutter, die ihr Kind zu verkaufen versuchte, verurteilen und eilig davongehen würden.
»So junge Mädchen kriegt man nicht billig«, sagte Molly, dann bückte sie sich, fasste den Saum von Angelas Nachthemd und zog es ihr mit einer schwungvollen Gebärde über den Kopf, sodass die Kleine splitternackt dastand.
»Nein, Mum!«, rief Angela und versuchte, sich mit ihren dünnen Armen zu bedecken.
Nur eine absolut perverse Bestie konnte das magere kleine Mädchen mit dem schmutzigen Gesicht und dem ungekämmten Haar als Objekt der Begierde ansehen. Ihre Rippen ragten hervor wie auf einer Reliefkarte, ihre Arme waren dürr wie Makkaroni. Aber die Männer empfanden das offensichtlich anders, denn ein Summen der Erregung lag plötzlich im Raum. Überwältigt von einer Woge aus Entsetzen und Übelkeit, stieg Yvette von der Kiste und eilte ins Haus.
»Ich ’abe mich wieder und wieder übergeben«, flüsterte sie. »Ich ’atte das Gefühl, dass Alfie dasselbe mit Mary gemacht ’at, und ich bin davon überzeugt, dass es den älteren Mädchen genauso ergangen ist, als sie noch zu ’ause lebten. Aber Angela war so klein. Sie ’atte keine Brüste, keine ’üften, sie war einfach nur ein kleines Kind. Ich ’ätte sofort zur Polizei ge’en sollen, aber ich ’atte zu große Angst, und mir war so übel.«
Auch Fifi war übel. Wenn ihr Magen nicht vollkommen leer gewesen wäre, hätte sie sich übergeben müssen. Sie war bereits zu dem Schluss gekommen, dass Alfie Muckle es anderen Männern gestattete, seine Kinder zu missbrauchen, doch die bloße Vorstellung von etwas so Grauenhaftem konnte niemals so entsetzlich sein wie die Entdeckung, dass diese albtraumhaften Bilder real waren.
»Weißt du, welcher Mann sie bekommen hat?«, fragte sie.
»Oui«, flüsterte Yvette. Sie zitterte am ganzen Leib. »Ich ’abe ihn nicht gese’en, aber ich ’abe seine Stimme ge’ört, und ich weiß, dass es der große, ältere Mann war, der so ’äufig dort war. Ich weiß, dass sein Name Jack Trueman ist, weil Molly oft mit diesem reichen Mann geprahlt ’at, der ihr Freund ist.«
Der Name sagte Fifi nichts, doch es konnte sich sehr gut um den Mann mit dem Jaguar handeln. »Dann ist er also mit Angela nach oben gegangen?«, hakte sie nach.
»Ich ’abe es nicht sofort ge’ört«, antwortete Yvette. »Später gehe ich wieder nach draußen, und einige der Männer sind fort. Ich ’offe, dass ich mich irre, aber dann ’öre ich ein Geräusch aus dem Zimmer im oberen Stockwerk. Das alte Bett knarrt, und die arme Angela weint.«
Fifi schauderte. »Was ist danach passiert?«
»Ich ’öre Angela am Morgen weinen. Ich denke, Molly hat sie geschlagen, damit sie den Mund ’ält, dann se’e ich die ganze Familie fortgehen, zu ihrem Ausflug. Ich bin, wie sagt man noch, vollkommen neben mir.«
»Du warst vollkommen außer dir«, korrigierte Fifi sie automatisch, während sie vor ihrem inneren Auge die Muckles sah, wie sie an jenem Morgen das Haus verließen, und sie erinnerte sich an ihre Erheiterung über das Spektakel, das sie in ihrer Festtagskleidung geboten hatten.
»Ja, das ist es, ich war außer mir. Ich möchte ’inüberge’en und sie trösten. Sie tut mir so furchtbar leid. Also steige ich wieder über den Zaun und ge’e ’inein.«
Sie beschrieb den Schmutz, den sie in der Küche gesehen hatte, und Fifi war mit ihr in diesem Haus und durchlebte noch einmal alles, was sie später am selben Tag dort beobachtet hatte.
»Ich komme in dieses Zimmer im oberen Stockwerk, und ich öffne die Tür, und dort liegt Angela und leidet, wie ich vor all den vielen Jahren gelitten ’abe. Sie war voller Blut, ihre Scheide war geschwollen und rot. Sie sieht mich an mit diesen großen Augen. ›Das wird nun jeden Freitagabend so sein‹, sagen ihre Augen zu mir. ›Selbst wenn Sie mich jetzt mitnehmen und sich um mich kümmern und ’ilfe ’olen, wird es nie mehr gut. Ich kann es niemals mehr vergessen …‹ So wie ich niemals vergessen kann.«
Yvette stieß einen leisen, hohen Klagelaut aus und begann, sich hin und her zu wiegen.
»Was hast du dann getan?«, fragte Fifi, legte den Arm um sie und zog sie fest an sich. Was sie hören wollte, war etwas, das nicht zu den Dingen passte, die sie gesehen hatte, denn sie hielt Yvette noch immer nicht für fähig, ein Kind zu töten.
»Sie ’at nicht gesprochen. Ich denke, sie stand unter Schock. Ich lege eine ’and auf ihre Stirn. Ich sage, ich werde ihr ’elfen, aber sie ist vollkommen steif, wie gelähmt. Nur ihre Augen fle’en mich an, und mir wird plötzlich klar, dass sie mich bittet, sie zu töten.«
Sie schwieg einige Sekunden lang, und als sie weitersprach, war ihre Stimme plötzlich kalt, scharf und ohne Reue. »Ich greife nach dem Kissen, und ich drücke es ihr aufs Gesicht. Sie ’at sich nicht einmal gewehrt. Sie ’at nur die ’ände ge’oben, so.«
Fifi spürte die schwache, flatternde Bewegung von Yvettes Händen, obwohl sie sie nicht sehen konnte.
»Es ging sehr schnell. Ich warte, bis sie die ’ände sinken lässt, dann nehme ich das Kissen wieder weg. Sie ist tot und wird nie wieder so leiden. Ich ge’e in den Flur ’inaus, wo der Schrank steht; ich finde ein sauberes Laken und lege es über sie. Dann gehe ich zurück in meine Wohnung.«
In ihrer Betroffenheit und ihrem Entsetzen konnte Fifi nachvollziehen, was Yvette dazu getrieben hatte. Als sie vor dem vergewaltigten Kind gestanden hatte, waren ihre eigenen schrecklichen Erfahrungen in Frankreich wieder lebendig geworden. Nachdem Yvette das erste Mal vergewaltigt worden war, hatte sie sicherlich genauso im Bett gelegen und sich den Tod gewünscht.
Was Yvette getan hatte, war, zumindest in ihren eigenen Augen, ein Akt der Barmherzigkeit gewesen. Sie hatte ein bis in die tiefste Seele verletztes Kind von seinem Elend erlöst. Sie hatte Angela gegeben, was ihr selbst verwehrt gewesen war.
»Verstehst du jetzt, warum ich nicht weiterleben will?«, brach Yvette plötzlich das Schweigen. »Diese Dinge lasten unerträglich auf meinem Gewissen, ich kann sie nicht vergessen. Und jetzt ’ast du ebenfalls Angst vor mir?«
»Nein, ich habe keine Angst vor dir«, erwiderte Fifi langsam. »Ich kann dich verstehen.«
Für eine Weile lag sie einfach nur wortlos da. Ihr war übel und schwindelig, und die Ungeheuerlichkeit des soeben Gehörten ängstigte sie. Sich vorzustellen, dass all das im Haus gegenüber passiert war! Ein siebenjähriges Kind war an den Meistbietenden verkauft worden! Wie konnte irgendeine Mutter so durch und durch schlecht sein?
»Du ’ast doch Angst«, stellte Yvette unglücklich fest.
»Nicht vor dir«, seufzte Fifi. »Ich wünschte nur, du wärst in jener Nacht oder wenigstens am nächsten Morgen zu mir gekommen und hättest mir erzählt, was vorgefallen ist. Dann wäre nichts von all dem geschehen.«
»Aber niemand kann verste’en, was so etwas für ein kleines Mädchen bedeutet«, flüsterte Yvette. »Sobald es gesche’en ist, wird es diese Kleine ihr Leben lang verfolgen, es ist in ihrem Kopf. Man ’ätte ihr ein neues Zu’ause geben, ihr ein Fahrrad und Puppen kaufen können – aber es wäre niemals wieder gut geworden.«
Fifi konnte ihr weder Recht geben noch ihre Worte bestreiten. Sie wünschte sich nur, sie wäre an dem Tag, an dem Angela bei ihr gewesen war, ihrem Instinkt gefolgt und hätte Hilfe für das Kind geholt. Aber jetzt war sie zu erschöpft, um weiter über das Thema zu reden. Angela war tot, im Stich gelassen von allen – ihren Eltern, ihren Nachbarn, ihrem Arzt und ihren Lehrern. Jeder, der ihr junges Leben berührt hatte, trug eine gewisse Verantwortung, doch es war zu spät für Schuldzuweisungen.
Sie versuchte zu schlafen, aber Yvettes Bericht ließ ihr keine Ruhe.
»Warum hat die Polizei deine Fingerabdrücke nicht sichergestellt?«, fragte sie plötzlich. Die Polizei hatte ihr, Dan, Frank und Stan die Fingerabdrücke abgenommen und wahrscheinlich auch jedem anderen in der Straße, um sie mit denen zu vergleichen, die in Nummer elf gefunden worden waren. Eins der größten Probleme der Polizei bei dieser Ermittlung war die Anzahl von Fingerabdrücken im Haus gewesen, von denen sich viele nicht hatten zuordnen lassen.
»Ich ’abe meine Gummi’andschuhe getragen, weil ich in diesem ’aus nichts anfassen wollte, es ist so schmutzig.«
Fifi dachte daran, wie sie sich die Hände geschrubbt hatte, nachdem sie dort gewesen war, aber sie wäre niemals auf die Idee gekommen, Handschuhe anzuziehen, bevor sie hinübergegangen war. Ein Staatsanwalt würde darin wahrscheinlich einen Vorsatz sehen. »Ich verstehe. Warst du anschließend den ganzen Tag über zu Hause?«
»Nein«, antwortet Yvette. »Ich se’e dich oben in deinem Fenster, also ge’e ich an der ’interen Mauer entlang, wie Alfie es tut. Ich fahre mit einem Taxi zu meiner Anprobe. Ich weiß, dass ich zur vereinbarten Zeit dort sein werde. Ich sage der Polizei, ich sei kurz nach acht aufgebrochen und mit dem Bus gefahren.«
Kurze Zeit später schlief Yvette ein, doch Fifi fand noch immer keine Ruhe. Es war unvorstellbar, dass jemand mit dem Rest seiner Familie einen Ausflug unternahm, nachdem er in der Nacht zuvor seine siebenjährige Tochter an einen Perversen verschachert hatte, aber es fiel ihr ebenso schwer zu glauben, dass ihre Freundin zu einer solchen Tat fähig gewesen war. Es war weniger die eigentliche Ermordung Angelas – die ergab aus Yvettes Perspektive vielleicht einen gewissen Sinn –, sondern die Tatsache, dass die Französin wenige Minuten später das Haus verlassen und den Tag mit einer Ankleideprobe verbracht hatte. Dieses Verhalten hatte doch etwas sehr Berechnendes.
Ein kalter Schauder überlief Fifi. Yvette hatte ihr all das erzählt, weil sie nicht glaubte, noch gerettet zu werden. Was war, wenn sie am Morgen aufwachte, neue Hoffnung schöpfte und es bedauerte, Fifi in ihr Geheimnis eingeweiht zu haben? Was würde sie dann tun?
Nein, mir würde sie nichts antun, sagte sie sich energisch. Außerdem wird Dan mich finden. Ich weiß es einfach.
Am Dienstagmorgen fiel es Dan schwer, aus dem Bett zu kommen. Der Schlafmangel der vergangenen Woche hatte ihn schließlich eingeholt, und er war während der Nacht nicht ein einziges Mal aufgewacht. Während er nun dalag, auf den Regen lauschte, der ans Fenster trommelte, und sich vergegenwärtigte, dass der vor ihm liegende Tag nichts als weiteren Kummer bringen würde, wäre er am liebsten wieder eingeschlafen, um vor seiner nagenden Furcht Zuflucht zu suchen.
Aber er hatte Harry und Clara versprochen, aufs Polizeirevier zu gehen, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen, und sich danach bei ihnen im Hotel einzufinden. Die Geschichte von Fifis und Yvettes Verschwinden hatte am vergangenen Tag in allen Zeitungen gestanden, und die Browns mussten bleiben, wo sie waren, falls sich jemand bei ihnen meldete, der Informationen hatte.
Clara und Harry waren am vergangenen Tag hergekommen, und Clara hatte Dan mit seiner Wäsche in die Reinigung geschickt, während sie die Wohnung geputzt hatte. Harry meinte, sie putze immer, wenn sie erregt sei, aber Dan hatte es beunruhigend gefunden, sie all die Arbeiten erledigen zu sehen, die Fifi sonst verrichtete.
Die Frau in der Wäscherei hatte alles genau wissen wollen. Obwohl Dan klar war, dass sie nur fragte, weil sie oft mit Fifi geredet hatte und sich einfach Sorgen um sie machte, konnte er die Reinigung gar nicht schnell genug verlassen, weil es ihm inzwischen schwerfiel, mit jemandem zu reden. Immer wieder kamen ihm die Tränen, und er stellte fest, dass seine Antworten zunehmend konfus ausfielen; tatsächlich hatte er schon Mühe, überhaupt einen zusammenhängenden Satz über die Lippen zu bringen.
Es war gut, dass Harry ihn gestern zu seinem Boss begleitet hatte. Arnie Blake war ein anständiger Kerl, auch wenn es ihm an menschlichem Mitgefühl mangelte, da über seinem Kopf das Damoklesschwert von Vertragsstrafen schwebte, falls er einen Bau nicht termingerecht übergeben konnte. Aber Harry verstand sich darauf, die Dinge so zu formulieren, dass sein Gegenüber sich verpflichtet fühlte, all seinen Vorschlägen zuzustimmen.
»Du kannst dir so lange freinehmen, wie es notwendig ist, Dan. Ich halte dir deine Stelle auf jeden Fall frei«, hatte Arnie schließlich versprochen.
Aber im Augenblick dachte Dan, dass er sich wohl eher vor einen U-Bahn-Zug werfen würde, falls er Fifi nicht unversehrt zurückbekam.
Er hatte sich noch nie im Leben so erbärmlich gefühlt. Während seiner trostlosen Kindheit, dem Dienst in der Armee, gelegentlicher Phasen der Obdachlosigkeit und all der anderen schlimmen Zeiten in seinem Leben, hatte er sich seinen Frohsinn stets bewahren können. Selbst wenn ihn in der Vergangenheit einmal Liebeskummer gequält hatte. Doch andererseits hatte er bei jeder anderen Frau, mit der er je zusammen gewesen war, stets einen Teil seiner selbst zurückgehalten. Bei Fifi hatte er das nicht nötig gehabt; sie war seine Sonne, sein Mond und seine Sterne. Ohne sie war alles grau, und er vermisste sie mit allen Fasern seines Seins, als hätte man ihm einen Arm oder ein Bein abgetrennt.
Widerstrebend stieg er aus dem Bett, wusch sich, rasierte sich und zog seine Hose an, aber als er den Kleiderschrank öffnete, um ein sauberes Hemd herauszuholen, und all die frisch gebügelten Sachen sah, die Clara neben Fifis Kleider gehängt hatte, begann er zu weinen.
Er versuchte, über sich selbst zu lachen, war jedoch nicht dazu im Stande. Fifi hasste es, Hemden zu bügeln, und meistens bügelte sie nur den Kragen und die Vorderseite und hängte sie so in den Schrank, in der Hoffnung, dass er es nicht bemerken würde. Die makellose Perfektion seiner Hemden war der endgültige Beweis für Fifis Abwesenheit und erschien ihm wie eine Bestätigung, dass sie nie wieder zurückkommen würde.
Während der vergangenen Tage hatte Dan mehrmals geweint, aber nicht so. Er hatte das Gefühl, als wäre etwas in ihm zerbrochen, und er konnte den Schmerz und die Qual nicht länger unterdrücken. Er knallte die Kleiderschranktür zu, doch es half nichts; überall waren Spuren von Fifi – ihre Haarbürste auf der Kommode, der Morgenmantel an der Rückseite der Tür, ihre Pantoffeln vor dem Bett.
Dan riss den Morgenmantel vom Haken, drückte ihn ans Gesicht und schluchzte hemmungslos. Er konnte ihr Parfüm auf dem weichen Stoff riechen, und der Duft weckte Erinnerungen an ihren Hochzeitstag und an die erste Nacht, in der sie sich geliebt hatten.
Sie war damals so unschuldig gewesen, aber gleichzeitig so erpicht darauf, ihm zu gefallen. Es hatte ihn nie gekümmert, dass sie eine lausige Köchin war und nicht gern bügelte und aufräumte, er hätte sie mit Freuden von vorne und hinten bedient, solange er nur jede Nacht ihren schönen Körper neben seinem spüren und in ihren Armen liegen konnte.
»Dan?«
Beim Klang von Miss Diamonds Stimme ließ er den Morgenrock sinken. Die ältere Frau stand in der Schlafzimmertür. Sie trug ein Kostüm, wie immer, wenn sie zur Arbeit ging, und sie wirkte sehr ängstlich.
»Entschuldigen Sie die Störung«, bat sie. »Aber ich habe Sie weinen hören, und ich hatte befürchtet, dass Sie vielleicht schlechte Neuigkeiten bekommen haben.«
Das Mitgefühl in ihrer Stimme ließ Dans Tränen nur umso reichlicher fließen, und plötzlich spürte er Miss Diamonds Arme um sich.
»Es waren nur die Hemden und der Anblick von Fifis Sachen«, stieß er hervor. »Es gibt noch nichts Neues.«
Sie griff nach seiner Hand und führte ihn, noch immer mit nacktem Oberkörper, in ihre Küche, wo sie ihn auf einen Stuhl drückte. »Ich werde Ihnen jetzt erst einmal eine Tasse Tee aufbrühen«, meinte sie. Aber er konnte noch immer nicht aufhören zu weinen, und sie blieb neben seinem Stuhl stehen, drückte ihn an sich, ließ ihn weinen und klopfte ihm nur schweigend auf den Rücken, als wäre er ein kleines Kind.
»Sie armer Junge«, sagte sie nach einer Weile. »Sie waren so lange so stark und tapfer, aber es ist einfach zu viel für Sie.«
Dan beruhigte sich. »Ich möchte Sie nicht aufhalten«, brachte er schließlich hervor, doch sie winkte ab und erklärte, die Arbeitsstunden ein andermal nachholen zu können.
Sie kochte ihm Tee, bereitete ihm ein Rührei zu und fragte, ob es irgendeine Reaktion auf Fifis Foto in den Zeitungen gegeben habe.
Nachdem Dan Tee getrunken und die Eier gegessen hatte, ging es ihm ein wenig besser, und er erzählte ihr, was am Wochenende vorgefallen war und dass Fifis Eltern im Hotel seien und er nach einem weiteren Besuch auf dem Polizeirevier später zu ihnen gehen wolle.
»Die Polizei scheint die Verbindung zu John Bolton nicht allzu ernst zu nehmen«, berichtete er. Es fiel ihm überraschend leicht, mit Miss Diamond zu reden; sie blieb vollkommen sachlich, und sie stellte keine dummen Fragen oder unterbrach ihn mit unerheblichen persönlichen Anekdoten, wie es die meisten Leute taten. Sie saß ihm lediglich gegenüber und ermunterte ihn sanft zum Reden. »Ich habe den Eindruck, dass sie nicht einmal an eine Verbindung zwischen den beiden Fällen glauben, obwohl doch ein Blinder sehen kann, dass es sie gibt«, fuhr er fort. »Sie behaupten, der Sache nachzugehen, aber bisher haben sie mir von keinem einzigen konkreten Schritt erzählt, den sie unternommen haben. Sie sollten sich sämtliche Leute vorknöpfen, mit denen John Umgang hatte, und sie vorladen, doch soweit ich das beurteilen kann, haben sie überhaupt nichts getan.
Nehmen Sie zum Beispiel diesen Burschen, den Fifi in dem roten Jaguar beobachtet hat«, fuhr er wütend fort. »Sie hat ihn und John irgendwann an einem Freitag ins Haus der Muckles gehen sehen. Warum können sie den Mann nicht finden? Wie viele Leute gibt es wohl in der Gegend, die einen neuen roten Jaguar fahren, um Himmels willen! In ganz London können es nicht allzu viele sein. Für mich liegt auf der Hand, dass Fifi entführt wurde, weil sie der Polizei von ihm erzählt hat, und niemand kann mir einreden, dass sie die Einzige ist, die diesen Mann bei einer Gegenüberstellung identifizieren könnte! Und es kann auch nicht so verdammt schwer sein herauszufinden, mit wem John zusammengearbeitet hat. Ich glaube nicht, dass sie auch nur seine Frau gründlich befragt haben.«
Er errötete. »Entschuldigen Sie die Flucherei, Miss Diamond«, sagte er. Diese Geschichte mit dem Jaguar hatte ihn wirklich verärgert. Er hatte Roper gefragt, ob sie sich mit allen Jaguarhändlern in London in Verbindung gesetzt und sich von jedem eine Liste der Kunden hätten aushändigen lassen, die während der vergangenen zwei Jahre einen neuen roten Wagen gekauft hatten.
»Meine Männer sind gerade in diesem Augenblick damit beschäftigt, aber bisher sind nur die Namen von vertrauenswürdigen Geschäftsleuten und einigen Akademikern aufgetaucht«, hatte Roper erwidert.
Nora Diamond sah Dan nun voller Sympathie an. »›Miss Diamond‹ ist ein wenig förmlich, ›Nora‹ genügt«, meinte sie und lächelte schwach, während sie Dans Haar zerzauste. »Und was Sie durchmachen, würde wohl jeden zum Fluchen bringen. Ich bin davon überzeugt, dass die Polizei ihrer Arbeit nachgeht, und die Beamten waren am Sonntag auch drüben bei Vera, während Sie fort waren. Aber nach dem, was John zugestoßen ist, ist es nicht leicht, die Leute zum Reden zu bringen, sie haben einfach zu große Angst.«
»Angst wovor?«, rief Dan. »Sie müssten sich doch nicht als Informanten zu erkennen geben oder es von den Dächern schreien, sie brauchten lediglich einen Namen zu flüstern, wenn sie ihn kennen. Sie sind allesamt verfluchte Feiglinge!«
Bei Dans Verdammnis der Nachbarn krampfte sich Noras Magen zusammen. Sie hatte am Sonntag mit Frank Ubley gesprochen, und er hatte gesagt, all diese schrecklichen Dinge seien nur geschehen, weil die Leute zu feige gewesen seien, den Muckles die Stirn zu bieten, wobei er sich selbst durchaus einschloss. Gestern war Nora im Laden an der Ecke gewesen und hatte einige Leute über Fifis und Yvettes Verschwinden reden hören. Ihrer Meinung nach musste es irgendjemanden in der Nachbarschaft geben, der genau wusste, wer dafür verantwortlich war. »Wenn die beiden Frauen tot aufgefunden werden, sollte man den Betreffenden auspeitschen, weil er mit seinem Wissen nicht zur Polizei gegangen ist!«, hatte ein Mann wutentbrannt geschimpft.
Während der ganzen vergangenen Nacht hatte Nora sich mit Schuldgefühlen gequält und war das Ganze in Gedanken wieder und wieder durchgegangen. Aber sie hatte es einfach nicht über sich gebracht, zur Polizei zu gehen und Jack Truemans Namen zu nennen. Sie würde erklären müssen, woher sie ihn kannte, und dann wären die Schatten der Vergangenheit wieder da. Deshalb hatte sie sich in den frühen Morgenstunden vorgenommen, später im Büro einen anonymen Brief zu schreiben. Doch jetzt, angesichts von Dans Unglück und der ernsten Gefahr, in der Fifi und Yvette schwebten, konnte sie nicht länger schweigen.
Sie holte tief Luft. »Ich kann einen Namen flüstern«, stieß sie hervor. »Den Namen des Mannes, der meiner Meinung nach hinter all dem steckt.«
Dans Gesichtsausdruck war beinahe komisch, er sah sie an, wie er die alte Mrs. Jarvis angesehen hätte, wenn sie ihm erzählt hätte, dass sie im vergangenen Monat bei dem großen Postzugraub mitgewirkt habe.
»Ich weiß«, sagte sie und ließ den Kopf hängen. »Sie denken, ich könne unmöglich eine zwielichtige Gestalt kennen, aber in Wahrheit war ich einmal mit einem Schurken verheiratet, und das ist auch der Grund, warum ich hier gelandet bin.«
Sie hatte nicht die Absicht, irgendjemandem ihre Geschichte zu erzählen, nicht einmal Dan, dem sie vertraute. »Wenn ich Ihnen sage, was ich über diesen Mann weiß, müssen Sie mir eines versprechen: Sie werden niemandem erzählen, dass Sie es von mir gehört haben.«
Er sah sie lange und durchdringend an. »Ich verspreche es«, antwortete er, dann beugte er sich auf seinem Stuhl vor, und seine Miene verriet einen hoffnungsvollen Eifer.
»Seine legalen Unternehmen befinden sich größtenteils in Soho«, begann sie. »John Bolton hat früher einen seiner Clubs gemanagt. Ich habe jenen Mann mehrmals in das Haus der Muckles gehen sehen, auch am Abend der letzten Kartenpartie.«
Er sog scharf die Luft ein. »Und das behalten Sie für sich, obwohl dort ein Kind getötet wurde?«
Die Verachtung in seiner Stimme ließ Nora zurückprallen. »Angelas Tod schien nichts mit den Kartenspielern zu tun zu haben. Wir alle dachten, sie seien am Abend nach Hause gegangen, bevor Alfie die Kleine getötet hat. Erst als ich von Johns Ermordung erfuhr, habe ich wieder an diesen Mann gedacht, und ich habe guten Grund, selbst vor ihm Angst zu haben, daher konnte ich nicht davon sprechen. Aber jetzt sind Fifi und Yvette …« Sie brach ab und begann zu weinen.
»In Ordnung«, murmelte Dan. »Sagen Sie mir einfach seinen Namen.«
»Jack Trueman«, antwortete sie mit leiser Stimme. »Bitte, erzählen Sie der Polizei nicht, dass Sie den Namen von mir haben.«
Dan holte tief Atem und strich sich mit den Händen über die Oberschenkel. Nora wagte es kaum, ihn anzusehen, weil sie seine Reaktion fürchtete. »Es tut mir leid, dass ich ein solcher Feigling bin«, flüsterte sie.
Dan stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Zumindest haben Sie es mir zu guter Letzt gesagt. Vielen Dank.«
Nora erhob sich. Sie hatte mit einem Mal Angst um Dan, weil sie die stählerne Entschlossenheit in seinen Augen sehen konnte. »Er ist ein sehr gefährlicher Mann«, warnte sie mit zitternder Stimme. »Seien Sie vorsichtig, wem Sie vertrauen.«
Sie sah ihm nach, als er wieder die Treppe hinaufging, und betrachtete die Muskeln, die sich an seinem nackten, jungen Rücken bewegten. Jetzt hatte sie umso größere Angst. Denn eines war ihr klar: Wenn Fifi tot war, würde Dans Rache furchtbar sein.
Während Dan Hemd und Schuhe anzog, hörte er, wie Nora die Treppe hinunterging und das Haus verließ. Er vermutete, dass sie davongelaufen war, weil sie befürchtete, er würde noch einmal zurückkommen und sie bedrängen, weitere Informationen preiszugeben. Frank war unten in seiner Küche und briet Schinken, und bei dem Geruch, der im Haus aufstieg, wurde Dan ein wenig übel. Er riss das Schlafzimmerfenster weit auf und setzte sich für eine Minute aufs Bett, um sich zu fassen.
Es gab keine Garantie, dass Nora Recht hatte mit der Annahme, Jack Trueman habe Bolton getötet oder Fifi und Yvette entführt. Und ohne der Polizei mitzuteilen, woher er den Namen hatte, würden sie das Ganze wahrscheinlich als Unfug abtun. Also musste er sich mit der Frage auseinandersetzen, wie er den Beamten diese Information zukommen lassen und dafür sorgen konnte, dass sie entsprechende Maßnahmen ergriffen.
Plötzlich erinnerte er sich wieder an Johnny Milkins’ Bemerkung am Samstagabend, als er mit Harry und Clara im »Rifleman« gewesen war.
»Ich nehme an, einer der Männer, die mit Alfie Karten gespielt haben, war ein Bulle. Das wäre nur logisch. Alfie ist niemals wegen irgendetwas in den Bau gewandert. Er wusste Dinge, die er nur von der Polizei erfahren haben kann. Und sie geben sich keine allzu große Mühe, Ihre Fifi zu finden, nicht wahr?«
Harry hatte Milkins’ Behauptung als absoluten Blödsinn abgetan; für ihn waren Polizisten über jeden Zweifel erhaben. Doch er irrte sich, das wusste Dan, dem nur allzu klar war, dass viele Polizisten sich von Schurken bestechen ließen, damit sie in die andere Richtung blickten oder sie zumindest vor etwaigen Razzien warnten. Aber er glaubte nicht, dass irgendein Polizist, ob er nun korrupt war oder nicht, gesellschaftlich mit Alfie verkehren würde.
Doch wenn diesem Trueman Nachtclubs gehörten, war es durchaus wahrscheinlich, dass er ein oder zwei Polizisten in der Tasche hatte.
Wenn es also auf dem Revier einen korrupten Polizisten gab und ihm zu Ohren kam, was Dan zu sagen hatte, würde er Trueman dann einen Tipp geben?
Du bist ja paranoid, spottete ein Teil von ihm, aber der andere warnte ihn, keine Risiken einzugehen. Ein nervöser Ganove, dem die Polizei auf den Fersen war, war zu allem fähig. Und in jedem Fall würde er sich alle Beweise vom Hals schaffen.
Dan stand vom Bett auf und griff nach seiner Jacke. Als Erstes würde er mehr über Jack Trueman in Erfahrung bringen müssen.
Das Geräusch von Regen weckte Fifi. Ihr war wärmer als gewöhnlich, und sie wollte gerade wieder die Augen schließen, als sie bemerkte, dass die Decke über ihr sich dicker anfühlte. Sie war doppelt gefaltet, und Yvettes Mantel lag darüber.
Fifi drehte den Kopf, um sich umzusehen, konnte Yvette aber nirgends entdecken, und es war Furcht, die sie vollends weckte.
Es dämmerte bereits. In etwa zwanzig Minuten würde es vollkommen dunkel sein, und ihr wurde klar, dass sie mehrere Stunden lang geschlafen haben musste. Yvette hatte sich am Morgen sehr seltsam benommen: Sie hatte sich ein gutes Stück von Fifi weggesetzt, sich hin und hergewiegt und etwas auf Französisch vor sich hin gemurmelt, während sie die ganze Zeit über den Gürtel ihres Rocks durch ihre Hände hatte gleiten lassen, als wäre er ein Rosenkranz.
Fifi ging zu ihr und legte die Arme um sie, und sie bat sie, still zu sein und sich neben sie zu legen, um ihre Kräfte zu schonen.
Yvette sah sie eigenartig an. »Ich dachte, ich sei bei Mama«, murmelte sie.
Danach legten sie sich nebeneinander auf die Matratze, und das Letzte, was Fifi in Erinnerung blieb, bevor sie eindöste, war Yvettes Hand auf ihrer.
»Schlaf, ma petite«, flüsterte sie, wie eine Mutter es zu einem Kind sagen würde. »Mögen die Engel über dich wachen.«
Bei der Erinnerung an diese letzten Worte musste Fifi nun all ihre Kraft aufbieten, um sich dazu zu zwingen, sich in dem Käfig umzuschauen, denn sie wusste instinktiv, was sie sehen würde – und sie wollte es nicht sehen.
Trotzdem schrie sie, als sie sie erblickte:
Yvette baumelte von den oberen Gitterstäben des Käfigs herab, ihren braunen Gürtel fest um den Hals geschlungen. Ihre Augen traten auf Grauen erregende Weise aus den Höhlen, und ihr Mund stand offen wie zu einem lautlosen Schrei.
Fifi wusste, dass sie ohnmächtig werden würde, wenn sie aufstand, daher legte sie sich wieder nieder, kniff die Augen fest zusammen und zog sich die Decke über den Kopf.
Es erschien ihr unglaublich, dass Yvette die Kraft gefunden hatte, dort hinaufzuklettern, und die stählernen Nerven, nicht nur ihren Plan in die Tat umzusetzen, sondern sich genug zu beherrschen, um dabei leise zu sein und ihre Freundin nicht zu wecken. Selbst die Stelle, die sie ausgewählt hatte, befand sich in einem Teil des Käfigs, den Fifi so, wie sie gelegen hatte, nicht hatte einsehen können.
Doch obwohl Fifi wünschte, sie hätte großherzig genug sein können, um sich darüber zu freuen, dass Yvette von ihren Qualen erlöst war, schrie jede Faser ihres Seins vor Empörung darüber, dass die andere Frau so egoistisch gewesen war, sie hier zum Sterben allein zu lassen. Aber sie war zu schwach, um zu toben und zu kreischen; sie musste sich damit abfinden, hier zu liegen, während über ihr ein Leichnam baumelte.
In der vergangenen Nacht hatte Yvette ihr in der Dunkelheit leise von vielem erzählt, von der Zeit nach dem Ende des Krieges, als sie und die anderen Mädchen aus dem Bordell auf die Straße hinausgeschleift worden waren, wo man ihnen den Kopf geschoren hatte, weil man sie für Nazihuren gehalten hatte.
Sie war während der Nacht nach Calais gegangen und hatte tagsüber auf Feldern und in Scheunen geschlafen, um nicht gesehen zu werden. Sie hatte auf Äckern und in Obstgärten, die während des Krieges nicht verwüstet worden waren, Obst und Gemüse gestohlen. Irgendwann war sie dann von einer Gruppe alter Nonnen gerettet worden, die in einer zerstörten Kirche gelebt hatten. Die Nonnen pflegten sie gesund und teilten ihre mageren Rationen mit ihr, und sie waren es auch, die sie mit der Flüchtlingsorganisation in Verbindung brachten, über die sie schließlich nach England gelangte.
Fifi konnte nicht anders, sie musste noch einmal aufblicken. Das Licht verdämmerte bereits, in zehn Minuten würde pechschwarze Dunkelheit herrschen, und sie hatte das Gefühl, ihre Freundin nicht einfach dort oben hängen lassen zu können. Sie würde sich dazu zwingen müssen, an den Gitterstäben hinaufzuklettern und Yvettes Leichnam abzunehmen.
Vor nur einer Woche war sie so flink wie ein Affe hinaufgeklettert, doch als sie es jetzt wieder versuchte, musste sie feststellen, all ihre Kraft verloren zu haben. Sie war außer Stande, sich an den Gitterstäben festzuhalten oder die Bewegungen ihrer Arme und Beine zu koordinieren. Das war ein Beweis dafür, dass Hunger und Durst ihren Körper langsam aufzehrten.
Aber sie versuchte es dennoch weiter, obwohl sie vor Anstrengung keuchte. Als sie Yvette endlich erreichte und einen Arm ausstreckte, um ihre Kraft zu erproben, war sie zu schwach, um auch nur den Gürtel um Yvettes Hals zu öffnen, und sie hatte nichts, womit sie ihn hätte durchschneiden können.
Allein die Berührung ihrer Freundin, die Steifheit des Körpers, der sie während all dieser Nächte warm gehalten hatte, ließ Fifi zusammenbrechen. Sie weinte und zitterte so heftig, dass sie um ein Haar gefallen wäre. Jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte, ihre Sicht war verschwommen, und sie wusste, dass dies der Anfang vom Ende war.
Irgendwie gelang es ihr, wieder hinunterzukommen und auf die Matratze zurückzukriechen, aber die Anstrengung war so ungeheuer, dass sie es anschließend kaum noch schaffte, die Decke über sich zu ziehen.
Sie würde nie wieder aufstehen können; das war er, der letzte Teil des langsamen Hinübergleitens in den Tod. An einem der vergangenen Abende hatte sie Yvette etwas erzählt, das sie einmal irgendwo über Yogis in Indien gelesen hatte. Diese Menschen konnten wochenlang ohne Essen oder Wasser überleben, indem sie ihre Atmung verlangsamten und vollkommen reglos dalagen. Yvette hatte nur gelächelt, vielleicht weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits den Entschluss gefasst hatte zu sterben.
Fifis Mund und ihre Kehle waren so trocken, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte. Doch selbst wenn sie draußen jemanden gehört hätte, hätte sie nicht schreien können. Aber es war die Aussicht auf eine weitere Nacht hier, die sie am meisten ängstigte. Kein Zweifel, die Ratten würden über sie herfallen, weil sie spürten, dass sie sie nicht länger abwehren konnte.