Kapitel 12
Das Radio spielte She Loves You, einen neuen Song der Beatles, und Fifi sang laut mit, während sie das Bett frisch bezog. Es war ein schwieriges Unterfangen mit einem Gipsarm. Als es an der Tür klingelte, ignorierte sie das Läuten, da sie annahm, dass irgendjemand zu Frank wollte. Aber das Klingeln hörte nicht auf, und so ließ sie die Decken fallen und ging nach unten.
So glücklich wie heute war sie lange nicht gewesen. Zum Teil lag es an der wundervollen Liebesnacht, die sie mit Dan verlebt hatte. Dies wiederum hatte seinen Grund darin, dass sie nach ihren Gesprächen mit Miss Diamond und Yvette gründlich über sich nachgedacht und beschlossen hatte, ihr Verhalten zu ändern.
Dan und sie hatten am Sonntagnachmittag Zeitungsannoncen studiert und festgestellt, dass es offensichtlich reichlich freie Wohnungen gab, und den ganzen Montag und Dienstag hatte sie darauf verwandt, sich bei verschiedenen Maklern einzutragen. Doch vor allem war sie glücklich darüber, dass man ihr am nächsten Tag den Gips abnehmen würde. Am Montag, also in fünf Tagen, würde sie ihre Arbeit wiederaufnehmen können. Später am Tag hatte sie noch einen Termin beim Frisör, und sie überlegte, ob sie für den morgigen Abend etwas Besonderes kochen sollte, um zu feiern.
Noch bevor sie die Tür erreicht hatte, klingelte es ein drittes Mal.
»Ist ja schon gut, ich komme«, rief sie. Hoffentlich ist es nicht wieder die Polizei, dachte sie. Jetzt, da sie versuchte, die ganze Angelegenheit hinter sich zu lassen, wollte sie auf keinen Fall, dass irgendjemand das Thema wieder aufbrachte.
Sie öffnete die Tür, und zu ihrem Erstaunen stand ihre Mutter vor ihr. Fifi war so überrascht, dass sie im ersten Moment nicht sprechen konnte.
»Nun sag doch etwas«, verlangte Clara. »›Komm herein‹ wäre zum Beispiel ganz nett.«
»Es tut mir leid, ich war einfach so überrascht«, erwiderte Fifi, die vor Schreck beinahe stotterte. »Was machst du in London?«
»Dein Vater hat einen Termin mit jemandem vom King’s College, daher dachte ich, ich nutze die Gelegenheit, um dich zu besuchen.«
Seit sie in die Dale Street gezogen waren, hatte Fifi nichts mehr gefürchtet als einen Überraschungsbesuch ihrer Eltern. Obwohl sie erleichtert darüber war, das Wohnzimmer am Morgen geputzt zu haben, graute ihr bei dem Gedanken, was ihre Mutter von der Küche auf dem Treppenabsatz halten würde.
Fifi bat sie herein und küsste sie sogar auf die Wange, dann führte sie sie nach oben in die Wohnung. Clara schien überrascht zu sein, dass sie den Arm noch immer in Gips trug. Hatte sie ihn sich nicht bereits vor über sechs Wochen gebrochen?
»Wie hübsch«, sagte Clara, als Fifi sie ins Wohnzimmer führte. Aber es klang nicht nach einem ernst gemeinten Kompliment, sondern eher nach einer Zurschaustellung der guten Manieren, deren ihre Mutter sich immer gerühmt hatte. »Die Straße macht einen ziemlich furchtbaren Eindruck«, fügte sie hinzu und trat ans Fenster. »In welchem Haus ist dieses Kind denn ermordet worden?«
Fifi seufzte entmutigt. »Dann hast du also davon gehört?«
»Nun, natürlich habe ich davon gehört, es stand ja in allen überregionalen Zeitungen«, erwiderte Clara schroff. »Du hättest es uns selbst erzählen können, dann hätten wir nicht aus der Zeitung von deiner Verwicklung in dieser Angelegenheit erfahren müssen.«
»Da ihr nicht besonders mitfühlend wart, nachdem ich mein Baby verloren hatte, habe ich nicht geglaubt, dass euch der Tod eines wildfremden Kindes allzu sehr interessieren würde«, sagte Fifi schneidend.
»Eine grässliche Angelegenheit«, sprach Clara weiter, beinahe so, als hätte sie die Worte ihrer Tochter nicht gehört. »Ist es dieses Haus dort? Das, in dem keine Gardinen hängen?«, fragte sie und deutete auf Nummer elf. »Weiß man schon, ob es die Mutter oder der Vater war?«
»Ja, es war dieses Haus, und nein, wir wissen nicht mit Sicherheit, wer von beiden es getan hat oder ob es vielleicht sogar jemand anderer war. Aber ich möchte lieber nicht darüber reden, Mum. Ich versuche, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Wie geht es Patty? Ist sie immer noch mit Michael zusammen?«
Fifi hatte am Montag einen sehr witzigen Brief von ihrer Schwester bekommen. Sie schrieb, dass Michael sie zunehmend langweilte, weil er immer nur mit ihr im Haus hocken und fernsehen wollte. Sie erzählte auch, dass er nicht einmal genug Feuer habe, um sie zu verführen.
»Michael ist ein guter Junge«, antwortete Clara ausweichend und ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Oh! Ein Kohlenhof direkt in der Nachbarschaft! Wie schrecklich.«
»In Ordnung, Mum.« Fifi beschloss, es mit Humor zu versuchen. »Die Straße mitsamt dem Kohlenhof und dem ortsansässigen Kindsmörder ist abscheulich. Die meisten der Nachbarn sind das, was du ›nicht standesgemäß‹ nennen würdest. Und obendrein werde ich als Zeugin vor Gericht aussagen müssen. Aber um die Dinge einmal von der positiven Seite zu betrachten, kann ich dir mitteilen, dass Dan und ich nach einer neuen Wohnung suchen. Morgen werde ich meinen Gips los, und nächste Woche gehe ich wieder zur Arbeit.«
»Das ist keine Angelegenheit, über die man Scherze macht.« Clara drehte sich zu ihrer Tochter um, und ihre Züge waren starr von Missbilligung. »Was hast du dir nur dabei gedacht, in eine solche Gegend zu ziehen?«
»Die Wohnung war billig, und vor allem war sie noch zu haben.« Fifi zuckte die Schultern. »Also, möchtest du lieber Tee oder Kaffee? Soll ich dir ein Sandwich zurechtmachen? Oder möchtest du lieber irgendwo hingehen, wo es dir besser gefällt?«
Clara setzte sich. Sie sah aus, als suchte sie Streit, wüsste jedoch, dass das nicht klug wäre. »Tee wäre schön«, meinte sie forsch. »Die Vorhänge sind sehr hübsch. Hast du sie selbst genäht?«
Fifi ging in die Küche hinüber und zündete das Gas unter dem Kessel an. »Nein, das war Yvette, die Dame auf der anderen Straßenseite«, rief sie. »Sie ist Französin und eine fabelhafte Schneiderin. Sie näht Kleider für reiche Frauen in Chelsea und Kensington. Und diese Seidenkissen hat sie mir zum Einzug geschenkt.«
Als Fifi wieder ins Wohnzimmer kam, begutachtete ihre Mutter gerade eines der Kissen.
»Wenn sie so nähen kann und wohlhabende Kundinnen hat, warum lebt sie dann hier?«, fragte Clara.
»Es ist in London sehr schwierig, Wohnungen zu finden«, erklärte Fifi. »Ich war während der letzten Tage bei verschiedenen Maklern. Es ist fast unmöglich, für weniger als fünfzehn Pfund die Woche etwas zu finden, das halbwegs zentral liegt.«
»Fünfzehn Pfund die Woche!«, rief Clara aus. »Dafür könntest du in Bristol eine Villa mieten.«
Beim Tee erfuhr Fifi, dass Robin jetzt eine Freundin namens Anna hatte, die ihre Mutter unaussprechlich dumm fand. Peter trank ihrer Meinung nach zu viel, und sie verstand nicht, warum Patty Michaels langsam überdrüssig wurde.
Fifi musste lächeln. Es war das erste Mal, dass sie ihre Mutter über ihre anderen Kinder klagen hörte.
»Es ist nur vernünftig, zu Hause zu bleiben und Geld zu sparen, wenn man heiraten will«, fuhr Clara fort. »Patty weiß ihr Glück einfach nicht zu schätzen. Die meisten jungen Männer heutzutage wollen vor allem protzige Autos. Michael ist so vernünftig; er fährt Fahrrad.«
»Ich glaube nicht, dass sich allzu viele Mädchen zu ›vernünftigen‹ Männern hingezogen fühlen«, gab Fifi zurück, die alle Mühe hatte, sich ihre Erheiterung nicht anmerken zu lassen. »Außerdem habe ich nicht den Eindruck, dass Patty Michael heiraten will.«
»Ich begreife nicht, was sie gegen ihn einzuwenden hat! Er hat eine gute Stellung bei einer Bank, und er ist ausgesprochen verlässlich.«
Patty hatte Michael als einen jungen Mann mit Puddinggesicht beschrieben, der keinen Funken Abenteuersinn hatte und meist nach Schweiß roch, weil er Nylonhemden trug. Jetzt, da Fifi wusste, dass er Fahrrad fuhr und in den Augen ihrer Mutter »ausgesprochen verlässlich« war, war sie davon überzeugt, ihn auf den ersten Blick zu verabscheuen.
»Die Ehe ist für junge Frauen heutzutage nicht mehr das Wichtigste im Leben«, sagte sie. »Ich bin froh, dass Patty nicht glaubt, sie müsse den ersten Mann heiraten, der ihr einen Antrag macht.«
»So wie du es getan hast?«, gab Clara gereizt zurück.
»Dan war nicht der Erste, der mir einen Antrag gemacht hat. Das war Hugh«, erwiderte Fifi gelassen und ermahnte sich, den Köder ihrer Mutter nicht zu schlucken. »Und ich bedauere es ganz gewiss nicht, ihn geheiratet zu haben. Wir sind sehr glücklich miteinander – nächsten Monat ist unser erster Hochzeitstag.«
»Dessen bin ich mir nur allzu bewusst. Seit dem Tag deiner Heirat kann ich nachts nicht mehr schlafen. Am Ende musste ich zum Arzt gehen und mir Tabletten verschreiben lassen. Ich wünschte, ich könnte dir begreiflich machen, was du unserer Familie angetan hast.«
Diese Bemerkung konnte Fifi nicht ignorieren. »Was genau habe ich unserer Familie angetan?«
»Die Jungen kommen kaum noch nach Hause, Patty ist nicht mehr dieselbe, und dein Vater gibt an allem mir die Schuld.«
»Es liegt nicht an mir, dass die Jungen nicht mehr unter deinem Pantoffel stehen. Es ist ein Zeichen, dass sie erwachsen werden. Aus demselben Grund verändert sich auch Patty. Und wenn du nachts nicht schlafen kannst, nur weil ich den Mann geheiratet habe, den ich liebe, dann brauchst du vielleicht einen Psychiater!«
»Willst du damit sagen, ich sei verrückt?« Claras Stimme schwoll zu einem Kreischen an. »Jede Mutter wäre krank vor Sorge, wenn ihr Schwiegersohn Umgang mit Leuten hätte, die ihn in dunklen Gassen überfallen, während die Tochter mit Mördern verkehrt.«
Fifi hätte gern gefragt, warum ihre Mutter ihr nicht schrieb, wenn sie sich so um sie sorgte. Seit dem einen schroffen Brief nach ihrer Fehlgeburt hatte sie von ihrer Mutter nichts mehr gehört. Aber statt diesen Gedanken auszusprechen, beschloss sie, sich den Dingen zuzuwenden, die in jüngster Vergangenheit geschehen waren.
»Nicht mal die Polizei weiß, wer Dan überfallen hat, und ich verkehre nicht mit Mördern. Warum bist du heute hergekommen, Mum? Einen kurzen Moment lang dachte ich, du wärst vielleicht hier, um dich mit mir zu versöhnen. Aber das ist es nicht, nicht wahr? Ich wette, Dad hat dich hergeschickt, und du hattest das Gefühl, seiner Bitte zumindest der Form halber nachkommen zu müssen, weil er sonst wütend auf dich gewesen wäre. Was wirst du ihm erzählen? Dass ich wie gewohnt unmöglich war?«
»Das bist du auch. Man kann einfach nicht mit dir reden.«
Fifi schüttelte entmutigt den Kopf. »Mum, du bist erst seit zwanzig Minuten hier, und in dieser kurzen Zeit hast du es fertig gebracht, mir vorzuwerfen, dass ich einen schlechten Einfluss auf Patty und die Jungen ausübe. Dass ich dich zwinge, Schlaftabletten zu nehmen. Du machst gehässige Bemerkungen über Dan und behauptest, ich würde mit Mördern verkehren. Du bist diejenige, die sich unmöglich benimmt!«
Plötzlich trat Stille ein. Fifi beschloss, dieses Schweigen nicht zu brechen.
Stattdessen musterte sie ihre Mutter mit objektiver Sachlichkeit. Sie war eine sehr hübsche Frau mit einer guten Figur und einer glatten, klaren Haut. Sie hatte sich das blonde Haar im Nacken lose zusammengebunden, mit einem rosafarbenen Band, das zu ihrem Kostüm passte. Clara sah wahrhaftig nicht so aus, als wäre sie alt genug, um eine erwachsene Tochter zu haben. Sie hatte ein gutes Leben und einen Mann, der ihr zu Füßen lag. Warum hatte sie an allem etwas auszusetzen?
»Was werdet ihr unternehmen, wenn ihr keine andere Wohnung finden könnt?«, brach Clara schließlich das Schweigen als Erste.
»Wir werden hierbleiben, bis wir genug Geld für eine Anzahlung auf ein eigenes Haus zusammen haben«, antwortete Fifi. »Das wird nicht lange dauern, sobald ich erst wieder arbeiten kann.«
»Es gibt einige sehr hübsche neue Häuser in Horfield«, bemerkte Clara.
Fifi fragte sich, ob dies eine Andeutung war, dass sie nach Bristol zurückkommen sollten. »Ich nehme an, es handelt sich um die Häuser, an deren Erbauung Dan mitgearbeitet hat«, erwiderte sie. »Es wäre schön, wieder in Bristol zu leben, aber es wäre schwieriger für ihn, dort Arbeit zu finden – anders als hier, wo die Leute sich alle Finger nach tüchtigen Maurern lecken.«
»Ich wünschte, du würdest zurückkommen«, sagte Clara unerwartet. »Patty und dein Vater vermissen dich.«
»Und was ist mit dir?«, wollte Fifi zögernd wissen.
»Natürlich vermisse ich dich. Es ist nicht richtig, dass eins meiner Kinder so weit weg ist.«
»Und Dan? Wärst du bereit, ihn als Teil unserer Familie zu sehen?«
»Ich würde es versuchen«, antwortete Clara. »Mehr kann ich im Augenblick nicht versprechen.«
Fifis Herz tat einen Satz, denn es schien, als wollte ihre Mutter endlich Brücken bauen. »Es ist ein Anfang«, sagte sie, und ihr Lächeln war echt und voller Freude. »Ich habe euch alle ebenfalls vermisst, und ich habe sehr unter der Situation gelitten. Wenn die Verhandlung vorüber ist und wir wieder zu uns gefunden haben, können wir nach Bristol kommen und darüber nachdenken, ob wir dorthin zurückziehen wollen.«
Clara sah sie nachdenklich an, vielleicht überrascht, dass ihre Tochter ihr auf halbem Wege entgegenkam. »Nun, wirst du mir jetzt etwas von diesem Mord erzählen?«, bat sie, offenkundig erpicht darauf, ein ungefährlicheres Thema anzuschneiden. »Wenn ich die ganze Sache besser verstehen könnte, würde sie mir vielleicht nicht mehr solche Angst machen. Ich kenne niemanden, der etwas Derartiges jemals erlebt hat.«
Es war eine Ironie des Schicksals, so dachte Fifi, dass sie mit keinem der Menschen, die sie für ihre Freunde hielt, über die Einzelheiten des Falls hatte reden können, während ihre Mutter es kaum erwarten konnte, alles darüber zu hören.
Wenn Clara wollte, konnte sie eine sehr gute Zuhörerin sein, und schon kurz darauf sprudelte es nur so aus Fifi hervor. Sie erzählte ihrer Mutter, welche Wirkung das Geschehene auf sie hatte, und sie kam auch auf die Aspekte des Falls zu sprechen, die noch immer ungeklärt waren.
Ab und zu warf Clara eine Frage ein. Bei einigen der plastischeren Beschreibungen zuckte sie zusammen, aber sie unterbrach Fifi nicht, um ihre Meinung zu äußern oder hochnäsige Bemerkungen zu machen.
»Es hat gutgetan, mit dir darüber zu reden«, beendete Fifi schließlich ihren Bericht. »Diese Geschichte hat mir eine Zeit lang vollkommen den Boden unter den Füßen weggezogen. Dan wollte nicht darüber sprechen, und ich bekam es einfach nicht mehr aus dem Kopf.«
Tatsächlich war dies das erste wirklich vertraute Gespräch, das sie je mit ihrer Mutter geführt hatte, und es fühlte sich gut an, als hätten sie einen großen Sprung nach vorn gemacht.
»Dein Vater will auch nie über solche Dinge reden. Ich glaube, Männer sind eben so. Vielleicht denken sie, dass ein Problem sich von selbst löst, wenn man es ignoriert. Aber was für eine Qual das alles für dich war, Liebling! Es muss furchtbar gewesen sein.«
»Das Schlimmste habe ich inzwischen hinter mir«, erklärte Fifi. »Ich bete nur zu Gott, dass es wirklich Alfie war und dass die Polizei es beweisen kann.«
Während Fifi diesen Gedanken aussprach, wurde ihr eines plötzlich vollkommen klar: Was sie am meisten ängstigte, war die winzige Möglichkeit, Alfie könnte unschuldig sein. Sobald sie sich absolut sicher sein konnte, dass er der Täter war, würde sie dieses schreckliche Erlebnis hinter sich lassen können. Sie sprach ihren Gedanken aus.
»Er muss es gewesen sein«, erklärte Clara entschieden. »Wenn es einer deiner Nachbarn oder einer dieser Männer gewesen wäre, die an dem Kartenspiel teilgenommen haben, hätte die Polizei das inzwischen herausgefunden. Ich wette, er versucht nur, die Polizei irrezuführen, indem er kein Geständnis ablegt. Betrachte die Sache doch einmal logisch, Fifi: Warum hätte ein anderer die Kleine töten sollen? Und wie können die beiden behaupten, sie hätten ihre Tochter geliebt, wenn sie sie allein zu Hause zurückgelassen haben, während sie selbst zu einem Tagesausflug ans Meer gefahren sind? Es sind böse Menschen, und sie verdienen es, gehängt, geteert und gevierteilt zu werden.«
Fifi richtete ihnen ein Schinkensandwich und brühte noch eine Kanne Tee auf, und nach einer Weile benahm Clara sich so, als wäre sie froh darüber, gekommen zu sein. Sie half Fifi, das Bett zu beziehen, und bewunderte das Bücherregal, das Dan in einem Secondhandladen gefunden und frisch gestrichen hatte. Nachdem sie dem Bad einen Besuch abgestattet hatte, lobte sie sogar dessen Sauberkeit.
Etwa zur gleichen Zeit, als Fifi ihren Frisörtermin hatte, musste Clara aufbrechen, um sich mit ihrem Mann zu treffen. Fifi erbot sich, den Termin beim Frisör abzusagen und ihre Mutter zu begleiten, doch Clara wollte nichts davon hören.
»Es lohnt sich nicht, dass du mit mir kommst, nur um fünf Minuten mit deinem Vater zu verbringen, denn wir müssen den Fünf-Uhr-Zug nehmen«, sagte sie freundlich. »Geh du nur zum Frisör, dann wirst du dich morgen besser fühlen, wenn der Gips runterkommt.«
»Ich fühle mich jetzt schon besser. Dein Besuch hat mir gutgetan«, bekannte Fifi und legte spontan die Arme um Clara. »Es tut mir wirklich leid, euch beiden so viel Kummer bereitet zu haben, und ich hoffe, dass wir jetzt noch einmal von vorn anfangen können.«
Clara nahm Fifis Gesicht zwischen beide Hände und küsste sie auf die Stirn, geradeso, wie sie es immer getan hatte, als Fifi noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Es war schön, dich zu sehen«, erklärte sie. »Eine Mutter macht sich um ihr ältestes Kind immer mehr Sorgen als um die anderen, und vielleicht erwartet sie auch zu viel. Das wirst du selbst noch erfahren, wenn du Kinder hast. Ich weiß nicht, ob ich Dan jemals wirklich mögen werde, doch ich verspreche dir, es zu versuchen. Wenn er ein verlängertes Wochenende Urlaub bekommen kann, dann kommt uns einfach mal besuchen.«
Auf dem Weg zur U-Bahn-Haltestelle verspürte Fifi plötzlich das starke Bedürfnis, ihre Mutter um eine Erklärung der Bemerkung zu bitten, die sie am Abend ihres Hochzeitstages gemacht hatte.
»Haben die Leute dir wirklich geraten, mich in eine Anstalt zu geben, als ich noch klein war?«
Clara errötete. »Ich hatte nie die Absicht, dir das zu erzählen«, murmelte sie. »Ich war wütend.«
»Aber war es die Wahrheit?«
»Ja und nein. Die Kinderfürsorge hat tatsächlich eine Sonderschule vorgeschlagen, was mich so auf die Palme gebracht hat, dass ich nie wieder mit dir dort hingegangen bin. Doch das war der einzige Vorschlag in diese Richtung, und ich schäme mich, es dir auf so niederträchtige Art erzählt zu haben.«
»Ich muss dir das Leben sehr schwer gemacht haben«, meinte Fifi nachdenklich. Noch vor einem Jahr waren ihr ihre Kindheitsprobleme komisch erschienen, und sie hatte niemals ernsthaft darüber nachgedacht, welche Sorgen sie ihren Eltern in jener Zeit bereitet haben musste.
»Du konntest nichts dafür, Liebes«, erwiderte Clara. »Und nun lass uns nicht mehr von den unfreundlichen Dingen sprechen, die wir zueinander gesagt haben. Wir müssen vergeben und vergessen.«
Sie trennten sich an der U-Bahn-Haltestelle, wo Clara einen großen Blumenstrauß für Fifi kaufte. »Ich habe gesehen, wie viel Mühe du dir gibst, aus deiner Wohnung ein echtes Zuhause zu machen, und das hat mir gefallen. Ruf mich bald einmal an, und wenn du nicht genug Kleingeld fürs Telefon hast, rufe ich dich zurück, damit wir ein wenig plaudern können. Ich hoffe, dass es nicht mehr allzu lange dauert bis zur Verhandlung, denn es muss dich viel Kraft kosten, darüber nachzugrübeln. Wenn du möchtest, dass wir an dem Tag nach London kommen, um dich zu unterstützen, brauchst du dich nur zu melden.«
Das liebevolle Angebot ihrer Mutter rührte Fifi, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich danke dir, Mummy«, sagte sie und fühlte sich plötzlich wieder wie ein kleines Mädchen. »Grüß Dad, Patty und die Jungen von mir. Du hast mir so viel Mut gemacht.«
An diesem Abend hörte Dan mit einem schiefen Grinsen zu, während Fifi ihm jubilierend von dem Besuch ihrer Mutter erzählte. »Es ist schön zu sehen, dass einige Krümel vom Tisch dich so glücklich machen«, bemerkte er.
»Was soll das heißen ›Krümel vom Tisch‹?«, fragte sie ungehalten. »Sie war wirklich nett!«
»Sie wollte Näheres über den Mord erfahren, und sie wollte die Wohnung inspizieren. Ich hätte gute Lust zu wetten, dass sie deinem Vater gerade in diesem Augenblick genauestens Bericht erstattet. Sie wird davon überzeugt sein, dass sie dich beinahe so weit hat, nach Bristol zurückzukehren, und sobald du erst einmal wieder dort bist, wo du hingehörst, wird es ihrer Meinung nach nur eine Frage der Zeit sein, bis du mir den Laufpass gibst.«
»Sei nicht so gemein«, fuhr Fifi auf. »Kannst du dich nicht einfach darüber freuen, dass sie unsere Ehe langsam akzeptiert?«
»Nein, das kann ich nicht, weil ich es einfach nicht glaube«, antwortete er. »Du hast selbst gesagt, dass sie am Anfang sehr herablassend war. Sie hat sich erst erweichen lassen, nachdem du ihr all die schmutzigen Einzelheiten über die Muckles geliefert hattest. Du hast ihr wahrscheinlich erzählt, dass ich es müde sei, mit dir darüber zu reden, und das hat sie als ein erstes Loch in deinem Panzer angesehen.«
»Unsinn«, entgegnete Fifi entrüstet.
»Na schön, warten wir es einfach ab«, seufzte er. »Ich wette, du wirst in ein oder zwei Tagen einen Brief von ihr erhalten, in dem sie vorschlägt, dass du für ein Wochenende allein nach Bristol kommst. Sie wird das Ganze hübsch verpacken, indem sie behauptet, sie und dein Vater wollten ein wenig Zeit allein mit dir haben. Und wenn es nicht das ist, wird ihr eine andere Ausrede einfallen.«
Fifi stand auf und stolzierte ins Schlafzimmer hinüber. Sie war davon überzeugt, dass Dan ein wenig eifersüchtig war. Wahrscheinlich gab es ihm ein Gefühl von Stärke, wenn sie außer ihm niemanden hatte, an den sie sich wenden konnte.
Sie lag auf dem Bett und las eine Zeitschrift, und es verging mehr als eine Stunde, bis Dan ins Schlafzimmer kam. Als er eintrat, grinste er übers ganze Gesicht.
»Wer schmollt hier?«, zog er sie auf.
»Ich schmolle nicht«, erklärte sie hochmütig, obwohl er natürlich vollkommen Recht hatte.
Er packte einen ihrer nackten Füße und kitzelte sie, bis sie in Gekicher ausbrach. »Du darfst nicht schmollen«, erklärte er. »Komm, lass uns in den Pub gehen und die letzte Nacht des Gipses feiern.«
»Was gibt es da zu feiern?«, fragte sie.
»Es ist nicht viel, aber du warst beim Frisör, und du siehst sehr hübsch aus, deshalb suche ich nach einem Vorwand, um mit dir anzugeben. Außerdem wissen wir gar nicht, was die Buschtrommeln in letzter Zeit zu erzählen haben.«
Es war Fifi unmöglich, lange wütend auf Dan zu sein. Ein einziger Blick in sein gut geschnittenes, lächelndes Gesicht und in diese dunklen Augen genügte, und sie war Wachs in seinen Händen.
»Also schön.« Sie stand auf, schlüpfte in ihre Schuhe und legte etwas Lippenstift auf. »Aber sag nichts mehr über meine Mum, sonst gehe ich sofort nach Hause.«
Lachend schlenderten sie in den Pub hinunter. Dan erheiterte sie auf dem Weg dorthin mit einer gekonnten Imitation von Stan. Er ahmte seine Armesündermiene, den steifen Gang und den Akzent perfekt nach.
»Es ist schön, ein hübsches Mädchen lachen zu sehen«, bemerkte Johnny Milkins, der sich auf seinem Barhocker nach Fifi umdrehte. »Erzählen Sie uns denselben Witz, ich könnte einen Lacher gebrauchen.«
Im Pub war es sehr still, denn es waren nicht mehr als fünfzehn oder sechzehn Leute dort. Aber andererseits war das für einen Mittwochabend nichts Ungewöhnliches.
»Dan hat gerade Stan imitiert«, erzählte Fifi. Sie zupfte an Dans Ärmel. »Na los, zeig Johnny, was du kannst!«
Dan sortierte seine Züge entsprechend. »Ich werde vielleicht nicht in den ›Rifleman‹ gehen, bis all diese bösen Gefühle fort sind«, sagte er und bekam dabei den polnischen Akzent perfekt hin. Dann stellte er sich mit den für Stan so typischen Bewegungen vor die Theke.
Johnny brüllte vor Lachen, und sein gewaltiger Bauch, der ihm über die Hose hing, wackelte wie Gelee. »Du triffst den Nagel auf den Kopf«, stieß er immer noch lachend hervor. »Kannst du noch jemanden nachmachen?«
»Ich könnte Sie nachmachen, Kumpel, wenn ich ein dickes Kissen hätte, das ich mir unters Hemd stopfen kann«, antwortete Dan.
Johnny wieherte abermals los, dann schlug er Dan auf den Rücken und bestand darauf, ihm und Fifi einen Drink auszugeben.
Fifi mochte Johnny. Er war in jeder Hinsicht ein gewaltiger Mann, weit über einen Meter achtzig groß, schwer und mit einer entsprechenden Persönlichkeit gesegnet. Sein Haar wurde langsam grau, doch es war noch immer üppig und stand ihm wie eine dicke Bürste vom Kopf ab. Mit seiner dunklen Sonnenbräune, die ihm die Arbeit im Freien eintrug, und den leuchtend blauen Augen war er trotz seiner Körperfülle recht attraktiv.
Er war der Mann, der behauptet hatte, einen guten Freund bei der Polizei zu haben, und er war es auch, der die Information über das saubere Laken preisgegeben hatte.
Dan mochte Johnny ebenfalls, meinte aber, dass ein Mann, der die Hälfte der englischen Goldreserven um Hals und Handgelenk trage und dennoch in einer Sozialwohnung lebe, wohl nicht allzu viel im Kopf haben könne.
»Normalerweise kommt ihr nicht mitten in der Woche in den Pub«, bemerkte Johnny und zwinkerte Fifi dabei lüstern zu. »Gibt es einen besonderen Anlass?«
»Mein Gips kommt morgen runter«, antwortete Fifi. »Ich kann es kaum erwarten, weil es darunter so furchtbar juckt. Ich muss eine Stricknadel hineinschieben, um mich zu kratzen.«
»Sie werden den Arm aus dem Fenster hängen lassen müssen, damit er nicht so bleich bleibt«, mutmaßte Johnny. »Meine Frau hat sich mal den Arm gebrochen, und als der Gips runterkam, hätte ich mir um ein Haar in die Hose gemacht, so totenbleich sah sie darunter aus.«
»Ich werde lange Ärmel tragen«, versprach Fifi. »Oder ihn mit Bratensoße einreiben, wie man es im Krieg gemacht hat.«
Während des ersten Drinks unterhielt Johnny sie mit verschiedenen witzigen Geschichten, die mit seinem Geschäft zusammenhingen, und als sie bei ihrem dritten Drink angelangt waren, fragte Fifi ihn, ob Frank oder Stan inzwischen wieder in den Pub kämen.
Beide Männer hatten sich dort nicht mehr blicken lassen, seit die Polizei sie zum Verhör aufs Revier bestellt hatte. Sie waren nicht die Einzigen, die nicht mehr kamen. Mike Skinner aus Nummer sieben, Ralph Jackson, der im obersten Stockwerk von Yvettes Haus wohnte, und John Bolton von Nummer dreizehn waren seither ebenfalls nicht mehr im Pub gesehen worden. Sie alle waren in der Vergangenheit irgendwann einmal bei Kartenspielen in Nummer elf gewesen, und die Polizei hatte jeden von ihnen verhört. An dem letzten Spiel hatte zwar keiner von ihnen teilgenommen, doch die Menschen hatten einen solchen Zorn auf Alfie, dass niemand, der mit ihm zu tun gehabt hatte, länger im Pub willkommen war.
»Dann haben Sie das von Stan also noch nicht gehört?«, fragte Johnny überrascht. »Ich dachte, das wüssten Sie, weil Dan ihn vorhin doch auch nachgemacht hat.«
»Was ist mit ihm?«, wollte Fifi wissen.
»Er ist noch mal von der Polizei vorgeladen worden.«
»Oh, um Himmels willen«, rief Fifi aus. »Warum können sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Eine Frau aus Brixton hat ihn angezeigt. Angeblich hat er ihre Tochter belästigt«, erwiderte Johnny. »Es scheint auch alles zusammenzupassen. Sie war sieben, genauso alt wie Angela. Und er war an dem Morgen, an dem sie gestorben ist, nicht bei der Arbeit. Er ist überhaupt nicht dort aufgetaucht.«
Fifi war so schockiert, dass sie Johnny nur ungläubig anstarren konnte.
»Sind Sie sich da wirklich sicher?«, vergewisserte sich Dan, der plötzlich sehr ernst war und sich schämte, den Mann nachgeäfft zu haben. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Stan so etwas getan haben soll. Seine eigenen Töchter sind als Kinder im Krieg erschossen worden.«
»Ja, ich weiß«, meinte Johnny und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich hätte mein Leben darauf verwettet, dass er niemals einem Kind auch nur ein Haar krümmen würde. Aber die Sache sieht schlecht aus für ihn. Er hat gelogen, als er behauptete, an jenem Morgen gearbeitet zu haben, und er leert in Brixton die Mülltonnen. Und dann diese Geschichte im Pub, als er und Frank darüber gesprochen haben, eins der Kinder zu töten und das Ganze Alfie in die Schuhe zu schieben.«
»Aber das war doch nur ein schlechter Scherz. Die beiden haben es nicht ernst gemeint«, wandte Fifi entrüstet ein.
»Niemand wünscht sich mehr als ich, Alfie baumeln zu sehen«, erwiderte Johnny und machte die entsprechende Handbewegung. »Ich hasse diesen Kerl. Die Jungs auf dem Revier sind davon überzeugt, dass er all seine Töchter vergewaltigt hat, und was das betrifft, wird er sich auch nicht mehr rauswinden können. Doch wenn er Angela nicht getötet hat, dann war es jemand anderes. Und den müssen sie kriegen.«
»Natürlich war es Alfie«, beharrte Dan ungeduldig. »Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«
»Das sagen Sie nur, weil Sie es glauben wollen«, erwiderte Johnny. »Wir alle wollen es glauben.«
»Stan kann es nicht gewesen sein«, erklärte Fifi halsstarrig. »Ich weiß es einfach.«
»Ich will ganz bestimmt nicht glauben, dass Stan ein Kinderschänder ist. In meinen Augen passt das einfach nicht zu ihm«, antwortete Johnny. »Aber es wär möglich, dass er nicht mehr richtig im Kopf ist, seit er seine Frau und die Kinder verloren hat.«
»Wissen Sie, warum er nicht zugegeben hat, dass er an diesem Morgen nicht bei der Arbeit war?«, fragte Dan.
»Stan meint, er hätte verschlafen und hätt’s nicht gesagt, weil ein anderer für ihn abgestempelt hat. Angeblich stempeln er und seine Kollegen ständig füreinander ab, wenn sich jemand verspätet, damit ihnen nicht der Lohn gekürzt wird. Er wollte nicht, dass jemand Schwierigkeiten kriegt, weil er ihn gedeckt hat.«
»Um wie viel Uhr ist er dann bei seiner Arbeit erschienen?«, fragte Fifi. Ihre gute Laune hatte sich in nichts aufgelöst, und all die alten Ängste waren zurückgekehrt.
»Er ist so gegen elf zu seinem Müllwagen gestoßen«, erwiderte Johnny.
Nach diesem Drink gingen Fifi und Dan nach Hause, und beide waren niedergeschlagen und schockiert.
»Ich weiß nicht, ich glaube das nicht«, platzte Dan heraus, als sie wieder in ihrer Wohnung waren. »Stan ist ein anständiger Mensch!«
»Was ist mit der Aussage dieser Frau aus Brixton?«, erwiderte Fifi mit gepresster Stimme. Sie dachte an die erste Zeit nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Stan hatte oft für sie die Einkäufe erledigt. Sie konnte auf keinen Fall glauben, dass ein so liebenswerter Mensch ein Kind belästigte, aber wenn doch, dann gab es da vielleicht noch eine andere Seite, die Dan und sie noch nie gesehen hatten.
»Diese Information könnte von jemandem gekommen sein, der den Muckles noch eine Gefälligkeit schuldig war«, meinte Dan grimmig. »Oder es ist einfach eine hysterische Frau, die sich daran erinnert, Stan einmal mit ihrer Tochter spielen gesehen zu haben. Ich habe ihn jedenfalls ziemlich oft draußen auf der Straße mit Kindern reden sehen. Er ist einfach ein einsamer Mensch, der Kindern gern beim Spielen zuschaut.«
Diesmal war es Fifi, die in Schweigen verfiel.
»Pah, Alfie hat doch nun mal die Gewohnheit, die Polizei zu schmieren. Vielleicht ist das ja der Grund, warum sie jetzt nach einem anderen Sündenbock Ausschau halten«, schimpfte Dan. »Denk nur daran, wie oft er mit Sachen durchgekommen ist, für die jeder andere sofort hinter Schloss und Riegel gewandert wäre«, sagte er. »Wenn es Detective Inspector Roper ist, den er in der Tasche hat, wäre es für Alfie ein Leichtes, diese Geschichte jemand anderem unterzuschieben. Stan ist der perfekte Sündenbock, zum einen ist er Pole, zum anderen hat er keine Familie. Wer wird sich für ihn starkmachen?«
Fifi war von klein auf dazu erzogen worden, das Gesetz zu achten und der Polizei zuzutrauen, Verbrecher dingfest zu machen und dem Gericht vorzuführen. Sie mochte Roper nicht besonders, aber sie glaubte nicht, dass er bestechlich war oder falsche Beschuldigungen gegen einen Unschuldigen erhob, nicht einmal um sich selbst zu schützen. Aber Dan war erheblich welterfahrener als sie, und Roper schien alle Register zu ziehen, um irgendeinen anderen als Alfie Muckle des Mordes zu überführen.«
Es war undenkbar, dass Alfie einfach ohne Anklage freigelassen werden könnte. Selbst wenn er Angela nicht getötet hatte, hatte er sie und seine anderen Kinder schändlich behandelt, und nach seiner Entlassung würde er gleich genauso weitermachen wie früher. Er würde außerdem Rache an jedem nehmen wollen, der etwas gegen ihn gesagt hatte. Sie selbst eingeschlossen!
Als Fifi gegen Mittag am nächsten Tag das Krankenhaus verließ, fühlte sie sich wie neugeboren ohne den Gips, obwohl ihr Arm, wie Johnny es prophezeit hatte, tatsächlich seltsam aussah, weil er so weiß war. Außerdem war er dünner geworden und fühlte sich schwach an; wahrscheinlich hatten sich einige Muskeln zurückgebildet. Aber es tat so gut, wieder die Finger bewegen zu können und zu wissen, dass sie sich so schnell wie früher würde anziehen und Dan streicheln können, ohne ihm dabei eins über den Kopf zu geben!
Als sie sich der Dale Street näherte, entdeckte sie Frank, der gerade in den Pub ging. Sie hatte ihn seit Tagen kaum gesehen, aber jetzt vermutete sie, dass er sein Eremitendasein aufgegeben hatte, und beschloss, ihm zu folgen und festzustellen, wie es ihm ging.
Nach dem grellen Sonnenschein war es im Pub ausgesprochen düster. Es waren nur eine Hand voll Leute dort, und Frank stand an der Theke und wartete, während sein Bier gezapft wurde.
»Hallo, wie schön, Sie wiederzusehen«, sagte sie strahlend und als wäre sie überrascht, ihn dort zu treffen. »Ich bin gerade meinen Gips losgeworden, daher wollte ich mir zur Feier des Tages einen Drink gönnen. Kommen Sie, dieses Bier geht auf mich.«
»Nein, lassen Sie nur«, erwiderte er kurz angebunden, als wünschte er, sie würde wieder gehen.
Als er anfing, sich vor ihr zu verstecken, hatte Fifi gespürt, welchen Grund sein Verhalten hatte: Er wünschte, er hätte ihr diese Geschichte über Molly nie erzählt. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und Stillschweigen gewahrt, sie hatte nicht einmal Dan davon erzählt. Doch vielleicht glaubte Frank das nicht.
Jetzt würde sie sich jedoch nicht abweisen lassen; sie war fest entschlossen, ihn dazu zu bringen, mit ihr zu reden. »Ich bestehe darauf«, sagte sie. »Ich muss ab Montag wieder arbeiten, also ist dies meine letzte Chance, unartig zu sein und tagsüber etwas zu trinken.«
Er versuchte sich an einem Lächeln, aber es war ein schwaches, unglückliches Lächeln. »War das Ihre Mum, mit der ich Sie gestern habe weggehen sehen?«, fragte er. »Wenn ja, dann sieht sie jung genug aus, um Ihre Schwester zu sein.«
»Ja, es war Mum, ein Überraschungsbesuch. Ich werde ihr ausrichten, was Sie gesagt haben. Das wird sie freuen.«
Sie fand, dass Frank krank wirkte. Er hatte abgenommen und seine gewohnt gesunde Gesichtsfarbe verloren. Sobald sie ihren Drink bekommen und bezahlt hatte, schlug sie vor, sich an einen Tisch in der Ecke zu setzen.
»Also Frank, warum sind Sie mir aus dem Weg gegangen?«, meinte sie neckend. »Ich dachte, wir wären Freunde.«
Frank zuckte die Schultern. »Ich habe mich hundsmiserabel gefühlt und konnte es nicht ertragen, mit irgendjemandem zu reden.«
»Nun, dann hatten Sie großes Glück, dass Sie mir nicht zufällig begegnet sind«, erwiderte Fifi. »Mir ging es auch miserabel, aber bei mir hat es ganz anders gewirkt. Ich habe mit jedem, der mir zuhören wollte, geredet wie ein Wasserfall.«
»Ich habe das Gefühl, dass es schlimmer wird, statt besser«, antwortete er müde. »Und jetzt haben sie sich Stan wieder vorgeknöpft.«
»Das haben wir gehört«, seufzte Fifi und legte eine Hand auf Franks. »Dan und ich finden, das Ganze klingt von vorn bis hinten vollkommen hirnrissig.«
Frank sah sie an, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Ich bin gerade auf dem Revier gewesen, um festzustellen, ob sie mich zu ihm lassen würden, aber sie haben mich wieder weggeschickt. Sie werden jetzt bald Anklage gegen ihn erheben oder ihn laufen lassen müssen. Er ist jetzt seit fast vierundzwanzig Stunden dort.«
»Wissen Sie etwas über die Frau, die die Anschuldigungen erhoben hat?«
»Ein wenig. Sie heißt Frieda, und sie ist ein ordinäres Frauenzimmer, hat mehrere Kinder, und ihr Alter sitzt im Bau«, erklärte Frank mit unsicherer Stimme. »Stan hat bei ihr die Mülltonnen geleert, und sie hat Ende letzten Jahres ein Auge auf ihn geworfen, ist ständig mit einer Tasse Tee für ihn rausgekommen und dergleichen mehr.«
»Weiß die Polizei das?«
»Stan dürfte es ihnen inzwischen erzählt haben. Letztes Jahr Heiligabend ist sie hier aufgekreuzt. Mächtig aufgedonnert war sie, offensichtlich auf dem Kriegspfad.«
»Was ist passiert?«
»Stan war ein wenig betrunken, er hat sie unter dem Mistelzweig geküsst und ein bisschen mit ihr geflirtet. Als er am nächsten Tag zum Weihnachtsessen zu mir kam, hat er sich ziemlich mies gefühlt deswegen. Er meinte, er hätte die Frau überhaupt nur kennen gelernt, weil ihre kleine Tochter gern mit ihm plaudere, aber die Mutter mochte er eigentlich gar nicht. Und jetzt hatte er ihr die falschen Signale gegeben. Ich habe ihm geraten, ihr klar zu sagen, woran sie sei.«
»Hat er es getan?«
Frank schüttelte den Kopf. »Sie wissen ja, wie Stan ist, zu vornehm, um unhöflich zu einer Frau zu sein.«
»Also hat sie ihn jetzt in ihren Klauen?«
»Nicht so, wie Sie es meinen. Er hat Frieda nicht ausgeführt oder etwas in der Art, aber er mochte das kleine Mädchen, und es tat ihm leid, weil es ein wenig vernachlässigt war. Als Nächstes hat Frieda ihn dann angepumpt, wann immer das Kind neue Schuhe oder Kleider brauchte. Ich schätze, die Sache ist aus dem Ruder gelaufen, denn im Juni hat Stan dann die anderen Männer seines Müllwagens gebeten, in dieser Straße die Mülleimer zu leeren, damit er Frieda nicht mehr über den Weg laufen musste.«
»Sie denken also, die Sache hat sich nach dem Sprichwort entwickelt: ›Kein Schrecken der Hölle wie der Zorn einer verschmähten Frau.‹?«, fragte Fifi.
»Ich vermute es. Ich weiß, dass Stan seit einer Ewigkeit weder sie noch das Kind gesehen hat, und wenn er der Kleinen wirklich etwas angetan hätte, hätte Frieda auf der Stelle Zeter und Mordio geschrien. Meiner Meinung nach hat sie gehört, was bei uns passiert ist, und gedacht, sie könnte auf den Wagen aufspringen und Stan Scherereien bereiten.«
»Diese abscheuliche Kuh!«, rief Fifi. »Aber haben Sie der Polizei das heute nicht erzählt?«
»Ja, doch es hat herzlich wenig genutzt. Sie glauben, Stan und ich seien Komplizen, weil wir befreundet sind. Und natürlich wegen dieses Scherzes, den ich im Pub gemacht habe. Den haben sie ernst genommen.«
Fifi gab sich alle Mühe, Frank aufzuheitern. Sie zeigte ihm ihren weißen Arm und erzählte ihm einige der komischeren Dinge, die ihre Mutter während ihres Besuches von sich gegeben hatte. Aber es war unmöglich, ihn zum Lachen oder auch nur zum Reden zu bringen, und nach einem zweiten Drink verabschiedete sie sich und ging nach Hause.
Doch sobald sie wieder draußen im Sonnenschein war – ein wenig beschwipst nach zwei Gläsern Bier mit Zitronenlimonade, hatte sie keine Lust mehr, den Nachmittag in der Wohnung zu verbringen. Plötzlich kam ihr die Idee, zum städtischen Depot in Stockwell zu fahren, um festzustellen, ob sie nicht einen von Stans Arbeitskollegen bewegen konnte, ihm zu helfen.
Wenn sie den Männern erklärte, dass er tief in der Klemme saß und dass diese Frieda ihrer Meinung nach eine falsche Anschuldigung gegen ihn erhoben hatte, würde sich einer der Männer vielleicht bereitfinden, zur Polizei zu gehen und zu erzählen, was sie über diese Frau wussten.
Es war nur eine Haltestelle mit der U-Bahn, und Fifi ließ sich von einem Straßenkehrer den Weg dorthin beschreiben. Stan hatte ihr einmal erzählt, dass das Depot der Ort sei, an dem die Müllwagen gesäubert und abgestellt wurden, während der Müll selbst anderswo entsorgt wurde. Doch als sie in die Miles Lane bog, eine schmale, gewundene Straße mit verwahrlosten kleinen Häusern und Werkstätten, war der Gestank von verfaulendem Abfall überwältigend.
Am Tor hing ein Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten, aber das Tor selbst stand offen, daher ging Fifi hindurch. Zwei junge Männer spritzten mit bloßem Oberkörper einen Müllwagen ab, und zwei ältere Männer saßen auf dem Boden und rauchten eine Zigarette.
Fifi ging zögernd zu diesen beiden hinüber, wobei sie die frechen Pfiffe der Jüngeren ignorierte.
»Ich suche jemanden, der mir hilft«, begann sie und lächelte kokett, obwohl die beiden durch Körperfülle ersetzten, was ihnen an Haar mangelte, und außerdem ausgesprochen schmutzige Overalls trugen.
»Alles, was Sie wollen, mich eingeschlossen«, sagte der größere Mann, dessen Nase zerdrückt war wie die eines Boxers. Er stand auf. »Mein Name ist Bert. Ich würde Ihnen ja die Hand geben, aber ich bin zu schmutzig, um ein hübsches kleines Ding wie Sie anzufassen.«
»Kennen Sie Stan den Polen?«, fragte sie.
Die Züge des Mannes verhärteten sich, und er trat instinktiv einen Schritt zurück. Offenkundig wusste er, dass Stan sich in Polizeigewahrsam befand. »Ja, wir kennen ihn«, antwortete er. »Was haben Sie mit ihm zu tun?«
»Er ist nur ein Nachbar und ein Freund«, erwiderte sie. »Ich möchte ihm helfen, weil ich weiß, dass er nichts Unrechtes getan hat.«
»Dann braucht er sich keine Sorgen zu machen«, versetzte Bert.
»Aber eine Frau hat behauptet, er hätte ihr Kind belästigt«, wandte Fifi ein.
»Ah!«, rief er, und die Tatsache, dass er nicht erschrocken wirkte und auch keine Fragen stellte, legte die Vermutung nahe, dass er genau wusste, von wem sie sprach.
»Ich hatte gehofft, einer seiner Kollegen könnte vielleicht zur Polizei gehen und ihnen erzählen, dass die Behauptung der Frau nicht wahr ist.«
»Woher sollen wir das wissen?«, fragte Berts Freund, der sich nun ebenfalls erhob. »Stan ist schon ein komischer Kauz.«
»Er ist lediglich Ausländer und ein wenig anders, aber er ist kein Kinderschänder. Darauf würde ich mein Leben verwetten«, erklärte Fifi. »Kennen Sie die Frau, die Anzeige gegen ihn erstattet hat? Ihr Name ist Frieda.«
»Könnte sein, dass wir sie kennen«, sagte Bert mit schmalen Augen.
»Nun, in diesem Fall müssen Sie sich doch eine Meinung über sie gebildet haben?«
»Sie ist ein Flittchen«, meldete sich der andere Mann zu Wort.
Fifi lächelte. Sie glaubte, gewonnen zu haben. Keiner der beiden Männer wirkte besonders intelligent, aber andererseits hatte Stan einmal gesagt, der größte Nachteil seiner Arbeit sei die Mentalität der Männer, mit denen er zusammenarbeitete.
»Dann wussten Sie also, dass sie Stan nachgestellt hat?«, hakte sie nach.
»Sie ist hinter allem her, was Hosen anhat«, brummte Bert. »Er war ein Idiot, dass er ihrer Tochter Sachen geschenkt hat. Ihre Ma muss geglaubt haben, sie hätte das große Los gezogen.«
»Und er hat versucht, ihr aus dem Weg zu gehen, nicht wahr?«, entgegnete Fifi geduldig.
»Keine Ahnung, wir haben bloß alle gehört, dass sie ganz scharf auf ihn war«, erwiderte Bert. »Wir haben ihn immer damit aufgezogen.«
»Würden Sie dann zur Polizei gehen und eine entsprechende Aussage machen? Bitte! Ich weiß, dass Stan für jeden von Ihnen eintreten würde.«
»Wir können nichts sagen«, erklärte Bert, blickte zu Boden und trat von einem Fuß auf den anderen, als schämte er sich ein wenig. »Man hat es uns verboten.«
»Wer hat es Ihnen verboten?«
»Ich trau mich nicht, das zu sagen«, entgegnete er.
Fifi seufzte. »Hat man es nur Ihnen beiden verboten oder allen Männern hier?«
»Uns allen.«
Fifi spürte, dass sie geschlagen war. Sie hatte keine Ahnung, ob die Männer die Wahrheit sagten oder ob Bert das nur erfunden hatte, um sie loszuwerden. Aber mehr würde sie offenkundig nicht aus ihm herausbekommen.
»Können Sie mir wenigstens verraten, in welcher Straße Frieda wohnt?«, bat sie. »Das würde doch nichts schaden, oder?«
»Weshalb wollen Sie das wissen?«, fragte Bert.
»Da Sie nicht bereit sind, Stan zu helfen, dachte ich, ich könnte vielleicht jemand anderen finden, der ihm helfen würde«, antwortete sie.
»Hören Sie, es ist nicht so, dass wir ihm nicht helfen wollen«, warf der andere Mann ein und sah seinen Kollegen dabei an, als teilten sie ein Geheimnis miteinander.
»Ich verstehe, Sie haben Angst, Ihren Job zu verlieren.«
Er nickte. »Er ist ein harter Bastard, unser Boss, ihm ist es egal, dass wir Kinder haben und eine Familie ernähren müssen.«
Fifi hätte ihm gern ein Lächeln geschenkt. In seiner Begriffsstutzigkeit war ihm gar nicht aufgefallen, dass er soeben verraten hatte, wer ihnen verboten hatte, etwas zu sagen. »Also flüstern Sie mir einfach zu, in welcher Straße sie wohnt. Ich werde eine Möglichkeit finden, den Rest zu erledigen«, erklärte sie.
»Es ist die Jasper Street«, flüsterte Bert hastig. »Und jetzt gehen Sie, bevor der Boss zurückkommt und Sie sieht.«
Während Fifi die Miles Lane wieder hinunterging, fragte sie sich, warum der Arbeitgeber der Männer ihnen verboten hatte, ihr Wissen über Stan weiterzugeben. Das war sehr eigenartig – welchen Grund konnte der Mann haben, etwas Derartiges zu verlangen?
Sie war gerade am Ende der Gasse angelangt, als ein roter Jaguar vorbeikam. Der Fahrer bog langsam in die Miles Lane ein, und er sah sie direkt an und grinste lüstern.
Er war in mittleren Jahren, ein massiger, breitschultriger Mann mit silbergrauem Haar, das er sich mit Pomade aus dem gebräunten Gesicht zurückgestrichen hatte. Fifi hatte ihn schon einmal irgendwo gesehen.
Sie überquerte die Straße, drehte sich dann aber noch einmal um und versuchte, ihn einzuordnen. Er setzte den Blinker nach rechts und fuhr auf das Gelände des Depots.
Auf dem Rückweg zur U-Bahn-Haltestelle kreisten Fifis Gedanken um den Fahrer des Jaguar. Er konnte der Boss sein, vor dem die Männer sich fürchteten, und sie fragte sich, ob er vielleicht irgendwann einmal mit Stan im »Rifleman« gewesen war.
Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Vorarbeiter der Müllabfuhr genug verdiente, um sich einen so protzigen Wagen leisten zu können. Sie verstand nur sehr wenig von Autos, war sich aber sicher, dass dies das neueste Modell war.
Vor der U-Bahn-Haltestelle hielt Fifi noch einmal inne und überlegte, was sie in Bezug auf Frieda unternehmen sollte. Vor zehn Minuten war es ihr als eine gute Idee erschienen, einfach dort hinzugehen und die Frau zur Rede zu stellen, doch jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Nach allem, was sie von Frank wusste, musste sie ziemlich vulgär sein, und am Ende würde sie womöglich auf sie losgehen. Hinzu kam, dass Frieda Fifi vielleicht der Polizei melden würde, und das konnte sie unter Umständen in Schwierigkeiten bringen. Außerdem wusste sie ja auch nicht, wie weit es bis zur Jasper Street war, und sie hatte sich vorgenommen, heute Abend etwas Besonderes zu kochen.
Sie zauderte noch einige Minuten, bevor sie zu dem Schluss kam, nicht an die Tür einer wildfremden Frau zu hämmern. Möglicherweise machte sie die Dinge damit für Stan nur noch schlimmer statt besser.
Sobald sie in der U-Bahn saß, kehrten ihre Gedanken wieder zu dem Mann in dem roten Wagen zurück. Dan merkte sich Menschen immer anhand ihrer Autos, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ihn nach diesem Jaguar befragen sollte, denn dann würde sie ihm von ihrem Besuch im Depot erzählen müssen. Sie wusste, dass er ihr Verhalten missbilligen würde. Steck deine Nase nicht andauernd in anderer Leute Angelegenheiten!, würde er schimpfen, und das würde dann womöglich zu einem weiteren Streit führen. Sie wollte nicht, dass irgendetwas ihren ersten Abend ohne den Gips verdarb.
Zu Hause holte Fifi die Zutaten für die Fischpastete hervor, die sie zubereiten wollte. Sie hatte sich das Rezept vor kurzem aus einer Zeitschrift ausgeschnitten. Auf dem Foto sah es köstlich aus, und die Zubereitung klang einfach; selbst sie, die keine allzu gute Köchin war, müsste damit fertig werden.
Während der Fisch in einem Sud garte, bereitete sie die Pastete und die weiße Soße zu. Aber vielleicht hatte sie den Fisch zu lange gekocht, denn als sie ihn abgoss, sah er eher wie eine graue Suppe aus. Doch sie mischte ihn dennoch unter die weiße Soße, gab ihn in eine Pastetenform und legte den Teig darüber. Anschließend formte sie einige hübsche Teigblätter, wie sie auf dem Bild zu sehen waren, aber als sie sie auflegte, sackte die Pastete in der Mitte durch. In der Annahme, dass der Teig schon wieder aufgehen würde, schob sie das Ganze in den Ofen und ging nach unten, um ein Bad zu nehmen.
Sie blieb länger in der Badewanne, als sie vorgehabt hatte, da es eine solche Wohltat war, sich ohne den Gips am Arm ins Wasser sinken zu lassen. Als sie aus der Wanne stieg, bemerkte sie, dass das ganze Haus nach Fisch stank, schlimmer noch, es roch angebrannt! Sie lief nach oben in die Wohnung, und als sie den Ofen öffnete, hatte die Pastete nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der auf dem Foto. Sie war zwar nur an den Rändern angebrannt, doch der Teig war nicht aufgegangen, sondern noch tiefer in die Füllung eingesunken, und sah schrecklich aus.
Unbeirrt putzte sie das Gemüse und deckte im Wohnzimmer den Tisch. Fifi war davon überzeugt, dass die Pastete trotz ihres Aussehens schmecken würde, und Dan wusste es stets zu schätzen, wenn sie sich Mühe gegeben hatte.
Um sechs Uhr war sie fertig angezogen und geschminkt – sie trug das schwarze Kleid, das Dan so gut gefiel. Fifi stellte den Ofen auf die niedrigste Temperatur und ging ans Fenster, um nach Dan Ausschau zu halten.
Einen Moment später kam Yvette aus ihrem Haus und lief die Straße hinauf. Wie immer trug sie eins ihrer formlosen Kleider und darüber eine schäbige braune Strickjacke. Es sah so aus, als wollte sie zum Laden hinübergehen, da sie eine Börse in der Hand hielt. Als Yvette am Haus Nummer dreizehn vorbeikam, wo die Boltons wohnten, trat John aus der Tür, und die beiden unterhielten sich kurz.
Fifi hatte bisher nur ein oder zwei Mal mit John gesprochen, und das war im »Rifleman« gewesen, kurz nach ihrem Einzug in die Dale Street. Er war Ende dreißig, ein hochgewachsener, gut aussehender Mann mit schwarzem Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde. Er hatte leuchtend blaue Augen, ein freundliches Lächeln und trug ausgesprochen schicke Anzüge. Man munkelte, er sei ein Schurke, und es hatte tatsächlich den Anschein, als ginge er keiner richtigen Arbeit nach, da er niemals vor Mittag aus dem Haus kam.
Vera, seine Frau, war eine üppige Rothaarige, die als Platzanweiserin in einem Kino im West End arbeitete. Einige Nachbarn hatten Fifi erzählt, dass die Wohnung der Boltons sehr feudal eingerichtet sei, mit dicken Teppichen, teuren Möbeln und den modernsten Geräten. Also entsprachen die Gerüchte, was John betraf, vermutlich der Wahrheit.
Neben Dan war John der attraktivste Mann in der Straße, das hatte selbst Yvette einmal bemerkt. Fifi hatte sie verschiedentlich mit John reden sehen. Vermutlich lag das nur daran, dass Yvette manchmal ein Kleid für Vera nähte, doch Dan hatte oft darüber gescherzt, die Schneiderin habe ein Faible für John.
Sie wirkte tatsächlich recht angeregt, wie sie da auf dem Gehweg stand und gestikulierte, als beschriebe sie ihm etwas. Fifi wünschte, sie hätte hören können, worüber die beiden sprachen.
Als John sich ein wenig zur Seite wandte und sie sein Profil sah, regte sich plötzlich etwas in Fifis Gedächtnis. In der gleichen Haltung hatte sie ihn einmal beobachtet, als er vor der Tür der Muckles gestanden hatte. Es lag einige Wochen zurück und war lange vor ihrer Fehlgeburt gewesen. Aber wichtiger noch: Sein Begleiter an diesem Abend war der Mann gewesen, den sie am Nachmittag in dem roten Jaguar gesehen hatte!
Während Fifi Yvette und John Bolton beobachtete, unterhielt sich Sergeant Mike Wallis auf dem Revier mit Detective Inspector Roper.
»Wie hätten Sie’s denn gern, Chef?«, fragte Wallis. »Sollen wir Anklage gegen ihn erheben oder ihn laufen lassen?«
Roper zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er hatte seit mehr als einer Stunde an seinem Schreibtisch gesessen und über die Beweise gegen Stan den Polen nachgedacht. Aber der Mann war jetzt seit über zwanzig Stunden in Untersuchungshaft, und er konnte ihn nicht länger festsetzen, ohne Anklage gegen ihn zu erheben.
»Ich glaube dieser Schlampe nicht«, sagte er heftig. »Na schön, der Pole ist ein komischer Kauz, und er hat uns beim ersten Mal angelogen und behauptet, er sei zur Zeit des Mordes bei der Arbeit gewesen. Aber auf mich macht er nicht den Eindruck eines Kinderschänders oder eines Mörders. Haben Sie überprüft, ob Frieda Marchant ein Vorstrafenregister hat?«
Wallis nickte und holte sein Notizbuch hervor. »Ja, ich habe etwas gefunden, zwei Fälle von Hehlerei und einen Ladendiebstahl in jüngerer Zeit. Wachtmeister Coombs hat mit ihren Nachbarn gesprochen. Sie sagen, Frieda sei eine Unruhestifterin, die ihre Kinder vernachlässige und für ein paar Pfund ihre eigene Großmutter verkaufen würde. Ich vermute, dass irgendjemand sie angestiftet hat.«
»Das denke ich auch.« Roper seufzte, lockerte seine Krawatte und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. »Aber wer, das ist die Frage? Sie ist genau Alfies Typ, nicht viel anders als seine Missus, aber vom Gefängnis aus konnte er ihr kaum befehlen, Stan in Verruf zu bringen.
Fest steht, dass sie irgendeine Art von Beziehung zu Stan hatte, und er gibt zu, mit ihrer Kleinen geredet und ihr Geschenke gekauft zu haben. Ich neige dazu, ihm zu glauben, dass er das Kind einfach mochte und Mitleid hatte und dass Frieda sich auf diese Weise an ihm rächt, weil er sie abgewiesen hat.«
»Die Sache ist die: Am Tag des Mordes will Stan verschlafen haben. Können wir diese Geschichte glauben?«, fragte Wallis. »Keiner der Männer im Depot wollte zugeben, an diesem Morgen für ihn gestempelt zu haben.«
»Nun, das war auch nicht anders zu erwarten«, erwiderte Roper, drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort die nächste an. »Jedem, der so etwas zugibt, würde sofort gekündigt werden. Außerdem passen Stans Fingerabdrücke nicht zu denen aus dem Schlafzimmer von Nummer elf, daher denke ich, wir lassen den armen Kerl gehen. Doch wir sollten diese Frieda unter Beobachtung stellen. Wenn jemand sie dazu angestiftet hat, wird sie den Betreffenden vielleicht aufsuchen, und mit ein wenig Glück wird es sich um jemanden handeln, der an diesem Kartenspiel teilgenommen hat.«
»Sagen Sie mir eins, Chef: Glauben Sie immer noch, dass Alfie oder Molly das Kind getötet haben?«
Roper schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß es nicht, Mike. Ich war mir hundertprozentig sicher. Aber je mehr Informationen wir bekommen, desto mehr zweifle ich an meinem Urteil. Um Himmels willen, ich hätte Molly um ein Haar geglaubt, was Frank Ubley betrifft! Es klang so verdammt plausibel. Es war reines Glück für ihn, dass er an der U-Bahn-Haltestelle in diesen Blumenladen gegangen ist. Wenn die Ladenbesitzerin sich nicht daran erinnert hätte, dass er so lange gebraucht hatte, um Blumen für das Grab seiner Frau auszusuchen, hätte die Geschichte ganz anders ausgehen können. Anschließend habe ich mich geschämt, weil ich den armen Kerl jemals in Verdacht hatte. Dann kommt diese Geschichte mit dem Polen auf den Tisch! Und jetzt …« Er verzog das Gesicht. »Nun, sagen wir nur, dass ich noch verwirrter bin als zuvor. Alfie ist genau der Typ, der vor nichts zurückschreckt, um seinen Hals zu retten. Warum also weigert er sich, uns die Namen der Männer zu nennen, die an jenem Abend mit ihm Karten gespielt haben?«
»Lohnt es sich, John Bolton noch einmal vorzuladen?«, fragte Wallis. »Ich weiß, er kann es nicht getan haben, doch ich hatte den Eindruck, dass er uns etwas verschweigt.« Er blätterte in seinem Büchlein zu den Notizen zurück, die er während des ersten Verhörs von John Bolton angefertigt hatte. »›Mir hat die Gesellschaft einfach nicht gefallen‹«, las er vor und sah dann den älteren Beamten an. »Das hat er über das eine Kartenspiel gesagt, an dem er teilgenommen hat. Er hat nicht von Alfie gesprochen, nicht wahr? Ich meine, die beiden sind in derselben Straße aufgewachsen, sie waren als Kinder sogar miteinander befreundet, daher wusste er bereits, was für ein Mensch Alfie ist. Also müssen wir davon ausgehen, dass es etwas anderes war, das ihm nicht gefallen hat. Meinen Sie, wir könnten ihn dazu bringen, es uns zu erzählen?«
Roper dachte einen Moment lang nach. Er kannte Bolton seit etwa zwanzig Jahren, und er mochte und respektierte den Mann, auch wenn er ein Schurke war, denn er hatte Charme, Humor und Mut. Roper hatte ihn vor etwa acht Jahren verhaftet. Damals war Bolton wegen schweren Diebstahls in Hatton Garden angeklagt und verurteilt worden. Diese Festnahme hatte Ropers Ansehen bei Kollegen und Vorgesetzten deutlich gesteigert, denn Bolton galt als schlauer Teufel, der dem Gesetz immer um drei Schritte voraus war. Damals hatte er Bolton gefragt, warum er sich dem Verbrechen zugewandt hatte, obwohl er es in der Geschäftswelt hätte weit bringen können.
»Zuerst waren mir alle Türen verschlossen«, hatte er mit einem breiten Grinsen geantwortet. »Und als ich gelernt hatte, die Schlösser zu öffnen, wollte ich nicht mehr hineingehen.«
»Es ist einen Versuch wert«, meinte Roper mit einem Seufzen. »Wenn wir ihm die Fotos von dem Kind zeigen, wird er vielleicht angewidert genug sein, um Namen zu nennen.«
»Soll ich ihn heute Abend herbringen?«, fragte Wallis.
Roper blickte auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass er an einem Freitagabend zu Hause sein wird. Lassen Sie uns damit bis morgen warten.«