Kapitel 9
Fifi trug ihren Teebecher ins Wohnzimmer und stellte das Radio an, um die Acht-Uhr-Nachrichten zu hören, dann setzte sie sich ans Fenster. Seit ihrer Fehlgeburt waren drei Wochen vergangen, und die Niedergeschlagenheit, die sie befallen hatte, schien endlich ein wenig zurückzugehen. Es war Samstag, ein wunderschöner Morgen, und sie beschloss, sich nach dem Tee zu waschen und anzuziehen und anschließend einkaufen zu gehen. Eva Price, die rothaarige Frau, die in Nummer acht wohnte, dem Haus neben dem Kohlenhof, war auf dem Weg zu ihrer Arbeit in der Reinigung. Die geschiedene und allein mit ihrem zehnjährigen Sohn lebende Frau wirkte sehr adrett in ihrem hellgrünen Kleid. Fifi war schon seit einer Weile aufgefallen, dass sie irgendwie attraktiver aussah als früher, und hatte sich gefragt, ob es vielleicht einen neuen Mann in ihrem Leben gab.
Fifi lächelte bei der Erinnerung an ein Gespräch mit Dan vor einigen Tagen. Er hatte sie damit aufgezogen, dass sie langsam zu ihrer alten Neugier zurückfand und sich wieder daran ergötzte, durch die Gardinen hindurch die Nachbarn zu beobachten.
Er hatte Recht. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus hatte sie kaum mehr getan, als das Kommen und Gehen der Menschen in der Straße zu verfolgen. Und natürlich Dan unzählige Male mit einer Mischung aus Trübsal, Ironie und schlichter Gemeinheit aus der Fassung zu bringen.
Jetzt schämte sie sich dafür. Dan hatte eine solche Behandlung nicht verdient – er wusch sie, zog sie an, kochte und putzte. Und während all der Zeit war er so verständnisvoll gewesen, auch wenn sie sich unmöglich benahm und er noch nicht wieder hundertprozentig auf dem Damm war. Aber glücklicherweise ging es ihr jetzt, abgesehen von dem lästigen Gipsarm, langsam wieder besser.
Der Arzt hatte Dan Ende der vergangenen Woche grünes Licht gegeben, und seit Montag arbeitete er wieder. Fifi vermisste ihn; die Tage kamen ihr sehr lang und leer ohne ihn vor. Sie wünschte, er hätte sich nicht bereit erklärt, heute den ganzen Tag zu arbeiten. Doch sie brauchten das Geld, und so war sein Entschluss wahrscheinlich nur vernünftig.
Das Alleinsein zwang sie immerhin, viele Dinge selbst in Angriff zu nehmen. Sie hatte es sogar geschafft, mit der linken Hand Kartoffeln zu schälen und Briefe zu schreiben, obwohl das Ergebnis aussah, als wäre ein noch sehr unbeholfenes Kind am Werk gewesen. Fifi konnte die Finger ihrer rechten Hand benutzen, um etwas festzuhalten, doch sie waren noch immer steif, und wenn sie sich zu viel zumutete, tat ihr der Arm weh.
Entgegen der düsteren Prophezeiung ihrer Mutter hatte sie ihre Stellung nicht verloren, sondern sogar Blumen und einen sehr mitfühlenden Brief von ihrem Chef bekommen. Sie hoffte, Anfang September, wenn man ihr den Gips abnahm, wieder arbeiten zu können.
Fifi beugte sich ein wenig vor, weil sie irgendwo ein Kind weinen hörte, aber sie konnte es draußen nirgendwo entdecken und auch nicht ausmachen, aus welchem Haus das Weinen kam. Dann kam der Milchwagen die Straße entlanggerattert und übertönte jedes andere Geräusch. Sie sah zu, wie der Milchmann ausstieg, sich ein paar Flaschen griff und damit von Tür zu Tür lief, um sie davor abzustellen und die leeren Flaschen einzusammeln.
Dann klang Franks Stimme zu ihr herauf, der den Milchmann fragte, ob er auch Eier dabeihabe. Sie hörte eine weitere Männerstimme – jemand bat Frank um die Ausgabe des Evening Standards von gestern Abend. Vermutlich war es Mr. Helass, der zwei Häuser weiter wohnte. Aber sie hätte sich aus dem Fenster lehnen und die eigene Straßenseite sehen müssen, um es genau zu wissen.
Ein Gutes hatte es gehabt, dass sie und Dan beide im Krankenhaus gelandet waren: Sie hatten dadurch so viele ihrer Nachbarn weit besser kennen gelernt, und Fifi wusste all die Freundlichkeiten, die ihnen zuteil geworden waren, inzwischen sehr zu schätzen. Aber es war Yvette, der sie den größten Dank schuldete. Die Französin war während der beiden ersten Wochen jeden Tag hergekommen und hatte alle nötigen Arbeiten erledigt. Doch am meisten hatte Fifi in dieser Zeit Yvettes liebevoller Zuspruch geholfen.
Wer hätte gedacht, dass eine eindeutig merkwürdige Französin der einzige Mensch sein würde, der sie dazu bringen konnte, über die Dinge zu sprechen, die sie am meisten bewegten. Nur Yvette schien all die widersprüchlichen Gefühle verstehen zu können, die auf Fifi eingestürmt waren, als sie ihre Schwangerschaft entdeckt hatte. Sie tat auch Fifis Überzeugung, die Fehlgeburt selbst verschuldet zu haben, nicht mit belanglosen Bemerkungen ab. Stattdessen redete sie mit ihr darüber und machte ihr klar, dass der Verlust ihres Kindes keine Strafe dafür sei, nicht vom Augenblick der Empfängnis an überschäumendes Glück darüber empfunden zu haben. »Solche Schuldgefühle sind doch ganz normal. Die meisten Frauen empfinden in so einer Situation ganz ähnlich«, versicherte sie Fifi.
Mit der gleichen Klugheit sprach sie über den Bruch zwischen Fifi und ihrer Mutter und äußerte die Vermutung, dass die Gründe dafür mit einiger Sicherheit in Fifis Kindheit zu suchen seien.
»Wenn sie sich immer solche Sorgen um Sie gemacht ’at, als Sie noch klein waren, kann sie nicht einfach damit auf’ören, nur weil Sie jetzt groß sind«, sagte Yvette. »Sie ’at Angst, dass irgendjemand Ihnen wehtun könnte. Es ist für jede Mutter schwer loszulassen.«
Während Fifi weiter aus dem Fenster schaute, fiel ihr ein, wie schrecklich sie diese Straße gefunden hatte, als sie das erste Mal hier gewesen war, und sie erinnerte sich auch daran, dass das Gefühl nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus wieder da gewesen war. Jetzt dagegen schien ihr die Straße ganz annehmbar zu sein. Es wäre natürlich schön gewesen, hätten einige Bäume dort gestanden oder wäre der Kohlenhof geschlossen worden, doch wenn sie und Dan fortgingen – und er hatte ihr versprochen, mit ihr fortzuziehen, wenn ihr Arm geheilt war –, würde sie die Freunde vermissen, die sie hier gewonnen hatte.
Nun gut, die Muckles waren immer noch auf der anderen Straßenseite »der Wurm im Apfel«, wie Yvette sie einmal humorvoll beschrieben hatte, aber in letzter Zeit waren sie ruhiger gewesen. Sie veranstalteten nach wie vor jeden Freitag ihre Kartenpartien, doch vergangene Nacht hatte Fifi nicht viel davon mitbekommen, weil Dan und sie früh zu Bett gegangen waren.
Sie fragte sich, ob Alfie vielleicht nervös geworden war, als die Polizei ihn wegen des Überfalls auf Dan befragt hatte. Oder konnte es sein, dass sie es endlich müde geworden waren, überall nur Verachtung zu ernten?
Wenn die Polizei doch nur herausfinden würde, wer Dan überfallen hatte! Es gefiel Fifi nicht, wenn solche Dinge ungeklärt blieben. Aber auf dem Rohrende, mit dem er geschlagen worden war, hatten sich keine Fingerabdrücke gefunden. Von den Anwohnern der Gasse, in der es geschehen war, hatte niemand etwas Verdächtiges beobachtet. Soweit Fifi wusste, hatte die Polizei den Fall zwar noch nicht offiziell abgeschlossen, doch es sah nicht so aus, als würden sie deswegen noch etwas unternehmen.
Dan war immer noch davon überzeugt, lediglich mit jemand anderem verwechselt worden zu sein. Wie er bemerkte, verließ er die Baustelle zu wechselnden Zeiten.
Realistisch betrachtet, bezweifelte Fifi ohnehin, dass Alfie dazu in der Lage war, eine so raffinierte Rache zu planen. Sie neigte sogar inzwischen dazu zu glauben, sie habe sich in der Nacht des Gewitters nur eingebildet, ihn auf der Mauer gesehen zu haben. Sie war schließlich sehr erregt gewesen. Würde irgendjemand, selbst ein Perverser wie Alfie, bei solch einem Wetter auf Gartenmauern herumstreunen?
»Fifi! Sind Sie schon auf?«
Beim Klang von Franks Stimme erhob Fifi sich aus ihrem Sessel und trat auf den Flur hinaus. Frank stand am unteren Ende der Treppe, ihren halben Liter Milch in Händen.
»Sie sehen gut aus«, sagte Fifi. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte. »Wohin wollen Sie denn?«
»Zu Junes Grab und dann weiter zu meiner Schwester«, antwortete er, kam die Treppe hinauf und stellte die Milchflasche ab. »Ich werde den ganzen Tag fort sein, und ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht Lust hätten, in meinem Garten in der Sonne zu sitzen.«
»Und ob ich dazu Lust hätte!«, antwortete sie und lächelte auf ihn hinab. »Sie sind ein Schatz, Frank!«
Er hatte ihr dieses Angebot schon früher gemacht. Aber bisher hatten sie die Einladung nie angenommen, denn solange Dan zu Hause gewesen war, hatten sie zusammen in den Park gehen können. Allein wollte Fifi ungern dort hingehen, außerdem war es sehr unbequem, im Gras zu sitzen und zu lesen. Frank hatte einen weich gepolsterten Stuhl unten stehen, und in der Abgeschiedenheit seines Gartens konnte sie Shorts tragen oder sogar einen Badeanzug.
»Nun, gehen Sie einfach hinaus, wenn Sie so weit sind«, meinte er und wandte sich ab. »Uns steht ein sengend heißer Tag bevor. Sie können sich in meiner Küche etwas zu trinken zurechtmachen, Sie haben bestimmt keine Lust, öfter die Treppen rauf und runterzulaufen. Und wenn Sie wieder reingehen, denken Sie daran, die Küchentür abzuschließen.«
»Ich werde für Sie Unkraut jäten«, sagte sie. »Das gehört zu den wenigen Arbeiten, die ich mit der linken Hand verrichten kann.«
»Wenn Sie meine Blumen ausreißen, werden Sie ganz schön was zu hören bekommen, wenn ich wieder zu Hause bin«, lachte er.
Fifi wusch sich, zog weiße Shorts und ein trägerloses Top an, dann kochte sie sich ein Ei und belegte einen Toast damit. Es war ausgesprochen ärgerlich, wie lange man mit einer Hand selbst für die simpelsten Verrichtungen brauchte. Zu Anfang war es ihr ebenso unmöglich gewesen, ihren BH zuzuhaken, wie Butter auf einen Toast zu streichen oder Streichhölzer für den Gasherd zu entzünden. Dan hatte ihr das Gasanzünden dennoch ermöglicht – er hatte ein batteriebetriebenes Gerät dafür gekauft, und mit der Zeit hatte sie auch Lösungen für andere Probleme gefunden, vor allem, als ihr gebrochenes Handgelenk langsam kräftiger wurde und sie mit den Fingern wieder etwas festhalten konnte.
Ihr Frühstück stand gerade auf dem Tisch, als sie draußen auf der Straße Alfie Muckles Stimme hörte. Es war erst neun Uhr, außerordentlich früh für ihn, um auf der Bildfläche zu erscheinen, insbesondere nach einer Kartenpartie, daher trat Fifi ans Fenster, um festzustellen, was er im Schilde führte.
Alfie war für seine Verhältnisse erstaunlich elegant gekleidet – er trug ein Hemd zu grauer Hose statt seiner gewohnten schmuddeligen Weste mit Hosenträgern darüber. Bei ihm waren die drei älteren Kinder, Alan, der stets verdrossen dreinblickende Teenager, heute in ebenso ordentlicher Kleidung, sowie Mary und Joan, die saubere Kleider und weiße Socken trugen. Sie alle waren beladen mit Tragetaschen, deren Inhalt stark nach Handtüchern und Picknick-Utensilien aussah.
»Komm endlich«, rief Alfie Molly zu, die noch unschlüssig in der Tür stand. »Du wolltest diesen verdammten Ausflug. Wenn wir jetzt nicht loskommen, lohnt es sich nicht mehr.«
Es sah so aus, als stritte Molly mit ihm über irgendetwas. Sie blickte immer wieder zurück in den Flur, aber ihre Stimme war zu undeutlich, um zu verstehen, was sie sagte.
»Geschieht ihr verdammt recht«, brüllte Alfie. »Und jetzt komm, oder ich überleg es mir wieder anders.«
Mollys Aufmachung war dieselbe, in der sie abends allein ausging: Sie trug ein rosafarbenes Kleid mit weit ausgestelltem Rock und keine Lockenwickler. Kurz darauf erschienen auch Dora und Mike. Nur Angela fehlte.
Die Haustür wurde hinter ihnen zugeschlagen, und Fifi beobachtete voller Faszination, wie die Familie die Straße hinauftrottete.
In geballter Form boten sie einen zum Schreien komischen Anblick. Alfie versuchte sich an dem breitbeinigen Gang eines Kraftprotzes, aber das Ergebnis sah eher aus wie ein Watscheln; Molly taumelte unsicher auf ihren hohen Absätzen, und die Kinder schlichen mit gesenkten Köpfen am Rinnstein entlang. Dora trug ein grellgelbes Kleid mit ausgestelltem Rock, dazu eine Art Seemannsbluse mit rotem Besatz. Fifi fragte sich, wo um alles in der Welt sie ein derart grässliches Kleid erstanden haben mochte, und hatte gleichzeitig ein wenig Mitgefühl mit Mike, der ebenso sehr versuchte, sich von ihr zu distanzieren, wie sie sich bemühte, Besitz ergreifend seinen Arm festzuhalten.
Sie waren gerade um die Ecke gebogen, als Fifi sich an das Kind erinnerte, das kurz zuvor geweint hatte. Ob es Angela gewesen war? Hatten sie sie zur Strafe allein im Haus zurückgelassen, während sie einen Tagesausflug unternahmen?
Beim Frühstück behielt Fifi das Haus der Muckles weiter im Auge. Angela verbrachte normalerweise viel Zeit damit, aus dem Schlafzimmerfenster im oberen Stockwerk zu schauen, aber heute war sie nicht zu sehen. Wie üblich hing vor dem Fenster eine Decke, und Fifi konnte kein Weinen mehr hören. Es war natürlich möglich, dass man sie für den Tag zu einer Freundin oder zu einer Verwandten geschickt hatte, doch Fifi traute Alfie und Molly so viel Organisationstalent nicht zu.
Es war wunderbar draußen in Franks Garten, einer winzigen Oase von Schönheit und Frieden. Obwohl Fifi in der Ferne Verkehrsgeräusche und Kinder hören konnte, die in den Straßen spielten, war es durchaus möglich zu vergessen, dass sie sich in einer großen Stadt befand.
Als sie sich auf dem bequemen Stuhl zurücklehnte, erinnerte sie die Sonne, die auf sie niederbrannte, an Tage wie diesen daheim in Bristol. Und selbstverständlich wanderten ihre Gedanken zu ihren Eltern. Ihre Mutter hatte ihr einige Tage nach Fifis Entlassung aus dem Krankenhaus einen sehr kalten, reservierten Brief geschrieben. An dem gestelzten Tonfall ließ sich deutlich ablesen, dass Clara ihre Meinung über Fifis Lebensumstände nicht wirklich geändert hatte. Obwohl sie schrieb, eine Fehlgeburt sei ein schreckliches Erlebnis, betonte sie, dass solche Dinge ihrer Meinung nach immer »zum Besten« geschähen, und fügte hinzu: Außerdem ist es sehr undankbar von Dir, das Angebot abzulehnen, während der Zeit Deiner Genesung nach Hause zu kommen. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch mehr tun könnte.
Der Brief hätte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt kommen können. Fifi fühlte sich bereits so weinerlich und elend, und der Brief hatte sie noch tiefer in Mutlosigkeit und Verzweiflung gestürzt. Zur gleichen Zeit kamen auch andere Briefe, ein sehr lieber, absolut mitfühlender Brief von Patty, ein gemeinschaftlicher Brief von ihren Brüdern und ein ausgesprochen warmherziger von ihrem Vater, aber der Brief ihrer Mutter machte all das Gute, das die anderen hätten bewirken können, zunichte.
Dan hatte um Fifis willen nach Bristol geschrieben und erklärt, dass sie derzeit nicht selbst schreiben könne und dass ihre Entscheidung, in London zu bleiben, keinem Gefühl des Grolls entsprungen sei, sondern rein praktische Gründe gehabt habe. Wir haben uns beide der langen Zugfahrt und der Anstrengung, von anderen Menschen umgeben zu sein, nicht gewachsen gefühlt. Doch eines möchte ich betonen: Weder Fifi noch ich halten den Verlust eines Kindes für etwas, das in irgendeiner Weise »zum Besten« sein könnte – im Gegenteil. Uns macht es vielmehr zu schaffen, dass jemand das Unglück, das uns widerfahren ist, so betrachten kann.
Sobald Fifi sich daran gewöhnt hatte, mit der linken Hand zu schreiben, hatte sie ihren Eltern einen Brief geschickt, aus dem kaum mehr hervorging, als dass sie ihre Stellung behalten habe und Dan wieder arbeite. Aber ihre Mutter hatte nicht geantwortet. Fifi würde, das begriff sie langsam, einfach akzeptieren müssen, dass Clara niemals ihre Meinung ändern würde. Sie musste endlich aufhören, darauf zu hoffen.
Um zwei Uhr wurde es schließlich zu heiß, um noch länger draußen zu bleiben. Fifi verschloss Franks Hintertür und kehrte in ihre Wohnung zurück. Sie wollte einkaufen gehen, um etwas fürs Abendessen zu besorgen. Erst als sie sich umzog, dachte sie wieder an Angela.
Vom Fenster aus war noch immer nichts von ihr zu sehen, und Fifi gefiel der Gedanke gar nicht, dass das kleine Mädchen womöglich ganz allein im Haus war, zutiefst unglücklich darüber, zurückgelassen worden zu sein, und wahrscheinlich ohne etwas zu essen. Sie beschloss, zu Yvette hinüberzugehen und zu fragen, ob sie das Kind gesehen oder gehört habe.
Fifi klingelte an Yvettes Tür und klopfte an das vordere Fenster, aber ohne Erfolg. Vermutlich war die Schneiderin zu einer Anprobe zu einer ihrer Kundinnen gegangen. Yvette hatte vor einigen Tagen erzählt, kurz vor der Fertigstellung eines Kleides zu stehen, das für die Mutter einer Braut bestimmt sei.
Als Fifi Schweinekoteletts, Gemüse und einige andere Dinge gekauft hatte, war eine Stunde vergangen. Bevor sie ihre Einkäufe in die Wohnung brachte, klingelte sie noch einmal bei Yvette, doch die Französin war noch immer nicht zu Hause. Drüben am Kohlenhof kickten vier Jungen von etwa neun oder zehn Jahren lustlos mit einem Ball herum. Einer von ihnen war Matthew, der Sohn der rothaarigen Frau aus dem Haus am Ende der Straße, und Fifi ging zu ihm hinüber.
»Hast du Angela Muckle heute schon gesehen, Matthew?«, fragte sie.
»Nein, sie ist mit den anderen nach Southend gefahren«, antwortete er.
»Als die Familie heute Morgen aufgebrochen ist, war Angela nicht bei ihnen«, sagte Fifi. »Ich glaube, sie haben sie zu Hause gelassen.«
»Gestern hat sie aber erzählt, dass sie mitfahren würde«, entgegnete Matthew. »Sie war ganz aufgeregt. Und sie war heute auch noch nicht draußen, zumindest nicht, seit wir aus dem Park zurückgekommen sind. Aber wenn ihre Mum ihr gesagt hat, dass sie drinbleiben soll, würde sie es auch nicht wagen herauszukommen.«
Fifi bedankte sich bei Matthew und gab ihm ein Sixpence-Stück, damit er für sich und seine Freunde ein Eis kaufen konnte. Auf dem Rückweg in ihre Wohnung blickte sie noch einmal zum Haus der Muckles hinüber. Alle Fenster waren geschlossen, und die Decken hingen wie üblich davor; sie konnte kein Radio spielen hören, und jetzt erschien es ihr mit einem Mal äußerst merkwürdig, dass Angela nicht wie gewöhnlich hinaussah, um die anderen Kinder beim Spielen zu beobachten.
Fifi brachte ihre Einkäufe in die Küche, legte die Koteletts in den Kühlschrank und trat wieder ans Fenster, erfüllt von der Hoffnung, Angela wohlbehalten zu entdecken. Aber es war noch immer nichts von dem Kind zu sehen, und einem Impuls gehorchend ging Fifi wieder nach unten, überquerte die Straße und klopfte an die Tür. Niemand antwortete, daher spähte Fifi durch den Briefkasten. Ein widerlicher Geruch wehte ihr entgegen, doch sie konnte nichts sehen, da etwas auf der Innenseite der Tür hing.
»Angela«, rief sie. »Kannst du mich hören? Ich bin es, Mrs. Reynolds von der anderen Seite der Straße.«
Nichts geschah.
Jetzt machte Fifi sich Sorgen. Es war nicht nur ein oberflächliches Gefühl, sondern ein unangenehmes Ziehen im Magen, beinahe wie eine böse Vorahnung. Sie blickte zu den Fenstern der Muckles hinauf und dachte über Alfies Bemerkung nach, die sie am Morgen gehört hatte. »Geschieht ihr verdammt recht«, hatte er geschrien. War es möglich, dass er Angela geschlagen oder in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte?
»Was ist denn los, Mrs. Reynolds?«
Die Frage des kleinen Matthew erschreckte Fifi, da sie ihn nicht hatte kommen hören.
Sie lächelte den Zehnjährigen an. Er war ein hübsches Kind mit lustigen Sommersprossen auf dem Nasenrücken und grünen Augen. Jetzt lutschte er an dem Eis, das er von ihrem Geld gekauft hatte, und seine Lippen hatten die grüne Farbe der Süßigkeit angenommen.
»Ich mache mir ein wenig Sorgen, dass Angela verletzt oder krank sein könnte«, sagte sie. »Wenn Miss Dupré zu Hause wäre, würde ich versuchen, über ihren Zaun zu steigen, um nachzusehen, aber sie ist nicht da.«
»Sie könnten an der Mauer hinter unserem Haus entlanggehen«, schlug er vor.
Fifi lächelte. Es war allgemein bekannt, dass Alfie diese Mauer ständig benutzte, um den Leuten nachzuspionieren, außerdem diente sie ihm im Notfall als Fluchtweg. »Ich glaube nicht, dass ich das mit einem gebrochenen Arm schaffen würde«, antwortete sie.
»Ich könnte für Sie reingehen«, erbot sich Matthew. »Ich war schon hundert Mal mit Alan im Haus. Von unserem Hof aus ist es kinderleicht.«
Fifi geriet ernsthaft in Versuchung. Wenn Matthew von hinten ins Haus ginge und ihr die Tür öffnete, könnte sie schnell nach der Kleinen sehen, ihr etwas zu essen geben und sich versichern, dass alles in Ordnung war. Aber gewiss würde das Matthews Mutter nicht gefallen. Sie würde es entweder allein schaffen oder warten müssen, bis Dan nach Hause kam.
»Nein, deine Mum würde es nicht wollen«, erwiderte sie widerstrebend. »Ich werde selbst hineingehen. Kannst du mir den kinderleichten Weg zeigen?«
Sie brauchte nicht einmal durch die Wohnung des Jungen zu gehen. Neben dem Kohlenhof befand sich ein Tor, das direkt in Matthews Hof führte.
»Sie können auf den Kohlenbunker klettern«, sagte der Junge, holte hilfsbereit einen hölzernen Bierkasten herbei und stellte ihn neben den halbhohen Bunker.
Fifi hatte nicht die geringste Mühe, auf die Mauer zu steigen, und jetzt begriff sie auch, warum es für Alfie ein Leichtes war, hier entlangzustreunen. Die Mauer war mindestens vierzig Zentimeter breit, und obwohl zu beiden Seiten Bäume und Sträucher wuchsen, gab es zwischen diesem Ende der Straße und dem entgegengesetzten keine Hindernisse.
»Bleib für ein Weilchen hier, nur für den Fall, dass ich es nicht schaffe, durch die Hintertür hineinzukommen«, bat sie Matthew. »Steht im Hof etwas, auf das ich klettern könnte?«
»Da ist jede Menge Zeug«, antwortete er mit einem breiten Grinsen. »Aber es ist furchtbar schmutzig.«
Wäre Fifi nicht so besorgt um Angela gewesen, hätte es ihr eine diebische Freude bereitet, über die Mauer zu spazieren, denn es erinnerte sie an ihre heimlichen Streifzüge als Kind, wenn sie Äpfel stibitzt hatte. Wer immer gerade aus dem Fenster schaute, würde sie nicht entdecken, doch wenn sie die Blätter teilte, konnte sie in die Hintergärten und sogar in einige Zimmer spähen, deren Fenster keine Gardinen hatten. Zu Nummer zehn, dem Haus neben dem der Muckles, gehörte ein verwilderter Garten voller Dornbüsche. Das alte Ehepaar, dem das Haus gehörte, war kurz nach Fifis und Dans Einzug in ein Pflegeheim umgezogen. Ein Mal die Woche kam ihr Sohn, um nach dem Rechten zu sehen, und er hatte Frank erzählt, die Dornbüsche nicht entfernen zu wollen, weil sie die Kinder der Muckles daran hinderten, ins Haus einzubrechen. Fifi hoffte, dass es im Garten der Muckles nicht genauso aussah, denn sie war nicht allzu erpicht darauf, sich am ganzen Körper zu zerkratzen.
Glücklicherweise war in der Mitte des Gartens der Muckles tatsächlich eine große Fläche von Unkraut befreit worden. Und wie Matthew gesagt hatte, gab es alle möglichen Dinge, auf die man klettern konnte, beinahe eine Treppe aus hölzernen Bierkisten und Brettern. Trotzdem bewegte Fifi sich mit großer Vorsicht, denn sie war sich nicht sicher, ob das Gebilde ihr Gewicht tragen würde, und überall um sie herum lagen zerbrochene Flaschen, Blechdosen und anderer Müll.
Auf dem Boden angekommen, rümpfte sie die Nase wegen des Gestanks von verrottendem Abfall und Urin und ging vorsichtig zur Hintertür hinüber, vorbei an alten Autositzen und einer Matratze, aus der die Sprungfedern herausragten. Die Tür war unverschlossen, aber Fifi musste mit ihrem ganzen Gewicht dagegendrücken, da etwas dahinter stand.
Es war nur eine weitere Bierkiste: Sobald sie die Tür einen Spalt breit geöffnet hatte, konnte sie die Kiste sehen und aus dem Weg schieben. Dann ging sie hinein.
Sie hätte um ein Haar auf dem Absatz kehrtgemacht, weil der Gestank sie in der Kehle würgte, aber sie hielt sich die Nase zu und versuchte, den Schmutz um sich herum zu ignorieren.
Sie hatte noch nie im Leben etwas Derartiges gesehen. Dreckiges Geschirr, leere Bierflaschen, Pommes-frites-Tüten, Zigarettenstummel, in der Flasche sauer gewordene Milch und Kartons mit Essen waren überall verstreut. Auf dem Boden lagen angebrannte Soßentöpfe neben Kleidern, Schuhen und alten Zeitungen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie irgendjemand sich hier auch nur eine Tasse Tee aufbrühen, geschweige denn eine Mahlzeit kochen konnte. Da sie das Haus möglichst schnell wieder verlassen wollte, ging sie eilig weiter in den Flur.
Es herrschte eine unheimliche Stille, einzig das Summen von Fliegen war zu hören. Fifi drückte die Wohnzimmertür auf und sah einen rechteckigen Tisch, auf dem Bierflaschen, benutzte Gläser, eine halb volle Flasche Scotch und mehrere überquellende Aschenbecher standen. Acht Stühle waren um den Tisch herum verteilt. Offensichtlich wurden hier die Kartenpartien abgehalten.
Den vorderen Raum kannte sie recht gut, weil sie so häufig von ihrer eigenen Wohnung aus hier hineingeschaut hatte, doch aus der Nähe betrachtet wirkte er noch weit abstoßender. Wie im Rest des Hauses herrschten auch hier Schmutz und Chaos. Widerwillig ging sie ins oberste Stockwerk hinauf. Da das Wohnzimmer im Erdgeschoss der einzige Raum war, in dem Teppich lag, klangen ihre Schritte auf den nackten Treppenstufen seltsam hohl. Überall lagen Staubflusen, Abfall und sogar Brotkrusten.
»Angela!«, rief sie. »Ich bin es, Fifi!« Ihre Stimme hallte auf erschreckende Weise durchs Treppenhaus, und ihr Herz hämmerte vor Angst, dass sich unten die Tür öffnen und Alfie sie in seinem Haus erwischen würde.
Jetzt konnte sie neben anderen widerwärtigen Gerüchen auch den Gestank von schalem Urin riechen, und das Summen der Fliegen klang viel lauter. Sie ging zuerst in den vorderen Raum, da sie Angela so oft aus diesem Fenster hatte blicken sehen, aber hier fanden sich lediglich zwei dicht nebeneinander aufgestellte Betten mit schmutziger Wäsche. Eine nackte Gummipuppe, der ein Arm fehlte, lag auf dem Boden, das einzige Spielzeug, das sie in dem ganzen Haus gesehen hatte.
Jetzt blieb nur noch ein Zimmer übrig, und der Gedanke, diese letzte Tür zu öffnen, erfüllte Fifi einmal mehr mit bösen Ahnungen.
Sie hatte sich innerlich auf einiges gefasst gemacht, als sie in den Raum trat, aber das hektische Summen der Fliegen, die sie mit einem Mal umschwirrten, ließ sie dennoch zurückprallen. Ihr Blick fiel auf das Fußende eines altmodischen schwarzen Eisenbettes mit verschnörkelten Messingknäufen, und durch dessen Gitter konnte sie eine Gestalt unter einem überraschend sauberen Laken ausmachen.
»Angela!«, rief Fifi, während sie zögernd näher trat.
Es musste Angela sein, die unter dem Laken lag, denn die Umrisse des Körpers entsprachen genau ihrer Größe, und es lugten sogar einige Strähnen schlammfarbenen Haares darunter hervor. Trotzdem wagte Fifi es kaum, das Laken zurückzuschlagen. Eine Gänsehaut beschlich sie, und ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Angst. Am liebsten wäre sie, ohne hinzusehen, aus dem Raum geflohen, doch sie riss sich zusammen.
Der Gestank, der das ganze Haus durchzog, war hier noch erheblich schlimmer, abgestanden und durchmischt mit Urin, Schweiß und Schimmel. Aber es lag auch ein anderer Geruch in der Luft, den sie nicht benennen konnte und der sie mehr ekelte als alles andere.
Aber sie musste es hinter sich bringen, daher griff sie nach dem Laken und zog es mit einem Ruck zurück.
»Oh, nein!«, rief sie aus und schlug sich entsetzt eine Hand auf den Mund.
Es war Angela, und sie war splitternackt.
Ihre Arme und Beine waren ausgestreckt wie die Glieder eines Seesterns, und ihr Mund stand weit offen. Ihre Schenkel und ihr Bauch waren blutverschmiert, und Fifi wusste, dass sie tot war, auch ohne sie zu berühren.
Eine Sekunde lang konnte Fifi das Kind nur von Grauen erfüllt anstarren. Ihre Augen waren geschlossen, aber auf ihren Zügen stand ein starrer Ausdruck der Qual. Es war ein so magerer kleiner Körper, man konnte jeden einzelnen Knochen durch ihre bleiche Haut schimmern sehen, und ihre kleine Scheide war geschwollen und rot.
Würgend wandte Fifi sich ab, rannte die Treppe hinunter und riss die Haustür auf.
Die Hitze der Sonne schlug ihr entgegen wie aus einem geöffneten Ofen. »Haben Sie sie gefunden, Mrs. Reynolds?«, hörte sie Matthew rufen. Sie wusste, dass sie sich übergeben würde, aber irgendein Instinkt trieb sie dazu, ihre Gefühle vor dem Jungen zu verbergen.
»Ja, ich werde nur schnell zum Laden gehen, um etwas für sie zu besorgen«, stieß sie rau hervor. Dann holte sie tief Luft, um sich zu beruhigen und den Jungen zumindest vorübergehend zu täuschen, und eilte mit schnellen Schritten zum Ende der Straße und zum Telefon hinunter.
Es kam ihr so vor, als wäre eine ganze Stunde vergangen, bis die Polizei endlich kam, doch in Wirklichkeit waren es höchstens zehn Minuten. Es gelang ihr, das Verbrechen zu melden, ihren Namen und ihre Adresse anzugeben und in ihre Wohnung zurückzukehren. Matthew und die anderen Jungen hatten ihr Spiel auf der Straße aufgegeben, und das war ein Glück, denn wenn sie in diesem Moment erschienen wären, hätte Fifi womöglich nicht an sich halten können und alles erzählt. Sie brauchte jemanden, irgendjemanden – allein konnte sie mit diesem Schock nicht fertig werden. Aber die Straße war menschenleer, und sie wusste auch, dass es einstweilen das Beste war zu schweigen, zumindest bis die Polizei alles unter Kontrolle hatte.
Sie schaffte es nur mit knapper Not bis ins Badezimmer, bevor sie sich übergeben musste. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi, und sie zitterte wie Espenlaub und fror, als wäre plötzlich der Winter ausgebrochen. Schließlich schleppte sie sich in ihre Wohnung hinauf, hüllte sich in ihren Morgenmantel und wartete.
Es war seltsam, dass sie in letzter Zeit so oft aus dem Fenster geschaut hatte, es jetzt aber nicht konnte. Das Bild von Angela auf diesem Bett, der Gestank und das Summen der Fliegen war alles, was sie sehen, riechen und hören konnte. Sie hatte nicht einmal Tränen; was sie empfand, war glühender Zorn.
Selbst als der erste Streifenwagen die Straße hinuntergejagt kam und mit quietschenden Bremsen vor dem Haus vorfuhr, konnte sie sich nicht rühren. Sie hatte die Tür der Muckles nur angelehnt, und sie wusste genau, welches Bild sich den Polizisten bieten würde, wenn sie durch das Haus gingen.
Als Kind hatte sie sich immer gewünscht, in ein großes Drama verwickelt zu werden. Sie hatte sich vorgestellt, eine alte Dame aus einem brennenden Haus zu retten oder in einen zugefrorenen Fluss zu springen, um einen ertrinkenden Hund zu bergen. Sie wollte eine Heldin sein, wollte Beifall für ihren Mut, wollte, dass man zu ihr aufschaute und über sie sprach.
Jetzt jedoch, da sie diese Art von Aufmerksamkeit erringen konnte, wollte sie sie nicht mehr. Sie wünschte, dies sei nur ein schrecklicher Albtraum gewesen und sie würde daraus erwachen und Angela mit den anderen Kindern auf der Straße spielen sehen.
Als sie am Morgen am Fenster gesessen hatte, hatte die Sonne auf diese Seite der Straße geschienen. Sie war glücklich gewesen und hatte beim Anblick der Muckles in ihren besten Kleidern vor sich hin gekichert. Sie hatten einfach nur grotesk ausgesehen, nicht böse, nicht einmal gefährlich. Und doch musste Angela, während ihre Eltern sich auf ihren Ausflug vorbereitet hatten, bereits tot gewesen sein oder im Sterben gelegen haben.
Ihr Entsetzen galt erst in zweiter Linie der Tatsache, dass Angela tot war. Doch wie sollte sie je über das hinwegkommen, was man dem kleinen Mädchen vor seinem Tod angetan hatte?
Der Tumult, der jetzt auf der Straße losbrach – zuschlagende Autotüren, schwere Tritte auf dem Pflaster und die Stimmen anderer Nachbarn –, brachten sie noch mehr aus der Fassung. Sie musste ins Schlafzimmer gehen, die Vorhänge zuziehen und sich hinlegen. Fifi sehnte sich nach Dan. Wenn er doch nur in diesem Augenblick nach Hause gekommen wäre!
Fifi lag auf dem Bett und wartete auf das unausweichliche Läuten der Klingel. Obwohl sie die Türen des Wohnzimmers und des Schlafzimmers geschlossen hatte, konnte sie den immer lauter werdenden Lärm von der Straße deutlich hören. Sie wünschte sich von Herzen, sie hätte auf das Geschehen genauso reagieren können wie ihre Nachbarn, neugierig, aufgeregt und voller Spekulationen darüber, was sich in Nummer elf zugetragen haben mochte. Aber keiner ihrer Nachbarn konnte das wahre Ausmaß des Grauens, mit dem die Polizei es zu tun haben würde, auch nur erahnen.
Das Klingeln an ihrer Tür kam um zehn vor fünf. Fifi hätte sich am liebsten einfach die Decke über den Kopf gezogen und es ignoriert, doch das konnte sie nicht. Also stand sie auf und ging langsam und mit steifen Beinen die Treppe hinunter.
»Kommen Sie herein«, sagte sie zu den beiden Polizeibeamten. Sie hatte keinen der Männer je gesehen. Der Kleinere, Ältere der beiden trug Zivilkleidung; sein dunkler Anzug war schäbig und zerknittert, und sein Haar sah aus wie eine grobe Drahtbürste. Der uniformierte Beamte war weit über einen Meter achtzig groß, mit blassblauen Augen und vorstehenden Zähnen.
Die beiden nannten ihre Namen, aber Fifi bekam kaum mit, was sie sagten, denn sie nahm nur die Nachbarn wahr, die sich hinter den Polizisten drängten.
»Sind Sie Mrs. Felicity Reynolds?«, fragte der ältere Mann, nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Fifi konnte nur nicken und die beiden nach oben führen.
Sobald sie in ihrem Wohnzimmer angelangt war, nahm Fifi auf dem Stuhl Platz, der am weitesten vom Fenster entfernt war. »Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen erzählen kann«, sagte sie. Sie befürchtete, dass ihr wieder schlecht werden würde. »Es ist einfach zu schrecklich.«
»Lassen Sie sich Zeit, Mrs. Reynolds«, meinte der ältere Beamte sanft. »Uns ist klar, dass Sie unter Schock stehen. Ich bin Detective Inspector Roper, und das ist Sergeant Wallis. Wir waren natürlich schon drüben im Haus; wir möchten jetzt nur, dass Sie uns erzählen, was Sie gesehen haben.«
Plötzlich brach all das Schreckliche, das sie erlebt hatte, in einer einzigen langen Flut von Worten aus ihr hervor, und sie begann zu weinen. Die beiden Männer waren sehr freundlich zu ihr: Roper tätschelte ihr sogar die Hand, während der jüngere Mann ihr einen Tee kochte.
Nachdem Fifi ihre Tasse geleert hatte, brachte Roper sie dazu, genau zu erklären, wie und warum sie überhaupt in das Haus der Muckles gegangen sei. Seine Stimme war ruhig und besänftigend, während er seine Fragen stellte und Wallis Notizen machte.
Während Fifi den beiden Männern vom Aufbruch der Muckles um neun Uhr an diesem Morgen erzählte und berichtete, was sie mit angehört hatte, schwoll der Lärm von der Straße langsam an. Sie konnte einige der Stimmen erkennen. Sie klangen scharf und fragend, als wollten die Leute wissen, warum die Polizei bei Fifi war.
»Ich hätte nicht dort hineingehen sollen. Ich hätte Sie verständigen sollen«, murmelte Fifi und brach abermals zusammen. »Ich wünschte zu Gott, ich hätte es nie gesehen.«
»Aber ohne irgendeinen Hinweis auf ein Verbrechen hätten wir nicht sofort aktiv werden können«, antwortete Roper gelassen. »Einfach in das Haus zu gehen, war vielleicht töricht, aber nichtsdestotrotz mutig. Sie haben zumindest verhindert, dass der Tod des kleinen Mädchens vertuscht wurde.«
»Was hätte er mit ihrer Leiche machen können?«, fragte Fifi und schauderte, als ihr verschiedene Möglichkeiten durch den Sinn gingen.
Fifi wusste genau, wann Dan in die Straße eingebogen war, da die Stimmen draußen sofort noch lauter wurden und sie hören konnte, dass die Leute die Straße hinunterliefen.
»Haben meine Nachbarn schon erfahren, was geschehen ist?«, fragte Fifi ängstlich. »Was werden sie meinem Mann erzählen?«
»Sie wissen, dass Angela Muckle tot ist, und sie haben wahrscheinlich erraten, dass Sie sie gefunden haben«, antwortete Roper. Er wirkte verschwitzt und fuhr sich mit den Fingern am Kragen seines Hemds entlang, als hätte er ihn liebend gern aufgeknöpft. »Wir werden darüber hinaus keine Informationen preisgeben, und wir müssen auch Sie bitten, mit niemandem über das zu sprechen, was Sie gesehen haben, da das unsere Nachforschungen behindern könnte.«
Selbst unter dem Schmutz von der Baustelle sah Dan blass und ängstlich aus, als er die Treppe hinaufkam. Fifi lief weinend auf ihn zu, und er nahm sie fest in die Arme und blickte gleichzeitig fragend zu den beiden Beamten hinüber.
Roper erzählte ihm in groben Zügen, was geschehen war, dann fügte er hinzu, dass sie jetzt aufbrechen würden, um ihre Ermittlungen fortzusetzen. »Ihre Frau wird mit Ihnen natürlich reden müssen«, sagte er und sah Dan streng an. »Aber ich muss Sie bitten, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Bevor wir keine Verhaftung vorgenommen haben und alle Beweise sichergestellt sind, ist es von größter Wichtigkeit, dass außer Ihnen niemand erfährt, was Ihre Frau uns erzählt hat.«
»Wie ist Angela gestorben?«, fragte Dan mit vor Mitgefühl heiserer Stimme.
»Wir können erst ganz sicher sein, wenn der Pathologe sie untersucht hat. Aber es sieht so aus, als wäre sie erstickt worden.«
»Dieser Bastard«, zischte Dan. »Ich hätte ihm den Schädel einschlagen sollen, als er ihr das letzte Mal etwas angetan hat.«
»Nicht, Dan«, flehte Fifi ihn an, denn sie wusste, dass er sich jetzt Vorwürfe machen würde, weil er damals nicht zur Polizei gegangen war. »Wir konnten nicht wissen, dass es so weit kommen würde.«
»Vielleicht ist er ja heute Morgen abgehauen!«, sagte Dan, und seine dunklen Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Das glauben wir nicht«, erwiderte Roper entschieden. »Da drüben sieht es aus wie auf einer Müllkippe, doch es macht nicht den Eindruck, als wäre das Haus verlassen worden. Machen Sie sich keine Sorgen, wir kriegen ihn. Wir werden hier überall Beamte postieren, die ihn bei seiner Heimkehr erwarten. Und nun zu etwas anderem, Mrs. Reynolds: Wir werden in Kürze eine offizielle Aussage von Ihnen benötigen«, fuhr er fort. »Nicht unbedingt schon morgen, wenn Sie zuerst ein wenig Ruhe brauchen. Montagmorgen wäre früh genug, wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, um zehn aufs Revier zu kommen.« Dann sah er Dan an, der Fifi noch immer fest umfangen hielt. »Ich denke, Sie sollten einen Arzt für Ihre Frau rufen. Sie hat einen furchtbaren Schock erlitten.«
Ein furchtbarer Schock! So würde es jeder bezeichnen, aber der Ausdruck beschrieb nicht einmal ansatzweise, was Fifi widerfahren war. Tief in ihrem Innern hatte sie erwartet, im Haus der Muckles etwas Abscheuliches vorzufinden. Doch was sie entdeckt hatte, ging weit über jedes Grauen hinaus, das sie sich hätte ausmalen können.
Nachdem die Polizisten gegangen waren, wollte sie mit Dan über die Dinge reden, die sie gesehen hatte, aber sie konnte es nicht. Sie war in der Lage, über die nackten Tatsachen zu sprechen, doch das Böse, das sie gesehen, gerochen und gespürt hatte, konnte sie nicht einmal annähernd beschreiben. Die Polizisten hatten sie verstanden, das hatte sie an ihren Gesichtern ablesen können, aber sie waren selbst dort gewesen, sie hatten es gesehen – Dan jedoch nicht.
Er wusste nicht, wie er sie beruhigen sollte. Er hielt sie nur weiter fest an sich gedrückt und streichelte sie, während sie weinte, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und entschuldigte sich dafür, dass ihm die Worte fehlten.
»Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll«, schluchzte sie und klammerte sich an ihn.
Er wusch sich und zog sich um, dann brühte er ihnen Tee auf und nahm Fifi auf den Schoß, aber sein Blick wanderte immer wieder zum Fenster hinüber. Draußen auf der Straße standen jetzt fünf Streifenwagen, und der Bereich vor Nummer elf war abgesperrt. Während die Polizei das Haus durchsuchte, fanden sich auf der Straße immer mehr Schaulustige zusammen, und der Lärm, den sie verursachten, wehte zu Dan und Fifi herauf und umschlang sie beide.
Als Frank zurückkam, erzählten ihm einige Leute von den Vorfällen, und in ihren schrillen Stimmen klang eine hässliche Art von Erregung durch. Kurze Zeit später kam auch Miss Diamond nach Hause, und das Ganze wiederholte sich.
»Sie ergötzen sich daran«, flüsterte Fifi. »Es zieht sie an, wie Haie vom Blut angezogen werden. Ein kleines Mädchen ist tot, und sie können nicht einmal still sein und ein wenig Respekt zeigen.«
Zumindest Frank und Miss Diamond zogen sich schnell in ihre Wohnungen zurück. Dan und Fifi konnten ihre gedämpften Stimmen unten im Flur hören.
»Ich möchte nicht mit ihnen sprechen«, sagte Fifi in jäher Panik, denn sie wusste, dass die beiden wahrscheinlich darüber diskutierten, ob sie zu ihr hinaufgehen sollten oder nicht.
»Ich rede mit ihnen«, erklärte Dan und hob sie zurück in den Sessel. Dann zerzauste er ihr liebevoll das Haar. »Und wenn ich schon mal dabei bin, werde ich auch gleich den Arzt anrufen.«
»Ich brauche keinen Arzt, ich brauche nur dich«, erwiderte Fifi und sah unter Tränen zu ihm auf. »Er wird mir sowieso nur ein Schlafmittel geben.«
»Vielleicht ist es genau das, was du brauchst«, entgegnete Dan, der sehr besorgt wirkte.
Fifi schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte wach sein, wenn sie zurückkommen.«
Dan ging zu Frank und Miss Diamond hinunter. Er sprach mit leiser Stimme, und obwohl Fifi kein Wort verstehen konnte, spürte sie das Mitgefühl, mit dem sowohl Frank als auch Miss Diamond reagierten.
Kurze Zeit später kam Dan mit einer Brandyflasche zurück. »Frank meinte, du solltest etwas trinken«, berichtete er. »Miss Diamond ist mit ihm in seine Wohnung gegangen, sie waren beide zutiefst erschüttert und wollten nicht allein sein.«
Fifi hatte Brandy noch nie gemocht, aber sie trank ihn trotzdem, dankbar dafür, dass er sie von innen wärmte und ein wenig beruhigte. Dan bereitete sich ein Sandwich zu, stellte dann aber fest, dass er es nicht essen konnte. Er trat ans Fenster, blickte auf die Menschen auf der Straße hinab, und eine Träne rollte ihm über die Wange.
»Ich hätte dich niemals hierher bringen dürfen«, sagte er nach einem kurzen Schweigen. »Tatsächlich hätte ich nach dem Tag, an dem ich bei euch zum Tee war, von der Bildfläche verschwinden sollen. Ich habe dir nichts als Unglück gebracht.«
»Das ist nicht wahr«, gab Fifi zurück. »Seit ich dir begegnet bin, habe ich mehr Glück erfahren als in meinem ganzen bisherigen Leben davor. Was dort drüben geschehen ist, hat nichts mit uns zu tun, Dan. Wenn ich nicht meine Nase in fremder Leute Angelegenheiten gesteckt hätte, hätte jemand anderer sie gefunden.«
»Ich wünschte, so wäre es gewesen«, murmelte er und drehte sich wieder zu ihr um. »Ich habe Angst, dass dieses Erlebnis dich noch lange verfolgen wird.«
Sie saßen schweigend am Fenster und sahen zu, wie das Tageslicht langsam verblasste. Es war ein wunderschöner Sonnenuntergang. Der Himmel verwandelte sich in ein Meer verschiedenster Rottöne, von Rosa über Malvenrot bis hin zu Purpur.
Sie schalteten keine Lampen ein, sondern blieben wie angewurzelt in ihren Sesseln sitzen und hielten einander bei den Händen. Als es dunkel wurde, konnten sie in das Haus der Muckles hineinschauen, denn dort brannten alle Lichter. Gestalten huschten von Zimmer zu Zimmer, während die Polizisten das Haus gründlich durchsuchten. Ein Weilchen später sahen sie in dem Fenster im obersten Stockwerk Blitze aufzucken, wahrscheinlich von einer Kamera, und kurz darauf kam ein Leichenwagen. Zwei Männer gingen in das Haus und kamen wenige Minuten später mit einer abgedeckten Bahre zurück. Zwei Polizisten, die vor dem Eingang postiert waren, wechselten einige scharfe Worte mit den Schaulustigen, die sich daraufhin beschämt zurückzogen.
Dann wurde in Nummer elf ein Licht nach dem anderen ausgeschaltet. Die beiden Polizisten an der Tür befahlen den Leuten, die Straße zu räumen, und gingen anschließend ebenfalls weg.
Jetzt sah es so aus, als wäre das Haus verlassen. Aber es waren zuvor mindestens ein Dutzend Männer dort gewesen, von denen nicht einmal die Hälfte wieder herausgekommen war. Fifi hatte Mitleid mit den Beamten, die in dieser stinkenden Hölle zurückgeblieben waren. Zwei von ihnen stahlen sich hinaus und gingen zu dem Kohlenhof, wo sie vermutlich Alfie auflauern wollten, falls er versuchen sollte, über diesen Weg zu fliehen. Wahrscheinlich waren drüben vor dem Laden und dem Pub und auch in der Straße hinter der Dale Street weitere Polizisten postiert.
Während die Zeiger der Uhr langsam über die Zehn hinwegkrochen, spannte sich jeder einzelne Muskel in Fifis Körper an, als bereitete sie sich auf ein Rennen vor. Dan, der auf der Kante seines Sessels saß und den Blick starr auf den Laden an der Ecke gerichtet hielt, erging es genauso.
Die Straße war jetzt menschenleer, aber Fifi wusste, dass fast alle Nachbarn das weitere Geschehen genauso erwarteten wie sie, denn viele Fenster, die normalerweise zu dieser Stunde hell erleuchtet waren, lagen im Dunkeln.
Das leise Scharren von Schritten ließ Fifi aufhorchen.
»Das ist Yvette«, flüsterte Dan. »Ich hatte sie ganz vergessen! War sie den ganzen Tag über fort? Wenn ja, wird sie keine Ahnung haben, was vorgeht.«
Fifi hatte der Polizei erzählt, dass Yvette nicht zu Hause gewesen sei, als sie früher am Tag an ihre Tür geklopft hatte, aber seither hatte sie nicht mehr an die Französin gedacht. Das berichtete sie Dan jetzt mit leiser Stimme und fügte auch hinzu, dass Mr. und Mrs. Balstrode, die über Yvette wohnten, sie gewiss rasch ins Bild setzen würden.
»Die arme Frau, sie wirkt so erschöpft«, sagte Dan.
Er hatte Recht, fand Fifi. Yvette sah so aus, als fiele es ihr schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. »Sie hat sicher das Hochzeitskleid, an dem sie bei ihrer Kundin zu Hause arbeitet, fertig gestellt«, meinte Fifi. »Normalerweise kommt sie immer vor Einbruch der Dunkelheit zurück, weil sie so ängstlich ist.«
»Das Leben neben den Muckles muss deutlich gefährlicher sein als Spaziergänge im Dunkeln«, erwiderte Dan grimmig. »Ob sie heute Morgen wohl irgendetwas gehört hat?«
Sie beobachteten, wie Yvette durch die Haustür trat. Sie schaltete ein Licht ein, und Dan und Fifi sahen für einige Sekunden ihre Silhouette im Fenster, während sie die Vorhänge zuzog.
Zehn Minuten später, gerade als Fifis Aufmerksamkeit wegen des Brandys, den sie getrunken hatte, nachließ, legte Dan ihr eine Hand aufs Knie.
»Sie kommen«, zischte er.
Sofort kehrte die Anspannung zurück. Fifi stand auf, um besser zu sehen, und tatsächlich, die Muckles kamen die Straße hinunter, und sowohl Alfie als auch Molly trugen so etwas wie Strandhüte auf dem Kopf. Sie waren möglicherweise betrunken, denn sie gingen Arm in Arm, die drei Kinder zockelten hinter ihnen her, und Dora und Mike, die mit den Taschen bepackt waren, bildeten die Nachhut.
Der Anblick Alfies, der anscheinend vollkommen sorglos die Straße hinunterspazierte, obwohl er am Morgen erst seine jüngste Tochter vergewaltigt und getötet hatte, war zu viel für Fifi. Dan hatte vielleicht erraten, was in ihr vorging, denn wenn er sie nicht plötzlich gepackt hätte, wäre sie die Treppe hinunter und über die Straße gerannt, um sich auf Alfie zu stürzen.
»Nein, Liebling«, flüsterte er und hielt sie fest an sich gedrückt. »Für das, was er getan hat, wird er hängen, und vorher werden ihm die Polizisten die Prügel seines Lebens verpassen. Schau dir einfach mit mir an, wie sie ihn festnehmen.«
»Verdammt still heute Abend«, hörten sie Alfie zu Molly sagen. »Ich finde, wir sollten ein bisschen Leben in die Bude bringen, Mädchen.«
Molly gackerte vor Lachen, und das Geräusch schmerzte Fifi förmlich in den Ohren.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie die Muckles vor ihre Haustür traten. Aus den Augenwinkeln sah sie den Beamten, der am Kohlenhof postiert war, aus der Dunkelheit kommen, und zur gleichen Zeit bog ein Streifenwagen mit quietschenden Rädern in die Straße ein.
Alfie schloss seine Tür auf und trat hindurch. Im Flur ging ein Licht an, dann wurde die Stille der Straße plötzlich von lautem Schreien und Fluchen durchbrochen.
Der Lärm war das Zeichen für alle Nachbarn, ihre Lampen einzuschalten und wieder auf die Straße zu laufen, und viele der Leute machten ihrer Empörung über die Muckles jetzt lautstark Luft.
Alan Muckle hatte die Haustür noch nicht erreicht, und als er den Tumult hörte, versuchte er wegzulaufen. Der Mann von Nummer vierzehn hatte ihn in Windeseile eingeholt, ihm den Arm auf den Rücken gedreht und ihn zurückgebracht, um ihn der Polizei zu übergeben.
»Kindsmörder!«, rief jemand, und die anderen Menschen auf der Straße stimmten ein, bis dieses eine Wort von den Mauern widerzuhallen schien.
»Wenn sie wüssten, was er sonst noch getan hat, würden sie ihn mit bloßen Händen zerreißen«, sagte Fifi.
Die drei Kinder wurden sofort in den Streifenwagen geschoben und weggebracht. Gerade als der Wagen um die Ecke bog, warf jemand einen Ziegelstein durch die Fenster von Nummer elf, und der Sprechgesang »Kindsmörder! Kindsmörder!« wurde noch lauter und hässlicher.
Ein Gefangenentransporter kam mit hoher Geschwindigkeit die Straße heruntergefahren. Zwei Polizisten sprangen aus dem Wagen, drängten die Menge zurück und schrien den Leuten zu, dass jeder, der wieder näher zu kommen versuchte, ebenfalls festgenommen werden würde.
Es schien Stunden zu dauern, obwohl in Wirklichkeit nur zehn oder fünfzehn Minuten vergingen, bis Molly und Dora in Handschellen aus dem Haus gebracht und in die grüne Minna geschoben wurden, dann wiederholte sich die gleiche Prozedur bei Alfie und Mike. Unter den wütenden Beschimpfungen der Nachbarn, deren Gesichter von Hass verzerrt waren, fuhr der Wagen davon.
Erst dann brach Fifi schluchzend zusammen. All die Angst, die sie um Angela gehabt hatte, als sie damals eingeschritten war, war gerechtfertigt gewesen. Warum war sie an jenem Tag nicht zur Polizei oder zum Jugendamt gegangen, um die Muckles anzuzeigen? Seit sie von ihrer Schwangerschaft gewusst hatte, hatte sie kaum einen Gedanken auf das arme Nachbarskind verschwendet, und heute hatte sie in der Sonne gelegen, während auf der anderen Seite der Straße Angela gestorben war.
»Du bist in keiner Weise verantwortlich dafür«, sagte Dan, der wie immer ihre Gedanken erriet. »Du hättest nicht mehr tun können, als du getan hast.«
Sie gingen zu Bett, konnten aber beide nicht schlafen. Fifi dachte an das saubere Laken, das das Kind bedeckt hatte. War das eine Art von Entschuldigung gewesen? War Molly an der abscheulichen Tat beteiligt? Es musste so sein; kein Mann konnte einer Siebenjährigen so entsetzliche Dinge antun, ohne dass die Mutter etwas davon mitbekam.
Aber warum hatte er sie getötet? Vielleicht war es in gewisser Hinsicht besser so, denn das arme kleine Ding hätte sich gewiss nie von der Vergewaltigung erholt. Hatte Angela damit gedroht, ihren Vater zu verraten?
Fifi konnte es sich nicht vorstellen. Sicher hätte das Kind etwas Derartiges nicht gewagt. Sie war bereits viel zu ängstlich und eingeschüchtert gewesen. Und warum hatte Alfie sich nicht an Mary oder Joan vergriffen, den älteren Mädchen? Mary war für eine Dreizehnjährige bereits ziemlich gut entwickelt. Oder vielleicht hatte er auch seine anderen Töchter vergewaltigt?
Aber vor allem konnte Fifi sich nicht vorstellen, wie irgendjemand ein Kind töten und dann in aller Gemütsruhe mit der Familie zu einem Tagesausflug wegfahren konnte. Wo hatte Alfie die Kleine nach seiner Rückkehr verschwinden lassen wollen? Sie im Garten begraben?
Sie wusste, dass auch Dan hellwach war, obwohl er vorgab zu schlafen. Der Arm, der sie umfangen hielt, war angespannt, und sein ganzer Körper fühlte sich steif an. Sie spürte, dass er wütend auf sich selbst war, weil er geglaubt hatte, die Androhung einer Tracht Prügel würde Alfie daran hindern, Angela noch einmal etwas anzutun. Wahrscheinlich grübelte er auch darüber nach, was Fifis Eltern von einem Mann halten würden, der seine Frau derart gefährlichen Menschen aussetzte.
Aber Fifi hatte keine Kraft mehr, um Dan zu trösten. Das Grauen dieses Tages trieb sie so sehr um, dass in ihrem Kopf für nichts anderes mehr Raum war.