Kapitel 5

Fifi tänzelte die Straße hinunter. Sie war glücklich, weil Samstag war, ein wunderschöner, sonniger Tag, und sobald sie die Einkäufe erledigt hatte, wollten Dan und sie zu einem Picknick in den Hyde Park gehen. Als sie Mrs. Jarvis’ Haus am Ende der Straße erreichte, klopfte sie aus einer spontanen Eingebung heraus an ihre Tür.

»Hallo«, sagte sie, als die alte Dame ihr öffnete. »Ich gehe runter zu Victor Values, kann ich Ihnen vielleicht etwas mitbringen?«

»Ist das der neumodische Laden, in dem man sich selbst bedienen muss?«

Fifi lächelte. Obwohl Alice Jarvis über achtzig und sehr gebrechlich war, entging ihr nichts von dem, was sich draußen ereignete. Fifi hatte vor einem Monat, einige Tage nach ihrem Umzug in die Dale Street, zum ersten Mal mit ihr gesprochen und war gleich auf eine Tasse Tee eingeladen worden. Die alte Frau lebte in einer viktorianischen Zeitschleife, mit denselben schweren, auf Hochglanz polierten oder zu dick gepolsterten Möbeln, die ihre Eltern mitgebracht hatten, als sie vor vielen Jahren in die Dale Street gezogen waren. Alice Jarvis war damals noch ein Kind gewesen. Sie hatte vier Geschwister gehabt, war aber niemals wie diese von zu Hause fortgegangen; als sie Mr. Jarvis geheiratet hatte, war er zu ihr und ihren Eltern gezogen.

Die einzige Konzession, die Mrs. Jarvis an die modernen Zeiten machte, war der elektrische Strom, den sie widerstrebend nach dem Krieg, kurz nach dem Tod ihres Mannes, hatte legen lassen. Ihr Heim spiegelte das Leben und die Persönlichkeit all jener wider, die dort gewohnt hatten: ein selbst gemachtes, mit Spitze gesäumtes Tischtuch ihrer Mutter, eine Standuhr, die der ganze Stolz ihres Vaters gewesen war, dutzende gerahmter Schwarz-Weiß-Fotografien von ihren Brüdern und Schwestern und das Klavier im Salon, auf dem sie alle gespielt hatten.

»Ja, man bedient sich selbst«, antwortete Fifi. »Aber es ist so viel billiger als drüben im Lebensmittelladen.«

»Für mich klingt das alles sehr amerikanisch.« Mrs. Jarvis rümpfte missbilligend die Nase. »Ich kann mich für die Dinge, die von dort kommen, nicht erwärmen. Und ich hab’s gern, wenn man mich bedient.«

»Ich spare lieber«, sagte Fifi mit einem Lächeln. »Und wenn ich für Sie hingehen würde, würden Sie gar nicht merken, dass Sie nicht persönlich bedient werden.«

Mrs. Jarvis zauderte. Sie sah sehr streng aus in ihrem altmodischen schwarzen Kleid und den dicken Strümpfen, das weiße Haar zu einem straffen Knoten gebunden, doch in Wahrheit war sie ein sehr warmherziger und freundlicher Mensch, wie Fifi entdeckt hatte. »Nun ja, ich könnte ein Viertelpfund Tee und ein Päckchen Schokoladenkekse gebrauchen, falls Ihnen das nicht zu viel Mühe macht«, antwortete sie. »Morgen Nachmittag kommt meine Nichte mit ihrem Mann zu Besuch. Normalerweise führen sie mich zum Tee irgendwohin aus, aber es ist im Augenblick so schön draußen im Garten, dass sie vielleicht lieber hierbleiben wollen.«

Fifi hatte das Gefühl, dass Mrs. Jarvis von kaum etwas anderem als von Tee und Keksen lebte; als sie in der vergangenen Woche bei ihr gewesen war, hatte sie in ihrer Küche keine Spur von irgendwelchen Lebensmitteln entdecken können. Aber einstweilen kannte sie sie noch nicht gut genug, um sie ins Kreuzverhör zu nehmen.

»Sind Sie mit dem Anstreichen fertig?«, erkundigte sich Mrs. Jarvis. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie eine Bemerkung über die Farbspritzer in Fifis Haar gemacht.

»Ja, es ist sehr hübsch geworden«, erzählte Fifi eifrig. »Das Wohnzimmer ist jetzt hellgrün und das Schlafzimmer cremefarben. Außerdem haben wir auch einen neuen Teppich gekauft. Miss Diamond findet ihn sehr geschmackvoll.«

»Ich hoffe, sie ist nett zu Ihnen?«, fragte Mrs. Jarvis ängstlich. »Sie kann ziemlich grimmig sein.«

Fifi grinste. Miss Diamond, die in der Wohnung unter ihnen wohnte, war eine recht Furcht erregende Dame, die sämtliche Regeln im Haus festlegte. »Ich kann mich durchaus meiner Haut wehren«, sagte sie. »In Wirklichkeit ist sie aber ein gutherziger Mensch. Mir ist sie als Nachbarin jedenfalls deutlich lieber als gewisse andere Leute in dieser Straße.«

»Haben Sie sie gestern Nacht gehört?«, wollte Mrs. Jarvis wissen und hob mit entsetzter Miene die Hände. »Sie haben die ganze Zeit geschrien und gejohlt, und dann diese Sprache!«

Sie redete natürlich von den Muckles. Es verging kaum eine Nacht, ohne dass dort irgendetwas vorfiel. Wenn sich Molly und Alfie nicht stritten, schrien die Kinder, oder man hörte überlaute Musik aus ihrer Wohnung. Und jeden Freitagabend fanden Kartenpartien statt, und in den frühen Morgenstunden verließen zwielichtig aussehende Männer das Haus, knallten Autotüren zu und hupten laut.

Am vergangenen Freitag war Dan zu ihnen hinübergegangen, weil eine der Frauen geschrien hatte, als würde sie verprügelt. Aber glücklicherweise war der Lärm dann plötzlich abgebrochen, und Dan hatte es dabei bewenden lassen.

»Bei unserem Einzug dachten wir, die Leute würden übertreiben«, erwiderte Fifi. »Die Polizei wird da wirklich nichts ausrichten können. Man könnte sie doch zumindest wegen Ruhestörung belangen, nicht wahr?«

»Es heißt, Alfie besteche die Polizei, damit sie ein Auge zudrückt«, vertraute Mrs. Jarvis ihr mit verschwörerischem Tonfall an. »Ich wünschte, ich könnte jemanden bestechen, der dieses Haus mitsamt der ganzen Familie abbrennt. Mr. Jarvis ist einmal rübergegangen, um zu versuchen, etwas gegen diesen Lärm zu unternehmen, und kurze Zeit später ist er eines Abends auf dem Heimweg überfallen worden. Wir konnten den Muckles nichts nachweisen, aber jeder wusste, dass sie es waren. Sie haben ihm den Kiefer und die Rippen gebrochen – sie sind schlimmer als Tiere.«

Obwohl Fifi und Dan die Geschichten über die Muckles zu Anfang ein wenig weit hergeholt gefunden hatten, konnte es keinen Zweifel daran geben, dass einige der Nachbarn echte Angst vor ihnen hatten. Mrs. Jarvis’ Lippen zuckten, und ihre Stimme zitterte, wenn sie von ihnen sprach, und bevor sie ihre Haustür öffnete, schaute sie immer zuerst aus dem Fenster. Fifi fand es schrecklich, dass eine alte Dame, die den größten Teil ihres Lebens hier verbracht hatte, ihre letzten Jahre in solcher Angst leben musste.

Fifi selbst fürchtete sich nicht vor den Muckles, doch es war inzwischen für sie zu einer Sucht geworden, diese Leute zu beobachten. Sie wusste, dass sie sich ihrer Faszination hätte schämen sollen, denn die Muckles waren der absolute Abschaum. Aber sie hatten den Reiz des Neuen und waren so weit von der stillen Vornehmheit der Nachbarn entfernt, mit denen sie aufgewachsen war, dass sie sie beinahe mochte, weil sie so unterhaltsam waren.

Dan hatte einen gebrauchten Fernseher gekauft, aber Fifi zog es meistens vor, die Muckles zu beobachten, statt sich einen Film anzusehen. Es war so, als hätte sie eine Bühne vor ihrer Türschwelle, als spielten die Mitglieder der Familie eine Fortsetzungsserie von besonders langer Laufzeit. Es war eine Komödie, wenn Dora, die geistig zurückgebliebene Schwägerin, die Straße hinunterrannte, mit nichts anderem bekleidet als Männerstiefeln und einem um die Hüften gewickelten Handtuch. Sie pflegte hinter Mike, dem Neffen, herzulaufen und dabei ihre Liebe zu ihm laut herauszuschreien.

Dann wieder entwickelte sich das Ganze zu einem Krimi, wenn Molly und Alfie betrunken nach Hause kamen. Würde der Abend in einem Streit enden? Oder würde man später animalische Laute aus dem Haus hören können, wenn die beiden miteinander schliefen? Wenn freitagabends die Männer zum Kartenspielen kamen, gewann das Theaterstück eine fantastische Note. Meistenteils sahen die Männer genauso zwielichtig aus wie Alfie, aber einige von ihnen waren recht elegant, beinahe wie Geschäftsleute, und es erstaunte Fifi zutiefst, dass solche Männer an einem so schäbigen Ort Karten spielten. Nach Dans Meinung war der Besitz eines handgeschneiderten Anzugs tatsächlich das Kennzeichen eines Schurken, und wie wohlhabend diese Männer auch wirken mochten, kamen sie vermutlich doch aus ähnlichen Verhältnissen wie Alfie. Außerdem erstaunte es Fifi, dass die Polizei auf Beschwerden der Nachbarn anscheinend niemals reagierte. Und zu guter Letzt hatte das Stück auch etwas von einer Tragödie, da die armen Kinder alle so vernachlässigt wirkten.

Was führte Molly im Schilde, wenn sie abends allein und aufgedonnert das Haus verließ? Warum brachten die Kinder jede Woche einen Kinderwagen voller Wäsche in die Wäscherei, obwohl, abgesehen von Molly, kein einziges Mitglied der Familie jemals etwas Sauberes am Leibe trug? Woher bekamen sie das Geld, um all die Bierkisten zu kaufen, die sie nach Hause trugen, obwohl doch niemand von der Familie zu arbeiten schien?

Doch das Faszinierendste von allem waren die vielen Besucher der Muckles. Es verging kaum ein Tag, ohne dass Fifi einen Unbekannten in ihr Haus gehen sah. Die beiden jungen Mädchen, die sie beobachtet hatte, waren die älteren Töchter, die nicht mehr zu Hause wohnten, aber all diese Besucher konnten unmöglich tatsächlich Familienmitglieder sein. Niemand in der Straße wusste etwas Gutes über Alfie zu berichten. Wie kam es also, dass er so viele Freunde hatte?

Fifi dachte ständig über die Muckles nach. Sie hätte alles gegeben, hätte sie sich in eine Fliege verwandeln und in dieses Haus gelangen können, um sich einmal gründlich umzuschauen. Natürlich wusste sie, dass es dort schmutzig sein würde, und sie war davon überzeugt, dass die Muckles von nichts anderem lebten als von Fisch und Chips, aber auch wenn ihr alle anderen noch so häufig erklärten, wie gefährlich diese Leute waren, konnte sie es im Grunde nicht glauben. Für sie waren sie alle Idioten, oft brutal, immer primitiv, jedoch kaum gefährlich.

Nachdem sie ein wenig mit Mrs. Jarvis geplaudert hatte, ging Fifi in den Laden. Zu ihrer Überraschung hatte sie Kennington tatsächlich lieb gewonnen. Es mochte nicht das sein, was sie gewohnt war, doch es war auf seine eigene Weise lebendig, als ereigneten sich direkt unter ihrer Nase eine Million Dinge.

Ihr gefiel sogar die Wohnung, jetzt, da sie sich dort eingerichtet hatten. Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn die Leute im Stockwerk unter ihnen unerträglich gewesen wären, aber niemand konnte etwas dagegen haben, sich ein Badezimmer mit Miss Diamond oder Frank Ubley zu teilen. Dan bezeichnete Miss Diamond lachend als die »Badezimmeraufsicht«, weil sie Dan gleich an ihrem zweiten Tag persönlich angewiesen hatte, das Bad grundsätzlich sauber zu hinterlassen. Sie stellte Pflanzen auf den Fenstersims, sie kaufte verschiedene Dinge ein, die für einen angenehmen Geruch sorgten, und sie putzte zwei Mal die Woche den Boden.

Was Frank betraf, den Mieter im Erdgeschoss, so war der Mann ein Juwel und ebenso auf Sauberkeit versessen wie Miss Diamond, aber er war dazu freundlich und sehr hilfsbereit. Er hatte Dan Werkzeug geliehen und ihm geholfen, einige Regale zusammenzubauen. Außerdem hatte er ihnen die besten Läden genannt, in denen man günstig Farbe und Bauholz bekam, und als sie ihn auf eine Tasse Tee eingeladen hatten, hatte er keinen Hehl aus seiner Freude darüber gemacht, junge Leute im Haus zu haben.

Es vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, dass in den Wohnungen unter ihr so nette, anständige Leute lebten, und wegen der niedrigen Miete hatten sie auch keine Geldsorgen.

Doch die anderen Nachbarn waren der Grund, warum Fifi ihre Meinung über die Dale Street geändert hatte, denn sie waren alle ungeheuer faszinierend. Daheim in Kingsdown in Bristol hatte keiner der anderen Mieter jemals mit Dan oder Fifi gesprochen. In der Straße ihrer Eltern hatten die Nachbarn stets ein so säuberlich geregeltes Leben geführt, und obwohl sie freundlich waren, konnten sie über nichts anderes reden als über ihre Häuser, ihre Kinder und ihre Gärten. Damals hatte Fifi sich nichts dabei gedacht, doch nachdem sie jetzt einen Monat lang in der Dale Street lebte, war ihr klar geworden, dass diese Menschen alle Angst gehabt hatten, ihre wahren Gefühle preiszugeben.

Dieses Problem hatten die Leute um sie herum nicht. Wenn ihnen etwas Schönes widerfuhr, wollten sie der ganzen Welt davon erzählen. Sie zogen Fifi ins Haus, um ihr einen neuen Fernseher oder eine Sofagarnitur zu zeigen oder ein gerade geborenes Kind. Aus ihrer Missbilligung machten sie ebenfalls keinen Hehl. Fifi hatte einige Nachbarn über ihre skrupellosen Vermieter, ihre verhassten Schwiegereltern oder sogar über ihre Kinder schimpfen hören, die sie enttäuscht hatten. Und sie besaßen die Fähigkeit, auch über sich selbst zu lachen. Daheim hätte keine Hausfrau jemals zugegeben, beim Kuchenbacken den Zucker vergessen oder durch eine Unachtsamkeit das Essen für den Ehemann verdorben zu haben. Aber hier sprachen die Menschen über solche Dinge, denn sie sahen keinen Grund, sich ihrer Fehler und Schwächen zu schämen.

All diese Dinge gefielen Fifi. So sah die Realität aus, und es war gut so.

Yvette, die französische Schneiderin, und Stan, der Pole, waren zwei Jahre nach dem Krieg als Flüchtlinge hierhergekommen. Ivy Helass war vor ihrer Heirat mit Cecil Tänzerin gewesen, und es hieß, John Bolton habe eine Bank ausgeraubt und dafür im Gefängnis gesessen. Fifi wollte jeden in der Straße kennen lernen, sie wollte die Geschichten der Leute hören und sich mit ihnen anfreunden. Aber traurigerweise hatte sie jetzt, da sie wieder arbeitete, kaum Gelegenheit dazu.

Während ihrer ersten Woche in London hatte sie eine Anstellung bei einer Rechtsanwaltskanzlei in der Chancery Lane gefunden. Ihr gefiel die Arbeit, da sie vielfältiger und abwechslungsreicher war als die in der Kanzlei in Bristol. Bisweilen kam es vor, dass kein Laufbursche verfügbar war, um Dokumente einem der Barrister in eine der Anwaltskammern des Temple oder direkt in einen Gerichtssaal zu bringen, und dann übernahm Fifi diese Aufgabe. Abgesehen davon, dass solche Ereignisse auf angenehme Weise ihren Arbeitstag unterbrachen und ihr die Möglichkeit gaben, an die frische Luft zu kommen, fand sie den Temple sehr reizvoll, da er so alt war.

Das Leben in London war ausgesprochen aufregend. Alles schien sich, im Vergleich zu Bristol, mit doppelter Geschwindigkeit zu ereignen. Zuerst hatte Fifi die Hauptverkehrszeit erschreckend gefunden; sie hatte sich nicht dazu überwinden können, sich in Bussen und in der U-Bahn vorzudrängeln, wie alle anderen es taten. Aber schließlich hatte sie es gelernt, und jetzt konnte sie sogar auf einen bereits fahrenden Bus aufspringen, bei Rot über die Ampel rennen oder sogar stark befahrene Straßen überqueren.

Und es lebten so viele verschiedene Nationalitäten hier. Binnen eines einzigen Tages konnte sie Deutsche, Franzosen, Griechen, Australier und Amerikaner hören, und sie sah Afrikaner, Inder, Araber, Chinesen und Japaner. Die Geschäfte versorgten jeden – allein in Kennington konnte man alles kaufen, angefangen von Kebab bis hin zu fantastischen Stoffen für Saris. Dan und sie waren einige Male abends nach Soho gefahren und gleichzeitig schockiert und erheitert gewesen über die Anzahl von Stripclubs und Läden mit pornographischen Schriften. Noch erstaunlicher war aber, dass es in diesem Viertel eine ganze Anzahl von Theaterhäusern gab. So sah man dort Leute in Abendgarderobe, die ein Taxi heranwinkten oder ein teures Restaurant besuchten, während nur ein paar Meter weiter Prostituierte ihrem Geschäft nachgingen.

Fifi vermisste Bristol überhaupt nicht, tatsächlich stellte sie nach einer Weile fest, dass sie kaum noch an ihre Heimatstadt dachte. Sie hatte einmal nach Hause geschrieben, nur um ihren Eltern ihre neue Adresse mitzuteilen. Und obwohl sie Patty jede Woche einen Brief schickte, hatten andere Freunde nur eine Postkarte bekommen, auf der sie ihnen mitgeteilt hatte, wie glücklich sie sei.

Im Grunde war sie überglücklich. Ihr Umzug nach London hatte ihre Ehe gestärkt und Dan und sie noch fester zusammengeschweißt.

Fifi liebte es, bei Viktor Values einzukaufen. Konventionelle Lebensmittelläden waren so dunkel und eng, aber dieses Geschäft war hell erleuchtet, und die Waren lagen fertig ausgezeichnet links und rechts von breiten Gängen. Man hatte diesen Geschäften den Spitznamen »Supermärkte« gegeben, und die meisten Menschen hielten sie für eine Art Weltwunder, weil sie nicht verstanden, wie es den Besitzern gelang, die Preise so niedrig zu halten.

Als sie an diesem Abend, beladen mit genug Lebensmitteln für die ganze Woche, die Kennington Park Road hinunterging, war sie vollkommen zufrieden mit dem Leben. Dan hatte am vergangenen Tag einen gebrauchten Kühlschrank erstanden, und es war die reinste Wonne, dass sie in Zukunft nicht mehr jeden Tag Fleisch und Milch zu kaufen brauchte.

Etwa zwanzig Meter, bevor man in die Dale Street einbog, lag ein Trümmergrundstück mit einigen unbewohnten, halb zerstörten Häusern. Wie immer spähte Fifi durch die beschädigten Zaunlatten, weil die Kinder aus der näheren Umgebung dieses Gelände als Spielplatz auserkoren hatten. Für gewöhnlich waren dort dutzende von Kindern zu sehen, die Piraten spielten und bisweilen sogar ein Feuer anzündeten. Fifi betrachtete dieses Treiben mit gemischten Gefühlen. Das Kind in ihr billigte es, denn es gab nur wenige Orte in London, wo Jungen und Mädchen Abenteuer und Freiheit genießen konnten. Aber die Erwachsene in ihr war besorgt, denn hier lauerten überall Gefahren von zerbrochenen Flaschen und anderem Müll.

Zu ihrer Überraschung waren heute trotz des guten Wetters keine Kinder zu sehen. Aber als sie vorbeiging, hörte sie ein leises Weinen. Neugierig geworden, stellte sie ihre Einkäufe ab und schob den Kopf durch ein Loch im Zaun, um genauer hinzuschauen.

Ein kleines Mädchen hockte dort, die Hände vors Gesicht geschlagen, auf dem Boden und weinte sich die Seele aus dem Leib.

Es war Angela, das jüngste der Muckle-Kinder. Angela war die Kleine, die an Fifis erstem Tag in der Dale Street von ihrer Mutter geschlagen worden war, daher beobachtete sie dieses Mädchen genauer als alle anderen Mitglieder der Familie. Es war offenkundig, dass die Kleine in ihrer Familie nicht wohlgelitten war. Ihre Eltern schrien sie ständig an, ihre älteren Geschwister schikanierten sie, und sie schien selbst ihrer Tante Dora ein Dorn im Auge zu sein.

Wenn Fifi eins der drei anderen Kinder in offenkundiger Not gesehen hätte, wäre sie vorbeigegangen. Ihr war die boshafte Schläue in ihren Augen aufgefallen, und sie hatte sie nur allzu oft Schimpfwörter benutzen hören, daher hätte sie in einer solchen Situation vermutet, dass sie sie zu überlisten versuchten. Schließlich rissen sie anderen Kindern das Geld aus der Hand, wenn diese zum Einkaufen geschickt worden waren, und sie schlichen durch jede offene Tür, um zu stehlen. Fifi hatte gesehen, wie sie alte Menschen anrempelten, Mülleimer umkippten und Milchflaschen auf dem Gehsteig zerschlugen. Wenn man sie dafür zur Ordnung rief, waren nur laut herausgeschriene, wilde Schmähungen die Antwort.

Aber Angela war nicht wie die anderen. Sie war nicht dreist, sondern scheu, und sie war dünn und unterernährt. Wenn sie einem Erwachsenen gegenüberstand, trat ein ängstlicher Ausdruck in ihre Augen. Fifi zögerte. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass es besser sei, das Kind nicht zu beachten, aber das klagende, jämmerliche Weinen der Kleinen ging ihr zu Herzen. »Was ist denn los, Angela?«, rief sie.

Die Kleine zuckte zusammen und ließ die Hände sinken. »Nichts«, antwortete sie.

Aber das stimmte ganz offensichtlich nicht: Jemand hatte sie geschlagen; ihre linke Gesichtshälfte war so stark angeschwollen, dass ihr Auge praktisch verschwunden war.

Vermutlich hatte ein anderes Kind Angela verprügelt, und das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum sonst niemand auf dem Grundstück spielte. Fifi erinnerte sich an Gelegenheiten, da sie als Kind selbst schikaniert worden war, und hatte das drängende Gefühl, etwas tun zu müssen, und sei es auch nur, dass sie Angela ein wenig Mitgefühl zeigte.

Sie ging zu einer breiten Lücke im Zaun hinüber. »Wer hat dir das angetan?«, fragte sie, während sie vorsichtig über die zerbrochenen Zaunlatten stieg.

Angela war schon zu den besten Zeiten kein hübscher Anblick mit ihren scharfen Gesichtszügen, der blassen Haut, dem verfilzten, glanzlosen Haar, den schmutzigen Kleidern und den Zahnlücken, aber mit dieser Verletzung sah sie nun absolut jammervoll aus. Als Fifi näher kam, schickte sich die Kleine an aufzuspringen, als wollte sie flüchten.

»Weißt du, wer ich bin?«, meinte Fifi, die annahm, dass Angela Angst vor ihr hatte, weil sie eine Fremde war. »Ich wohne dir gegenüber in Nummer vier, ich heiße Fifi Reynolds, und mein Mann heißt Dan.«

Das Kind nickte. »Ich habe Sie gesehen«, flüsterte es. »Sie haben die Wände gestrichen.«

Das bedeutete vermutlich, dass Angela ihnen spätabends von einem der oberen Fenster bei der Arbeit zugesehen hatte.

»Als ich noch klein war, habe ich gern die Leute beobachtet«, sagte Fifi, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. »Ich habe mir dann Geschichten über sie ausgedacht. Meistens schöne Dinge, zum Beispiel, dass sie Prinzessinnen wären oder Ballett-Tänzerinnen. Denkst du dir auch Geschichten aus?«

Ein angedeutetes Nicken war die Antwort.

»Und was hast du dir über mich ausgedacht?«, fragte Fifi.

Angela reagierte nicht, aber das war kaum eine Überraschung, da ihre Verletzung sehr wehtun musste.

»Na komm«, beharrte Fifi. »Es ist nur ein Spiel. Ich würde gern hören, was du dir ausgedacht hast.«

»Dass Sie meine große Schwester wären«, erwiderte Angela und ließ den Kopf hängen.

Bei diesem unerwarteten rührenden Eingeständnis schnürte sich Fifis Kehle zusammen. Sie konnte erahnen, wohin diese kleine Fantasie das Mädchen geführt haben musste. An einen Ort der Sicherheit auf der anderen Seite der Straße, wo es keine Prügel und keinen Streit gab. Einen Ort, an dem alles hell und sauber war, vielleicht mit einer großen Schwester, die ihr das Haar bürstete. Stellte sie sich vor, dass es jemanden gäbe, der sie genug liebte, um sie in die Arme zu nehmen?

»Wer hat dich geschlagen, Angela?«

Das Kind zuckte die Schultern, als spielte es keine Rolle, wer für die Tat verantwortlich gewesen war.

»Du musst es mir erzählen. Wenn du dich weiter von den anderen Kindern schikanieren lässt, wird es nur immer schlimmer und schlimmer werden. Ich könnte mit ihren Müttern darüber sprechen.«

»Es war kein anderes Kind«, murmelte Angela.

»Wer war es dann? Deine Mum oder dein Dad?«

»Dad«, flüsterte das Mädchen und sah Fifi ängstlich an. »Aber erzählen Sie das bloß niemandem, sonst wird er mich nur doppelt so schlimm verprügeln.«

Eine Woge des Zorns stieg in Fifi auf. Es war abscheulich, dass ein erwachsener Mann ein hilfloses Kind so zurichtete.

Eine Sekunde lang zögerte sie. Ihr Herz riet ihr, Angela nach Hause mitzunehmen, ein wenig Eis auf die Schwellung zu legen und Dan zu bitten, Alfie Muckle bei der Polizei anzuzeigen. Aber sie fürchtete die Konsequenzen eines solchen Tuns.

»Warum hat dein Dad dich geschlagen?«, fragte sie.

»Weil ich eine Tasse Tee über ihm ausgeschüttet habe«, sagte Angela unglücklich. »Ich konnte nichts dafür, er lag nämlich im Bett, und ich bin im Dunkeln gestolpert.«

Vor Fifis innerem Auge entstand ein abscheuliches Bild von Alfie, der in seinem verdreckten Schlafzimmer lag, zu faul, um für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten, aber stark genug, um ein kleines Kind zu verprügeln. In diesem Moment war ihr eines vollkommen klar: Sie musste Angela zeigen, dass nicht alle Menschen auf dieser Welt so lieblos waren. »Komm mit mir nach Hause, dann wasche ich dir die Wunde aus«, bat sie spontan.

»Das kann ich nicht tun! Dad könnte sehen, wie ich in Ihr Haus gehe«, entgegnete Angela entsetzt. »Er würde Ihnen was tun.«

»Falls er das versucht, wird er es bereuen«, sagte Fifi mit mehr Gelassenheit, als sie empfand.

»Sie wissen ja nicht, wie er ist. Er würde nicht einfach zu Ihnen kommen und Sie schlagen, er würde es heimlich tun. So ist er eben.«

Fifi war entsetzt, weil ein so kleines Mädchen bereits so deutlich erkannte, dass sein Vater ein hinterhältiger Schurke war. »Lass das meine Sorge sein«, erklärte sie entschieden. »Es muss sich dringend jemand um dein Auge kümmern. Und jetzt komm mit mir.«

Fifi rechnete halb damit, dass Angela weglaufen würde, sobald sie in die Dale Street eingebogen waren, doch sie blieb an Fifis Seite, selbst als Yvette Dupré direkt vor ihnen aus dem Laden kam.

»’allo, Fifi«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen?«

Dan bezeichnete sie als »die französische Mistress«; er meinte, ihr Akzent sei das Erotischste, was er je gehört habe. Fifi gab ihm Recht, aber die Stimme war nicht das einzig Erotische an der Frau. Irgendjemand hatte erzählt, sie sei noch keine vierzig, doch in ihren Kleidern aus der Kriegszeit wirkte sie deutlich älter. Bei den seltenen Gelegenheiten, da sie ausging, trug sie einen grauen, bis zur Wade reichenden Mantel und einen Filzhut. Dan bezeichnete es als ihr »Resistance-Kostüm« und vermutete, sie trage diese Kleider nur, um ihre erstaunlich üppige Figur zu verbergen, der kein Mann würde widerstehen können.

Einige Tage nach ihrem Einzug hatte Fifi Yvette aufgesucht und gebeten, den Reißverschluss des Kostümrocks zu reparieren, den sie für ihre Vorstellungsgespräche brauchte. Yvette war warmherzig und freundlich gewesen, und obwohl sie sie nicht eingeladen hatte, hatte sie den Auftrag mit Freuden angenommen und versprochen, ihr den Rock später zurückzubringen.

Was ihre Figur betraf, lag Dan natürlich vollkommen falsch; sie war sehr dünn, und unter dem schlichten, dunkelbraunen Wollkleid zeichneten sich nicht die geringsten Kurven ab. Doch aus der Nähe betrachtet war sie durchaus schön, mit großen, sehr dunklen Augen und weichen, vollen Lippen. Fifi verstand nicht, warum sie sich das Haar so streng aus dem Gesicht frisierte und warum sie sich so trist kleidete, während sie für andere Frauen elegante, modische Dinge nähte. Sie hoffte, die Frau irgendwann gut genug kennen zu lernen, um sie dazu zu überreden, sich ihr graues Haar färben zu lassen, Make-up zu benutzen und ihren Kleidungsstil zu ändern. Aber bisher war sie noch weit davon entfernt, etwas Derartiges vorschlagen zu können.

»Mir geht es gut, danke«, beantwortete Fifi die Frage nach ihrem Wohlbefinden. Normalerweise wäre sie liebend gern stehen geblieben, um mit Yvette zu plaudern, weil sie so faszinierend war, aber mit Angela im Schlepptau musste sie so schnell wie möglich nach Hause gehen.

»Sacré bleu«, entfuhr es Yvette, als sie Angelas geschwollenes Auge sah. »Wer ’at dir das angetan?«

»Müssen Sie das noch fragen?«, erwiderte Fifi. »Ich nehme sie mit nach Hause, um die Wunde auszuwaschen.«

»Ist das klug?«, warnte Yvette leise.

Während eines früheren Gesprächs hatte Yvette Fifi erzählt, dass es die Hölle sei, neben den Muckles zu wohnen. Von ihrem Küchenfenster konnte man in das der Muckles blicken, und sie sah und hörte die schrecklichsten Dinge. Es war Fifi noch nicht gelungen, die Frau dazu zu bringen, Einzelheiten preiszugeben, nicht nur weil sich keine Gelegenheit dazu geboten hatte, sondern weil Yvette ebenso viel Angst vor den Muckles zu haben schien wie Mrs. Jarvis.

»Wahrscheinlich nicht, doch ich werde es trotzdem tun«, erklärte Fifi entschlossen. Yvette hob die Hände, zum Zeichen, dass sie ihre Idee töricht fand, dann wandte sie sich ab und ging davon.

Fifi schob Angela auf einen Stuhl und legte ihr einen Beutel mit Eiswürfeln auf das verletzte Auge, dann bedeutete sie Dan, sie auf den Flur hinauszubegleiten.

»Du musst zur Polizei gehen und Alfie anzeigen«, flüsterte sie und stellte dabei den Kaltwasserhahn an, damit Angela sie nicht hören konnte.

»Wir können die Muckles nicht anzeigen«, entgegnete er kopfschüttelnd.

»Warum denn nicht?«, rief Fifi. »Du bist doch sicher nicht einverstanden damit, dass ein erwachsener Mann ein kleines Kind verprügelt?«

»Nein, damit bin ich keineswegs einverstanden«, sagte Dan mit besorgter Miene. »Irgendjemand müsste dem Mann einmal einen ordentlichen Tritt verpassen. Aber wenn die Polizei darauf reagiert, wird Alfie dafür sorgen, dass Angela ihnen eine andere Geschichte erzählt, und es wird ihm nichts passieren. Und dann wird er von neuem über sie herfallen.«

»Was sollten wir also deiner Meinung nach unternehmen?«, hakte Fifi mit von Ironie triefender Stimme nach. »Sie einfach zusammenflicken und nach Hause schicken? Und uns später verfluchen, wenn wir weitere Schreie hören?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich nichts unternehmen will«, gab Dan zurück. Seine Miene verdüsterte sich, und seine Augen funkelten auf eine Art, wie Fifi es noch nie gesehen hatte. Er war immer so sanft zu ihr, aber plötzlich spürte sie, dass er ihr jetzt eine gefährlichere Seite seines Wesens zeigte, die er bisher vor ihr verborgen gehalten hatte.

»Du wirst ihn doch nicht schlagen, oder?«, fragte sie erschrocken. Dan war schon aufgrund seiner Vergangenheit kein Mann, der einem Streit aus dem Weg ging, das wusste sie.

»Nein, ich werde ihn warnen«, sagte er leise. »Ich werde ihm erklären, dass ich ihn im Auge behalten werde und dass er es bereuen wird, wenn so etwas noch einmal vorkommt. Mit solchem Abschaum wird man nur fertig, indem man ihn die Furcht Gottes lehrt.«

Er wartete Fifis Reaktion nicht ab, sondern lief bereits die Treppe hinunter, wobei er immer zwei Stufen gleichzeitig nahm. Fifi war ein wenig übel; sie hatte so viele Geschichten darüber gehört, dass Alfie Muckle sich an jedem rächte, der ihm in den Weg kam, und zumindest einige dieser Berichte mussten der Wahrheit entsprechen.

Sie ging mit einem Glas Kompott für Angela ins Wohnzimmer zurück und blickte aus dem Fenster. Dan hämmerte soeben an die Tür der Muckles, und kurz darauf erschien Molly. Obwohl das Fenster offen stand, konnte Fifi den Wortwechsel zwischen ihnen nicht verstehen, doch sie hörte durchaus, wie Molly nach Alfie brüllte, und ein oder zwei Sekunden später erschien er neben ihr in der Tür. Er trug seine Hosenträger über einer schmuddelig aussehenden Weste, und er schien offensichtlich überrascht zu sein, Dan auf seiner Türschwelle zu sehen.

Jetzt konnte Fifi auch Dans Stimme hören, obwohl sie noch immer nicht verstand, was er sagte. Alfie zog sich rückwärts in seinen Flur zurück, als hätte er Angst, geschlagen zu werden. Er schien zu protestieren; vielleicht bestritt er, Angela verprügelt zu haben. Molly hatte hinter ihrem Mann Zuflucht gesucht.

Ob Alfies Furcht erregender Ruf auf Tatsachen fußte oder nicht – neben Dan wirkte er schlicht und einfach jämmerlich. Dan war gute zwanzig Zentimeter größer, gesund, von kräftigem Körperbau und über zwanzig Jahre jünger. Er machte durchaus den Eindruck, als wäre er im Stande, Alfie in Stücke zu reißen, doch er hatte oft darüber gesprochen, wie sehr er Männer verachte, die ihren Standpunkt nur mit Brutalität vertreten konnten. Andererseits wusste Fifi, dass er Grausamkeit gegenüber Kindern verabscheute, gerade weil er selbst dergleichen Dingen ausgesetzt gewesen war. Als sie nun sah, wie er sich auf Alfie stürzte und den Mann an den Schultern packte, hob sie unwillkürlich die Hände vors Gesicht.

Da sie jedoch keine Schreie oder Kampfgeräusche hören konnte, spähte sie zwischen den Fingern hindurch und beobachtete zu ihrem Erstaunen, dass Dan Alfie lediglich schüttelte. Dann ließ er ihn los und drehte sich auf dem Absatz um, um nach Hause zurückzukehren.

Die Tür der Muckles wurde sofort zugeschlagen, und Fifi flog förmlich durch den Raum und die Treppe hinunter, um Dan im Flur abzufangen.

»Scht!«, flüsterte er und legte einen Finger auf die Lippen. »Wir wollen Angela nicht erschrecken.«

»Was hast du zu ihm gesagt?«

Dan zuckte die Schultern. »Nur dass ich ihm den Hals brechen würde, falls ich jemals wieder eine Verletzung bei diesem Kind sehen sollte.«

»Aber er wird es an ihr auslassen, wenn sie nach Hause kommt!«, rief Fifi aus. »Du hast ihre Situation nur noch schlimmer gemacht.«

»Nein, habe ich nicht. Ich kenne diesen Typ Mann; ich begegne solchen Leuten jeden Tag auf der Baustelle, widerwärtigen Tyrannen, die sich an Menschen vergreifen, die sich nicht wehren können. Aber wenn sie es mit jemandem zu tun bekommen, der womöglich stärker ist als sie selbst, machen sie sich vor Angst in die Hose. Er weiß, dass ich ihn mir schnappen werde, wenn er Angela auch nur ein Haar krümmt. Dieses Risiko wird er nicht eingehen.«

Fifi wollte ihm gern glauben, doch wenn es so einfach gewesen wäre, Alfie Muckle in seine Schranken zu weisen, warum hatte das dann noch nie zuvor jemand getan?

Dan musste ihre Ungläubigkeit gespürt haben. Er legte die Arme um sie und küsste sie auf die Nasenspitze. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich habe ihm erklärt, dass Angela für den Rest des Tages bei uns bleibt, also sollten wir ihr jetzt etwas zu essen geben, mit ihr spielen und es ihr ein wenig schön machen. Ich werde sie später nach Hause bringen, und ich verspreche dir, dass er ihr nichts antun wird.«

Dan begleitete Angela kurz nach sechs zu ihren Eltern hinüber. Sie hatten sich das Picknick, das Fifi geplant hatte, auf dem Fußboden in der Wohnung einverleibt, weil Angela nicht in der Verfassung gewesen war auszugehen. Später wusch Fifi ihr das Haar und flocht es ihr mit blauen Bändern zu Zöpfen.

Aber Angela schien einfach glücklich zu sein, dass sie bei ihnen war. Sie sprach nicht viel, sondern kuschelte sich an Fifi und lächelte Dan schüchtern an.

Mit sauberem, gut gebürstetem Haar sah sie erheblich besser aus, doch ihre Tischmanieren entsetzten Fifi. Sie war wie ein Tier, riss sich mit den Fingern Brocken von dem Essen ab und stopfte es sich in den Mund, den sie beim Kauen offen ließ. Fifi wünschte, sie hätte sie baden und ihre schmutzigen Kleider waschen können, denn die Kleine verströmte einen säuerlichen Geruch, der es Fifi schwer machte, sie in den Arm zu nehmen.

Dan schien von all dem nichts zu bemerken. Aber nachdem er sie nach Hause gebracht hatte, sagte er: »Sie ist nicht viel anders, als ich in ihrem Alter war.« Außerdem erzählte er, dass Molly recht freundlich gewesen sei. Sie hatte Angelas neue Haarbänder bewundert und sie gefragt, ob sie ihren Spaß gehabt habe.

»Alfie hat Angela nicht mit Absicht verletzt«, hatte sie an Dan gewandt hinzugefügt. »Er hat sich an dem heißen Tee verbrannt und unwillkürlich um sich geschlagen.«

Dennoch wirkte Dan an diesem Abend sehr gedämpft und verlor kaum noch ein Wort. Er sprach nur selten über seine Kindheit, doch er hatte ihr einmal erzählt, dass er bis zu seinem zehnten Lebensjahr geglaubt habe, seine Mutter würde eines Tages nach ihm suchen. Er war jeden Abend mit dem Gedanken daran eingeschlafen, wie hübsch und freundlich sie sein würde und was für ein wunderbares Leben sie zusammen haben würden. Fifi vermutete, dass die Ereignisse des vergangenen Tages ihn daran und vielleicht auch an andere Dinge erinnert hatten, die er ihr nie erzählt hatte.

Sie wollte ihn nicht noch weiter aufregen, indem sie versuchte, ihn zum Sprechen zu bringen, aber sie zog ihn fest an sich.

»Ich war heute sehr stolz auf dich«, sagte sie. »Du warst Angela gegenüber so rücksichtsvoll. Und so beherrscht, als du mit ihren Eltern gesprochen hast.«

»Ich habe lange gebraucht, um das zu lernen«, gestand er. »Bis nach meiner Zeit beim Militär habe ich jeden mit den Fäusten bearbeitet, der mich in Wut gebracht hat, und dazu gehörte wahrhaftig nicht viel. Mein erster Chef nach der Armee, der Maurer, bei dem ich in die Lehre gegangen bin, hat mir geholfen, das zu überwinden. Er hat mich in einen Boxclub mitgenommen und mich auf einen Punchingball losgelassen. Er war ein harter Bursche, aufgewachsen in den Slums von Glasgow, daher wusste er, wovon er sprach.«

»Eine Vaterfigur«, meinte Fifi nachdenklich. »Mrs. Jarvis zufolge hat Alfie Muckle all seine unangenehmen Angewohnheiten von seinem Vater übernommen. Ich frage mich, wie Angela sich wohl entwickeln wird?«

»Sie wird ihrer Mutter nachschlagen«, sagte Dan bekümmert. »Sie wird mit dem ersten Mann weggehen, der Interesse an ihr zeigt, und es wird mit einiger Sicherheit ein genauso widerwärtiges Tier sein wie Alfie. Anschließend wird sie eine weitere Brut ungeliebter und vernachlässigter Kinder in die Welt setzen.«

»Sprich nicht so!«, rief Fifi, und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Du bist nicht so geendet, daher kann es kein unabänderliches Schicksal sein.«

»Wären mein alter Chef und die anderen Männer, mit denen ich zusammengearbeitet habe, nicht gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich genauso entwickelt wie Alfie«, antwortete er mürrisch. »Sie waren allesamt harte Männer, doch sie waren stolz auf ihre handwerklichen Fähigkeiten und glaubten, dass nichts von Wert sei, wenn sie nicht dafür gearbeitet hatten. Sie liebten auch ihre Frauen und ihre Familien, und wenn sie mit ihnen angaben, konnte ich ihre verborgene Zärtlichkeit spüren. Also habe ich mich schließlich mehr an ihnen orientiert als an irgendwelchen Gaunern. Dann habe ich dich kennen gelernt, und plötzlich fand ich, dass ich der glücklichste Mensch auf Erden sei.«

Fifi dachte an ihre Eltern und an deren Gefühle, was Dan betraf. Wenn sie die Dale Street und Menschen wie Molly und Alfie Muckle hätten sehen können, wären sie wahrscheinlich endgültig davon überzeugt gewesen, dass Dan beabsichtigte, sie auf sein Niveau herabzuziehen.

»Das Glück war ganz auf meiner Seite«, erwiderte sie lächelnd und küsste ihn abermals auf die Wange. »Du bist das Beste, das mir je passiert ist.«

Als Dan am nächsten Morgen die Sonntagszeitung holen gegangen war, kam Yvette Dupré unerwartet mit zwei Kissen vorbei.

»Ich ’offe, dass ich nicht störe«, sagte sie. »Aber ich wollte Ihnen diese Kissen als kleines Willkommensgeschenk bringen.«

Fifi war so überrascht und gerührt, dass sie kaum wusste, was sie sagen sollte. Die Kissen waren einfach wunderschön, aus hellgrüner, gerüschter Seide, die Art, die sie bisher nur in Zeitschriften gesehen hatte.

»Sie sind zauberhaft, was für ein netter Gedanke«, erwiderte Fifi atemlos, während sie mit den Fingern über die zarten Rüschen strich. »Haben Sie sie selbst genäht?«

»Aber natürlich«, antwortete Yvette, und eine leichte Röte der Freude stieg in ihre Wangen. »Ich mache das gern, es ist, wie sagen Sie? Mein ’obby. Ich ’offe, die Farbe ist die richtige für Sie.«

»Ich habe mich noch nicht entschieden, in welchen Farben ich unsere Wohnung einrichten will«, antwortete Fifi und lud Yvette ins Wohnzimmer ein. »Ich hatte vor, diese grässlichen Vorhänge zu ersetzen, aber ich habe noch nirgendwo welche gesehen, die mir gefallen.«

»Wenn Sie den Stoff besorgen, nähe ich sie Ihnen«, schlug Yvette vor und musterte naserümpfend die abscheulichen orangefarbenen Gardinen. »Sie dürfen sich diese Dinger nicht allzu lange ansehen, sie sind so ’ässlich.«

Fifi schüttelte beschämt den Kopf. »Ich fürchte, ich kann Ihr großzügiges Angebot nicht annehmen.« Doch Yvette lachte nur.

»Es wird mir ein Vergnügen sein«, erwiderte sie, und sie zog unverzüglich ein Maßband aus der Tasche und nahm die Maße des Fensters.

Fifi bot ihr eine Tasse Kaffee an, und sie plauderten ein paar Minuten, dann erkundigte Yvette sich nach Angela.

Fifi erzählte ihr in groben Zügen, was vorgefallen war. »Dan glaubt, dass Alfie die Kleine nun nicht mehr schlagen wird.«

»Ich denke, es ist Dan, der auf der ’ut sein muss«, sagte Yvette warnend. »Alfie ist ein schlechter Mensch, und Molly ist noch schlimmer. Es gefällt ihnen, Menschen wehzutun. Sie beide müssen gut auf sich aufpassen.«

Fifi war bester Laune gewesen, als Dan sie mit liebevollen Zärtlichkeiten geweckt hatte, daher zog sie Yvette ein wenig auf und fragte, ob sie da nicht überreagiere.

»Ich wohne neben ihnen«, tadelte Yvette sie mit einem strengen Blick. »Ich ’öre die ganze Zeit über Dinge, die ich nicht ’ören will. Sie sind jung und ’übsch, Ihr Dan ist stark und gut aussehend, und diese Leute würden Ihr Glück mit Freuden zerstören. Ziehen Sie fort von ’ier, die Dale Street ist nicht das Richtige für Sie.«

Fifi konnte diese Bemerkung nicht ernst nehmen, dafür klang sie viel zu melodramatisch. Aber sie freute sich über Yvettes Besuch und wollte gern mehr über sie erfahren, daher versprach sie ihr, mit Dan zu reden, wenn er nach Hause kam.

»Ihre Sorge ist sehr rührend«, sagte Fifi aufrichtig. »Aber erzählen Sie mir doch etwas von Ihren Kunden. Ich sehe Sie abends immer am Fenster sitzen und nähen, und ich bin wirklich neugierig, wer die Kleider trägt, die Sie schneidern.«

»Es sind vornehme Damen«, erwiderte Yvette mit einem gewissen Stolz. »Früher ’abe ich in einem Mode’aus in Mayfair gearbeitet, und dort ’abe ich einige von ihnen kennen gelernt. Ich erledige nebenbei kleine Näharbeiten und Änderungen, aber schon bald fragen mich viele Damen, ob ich Kleider für sie machen will. Also verlasse ich das Mode’aus, und jetzt arbeite ich nur noch für diese Damen.«

»Haben Sie das ganze Erdgeschoss gemietet?«, erkundigte sich Fifi. Sie wusste genau, dass es sich so verhielt, da es ihr Spaß machte, solche Dinge in Erfahrung zu bringen, doch sie hoffte, Yvette mit ihrer Frage dazu zu bringen, sie ebenfalls einzuladen.

»Ja, die Wohnung ist ganz ähnlich wie die von Frank. Da wäre einmal der vordere Raum, in dem ich arbeite, dann kommt man durch eine Doppeltür in das Schlafzimmer im ’interen Teil des ’auses. ’inter dem Flur liegt die Küche. Ich ’abe auch einen Garten. Aber ich kann ihn nicht benutzen, nicht mit diesen Leuten gleich nebenan.« Sie hielt inne und verzog das Gesicht. »Ich sollte in eine bessere Gegend ziehen, doch es ist schwer, so etwas allein zu bewerkstelligen.«

»Wie lange wohnen Sie schon hier?«, fragte Fifi, während sie an ihrem Kaffee nippten.

»Ich bin kurz vor Weihnachten 1946 ’ier’er gezogen«, antwortete Yvette. »1947 war ein sehr langer, kalter Winter, und manchmal denke ich, ich sterbe vor Kälte, und ich bin so einsam, weil ich kein Englisch spreche. Aber die Ubleys, die Jarvis’ und andere Leute, die jetzt nicht mehr ’ier wohnen, waren sehr nett zu mir. Damals denke ich sogar, dass Molly Muckle meine Freundin ist.«

»Was hat sie Ihnen angetan?«, fragte Fifi weiter.

Yvette zuckte die Schultern. »Sie benutzt mich und bestiehlt mich. Wenn ich sie nicht mehr in meine Wohnung lasse, sie beleidigt mich. Aber ich ’abe genug gesagt, ich muss jetzt gehen. Passen Sie nur auf. Selbst die kleine Angela wird Sie bestehlen, wenn Sie sie wieder in Ihre Wohnung lassen. Molly wird sie dazu zwingen.«

Fifi erzählte Dan später nur, dass Yvette die Kissen für sie als Begrüßungsgeschenk genäht habe. Sie wusste, dass er ihre Warnung nicht ernst nehmen würde. Außerdem konnte auch Fifi Yvette nicht so recht glauben; die Französin meinte es gut, aber sie verbrachte zu viel Zeit allein, daher grübelte sie vielleicht über Dinge nach, die andere Leute kaum zur Kenntnis nahmen.

Während der folgenden Woche sah Fifi Angela abends recht häufig draußen auf der Straße. Die Schwellung an ihrem Auge war zurückgegangen, obwohl sie noch immer stark verfärbt war. Die Kleine wirkte lustlos und saß oft am Straßenrand und beobachtete die anderen Kinder beim Spielen. Aber sie wies keine weiteren sichtbaren Verletzungen auf.

Zwei Wochen später hatte Fifi jedoch wichtigere Sorgen als die Frage, was ihre Nachbarn trieben. Ihre Periode war ausgeblieben, und da sie normalerweise sehr regelmäßig kam, war Fifi nach einer Woche ganz sicher, schwanger zu sein.

Ein Baby war nicht Teil ihres Plans gewesen. Sie hatten zwar davon gesprochen, irgendwann einmal Kinder zu haben, aber sie wollten auf jeden Fall einige Jahre warten, bis sie eine gute Wohnung und etwas Geld auf der hohen Kante hatten. Außerdem waren sie immer so vorsichtig gewesen. Dan hatte oft im Scherz bemerkt, dass er Kondome besser gleich in Großpackungen kaufen sollte, da sie so viele verbrauchten. Aber nach ihrem Umzug waren sie ein oder zwei Mal ihrer Leidenschaft erlegen und hatten vergessen, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

Zuerst betrachtete Fifi ihre Schwangerschaft als Katastrophe, aber sie erzählte Dan nichts davon, weil sie sich noch nicht absolut sicher war. Während jedoch die Tage verrannen und noch immer nichts geschah, pendelte sie zwischen Furcht und Entzücken hin und her. Es war schwer genug gewesen, diese Wohnung zu finden, aber es würde noch zehn Mal schwerer sein, eine zu finden, die für ein Baby geeignet war.

Manchmal stellte sie sich jedoch bereits vor, mit einem Baby in einem Kinderwagen durch den Park zu schlendern oder die Hand des Kindes zu halten, wenn es seine ersten Schritte tat. Sie ertappte sich dabei, dass sie in die Schaufenster von Kindergeschäften blickte oder hochschwangere Frauen mit echtem Interesse beobachtete.

Aber ob es Furcht oder Entzücken war, was sie empfand, sie hatte Angst davor, ihr jetziges Leben aufzugeben. Die Arbeit in der Chancery Lane war angenehm, die anderen Sekretärinnen und Schreibkräfte waren nett, und sie gingen in der Mittagspause zusammen einkaufen oder saßen draußen im Sonnenschein, um zu schwatzen. Abends gingen Dan und sie nach dem Essen oft in den Pub hinunter, und samstagnachmittags unternahmen sie Streifzüge durch London und aßen dann meistens in einem Restaurant. Sonntags blieben sie bis spät in den Vormittag hinein im Bett. All das würde mit einem Baby nicht mehr möglich sein.

Dann waren da noch ihre Eltern. Würde ein Kind den Bruch kitten oder die Dinge nur noch verschlimmern?