Kapitel 7

Dan kam langsam wieder zu Bewusstsein, gerade so viel, um zu wissen, dass er auf dem Boden lag, aber als er versuchte, sich zu bewegen, züngelten scharfe Schmerzen durch seinen Kopf und seine Rippen.

Er blieb einen Moment lang still liegen und gab sich alle Mühe herauszufinden, wo er war und was mit ihm passiert war. Dan erinnerte sich deutlich daran, die Baustelle zusammen mit den anderen Männern verlassen zu haben. Es war fast dunkel gewesen, und als sie die Gasse erreicht hatten, durch die man den Weg zur U-Bahn-Haltestelle abkürzen konnte, hatten die anderen sich verabschiedet, um noch ein Bier trinken zu gehen. Sie hatten ihn gefragt, ob er sie begleiten wolle, doch er hatte abgelehnt, weil Fifi auf ihn wartete, und war in die Gasse eingebogen.

Danach konnte er sich an nichts mehr erinnern. Das war alles, und er vermutete, dass er noch immer in der Gasse lag, da es so dunkel war. Offenbar hatte sich jemand von hinten an ihn herangeschlichen und ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt. Aber warum? Es war Donnerstag, nicht Zahltag, und er lag mit niemandem im Streit. Vielleicht hatte man ihn verwechselt?

Dan fühlte sich versucht aufzustehen, doch die Schmerzen in seinem Kopf waren so heftig, dass es ihm nicht gelang. Dann hörte er Schritte, die in seine Richtung kamen.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Kamerad?«, erklang eine Männerstimme.

Dan konnte zwei Menschen erkennen, wenn auch nur sehr unscharf. »Ich … bin überfallen worden«, erklärte er stockend.

Die beiden zogen ihn auf die Füße, dann halfen sie ihm mit vereinten Kräften, die Gasse in Richtung der Hauptstraße hinunterzugehen. Sie fragten ihn, wo er verletzt sei, wo er wohne und wer ihn überfallen habe, aber er hatte solche Schmerzen, dass er nicht antworten konnte.

»Allmächtiger!«, rief einer der beiden Männer, als sie die Laternen der Hauptstraße erreichten und sie ihn besser sehen konnten. »Sie haben aber mächtig was abgekriegt. Wir sollten besser einen Krankenwagen rufen.«

»Meine Frau!«, stieß Dan mit Mühe hervor. »Ich muss nach Hause.«

»Wenn Sie so nach Hause kommen, wird Ihre Frau der Schlag treffen«, meinte der Mann. »Sie sind über und über voller Blut. Sie brauchen einen Arzt.«

Fifis Blick wanderte immer wieder zwischen der Uhr und dem Fenster hin und her. Sie machte sich zunehmend Sorgen um Dan. Da es bereits dunkel war, konnte er nicht mehr arbeiten, und sie glaubte nicht, dass er mit den anderen Männern in den Pub gegangen war, nicht, wenn sie ihn zu Hause erwartete.

Es war jetzt nach elf, und bei den Muckles war glücklicherweise wieder Ruhe eingekehrt. Der Streit hatte kurz nach Einbruch der Dunkelheit begonnen, und da die Muckles nur eine dünne Decke vor dem Fenster hängen hatten, hatte Fifi das Ganze beobachtet.

Sie hatte die Silhouetten von Alfie und Molly gesehen, hatte miterlebt, wie sie aufeinander losgegangen waren wie Wahnsinnige, während ohrenbetäubend laute Musik gespielt hatte. Auf dem Höhepunkt des Geschehens hatte sie solche Angst gehabt, dass sie zu Miss Diamond hinuntergegangen war, um zu fragen, ob sie wohl die Polizei verständigen sollten.

Fifi belästigte Miss Diamond nur höchst ungern, da sie die Art Mensch zu sein schien, die gern Abstand zu anderen hielt. Wenn sie Fifi oder Dan im Treppenhaus begegnete, wechselten sie immer ein paar Worte, aber es entwickelte sich niemals ein richtiges Gespräch daraus. Diese hochgewachsene, auffällige Frau mit dem dunkelbraunen Haar weckte in Fifi ebensolche Neugier wie Yvette. Sie war etwa vierzig, außerordentlich gepflegt, mit einer kunstvoll toupierten Frisur, die wie festgeklebt aussah, sie bekam niemals Besuch, und sie verließ kaum je das Haus, außer um zur Arbeit in der Telefonzentrale zu gehen.

Fifi hatte hie und da einen Blick in ihre Wohnung werfen können, wenn die Türen offen standen. Der vordere Raum war Miss Diamonds Wohnzimmer; ihre Möbel waren schlicht, aber recht gediegen. Das Schlafzimmer, das unter dem von Fifi und Dan lag, war sehr hübsch, mit einer hellblauen Tagesdecke auf dem Bett und weiß gestrichenen Möbeln. Selbst die Küche, die sich im hinteren Teil des Hauses befand, hatte mit den sonnengelben Schränken und den weiß gekachelten Arbeitsflächen ihren Reiz. Es erschien ihr seltsam, dass eine Frau, die so viel Stil besaß und offensichtlich aus guten Verhältnissen kam, freiwillig hier lebte. Seit Fifi ihr das erste Mal begegnet war, war sie fest entschlossen, alles über die Frau in Erfahrung zu bringen, doch bisher hatte sie keinen Erfolg gehabt.

Als Fifi gegen zehn Uhr bei Miss Diamond klopfte, hatte sie jedoch nur die Unruhe auf der anderen Seite der Straße im Kopf. Miss Diamond kam in einem langen, lose fallenden smaragdgrünen Kleidungsstück an die Tür, einem Gewand, das weder ein Morgenrock noch ein Kleid war. Sie schien wütend zu sein wegen all des Lärms, aber ihre Frisur war so tadellos wie immer.

»Normalerweise ruft Mrs. Helass die Polizei an«, sagte sie. »Sie ist die Einzige in der Straße mit einem eigenen Telefon. Aber das nutzt uns herzlich wenig. Wahrhaftig, diese Familie ist einfach das Letzte! Irgendjemand sollte sie alle einsperren und den Schlüssel wegwerfen.«

»Ich habe Angst, dass Alfie seine Frau umbringt«, erwiderte Fifi.

»Ich wünschte, er würde genau das tun«, murmelte die ältere Frau mit einem müden Seufzen. »Wenn er ins Gefängnis käme, würden wir alle vielleicht ein wenig Ruhe finden. Ich kann es einfach nicht länger ertragen.«

Miss Diamond bot Fifi eine Tasse Tee an, aber selbst während sie in der Küche saßen und über die Muckles redeten, konnten sie den Streit auf der anderen Straßenseite noch immer deutlich hören. Als Fifi jedoch wieder nach oben ging, war es ruhiger geworden. Während sie aus dem Fenster schaute, um festzustellen, ob Dan vielleicht die Straße hinunterkäme, sah sie, wie das Licht im Schlafzimmer der Muckles anging, und für einen Moment konnte sie Alfies Silhouette erkennen, bevor die Lampe wieder ausgeschaltet wurde.

Molly war noch immer unten. Fifi konnte sie auf dem Sofa sitzen sehen und weinen hören. Sie machte sich Gedanken um die Kinder, vor allem um Angela, denn es musste furchtbar sein, Zeuge solcher Auseinandersetzungen zu werden. Aber vermutlich hatten sie dergleichen Dinge schon so oft erlebt, dass sie sich daran gewöhnt hatten und sie vielleicht sogar für normal hielten.

Als sie später immer noch nach Dan Ausschau hielt, sah sie Dora mit Mike, Alfies Neffen, die Straße hinunterkommen. Die beiden gingen Arm in Arm und unterhielten sich vergnügt. Fifi vermutete, dass sie sich einen schönen Abend gemacht hatten, und die beiden taten ihr ein wenig leid, weil die Freude ihnen bei ihrer Heimkehr vergehen würde.

Alle in der Straße redeten über die Beziehung zwischen Mike und Dora. Seltsamerweise kam der Altersunterschied von zehn Jahren kaum je einmal zur Sprache, die Leute erwähnten nur immer wieder, dass Dora zurückgeblieben sei. Yvette hatte gesagt, dass sie durch eine Zangengeburt auf die Welt gekommen und dabei verletzt worden sei. Anscheinend betrachtete sie Molly als ihre Mutter, denn ihre eigene Mutter war gestorben, als sie etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen war, und seither hatte Molly sich um sie gekümmert.

Fifi beobachtete, wie die beiden hineingingen. Für kurze Zeit standen sie dann im Wohnzimmer und redeten vermutlich mit Molly, doch Fifi konnte die Frau nicht mehr sehen. Dann ging das Licht im Raum aus, und einige Sekunden später wurde im oberen Stockwerk eine andere Lampe angeknipst. Vermutlich gingen sie alle zu Bett.

Auch Fifi wäre gern zu Bett gegangen, doch sie hatte das Gefühl, aufbleiben und auf Dan warten zu müssen. In der Straße herrschte jetzt Ruhe, und in den Häusern gegenüber gingen nach und nach die Lichter aus. Sie nahm an, dass Dan einen seiner Arbeitskollegen nach Hause begleitet haben musste, denn er konnte nach dem Pub nicht mehr in einen Club gegangen sein, nicht in seinen Arbeitskleidern. Vielleicht hatte der Mann für irgendetwas seine Hilfe gebraucht. Dann waren ein paar Bier gefolgt, und Dan hatte jedwedes Zeitgefühl verloren. Vielleicht war er sogar zu betrunken, um es bis nach Hause zu schaffen.

Um Mitternacht war sie zu müde, um länger zu warten, daher knipste sie die Lampen aus und ging ins Bett.

Das Läuten einer Glocke weckte sie. Sie tastete nach dem Wecker und sah, dass es sieben Uhr war, aber was sie geweckt hatte, war nicht der Wecker, es war die Glocke an der Tür. Dann fiel ihr wieder ein, dass Dan nicht nach Hause gekommen war.

Frank Ubleys Stimme wehte die Treppe hinauf, und sie konnte eine weitere Männerstimme hören. Plötzlich war sie hellwach, denn sie spürte, dass der Besucher zu ihr wollte.

Sie sprang aus dem Bett, griff sich ihren Morgenrock und zog ihn hastig über ihr Nachthemd, bevor sie die Treppe hinunterrannte.

Als sie einen Polizisten mit Frank im Flur stehen sah, schlug sie sich entsetzt eine Hand auf den Mund. »Ist was mit Dan?«, fragte sie.

»Es ist alles in Ordnung, Mrs. Reynolds«, sagte der Polizist, der ihr einige Treppenstufen entgegenkam. »Ich wollte Ihnen lediglich mitteilen, dass Ihr Mann gestern Abend ins St James’ Hospital gebracht wurde. Er ist überfallen worden.«

»Wer hat ihn überfallen? Ist er schwer verletzt?«, fragte Fifi, der plötzlich übel vor Angst war.

Der Polizist konnte ihr nicht viel erzählen, da er Dan nicht selbst gesehen hatte; er gab lediglich die Informationen weiter, die das Polizeirevier erhalten hatte.

»Aber seine Verletzungen können nicht sehr ernst sein, sonst hätte das Krankenhaus uns schon gestern Abend gebeten, Sie zu Ihrem Mann zu bringen«, meinte er beruhigend. »Also, regen Sie sich nicht allzu sehr auf, Mrs. Reynolds. Ich nehme an, man hat ihn nur zur Beobachtung über Nacht dabehalten.«

Dann erklärte er ihr, dass das Krankenhaus in Tooting lag, und schlug ihr vor, dort anzurufen und sich zu erkundigen, ob sie etwas mitbringen sollte, wie zum Beispiel saubere Kleidung oder Schlafanzüge. Schließlich entschuldigte er sich noch einmal, ihr einen solchen Schrecken eingejagt zu haben, und sagte, dass er seine Runde fortführen müsse.

Nachdem er gegangen war und Frank sie zu einer Tasse Tee in seine Küche eingeladen hatte, brach Fifi in Tränen aus.

Sowohl Fifi als auch Dan hatten Frank inzwischen ins Herz geschlossen. Wenn sie nach Hause kamen, begrüßte er sie immer sehr herzlich; er schenkte Fifi kleine Blumensträuße aus seinem Garten, und er holte jeden Tag ihre Milch herein und stellte sie in ihren Kühlschrank, sodass sie nicht sauer wurde. Er war offensichtlich einsam, aber er wurde niemals lästig. Er nahm lediglich auf freundschaftliche Weise Anteil an ihnen, und wenn sie ihn auf eine Tasse Tee hereinbaten oder im Pub auf einen Drink einluden, nahm er immer mit Freuden an, doch er wusste stets, wo die Grenze war.

»Warum sollte irgendjemand Dan überfallen?«, schluchzte Fifi. »Alle mögen ihn. Er ist kein Unruhestifter.«

Frank legte die Arme um sie und tröstete sie. »Ich nehme an, es war ein Raubüberfall. Aber ich hätte mir dafür keinen Burschen wie Dan ausgesucht, er ist jung, durchtrainiert und stark. Ich hätte mir ein leichteres Opfer gesucht.«

»Wer immer das getan hat, er hat bestimmt nichts bei ihm gefunden, was sich zu stehlen lohnte«, erklärte Fifi unter Tränen. »Dan hat donnerstags nie Geld übrig, und er hat nicht einmal eine Armbanduhr bei sich.«

Frank trug ebenfalls noch seinen Morgenmantel, daher trank Fifi rasch ihren Tee aus. »Ich werde mich jetzt anziehen, damit ich im Krankenhaus anrufen kann«, entschied sie.

»Soll ich Sie begleiten?«, fragte Frank. »Sie sehen ein wenig zittrig aus.«

»Ich werde zurechtkommen, sobald ich weiß, dass es ihm gut geht«, antwortete sie. »Aber trotzdem danke für Ihre Freundlichkeit.«

Frank klopfte ihr auf die Schulter. »Wenn Sie wieder da sind, kommen Sie runter und erzählen Sie mir, wie es ihm geht. Ich könnte Ihnen auch ein Frühstück richten.«

»Die Stationsschwester hat gesagt, dass es ihm einigermaßen gut geht«, erzählte Fifi Frank, als sie vom Telefonieren zurückkam. »Er hat einen Schlag auf den Kopf und einen weiteren in die Rippen bekommen. Die Polizei wird heute Morgen mit ihm reden, um herauszufinden, was passiert ist.«

»Dann werden Sie sich den Tag freinehmen?«, erkundigte Frank sich. »Soll ich um neun Uhr für Sie in Ihrem Büro anrufen und alles erklären?«

Seine väterliche Sorge war rührend. Während ihrer Abwesenheit hatte er sich angezogen und rasiert, und er roch nach Seife und Zahnpasta. Er hatte in seiner winzigen Küche bereits den Frühstückstisch für sie beide gedeckt, und durch einen großen Blumentopf voller bunter Petunien direkt dahinter wirkte der Raum sehr behaglich und wohltuend.

»Das kann ich auf dem Weg ins Krankenhaus erledigen«, entgegnete Fifi. »Man darf die Patienten nur zwischen zwei und drei und dann wieder zwischen fünf und sechs besuchen, aber vielleicht werde ich mit seinem Schlafanzug hingehen, falls sie mir gestatten, ihn sofort zu besuchen.«

»Dann wird man ihn also dort behalten?«

Fifi nickte. »Ja, die Schwester meinte, sie müssten ihn auf Hirnschäden beobachten, da er bewusstlos geschlagen wurde. Aber er kann nicht allzu schwer verletzt sein. Wie sie mir erzählte, hat Dan bereits einen Witz darüber gemacht, dass sie zuerst würden nachsehen müssen, ob er überhaupt ein Gehirn hat.«

Frank lächelte. »Ich kann ihn förmlich hören, wie er das sagt. Er ist genau die Art Mensch, die in allem etwas Komisches findet. Sie wissen doch, dass er sogar Miss Diamond bezaubert hat, nicht wahr? Sie hat angeklopft, bevor sie zur Arbeit gegangen ist, weil sie den Polizisten gehört hatte. Und wie aufgeregt sie war! Sie meinte, wenn sie irgendetwas tun könne, brauchten Sie sie nur zu fragen.«

»Das war sehr nett von ihr«, erwiderte Fifi. Jetzt, da sie mit dem Krankenhaus telefoniert hatte, ging es ihr bereits wieder ein wenig besser, und es war so schön zu wissen, dass ihre Nachbarn Anteil nahmen. »Ich habe gestern Abend mit ihr gesprochen, als es drüben auf der anderen Straßenseite so laut war. Haben Sie den Lärm auch gehört?«

Frank nickte grimmig. »Wenn es nicht die ganze Straße mitbekommen hätte, hätte ich vielleicht geglaubt, Alfie stecke hinter diesem Angriff auf Ihren Dan. Aber da er drüben war und Molly verprügelt hat, kann er es nicht gewesen sein.«

Fifi erinnerte sich an Yvettes Warnung und runzelte erschrocken die Stirn. »Was bringt Sie auf den Gedanken, er könnte dafür verantwortlich sein?«

»Alfie ist nicht der Typ, der sich von irgendjemandem einschüchtern lässt«, sagte Frank mit einem Schulterzucken. »Ihr Dan hat ihm gedroht, nachdem er Angela verprügelt hatte. Das ist für Alfie Grund genug, um sich zu rächen, und es wäre genau sein Stil, jemandem eins über den Schädel zu geben.«

Im Krankenhaus ließ sich die Stationsschwester erweichen und gestattete Fifi, Dan für zehn Minuten zu besuchen, nur damit sie sich davon überzeugen konnte, dass es ihm gut ging. Aber Fifi war keineswegs beruhigt, nicht nachdem sie Dan mit seinem bandagierten Kopf und dem unnatürlich bleichen Gesicht gesehen hatte. Er begrüßte sie mit einem Grinsen, doch seine Züge wirkten dabei seltsam starr. Daher wusste sie, dass er Schmerzen haben musste.

»Ich bin kerngesund«, beteuerte er. »Sie behalten mich nur aus Vorsicht hier, nicht weil ich im Bett bleiben müsste. Ich hätte gute Lust, aufzustehen und mit dir nach Hause zu gehen.«

»Du wirst nichts dergleichen tun«, entgegnete Fifi scharf, während sie gegen ihre Tränen ankämpfte. »Sie haben dir den Kopf nicht ohne Grund so dick verbunden.«

Sie fragte ihn, wie es geschehen sei, und er erzählte ihr, dass er sich an nichts mehr erinnern könne. »Wer immer es getan hat, er muss bereits in der Gasse gewesen sein«, fügte er hinzu. »Es gibt dort einige Tore, die in die Gärten führen. Dort hätte er sich verstecken können.«

»Aber warum?«, fragte Fifi. »Bist du dir sicher, dass du nicht irgendjemanden gegen dich aufgebracht hast?«

Dan seufzte. »Genau das haben die Polizisten, die vorhin da waren, auch gefragt. Sie wollten wissen, ob ich jemandem Geld schulde oder ob jemand einen Groll gegen mich hegt. Sie haben sogar wissen wollen, ob ich mit einer anderen Frau rumgemacht hätte! Ich habe ihnen geantwortet, dass sie mal einen Blick auf dich werfen sollten, dann würden sie wissen, dass ich mich bestimmt mit keiner anderen einlasse.«

Das gefiel Fifi. Manchmal konnte Dan so charmant sein. »Frank fand, es würde nach Alfie Muckle klingen«, sagte sie. »Aber er kann es nicht gewesen sein. Molly und er waren zu Hause und haben sich gestritten, das haben alle gehört.«

»Der Wahn der Dale Street«, rief Dan und verdrehte die Augen. »Alles, was irgendjemandem zustößt, ist immer Alfie Muckles Werk. Wenn die Marsmännchen in London landen würden, wäre das ebenfalls seine Schuld.«

»Sie haben viele Jahre lang ihre bitteren Erfahrungen mit ihm gemacht«, widersprach Fifi entrüstet. »Du hättest mal den Streit gestern Abend hören sollen! Er ist ein Ungeheuer.«

»Es stimmt, er prügelt Frau und Kinder, er ist ein Faulpelz und ein diebischer Bastard, doch deswegen ist er noch lange nicht verantwortlich für jedes einzelne Verbrechen, das in der Gegend begangen wird.«

»Vielleicht nicht, aber Frank, Stan, Yvette und sogar Miss Diamond sagen alle …«

»Dass er der Sohn Satans ist, nehme ich an«, unterbrach Dan sie, bevor sie ihren Satz beenden konnte. »Du solltest nicht auf sie hören, Fifi. Sie stehen allesamt auch auf der Verliererseite.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Fifi ungläubig. »Wie schrecklich, so etwas zu behaupten! Ich dachte, du würdest sie alle als Freunde betrachten?«

Dan zuckte die Schultern. »Das tue ich auch, aber das macht mich nicht blind gegenüber ihren Fehlern. Wenn sie die Kraft dazu hätten, wären sie alle schon vor Jahren weggezogen. Aber sie bleiben, und sie jammern über die Muckles. Und weißt du, warum? Weil diese Familie ihnen ein besseres Gefühl gibt, was ihr eigenes Leben betrifft.«

»Dan! Was für eine abscheuliche Bemerkung. Vielleicht können sie sich einen Umzug nicht leisten, vielleicht haben sie es versucht und konnten nirgendwo anders etwas finden. Ich glaube keinen Augenblick lang, dass sie sich besser fühlen, nur weil sie grässliche Nachbarn haben.«

Dan warf ihr einen sprechenden Blick zu. Sei nicht so naiv, schien er zu sagen. »Ich weiß, wie es für sie ist, Liebes, denn ich habe denselben Fehler. Deine Eltern verachten mich für die Art, wie ich spreche, die Art, wie ich aussehe, und für meinen Job, und schauen wir den Dingen ins Auge: Indem ich dich in die Dale Street gebracht habe, habe ich ihre Überzeugung bestätigt, dass ich dich auf mein Niveau herabziehen würde. Aber ich fühle mich dort zu Hause. Ich kann zu den Muckles hinüberblicken und die Decken vor ihren Fenstern sehen und mich in Selbstgefälligkeit suhlen, weil wir schöne Vorhänge haben. Hier schaut niemand auf mich herab, weil ich auf einer Baustelle arbeite. Im Gegenteil, alle anderen Männer in der Straße beneiden mich, weil ich eine so zauberhafte Frau habe.«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, erwiderte Fifi gereizt. Sie hasste es, wenn er sich selbst herabsetzte. »Dieser Schlag auf den Kopf muss schlimmeren Schaden angerichtet haben, als ich vermutet hatte.«

»Du bist diejenige, die ständig die Nachbarn beobachtet«, meinte er. »Ich hätte gedacht, dass du das inzwischen bemerkt hättest.«

Fifi kam zu dem Schluss, dass Furcht und Schmerz der Grund waren, warum er die Dinge so voreingenommen sah. In ein oder zwei Tagen würde er wahrscheinlich seinen üblichen Optimismus zurückgewinnen, daher hatte es keinen Sinn, mit ihm zu streiten. »Also, was haben sie gesagt, wann sie dich entlassen werden?«

»Das wird wohl noch ein paar Tage dauern«, antwortete er. »Hör mal, warum machst du nicht das Beste aus deinem freien Tag und fährst übers Wochenende zu deinen Eltern nach Hause?«

»Nach Hause zu meinen Eltern!«, entfuhr es Fifi. Der Schlag auf den Kopf musste tatsächlich weit schlimmer gewesen sein, als man geglaubt hatte. »Sie haben ja nicht mal meinen Brief beantwortet, als ich ihnen von dem Baby erzählt habe. Sie werden mich nicht sehen wollen!«

Dan nahm ihre Hand und streichelte sie, und der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich förmlich in ihre. »Das kannst du nicht wissen! Ich habe darüber nachgedacht, bevor du gekommen bist. Vielleicht warten sie darauf, dass du den ersten Schritt tust? Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du das ganze Wochenende allein in der Wohnung sitzt, und es wäre erheblich einfacher für dich, dich mit ihnen zu versöhnen, wenn ich nicht dabei bin.«

»Mum wird einfach gemein sein«, erklärte Fifi halsstarrig. »Ich weiß es einfach.«

»Du kannst es nicht sicher wissen«, sagte Dan energisch. »Ruf sie an und finde heraus, wie sie reagieren. Wenn sie dich abweisen, verlierst du nichts. Zumindest hast du dann die Größe besessen, es zu versuchen.«

Da Fifi stets der Meinung gewesen war, dass man ihr unrecht getan hatte, war sie der Meinung, ihre Eltern sollten diejenigen sein, die den Olivenzweig anboten. Aber ihr gefiel der Gedanke, großzügig zu sein – zumindest ihr Vater würde das als sehr erwachsene Geste honorieren. Und wenn sie allein nach Hause kam, würde ihre Mutter nicht so gereizt sein. Sobald sie dort mit Patty zusammenkam, die gewiss in helle Aufregung über das Baby geraten würde, würde es ihrer Mutter schwerfallen, auf ihrem hohen Ross sitzen zu bleiben.

»Aber selbst wenn Mum freundlich reagiert, wie könnte ich dich hier allein lassen?«

»Warum nicht? Die normalen Besuchszeiten dauern jeweils nur eine Stunde, es wäre dumm, deswegen in London zu bleiben.«

»Du würdest sonst keinen Besuch bekommen«, wandte Fifi ein.

»Es ist Wochenende, da werden vielleicht einige Leute von der Arbeit herkommen«, antwortete er mit einem Schulterzucken. »Und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Ich kann mit den Krankenschwestern und den anderen Patienten plaudern. Oder einfach ein wenig Schlaf nachholen.«

Dan sagte niemals etwas, das er nicht ernst meinte, daher wusste Fifi, dass er durchaus allein zurechtkommen würde. Ihre Mutter hatte immer behauptet, Fifi sei so halsstarrig wie ein Maultier, deshalb würde allein ein Telefonanruf ihr den Wind aus den Segeln nehmen. Jetzt, da das Baby unterwegs war, wollte Fifi wirklich gern Frieden schließen, und vielleicht war dies die Möglichkeit, ihren Eltern eine goldene Brücke zu bauen.

Dan hatte Recht; sie fand die Aussicht, das Wochenende über allein in der Wohnung festzusitzen, tatsächlich nicht allzu verlockend, vor allem, da es so heiß war. Sie konnte vor ihrem inneren Auge den Garten zu Hause sehen, das saftige Gras, die Bäume und Blumen, und sie malte sich aus, auf einer Decke zu liegen und eine Zeitschrift zu lesen, während ihre Mutter ihr ein Glas selbst gemachte Limonade nach draußen brachte. Es würde so schön sein, in ihrem alten Zimmer zu schlafen, ihre Geschwister zu sehen und am Samstagabend vielleicht mit ein paar alten Freunden zusammenzukommen.

»Ruf sie an«, wiederholte Dan, der spürte, dass sie ins Wanken geriet. »Du bist doch auch mit ihrem Enkelkind schwanger! Wenn er oder sie zur Welt kommt, wirst du sie informieren wollen. Dann sind da noch Patty und deine Brüder, sie werden Tante beziehungsweise Onkel werden, und sie werden überglücklich sein, dich zu sehen. Ich möchte auch nicht, dass du das ganze Wochenende allein zu Hause sitzt, also bitte, tu es für mich!«

Eine Welle der Liebe zu Dan stieg in Fifi auf. Er war verletzt, aber er dachte nicht an sich, sondern nur an sie. Fifi wusste nicht, ob sie im umgekehrten Fall ebenso selbstlos oder großzügig gewesen wäre. Und sie wollte wirklich gern auf ihn hören.

»Na schön, ich rufe an, aber ich fahre nur hin, wenn Mum nett ist. Ich werde gewiss nicht die weite Reise unternehmen, nur um mit ihr und Dad zu streiten.«

Er drückte wieder ihre Hand. »Komm ihr auf halbem Weg entgegen«, riet er ihr. »Aber nicht, dass es dir zu Hause so gut gefällt, dass du bleiben möchtest.«

»Als könnte ich ohne dich leben«, sagte sie und beugte sich vor, um ihn zu küssen. »Und einige Tage mit Mum und Dad werden mehr als genug sein, um mich mit fliegenden Fahnen zu dir zurückzutreiben.«

Am Freitagabend trafen sich Frank und Stan im »Rifleman«. Wie immer am Wochenende war der Pub bis auf den letzten Platz besetzt, und da es ein warmer Abend war, standen die Türen offen, und viele Leute waren mit ihren Drinks nach draußen gegangen.

Die Neuigkeit von dem Überfall auf Dan hatte sich herumgesprochen, und Frank hatte sich seit seiner Ankunft im Pub im Zentrum der Aufmerksamkeit wiedergefunden, da er in der Wohnung unter den beiden lebte. Frank erzählte ihnen alles, was er wusste, und wie immer, wenn es in der Straße Ärger gab, fiel Alfies Name. Aber Cecil Helass wandte sofort ein, dass Alfie zu viel damit zu tun gehabt habe, Molly zu verprügeln, um für die Tat verantwortlich sein zu können.

»Er hätte es diesem Halbschwachsinnigen von Neffen befehlen können«, widersprach Frank verächtlich.

Irgendjemand wandte ein, er habe Mike mit Dora nach Hause kommen sehen, nachdem der Streit vorüber war, und einige weitere Leute bestätigten, dass auch sie die beiden gesehen hätten.

»Aber Fifi! Wer passt auf sie auf, während ihr Mann im Krankenhaus liegt?«, fragte Stan nervös.

»Sie ist nach Hause gefahren, nach Bristol«, erwiderte Frank. »Dan hat sie fortgeschickt.«

Stan wartete, bis der andere Mann außer Hörweite war, bevor er seinen Freund Frank genauer befragte.

»Fifi hat mir erzählt, dass sie sich Dans wegen mit ihrer Familie überworfen habe«, sagte er verwirrt. »Es ist gut, dass sie im Moment nicht allein ist, aber ich denke, diese Geschichte wird in den Augen ihrer Eltern nur ein umso schlechteres Licht auf Dan werfen.«

Frank nickte, denn er wusste genau, was sein Freund meinte. »Ich kann verstehen, warum sie nicht viel von ihm halten. Als er eingezogen ist, habe ich auch gedacht, er sei ein Tagedieb.«

»Ein Tagedieb?«, wiederholte Stan. »Wieso das denn?«

»Er kam mir irgendwie eine Spur zu gerissen vor«, erklärte Frank kichernd. »Aber ich habe mich in ihm geirrt, Dan ist ein anständiger Kerl, nicht einmal Miss Diamond hat etwas an ihm auszusetzen.«

Stan grinste. Er wusste, dass die gute Miss Diamond eine Schwäche für Dan hatte, obwohl fast alle in der Straße sie als einen Feuer speienden Drachen betrachteten. »Also macht Dan sich Sorgen, dass der Mann, der ihn angegriffen hat, auch Fifi etwas antun könnte?«

»Ich schätze, das trifft es so ungefähr.«

Stan grübelte einen Augenblick lang darüber nach. »Aber wenn Fifi ihrer Familie erzählt, dass Dan zusammengeschlagen wurde, werden sie ihn gewiss erst recht für einen schlechten Kerl halten.«

Frank seufzte. »Ja, vielleicht, Leute ihres Schlages denken immer von jedem das Schlimmste. Sie können nicht glauben, dass ein Arbeiter ehrlich sein oder dieselben Wertvorstellungen haben kann wie sie.«

»So geht es mir auch«, erwiderte Stan traurig. »Weil mein Englisch nicht gut ist, verdächtigen sie mich vieler böser Dinge.«

Frank legte seinem Freund mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Kümmer dich gar nicht um sie, Stan. Dieselben Leute tuscheln auch darüber, dass Yvette eine Nymphomanin sei, nur weil sie Französin ist. Danny O’Connor von Nummer neun wird nur wegen seiner irischen Herkunft behandelt, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Ich habe Yvette noch nie mit einem Mann gesehen, und Danny hat einen Abschluss in Ingenieurwissenschaft. Blöde Vorurteile, mehr steckt nicht dahinter.«

Die beiden Männer hielten sich für eine Weile schweigend an ihren Gläsern fest, beide tief versunken in ihre eigenen Gedanken.

»Wir müssen etwas wegen der Muckles unternehmen«, stieß Stan plötzlich hervor. »Es ist nicht recht, dass so viele Menschen in Furcht vor ihnen leben.«

»Aber was können wir tun?« Frank zuckte mutlos die Schultern. »Ich bin zu alt, um Alfie eine ordentliche Tracht Prügel zu versetzen, außerdem ist Molly diejenige, die hinter den meisten ihrer Schurkereien steckt.«

»Vielleicht könnten wir ihnen irgendetwas anhängen?«, überlegte Stan, und seine seelenvollen Augen leuchteten auf. »Wir planen irgendetwas, das sie für lange Zeit in den Bau bringt?«

Cecil Helass und sein Trinkkumpan, Bob Osbourne, der in Nummer sieben wohnte, hatten ganz in der Nähe gestanden und Stans Bemerkung mit angehört.

»Also, das ist doch endlich mal ein Wort!«, schaltete Bob sich mit einem breiten Grinsen in das Gespräch ein. Er und Cecil waren vor kurzem beide in Rente gegangen, und sie verbrachten mehr Zeit im »Rifleman«, als es ihren Frauen gefiel. Oft waren sie am Ende so betrunken, dass sie kaum noch nach Hause gehen konnten. »Wir werden euch mit Freuden helfen.«

»Es müsste schon ein Mord sein, um sicherzugehen, dass sie für immer weggesperrt werden«, antwortete Frank lachend. »Ich würde mit Freuden jedes Mitglied der Familie Muckle umbringen, selbst die Kinder.«

Stan nickte zustimmend, bevor er scherzhaft hinzufügte: »Dann sollten wir vielleicht eins der Kinder umbringen? Wir könnten es so aussehen lassen, als wären es Molly und Alfie gewesen.«

»Eine geniale Idee.« Frank lachte. »Damit sollte das Problem aus der Welt geschafft sein.«

»Na, na«, meldete sich Rosa, die betagte Barfrau, hinter der Theke zu Wort. »Ihr könnt hier keinen Mord planen!«

»Wir meinen es doch nicht ernst, Rosa«, versicherte Stan hastig. Er bereute seinen schlechten Scherz bereits.

»Wie schade«, meinte sie lachend. »Ich hätte in Versuchung geraten können, euch zu helfen.«

Fifi saß am Küchentisch und aß das Sandwich, das ihre Mutter ihr angeboten hatte, aber sie war sehr angespannt. Die Art, wie Clara mit dem Geschirr in der Spüle hantierte, sagte ihr, dass ihre Mutter innerlich kochte.

Zu Anfang hatte alles so hoffnungsvoll ausgesehen. Als Fifi an diesem Morgen zu Hause angerufen und gefragt hatte, ob sie übers Wochenende – allein – kommen dürfe, hatte Clara mit ihrer Zustimmung keinen Moment gezögert. Tatsächlich schien sie sich sogar zu freuen. Fifi hatte bewusst nicht davon gesprochen, was Dan zugestoßen war, denn das ließ sich am Telefon nur schwer erklären. Aber vielleicht war das ihr erster Fehler gewesen, da ihre Mutter sich möglicherweise den Gedanken in den Kopf gesetzt hatte, Fifi wolle Dan verlassen.

Bei ihrer Ankunft hatte Fifi es als gutes Omen genommen, dass ihre Mutter das hellblaue Leinenkleid trug, das Fifi stets so gut gefallen hatte. »Dein Anruf ist so eine schöne Überraschung gewesen! Ich habe auch das Bett für dich bezogen«, bemerkte Clara, obwohl sie ihre Tochter nicht umarmte.

Leider war Patty übers Wochenende zu einer Freundin gefahren, worüber Fifi sehr enttäuscht war. Ihre Brüder waren beim Kricket-Training, und ihr Vater besuchte einen alten Freund und würde erst sehr viel später zurückkommen. Aber das Haus war so hell und friedlich, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte, und Fifi dachte, es würde ihnen beiden guttun, ein wenig Zeit allein miteinander zu verbringen.

Bei einer Tasse Tee erklärte Fifi, dass Dan im Krankenhaus lag, und schilderte die Hintergründe. Als von ihrer Mutter keine echte Reaktion kam, weder eine positive noch eine negative, erzählte Fifi ihr von ihrem Job und den Kolleginnen, mit denen sie sich angefreundet hatte.

Erst als sie von ihrer Hoffnung sprach, vor der Geburt des Babys ein kleines Haus kaufen zu können, stand ihre Mutter vom Tisch auf, um ihr ein Sandwich zu richten. Ohne sich zu ihr umzudrehen, stellte sie ihr einige schroffe Fragen – ob sie schon beim Arzt gewesen sei? Welchen Frauenarzt sie während der Schwangerschaft konsultieren wolle? –, dann reichte sie ihr das Sandwich und ging zur Spüle hinüber, wo sie mehr Lärm machte als gewöhnlich. In diesem Augenblick wurde Fifi klar, dass sich Ärger zusammenbraute.

»Also, warum ist er zusammengeschlagen worden?«, erkundigte sich Clara plötzlich mit unüberhörbarer Missbilligung.

»Ich habe es dir doch bereits erzählt: Wir wissen es nicht«, antwortete Fifi gelassen. »Er ist überall beliebt, und er ist auch nicht ausgeraubt worden. Es ist ein Rätsel.«

Clara rümpfte die Nase und wandte sich wieder dem Spülbecken zu.

Wann immer Fifi an ihre Mutter dachte, sah sie sie hier in der Küche vor sich, da dies der Schauplatz ihrer schönsten Kindheitserinnerungen war. Hier hatte sie mit ihrer Mutter Kuchen gebacken, mit Patty am Tisch gesessen und gemalt oder mit ihren Brüdern Scrabble gespielt. Die Küche war stets das Herz des Hauses gewesen, ein warmer, einladender Ort, in dessen Zentrum ihre Mutter stand.

Seit sie fortgegangen war, um Dan zu heiraten, hatte sich der Raum in keiner Weise verändert. Aber obwohl Fifis alte Fotos noch immer an der Tür zur Speisekammer hingen, hatte sie das Gefühl, dass dies nur ein Versehen war. Bestimmt hätte ihre Mutter sie entfernt, wären sie ihr aufgefallen. Gleichermaßen wäre es Fifi unmöglich gewesen, aufzustehen und sich wie früher einfach etwas aus der Keksdose zu nehmen. Sie fühlte sich nicht länger als Teil der Familie, sondern als Besucherin, und als solche musste sie sich denselben Regeln unterwerfen, die für jeden Fremden galten.

»Wie steht ihr beiden, du und Dad, dazu, dass ihr Großeltern werdet?«, fragte Fifi. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass es wahrscheinlich unklug war, diese Frage zu stellen, aber sie konnte nicht anders.

»Wie wir dazu stehen?«, wiederholte Clara und wandte sich ruckartig um, um ihre Tochter anzusehen.

»Freut ihr euch, seid ihr wütend, ist es euch egal?«, sagte Fifi schwach.

»Welchen Grund könnte es geben, sich darüber zu freuen? Du lebst in zwei Zimmern, dein Mann hat keinerlei Zukunftsaussichten, und mir kommt es so vor, als wärst du vollkommen verantwortungslos gewesen.«

Fifi hatte sich während der langen Zugfahrt nach Hause vorgenommen, lieb, großzügig und taktvoll zu sein, was immer ihre Mutter ihr auch an den Kopf werfen mochte. Aber auf diese gehässige Bemerkung konnte sie nur mit noch mehr Gehässigkeit reagieren.

»Man könnte auch von dir behaupten, du seist verantwortungslos gewesen, als du trotz des Krieges vier Kinder bekommen hast«, antwortete sie scharf. »Und wenn ich mich nicht irre, haben Dads Eltern euch geholfen, dieses Haus zu kaufen. Wo hättet ihr denn gelebt, wären sie nicht gewesen?«

»Wage es nicht, mir frech zu kommen«, zischte Clara. »Du läufst davon, um einen nichtsnutzigen Handlanger zu heiraten, der weder Verstand noch Erziehung hat, und dann erwartest du von uns auch noch, dass wir uns darüber freuen, wenn du von ihm ein Kind bekommst!«

Die blanke Bosheit in der Stimme ihrer Mutter ließ Fifi zurückprallen. »Er ist nicht nichtsnutzig«, gab sie zurück und erhob sich. »Und er ist ein tüchtiger Maurer, kein Handlanger. Und wenn Erziehung das ist, was dich so abscheulich macht, dann bin ich froh darüber, dass er keine hat.«

»Abscheulich? Ich sage lediglich die Wahrheit, mein Mädchen.«

Es war nur allzu offenkundig, dass Claras Einstellung Dan gegenüber mit der Zeit nicht freundlicher geworden war, und Fifi sah sich gezwungen, aus Loyalität ihrem Mann gegenüber ein klares Wort sprechen zu müssen, selbst wenn es bedeutete, dass sie ihre Familie damit endgültig verlor.

»Oh nein, du sagst keineswegs die Wahrheit«, fuhr sie Clara an. »Du verleihst lediglich deinen dummen Vorurteilen und deinem Snobismus Ausdruck und zeigst damit, wie dumm du bist! Du hast nicht einmal versucht, Dan kennen zu lernen, denn wenn du es getan hättest, hättest du vielleicht herausgefunden, wie sehr du ihm unrecht tust. Nun, ich liebe ihn, ich bin glücklich darüber, dass ich sein Baby erwarte, und da es ein Fehler war, hierherzukommen, werde ich jetzt sofort zu ihm zurückkehren.«

»Sei nicht so voreilig«, rief ihre Mutter ihr nach, als Fifi in den Flur hinauslief und nach ihrer Reisetasche griff. »Du kannst jetzt nicht mehr nach London zurückfahren, es ist zu spät.«

»Du hast Recht, es ist zu spät. Zu spät, um irgendetwas von dem wiedergutzumachen, was du soeben gesagt hast«, gab Fifi zurück, dann öffnete sie die Tür und ging.

Clara Brown stand einen Moment lang im Flur und fühlte sich versucht, hinter ihrer Tochter herzulaufen und sich zu entschuldigen. Sie wusste, dass sie nicht so hätte reagieren dürfen, aber als Fifi am Morgen angerufen und gefragt hatte, ob sie zu Besuch kommen könne, hatte Clara sofort angenommen, die Ehe ihrer Tochter sei in die Brüche gegangen.

Doch sobald Fifi durch die Tür getreten war, hatte sie gewusst, dass dem nicht so war. Von ihrer Tochter waren ein Strahlen und eine Ruhe ausgegangen, die Clara sofort erkannte: Es war die Ausstrahlung, die eine Frau hatte, wenn sie glücklich war und sich geborgen fühlte. Für eine Weile hatten Claras Ängste sich gelegt, aber sobald Fifi ihr von dem Überfall auf Dan erzählt hatte, waren ihre Befürchtungen hundertfach zurückgekehrt.

Vielleicht wusste Dan tatsächlich nicht, wer ihn überfallen hatte, doch sie hielt es für weit wahrscheinlicher, dass er in eine unerfreuliche, vielleicht sogar in eine kriminelle Geschichte verstrickt war. Noch lange bevor sie diesen Mann überhaupt kennen gelernt hatte, hatte sie aus Fifis Erzählungen den Eindruck gewonnen, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Die Geschichte, dass er als Baby ausgesetzt worden sei, klang einfach ungeheuerlich. Sie hielt es für erheblich wahrscheinlicher, dass er seine Jugend in Erziehungsanstalten verbracht und sich eine solche Geschichte ausgedacht hatte, um Mitleid zu heischen. Fifis heimliche Hochzeit mit ihm war Clara Bestätigung genug gewesen. Ein bequemer Weg, um seine wahre Herkunft zu verbergen.

Natürlich wäre sie Dan mit weniger Argwohn begegnet, wäre er nicht so attraktiv gewesen, aber jeder Mann mit dem Aussehen eines Filmstars hätte in ihr Zweifel geweckt, was seine Absichten in Bezug auf ihre Tochter betraf. Später hatte sie ihre bösen Ahnungen auch Harry gegenüber erwähnt.

»Warum glaubst du eigentlich, dass unsere schöne Tochter nicht einen ebenso schönen Mann anziehen kann?«, hatte er verwundert gefragt.

Clara war nicht in der Lage gewesen, das zu erklären. Aber in Wahrheit sah sie Fifi noch immer als das reizlose, ungesellige Geschöpf, das sie als Kind gewesen war. Und geradeso, wie sie sie damals vor Schaden hatte bewahren wollen, wollte sie sie noch heute vor allem Übel beschützen.

Niemand konnte ganz ermessen, was sie mit Fifi durchgestanden hatte, als sie noch klein gewesen war, nicht einmal Harry, da er in den Kriegsjahren nur so selten zu Hause gewesen war. Als Baby hatte sie kaum geschlafen und sich die halbe Nacht lang die Seele aus dem Leib geschrien, und nach Pattys Geburt hatte Clara wie ein Habicht über ihre jüngere Tochter wachen müssen, weil Fifi sie ständig befingert hatte. Sie hatte immer wieder ihr Essen auf den Boden geworfen, sie hatte niemals gehorcht und Zärtlichkeiten zurückgewiesen. Jeden einzelnen Meilenstein – die Fähigkeit zu gehen oder zu sprechen, die Benutzung der Toilette – hatte sie später erreicht als jedes andere Kind.

Während der ersten Schuljahre hatte Clara sich fast täglich Klagen von Fifis Lehrerin anhören müssen, weil das Mädchen sich nicht konzentrieren konnte und den Unterricht störte. Clara erinnerte sich nur allzu gut daran, wie oft sie gegen die Tränen angekämpft hatte, weil sie die Tatsache nicht hatte ertragen können, dass ihr ältestes Kind so viel Ärger machte. Niemand, weder Lehrer noch Ärzte, hatte ihr irgendeinen Rat geben können.

Clara war nichts anderes übrig geblieben, als sich allein durchzukämpfen und auf Kosten der anderen Kinder Zeit zu finden, Fifi beim Lesen und Schreiben zu helfen. Niemand konnte ermessen, wie anstrengend es gewesen oder wie undankbar diese Aufgabe ihr erschienen war. Sie hatte drei vollkommene, durch und durch liebenswerte Kinder gehabt, aber die Älteste, die einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen hatte, hatte sie beinahe zum Wahnsinn getrieben und daran gehindert, sich an den drei anderen zu erfreuen.

Mit acht oder neun war Fifi dann langsam stabiler geworden, und mit zehn hatte sie die Kinder ihres Alters endlich eingeholt. Aber es war Clara unmöglich zu vergessen, wie viel Unheil Fifi in jenen frühen Jahren angerichtet hatte. Vielleicht war das der Grund, warum sie immer so streng mit ihr war. Rächte sie sich so unbewusst an ihrer Tochter für all das Unglück und die Sorgen während Fifis früher Kindheit?

Als sie wieder in der Küche war, begann sie zu weinen. Harry würde wütend auf sie sein, wenn er erfuhr, dass Fifi im Bösen wieder fortgegangen war. »Wir sollten ihr schreiben und ihr zu dem Baby gratulieren«, hatte er erst gestern gesagt. »Außerdem ist es höchste Zeit, dass wir Dan akzeptieren. Wenn Fifi ihn liebt, muss uns das genügen.« Clara vermutete auch, dass Harry wegen Dans Verletzungen besorgt sein würde; im Gegensatz zu ihr würde er seinen Schwiegersohn nicht voreilig verdächtigen, mit Gangstern und Schlägern zu verkehren. Aber vor allem würde er entsetzt darüber sein, dass seine Frau Fifi dazu getrieben hatte, in ihrem Zustand Hals über Kopf nach London zurückzukehren.