Kapitel 17
Dan schauderte, als er am Samstagmorgen die Dale Street hinunter zur Telefonzelle ging. In der Luft lag eine unverkennbar herbstliche Kühle, obwohl es gerade erst Anfang September war, und das verschärfte seine Angst um Fifi noch. Er war inzwischen mit seiner Weisheit am Ende; er hatte alle infrage kommenden Orte nach ihr abgesucht.
Als er am Mittwochmorgen in ihrem Büro angerufen und erfahren hatte, dass sie am vergangenen Tag nicht zur Arbeit gekommen war und sich auch nicht abgemeldet hatte, hatte er gewusst, dass ihr etwas zugestoßen sein musste. Sie liebte den Job zu sehr, um zu fehlen, ohne ihren Arbeitgeber davon in Kenntnis zu setzen.
Er hatte auch bei ihren Eltern angerufen, aber dort war sie ebenfalls nicht, und er konnte spüren, dass Mrs. Brown nicht für sie gelogen hatte – niemand hätte solche Sorge heucheln können.
Danach hatte er systematisch jeden in der Straße gefragt, wann er Fifi das letzte Mal gesehen hatte und ob sie vielleicht von einer bevorstehenden Reise gesprochen hatte. Zuletzt hatte Miss Diamond sie gesehen, als sie am Dienstagmorgen um acht Uhr zur Arbeit gegangen war. Nora Diamond zufolge hatte sie eine blaue Bluse, eine weiß-blau karierte Jacke und einen engen, dunkelblauen Rock getragen, und sie hatte eindeutig nichts anderes bei sich gehabt als ihre Handtasche.
Das war der Punkt, an dem er zur Polizei gegangen war, aber nachdem er von ihrem Streit erzählt hatte, schienen die Polizisten zu denken, Fifi sei lediglich zu einer Freundin gegangen. Selbst als Dan erklärt hatte, dass sie weder Kleidung zum Wechseln noch ihren Kulturbeutel mitgenommen habe, hatten die Beamten nur abgewinkt.
Am Freitag war Dan dann die Chancery Lane hinauf zu Fifis Büro gegangen. Er hatte mit ihrem Chef, Mr. Unwin, gesprochen und mit jeder einzelnen Kollegin, aber niemand hatte irgendetwas gewusst.
Die einzige Person, mit der er bisher noch nicht hatte sprechen können, war Yvette. Und jetzt machte er sich auch um sie langsam Sorgen. Von Mr. und Mrs. Balstrode, die über ihr wohnten, wusste er, dass Yvette ihnen am Montagnachmittag ein Paket gebracht hatte, das sie für sie entgegengenommen hatte. Seither hatten sie die Französin weder gesehen noch gehört.
Er wollte noch einmal aufs Polizeirevier gehen, sobald er mit Fifis Eltern gesprochen hatte. Die Browns hatten versprochen, nach London zu kommen, falls es auch heute Morgen noch nichts Neues von ihr geben sollte. Trotz allem, was in der Vergangenheit zwischen ihnen gewesen war, wünschte Dan sich wirklich ihre Unterstützung; er hoffte, dass Mr. Brown vielleicht in der Lage sein würde, die Polizei zum Handeln zu bewegen.
Mit jedem Tag, der verging, wuchs Dans Furcht. Bis man John Boltons Leiche im Fluss gefunden hatte und Fifi verschwunden war, war er felsenfest davon überzeugt gewesen, dass Alfie Angela getötet hatte. Er hatte nicht verstehen können, warum die Polizei anständige, unbescholtene Männer wie Frank und Stan aufs Revier lud, die beide die Schwelle des Muckle-Hauses niemals überschritten hatten. Für ihn war alles vollkommen klar gewesen – es handelte sich um das grauenvolle Verbrechen eines Wahnsinnigen –, und die Polizei brauchte lediglich die anderen Kartenspieler zu finden und Einzelheiten zu klären wie die Frage, wann sie das Haus verlassen und ob sie irgendwelche Hinweise auf das Verbrechen bemerkt hatten.
Aber angesichts der jüngsten Ereignisse sah er jetzt all die Fragen, die Fifi aufgeworfen hatte, in einem anderen Licht, und er wünschte, er hätte sie ernst genommen. Obwohl er Alfie noch immer für den Mörder hielt, war ihm ganz klar, dass sich in Nummer elf noch irgendwelche anderen Verbrechen zugetragen haben mussten, Dinge, von denen John Bolton gewusst hatte. Wenn man Bolton getötet hatte, um ihn zum Schweigen zu bringen, glaubten seine Mörder vielleicht, dass auch Fifi etwas wusste.
Die Vorstellung, Fifi könne ebenfalls ermordet werden, war zu schrecklich, um sie auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie war seine Liebe, sein Leben, alles. Das hatte er am vergangenen Abend zu Mrs. Brown gesagt, dann war er weinend zusammengebrochen.
Jetzt wünschte er, er hätte es nicht getan; Fifis Mutter würde sein Benehmen wahrscheinlich als eine seiner vielen Schwächen ansehen. Aber Clara war überraschend verständnisvoll gewesen. »Haben Sie wenigstens ein bisschen geschlafen?«, hatte sie wissen wollen, und ihre Frage hatte so geklungen, als nähme sie wirklich Anteil an ihm.
Als könnte er schlafen, während seine Frau in Gefahr war!
Dan verließ die Telefonzelle und schlug seinen Mantelkragen hoch, weil der Wind so kalt war, dann machte er sich auf den Weg zur Hauptwache.
Mr. und Mrs. Brown wollten sofort von zu Hause aufbrechen und in einem Londoner Hotel absteigen, bis Fifi gefunden war. Patty hatte ebenfalls mitkommen wollen, aber ihre Eltern hatten sie gebeten, bei ihren Brüdern in Bristol zu bleiben. Vielleicht rief Fifi ja dort an.
Nach einiger Zeit wurde Dan endlich in ein Sprechzimmer geführt. Dort erwartete ihn Detective Inspector Roper, derselbe Beamte, der nach Angelas Ermordung Fifis Aussage aufgenommen hatte. Dan hatte eine Weile gebraucht, um den Dienst habenden Sergeant davon zu überzeugen, dass er mit Roper sprechen musste. Fifi hatte Roper nicht besonders gemocht, aber sie hatte einige längere Gespräche mit ihm geführt, und Dan wollte nicht noch mehr Zeit verschwenden, indem er mit Leuten sprach, die seine Frau nicht kannten.
Der Anzug des Detectives war noch immer so zerknittert wie an jenem Tag im August, und Dan fragte sich, wie so ein kleiner Mann eine Anstellung als Polizist hatte bekommen können. Er schätzte ihn auf nicht größer als einen Meter siebzig, und er hätte einen Friseur ebenso dringend gebraucht wie einen Zahnarzt. Sein Haar sah so aus wie nach einem Elektroschock, und seine Zähne waren braun verfärbt. Andererseits hatte er eine befehlsgewohnte Stimme und einen festen Händedruck, und er hatte sich bereitgefunden, mit Dan zu sprechen.
»Ich verstehe Ihre Sorge, Mr. Reynolds«, sagte Roper, nachdem Dan ihm erklärt hatte, dass er seit seinem letzten Gespräch mit der Polizei seine ganze Zeit auf den Versuch verwandt habe, Fifi zu finden, jedoch ohne Erfolg. »Aber Sie haben selbst gesagt, dass Sie sich gestritten haben und dass Sie weggegangen sind. Sie waren das ganze Wochenende über fort! Vielleicht will sie Ihnen lediglich etwas von Ihrer eigenen Medizin zu schmecken geben.«
»Bei jeder anderen Frau würde ich das für möglich halten, aber nicht bei Fifi«, erwiderte Dan. »Sie ist nicht der Typ, der Gleiches mit Gleichem vergelten will. Sie hat mir geschrieben und mich inständig gebeten zurückzukommen. Warum sollte sie das tun, wenn sie die Absicht gehabt hätte wegzulaufen?«
»Um Ihnen Angst zu machen?«, meinte Roper.
Dan schüttelte den Kopf. »So ist sie nicht. Sie ist am Dienstagmorgen zur Arbeit gegangen, ist dort jedoch nie aufgetaucht. Sie hat nichts mitgenommen. Kennen Sie eine Frau, die für ein paar Tage verschwindet, ohne auch nur ihre Zahnbürste einzupacken?«
»Vielleicht hat sie sich ja auf den Weg zur Arbeit gemacht und dann ihre Meinung geändert«, erwiderte Roper. »Sie könnte es sich plötzlich in den Kopf gesetzt haben, ein wenig Abstand zu brauchen, um alles zu überdenken.«
»Sie haben meine Frau kennen gelernt«, entgegnete Dan und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Sie müssen sich doch eine Meinung über sie gebildet haben!«
»Ja, sie ist eine sehr mitfühlende junge Frau. Intelligent und geradeheraus.«
»All das ist sie tatsächlich«, sagte Dan. »Außerdem ist sie neugierig und impulsiv. Aber vor allem ist sie ein Mensch, der andere Menschen braucht, und wenn sie Sorgen hat, redet sie gern. Sie würde ebenso wenig in irgendeine Pension gehen, wie sie zum Mond fliegen würde!«
Roper zuckte die Schultern. »Ich habe hier auf dem Revier mit Männern gesprochen, die dreißig Jahre oder länger verheiratet waren, und eines Tages sind ihre Frauen einfach ohne ein Wort auf und davon gegangen. Jeder Einzelne dieser Männer war davon überzeugt, seine Frau müsse entführt oder getötet worden sein. Aber es stellte sich fast immer heraus, dass sie bloß genug hatte oder dass sie einen anderen Mann gefunden hatte. Meiner Meinung nach sind Frauen einfach nicht so berechenbar wie wir Männer.«
»Fifi ist keineswegs berechenbar, doch sie ist zu anständig, um ohne ein Wort zu verschwinden«, gab Dan entrüstet zurück. »Und dann wäre da noch etwas! Die Französin aus Nummer zwölf, Yvette Dupré, ist ebenfalls verschwunden. Das könnte natürlich reiner Zufall sein, geradeso wie es ein Zufall gewesen sein mag, dass John Boltons Leiche vor einigen Tagen aus der Themse gezogen wurde, aber auch sie ist seit Montagabend nicht mehr gesehen worden.«
»Ist sie eine Freundin Ihrer Frau?«
»Ja, doch andererseits ist Fifi mit jedem befreundet.«
»Könnten die beiden zusammen weggegangen sein?«
»Yvette bleibt niemals über Nacht fort«, fuhr Dan auf. Es ärgerte ihn, dass Roper nicht einmal auf seine ironische Bemerkung über den Mord an John Bolton eingegangen war. »Fifi mag Yvette zwar recht gern, aber sie wäre kaum die Person, mit der sie einen kleinen Urlaub antreten würde. Die Frau ist eine Einsiedlerin; sie ist mürrisch und erheblich älter als Fifi.«
»War irgendjemand in der Wohnung der Französin, um die Sache zu überprüfen?«
»Nein. Zu diesem Zweck müsste man einbrechen. Aber für Sie wäre das kein Problem …«
»In Ordnung, ich werde jemanden rüberschicken. Da wäre noch etwas, das ich Sie fragen wollte, Mr. Reynolds. Der Mann, den Ihre Frau am vergangenen Freitag in der Nähe des Depots der Müllabfuhr gesehen hat – sind Sie ihm jemals begegnet?«
Dan wusste nicht, wovon Roper sprach, und sagte das auch.
Detective Inspector Roper schien überrascht zu sein, dann erzählte er Dan, dass Fifi am vergangenen Samstagmorgen auf dem Revier gewesen sei, um zu melden, was sie am Depot gesehen und gehört hatte. »Sie wollte gerade weggehen, als sie einen Mann in einem roten Jaguar entdeckte. Sie hatte ihn einige Wochen zuvor zusammen mit John Bolton in das Haus der Muckles gehen sehen.«
»Davon hat sie mir nichts erzählt«, erwiderte Dan verwirrt. »Aber andererseits dachte sie wahrscheinlich, ich würde wütend sein, weil sie wieder ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten gesteckt hat.«
Roper nickte. »Womit also der Beweis erbracht wäre, dass Sie Ihnen nicht alles erzählt«, bemerkte er trocken.
Dan ignorierte diesen kleinen Seitenhieb, denn ihm war plötzlich ein Gedanke gekommen. »Dieser Mann! Er könnte an der letzten Kartenpartie teilgenommen haben; er ist vielleicht einer derjenigen, die Sie noch nicht gefunden haben. Wenn er bemerkt hätte, dass Fifi ihn beobachtet, hätte er sie aus dem Weg haben wollen, nicht wahr? Und vielleicht kannte Yvette ihn ebenfalls, und das ist der Grund, warum beide Frauen verschwunden sind!«
»Einen Moment, Mr. Reynolds, ich denke, Sie schießen übers Ziel hinaus. Sobald Ihre Frau uns von diesem Mann erzählt hatte, sind wir der Sache nachgegangen. Wir haben ermittelt, dass die Beschreibung, die sie uns gegeben hat, auf keinen der Angestellten des Depots passt, und keiner der Männer dort konnte bestätigen, dass eine solche Person an diesem Tag dort war. Ihre Frau könnte sich geirrt haben, als sie dachte, er führe zum Depot.«
»Was ist mit dieser Frieda, die Stan angezeigt hat? Haben Sie ihre Geschichte überprüft?«, fragte Dan mit einem Anflug von Streitlust. Offenbar hatte Roper überhaupt nicht viel unternommen.
»Wir haben ermittelt, dass die Frau unzuverlässig ist«, antwortete Roper.
»Unzuverlässig!«, rief Dan. »Ich würde sagen, sie ist eine verdammte Lügnerin. Aber warum hat sie sich diese ganze Geschichte ausgedacht, wenn sie den Muckles damit nicht aus der Patsche helfen wollte? Irgendjemand muss sie zu ihrer Aussage angestiftet haben.«
Roper zuckte die Schultern. »Glauben Sie mir, wir haben die Frau gründlich überprüft. Wir wissen jetzt, dass ihre Anschuldigungen absolut aus der Luft gegriffen waren, aber bisher sieht es so aus, als hätte sie aus eigenem Antrieb gehandelt. Wir vermuten, es war lediglich ein hässlicher Racheakt gegen Mr. Stanislav, weil er sie zurückgewiesen hat. Aber Sie haben nicht auf meine Frage geantwortet, ob Sie den Mann gesehen haben, den Ihre Frau uns beschrieben hat.«
Dan schüttelte den Kopf. »Fifi ist diejenige, die aus dem Fenster schaut, nicht ich.« Er hielt inne, als ihm ein neuer Gedanke kam. »Nachdem Fifi bei Ihnen war, haben Sie da John Bolton nach diesem Mann gefragt?«
»Als wir am Samstagnachmittag bei ihm waren, war er nicht zu Hause. Traurigerweise konnten wir nicht mehr mit ihm sprechen, bevor seine Leiche gefunden wurde.«
Für Dan war das die Bestätigung, die er gesucht hatte. »Dann ist er also doch getötet worden, weil er die Identität des Mannes kannte!«, rief er erregt.
»Beruhigen Sie sich, Mr. Reynolds«, sagte Roper tadelnd. »Es gibt keine Beweise, die eine solche Theorie stützen würden. Wie Sie sicher wissen, verkehrte Bolton mit dutzenden zwielichtiger Gestalten, und wir sind derzeit damit beschäftigt, sie alle unter die Lupe zu nehmen. Gehen Sie jetzt nach Hause, wir werden später jemanden vorbeischicken, der überprüft, ob Miss Dupré tatsächlich verschwunden ist.«
Ropers abschätziger Tonfall gefiel Dan nicht. »Ich möchte, dass Sie eine Untersuchung einleiten, um Fifi zu finden«, erklärte er mit Nachdruck. »Und versuchen Sie nicht, mich zu beruhigen. Meine Frau kommt hierher und erzählt Ihnen, dass sie einen Mann erkannt hat, der in Nummer elf war, und plötzlich wird sein Freund tot aufgefunden, meine Frau verschwindet und eine weitere Nachbarin ebenfalls. Wenn das nicht genug ist, um mich in Unruhe zu versetzen, weiß ich nicht, was es dazu brauchen sollte.«
Roper vermittelte immer noch den Eindruck, als fände er, dass Dan überreagierte.
»Sie müssen in der Sache ermitteln«, befahl Dan und stützte sich mit beiden Fäusten auf Ropers Schreibtisch. »Sie können es nicht einfach dabei bewenden lassen. Ich weiß ganz genau, dass sie nicht irgendwo sitzt und mir einfach nur Angst einjagen will. Irgendjemand hält sie fest.« Er brach ab, als seine Gefühle ihn übermannten, seine Stimme zu zittern begann und seine Augen sich mit Tränen füllten. »Bitte, finden Sie sie«, flehte er. »Bevor man sie tötet. Ihre Eltern sind auf dem Weg nach London, erlauben Sie mir wenigstens, ihnen mitzuteilen, dass Sie alle Hebel in Bewegung setzen, um ihre Tochter zu finden.«
Jetzt wurde Ropers Miene weicher. Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und legte Dan eine Hand auf die Schulter. »In Ordnung, wir leiten die Ermittlungen ein. Wir werden Sie später aufsuchen, um uns ein Foto von Ihrer Frau zu holen. Haben Sie eine Aufnahme, die in jüngerer Zeit entstanden ist?«
»Ich habe ein Foto von unserer Hochzeit«, erwiderte Dan mit bebender Stimme, bevor er sich mit dem Handrücken über die Augen wischte.
Während Dan auf dem Polizeirevier war, befand sich Martin in einem kleinen Hotel in Nottigham, wo er soeben erwachte. Del lag noch immer tief schlafend in der anderen Hälfte des Doppelbetts. Sie waren erst um kurz vor drei Uhr am Morgen angekommen, und da der Mann, um den sie sich kümmern sollten, in der vergangenen Nacht nicht aufgetaucht war, würden sie dort bleiben müssen, bis er auf der Bildfläche erschien.
Martin hatte weder eine Zahnbürste noch einen Rasierapparat oder ein sauberes Hemd bei sich, aber diese Dinge konnte er kaufen. Was ihm wirklich Sorgen bereitete, war Fifi. Ein ungutes Gefühl im Magen sagte ihm, dass der Boss sich keine Mühe machen würde, irgendjemand anderen zu den Frauen zu schicken, der ihnen Wasser brachte oder etwas zu essen.
Als Martin vor sechs Jahren angefangen hatte, für Trueman Enterprises zu arbeiten, war es fast ausschließlich um das Eintreiben von Schulden gegangen. Da die meisten Leute, die sie bearbeiten mussten, Fußabtreter und Kriecher waren, hatte er niemals Gewissensbisse verspürt. Aber während der letzten sechs Monate hatte er mehrere Aufträge bekommen, bei denen er sich unbehaglich gefühlt hatte. Man hatte ihn und Del nach Dalston geschickt, wo sie ein Lagerhaus anzünden sollten, und der Nachtwächter, den Del bewusstlos geschlagen hatte, war im Krankenhaus gelandet und würde nie wieder arbeiten können. Dann waren da noch die Jamaikaner in einem Haus in Westbourne Grove gewesen, das sie hatten räumen müssen. Die armen Teufel waren einfach mitsamt ihren Babys und kleinen Kindern auf die Straße gesetzt worden. Das war eine üble Gaunerei gewesen; sie alle hatten nämlich »Schlüsselgeld« zahlen müssen, um diese Unterkunft zu bekommen, und sie hatten geglaubt, dort auf Jahre in Sicherheit zu sein. Gott allein mochte wissen, wo sie geendet waren – sie hatten kein Geld, und die meisten Vermieter in diesem Viertel waren genauso skrupellos wie Trueman.
Martin verschränkte die Hände hinterm Kopf, blickte zu den Rissen in der Decke auf und fragte sich, wie er es bewerkstelligen konnte, dass man Fifi fand, ohne sich selbst in die Sache hineinzureiten. Aber das war unmöglich. Trueman war clever, und er ließ sich nicht in die Karten schauen. Del und er, Martin, waren wahrscheinlich die Einzigen, die von dem Schuppen wussten, und wenn die Polizei ihn nach einem anonymen Anruf durchsuchte, würde Trueman schnell begreifen, wer die Beamten auf diese Fährte gebracht hatte. Und dann war er ein toter Mann.
Während er dort lag und sich mit Schuldgefühlen quälte, musste Martin an die Gebete denken, die seine Gran ihn als Junge abends hatte sprechen lassen. Er fragte sich, ob es als richtiges Gebet gelten würde, wenn er Gott bat, jemanden zu dieser Scheune zu schicken, der die Frauen hörte.
»Wenn dir das unmöglich ist, Gott«, murmelte er, »gib mir eine andere kluge Idee ein, die nicht dazu führt, dass ich anschließend tot aus dem Fluss gezogen werde.«
Clara und Harry Brown tranken den Tee, den Dan ihnen gekocht hatte, und hörten sich seinen Bericht über die jüngsten Entwicklungen an. Sie waren beide angespannt, und in ihren Augen stand tiefe Furcht.
»Nach meinem Gespräch mit Roper ist die Polizei sofort hergekommen und in Yvettes Wohnung gegangen«, sagte Dan. »Anschließend waren sie bei mir, um mir mitzuteilen, dass sie das Verschwinden der Frau ebenfalls verdächtig finden. Sie hat Brot und Milch auf dem Tisch stehen lassen, und sie muss gerade dabei gewesen sein, das Geschirr vom Abendessen zu spülen, als sie das Haus verlassen hat. Es hat sich herausgestellt, dass Frank sie am Montagabend mit einem Mann gesehen hat, aber in der Wohnung finden sich keine Spuren eines Kampfes, was bedeutet, dass der Mann ihr wahrscheinlich einen plausiblen Grund geliefert hat, sie zu begleiten. Frank dachte, der Mann hätte sie draußen auf der Straße umarmt, doch im Lichte ihres Verschwindens glaubt er jetzt, er könnte sich geirrt haben. Vielleicht hat der Mann sie in Wirklichkeit festgehalten.«
»Ich kann es einfach nicht ertragen«, brach es aus Clara hervor. »Mir ist ganz schlecht vor Angst.«
Dan nickte mit grimmiger Miene. »Mir auch. Und ich mache mir ständig Vorwürfe. Wenn ich doch nur hier gewesen wäre!«
Harry räusperte sich. »Wenn Fifi entführt wurde, wäre es in jedem Fall geschehen, ob Sie hier gewesen wären oder nicht«, sagte er gelassen. »Sie ist ganz normal zur Arbeit aufgebrochen, ist dort jedoch nicht angekommen. Ich vermute daher, dass sie irgendwo zwischen der Dale Street und der U-Bahn-Station entführt wurde. Die Leute haben ihr wahrscheinlich aufgelauert, vielleicht irgendwo auf der Hauptstraße. Außerdem vermute ich, dass sie sie mit irgendeiner geschickt zurechtgelegten Geschichte in den Wagen gelockt haben.«
Es rührte Dan, dass Harry nicht versuchte, ihm die Schuld zuzuweisen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er geglaubt, Fifis Vater sei ein wenig trottelig, aber das war ein Irrtum gewesen. Der Mann hatte einen scharfen, logischen Verstand.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Fifi freiwillig zu jemandem in den Wagen steigt, den sie nicht kennt«, wandte Dan ein.
»Nicht einmal dann, wenn dieser behaupten würde, Sie hätten ihn geschickt?«, fragte Harry.
»In dem Fall würde sie es vielleicht tun«, stimmte Dan ihm widerstrebend zu. »Aber der Betreffende hätte mich kennen müssen, um die Geschichte glaubwürdig klingen zu lassen.«
»Wirklich? Wenn die Täter gekleidet waren wie Bauarbeiter und Ihren Namen genannt haben, vielleicht sogar die Baustelle, auf der Sie arbeiten, hätte Fifi das wahrscheinlich ausgereicht.« Harry rieb sich das Gesicht. »Wir wissen doch alle, wie impulsiv sie ist.«
Clara begann lautlos zu weinen, und die Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Es tut mir so leid, Mrs. Brown«, sagte Dan, ging dann spontan zu ihr hinüber, ließ sich vor ihr auf die Knie sinken und griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, dass Sie nicht viel von mir halten, und die Tatsache, dass etwas Derartiges überhaupt geschehen konnte, muss Ihre schlimmsten Befürchtungen, was mich betrifft, noch bestätigt haben.«
Sie schob seine Hand nicht beiseite. »Ich mache Ihnen keine Vorwürfe«, erwiderte sie mit einem Seufzen. »Fifi neigte schon immer dazu, ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, die sie nichts angingen. Ich habe ihr hundert Mal oder öfter gesagt, dass ihre Neugier sie eines Tages in Schwierigkeiten bringen würde.«
Einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann räusperte Harry sich abermals. »Sie hatte erst seit einem Tag wieder gearbeitet«, bemerkte er nachdenklich. »Wer immer sie entführt hat, hatte also keine Zeit, sie erst lange zu beobachten und ihren gewohnten Tagesablauf in Erfahrung zu bringen. Niemand würde endlos warten, nur weil er hoffte, sie würde irgendwann die Straße hinunterkommen, nicht wahr?«
Dan erhob sich und kehrte zu seinem Stuhl zurück. »Dann war es vielleicht jemand von hier, jemand, der sie schon kannte, bevor sie wegen ihres gebrochenen Arms nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Der Betreffende muss ebenfalls gewusst haben, wo ich arbeite.« Er sah seinen Schwiegervater verzweifelt an. »Aber es gibt dutzende von Menschen, die all das wissen. Fifi hat so ziemlich mit jedem hier geredet. Und sie ist die Art Mädchen, die gleich auffällt.«
»Hat sie irgendjemandem von Ihrem Streit erzählt?«, erkundigte sich Harry.
»Es sieht nicht so aus«, antwortete Dan. »Sie hat nicht einmal mit Frank aus der Wohnung unter uns gesprochen, und keins der Mädchen in ihrem Büro wusste Bescheid.«
»Haben Sie irgendjemandem davon erzählt?«, hakte Harry nach.
»Nun, ich habe nicht direkt davon gesprochen, aber die meisten Männer auf der Baustelle wussten, dass ich das Wochenende bei Pete verbracht hatte. Einige von ihnen haben sich am Montag über mich lustig gemacht, weil ich so schlecht drauf war. Aber warum fragen Sie das? Diese Angelegenheit kann doch nichts mit unserem Streit zu tun haben.«
»Hm«, murmelte Harry und hielt dann wieder inne. »Wenn jemand wusste, dass Sie und Fifi nicht noch vor einer Stunde zusammen waren, wäre es viel leichter gewesen, sie zum Mitfahren zu bewegen. Ich meine, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit wäre und jemand würde mir erzählen, Clara sei krank oder habe einen Unfall gehabt, würde ich sagen: ›Moment mal, es war doch noch alles in Ordnung mit ihr, als ich weggegangen bin.‹ Verstehen Sie, was ich meine?«
Dan nickte. »Dann hätte der Betreffende tatsächlich um beide Dinge wissen müssen. Dass wir uns gestritten hatten und dass Fifi wieder zur Arbeit ging?«
»Ich denke, ja. Haben Sie irgendjemandem auf der Baustelle davon erzählt?«
»Ja«, erwiderte Dan. »Am Montag in der Mittagspause im Bauwagen. Ich hatte keine Sandwiches dabei, und Owen, der Zimmermann, meinte, ich solle doch schnell nach Hause fahren, mich mit Fifi versöhnen und mir bei der Gelegenheit auch etwas zu essen schnappen.«
»Und Sie haben erwähnt, dass sie wieder zur Arbeit geht?«, fragte Harry.
Dan nickte.
»Wie viele Männer haben das mitbekommen?«
»Owen, Pete, Roger und Chas.« Dan zählte die Männer an den Fingern ab, dann dachte er mit gerunzelter Stirn darüber nach, wer noch dabei gewesen war. »Oh, und Ozzie, fünf Männer insgesamt.«
»Warum geben Sie der Polizei nicht diese fünf Namen und lassen sie überprüfen, ob einer von ihnen vorbestraft ist?«
Dan sah ihn entsetzt an. »Das kann ich nicht tun! Außerdem kann es keiner von ihnen gewesen sein, sie waren am Dienstagmorgen alle auf der Baustelle.«
»Ja, aber sie könnten die Information an jemand anderen weitergegeben haben«, wandte Harry ein.
»Sei nicht dumm, Harry«, mischte sich Clara ein. »Warum um alles in der Welt sollte einer von Dans Arbeitskollegen Informationen über Fifi weitergeben?«
»Nun, unter normalen Umständen würde das niemand tun, aber wenn einer der Männer mit dem Mörder Boltons in Verbindung steht, könnte er auf diese Idee gekommen sein.« Harry stand von seinem Stuhl auf und trat ans Fenster. Für eine Weile blickte er gedankenverloren hinaus, dann drehte er sich wieder zu Dan um. »Ich weiß, es ist ein Schuss ins Blaue, aber ich denke trotzdem, dass wir mit der Polizei darüber sprechen sollten. Wir werden jetzt gleich hinfahren, und ich werde bei dieser Gelegenheit darauf bestehen, dass sie eine Pressemeldung über Fifis und Yvettes Verschwinden herausgeben.«
Clara blickte angstvoll zu ihrem Mann auf. »Werden wir die Situation für Fifi damit nicht noch gefährlicher machen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ein Bild von Fifi in der Zeitung könnte vielleicht irgendjemandes Gedächtnis auf die Sprünge helfen«, sagte Harry energisch. »Ohne ein wenig Hilfe werden wir lediglich nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen suchen.«
Nora Diamond hörte Dan und seine Schwiegereltern die Treppe hinuntergehen und trat ans Fenster, um zu beobachten, wie sie das Haus verließen. Sie wünschte, sie wäre heute zur Arbeit gegangen. Nora wusste nur allzu gut, dass der Grund für ihr Unwohlsein lediglich Schuldgefühle waren, und die wurden zu Hause nur noch schlimmer. Vor allem, nachdem sie Dans Besucher kommen gehört hatte.
Sie vermutete jedenfalls, dass es seine Schwiegereltern waren, das hatte ihr die Art, wie sie sprachen, verraten. Sie mussten außer sich vor Sorge um Fifi sein, wenn sie hier erschienen.
Als Dan am Mittwochabend zu ihr heruntergekommen war und gefragt hatte, wann sie Fifi das letzte Mal gesehen oder mit ihr gesprochen habe, war sie ein wenig abweisend gewesen. Aber andererseits hatte sie zu der Zeit einfach angenommen, Fifi sei zu einer Freundin gefahren, weil Dan sie verlassen hatte. Am vergangenen Abend hatte sie jedoch gehört, wie er Frank von all den Orten erzählt hatte, an denen er nach ihr gesucht hatte, und plötzlich hatte sie gespürt, dass das Mädchen wirklich in Gefahr war.
Dan und seine Schwiegereltern gingen jetzt die Dale Street hinauf, und die starke Ähnlichkeit zwischen Fifi und ihrer Mutter war bemerkenswert. Es waren nicht nur das blonde Haar, die Größe und die schlanke Gestalt, sie hatten auch beide den gleichen anmutigen Gang. Als sie die Straße überquerten, griff die Frau nach der Hand ihres Mannes, und etwas an dieser Geste trieb Nora die Tränen in die Augen.
»Hör auf, an dich selbst zu denken, und erzähl der Polizei von Jack Trueman«, sagte sie sich.
Doch eine andere Stimme in ihr riet ihr davon ab. Sie konnte es sich nicht leisten, das Risiko einzugehen, dass ihre Vergangenheit ans Tageslicht kam, außerdem hatte das Ganze vielleicht ohnehin nichts mit Trueman zu tun.
»Sprich mit mir, Yvette«, flüsterte Fifi in der Dunkelheit. Sie fror so sehr und litt so heftig unter Hunger und Durst, dass sie sich nicht einmal mehr sicher war, ob es Sonntagabend oder Montag war, und Yvette hatte seit Stunden nicht mehr geredet oder sich auch nur bewegt.
»Was gibt es noch zu bereden, Fifi?«, antwortete Yvette, und ihre tonlose Stimme spiegelte ihre abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit wider. »Abgese’en vielleicht von der Frage, wie lange wir noch warten wollen, bevor wir es tun.«
»Uns bleibt ein Ausweg: Wir können uns er’ängen.«
Fifi war über Yvettes Vorschlag entsetzt gewesen. Obwohl sie durchaus einsah, dass ein schneller Tod weit besser war als ein langsames Verhungern oder Verdursten, hatte sie noch immer ein wenig Hoffnung, es würde nicht so weit kommen. Außerdem bereitete es ihr Sorgen, dass Yvette angeboten hatte, ihr dabei zu helfen. Sie verstand zwar, dass die andere Frau es gut meinte und es ihr ersparen wollte, ihren Tod mit anzusehen, aber es klang trotzdem so makaber.
»Das werde ich niemals tun können«, erwiderte Fifi nun resolut. »Irgendjemand wird uns inzwischen als vermisst gemeldet haben. Vielleicht hat man bereits unsere Fotos in den Zeitungen abgedruckt, und es wäre immerhin möglich, dass jemand den Wagen gesehen hat, als er hierher gefahren ist.«
»Wie lautet doch noch gleich dieser Spruch, den ihr Engländer so liebt? ›Und Schweine können fliegen!‹«, sagte Yvette verächtlich. »Sie ’aben mir erzählt, dass dieser Ort sehr versteckt liegt und dass Sie niemanden in der Nähe gese’en ’aben!«
»Ich weiß, doch es gibt immer noch Hoffnung.«
»Ich ’abe keine ’offnung. Weißt du, was es bedeutet zu ver’ungern? Wir werden bald zu schwach sein, um an den Gitterstäben hinaufzuklettern, und wir werden ’ier liegen und sie betrachten und wünschen, wir ’ätten es getan, solange wir noch die Kraft dazu ’atten.«
Fifi fühlte sich jetzt schon zu schwach, um an den Gitterstäben hinaufzuklettern, aber ganze vierundzwanzig Stunden, nachdem Yvette es zum ersten Mal vorgeschlagen hatte und sie noch mehr an Kälte, Hunger und Angst litt, weigerte sie sich immer noch, diese Idee in Erwägung zu ziehen. Doch andererseits klammerte sie sich nach wie vor an den absurden Glauben, dass Dan sie finden würde.
Es war eigenartig. Wenn sie jetzt an Dan und ihre Familie dachte, fielen ihr nur ihre liebenswertesten und schönsten Eigenschaften ein. Sie sah Dan mit seiner Lohntüte nach Hause kommen und ihr das Geld überreichen. Solange ihm noch genug für Zigaretten und einen gelegentlichen Imbiss bei der Arbeit blieb, hatte er nie danach gefragt, was aus dem Rest seines Lohns wurde. Sie dachte daran, wie er sich nachts immer an sie schmiegte, und an sein Lächeln, sobald er morgens die Augen aufschlug. Er war nicht mürrisch, er beklagte sich nie, und er war auch nicht neidisch auf andere Menschen. Er war ein wahrhaft glücklicher Mann.
Sie erinnerte sich auch daran, wie einfühlsam ihr Vater war. Er hatte stets die beste Krankenschwester abgegeben, wenn eins der Kinder krank gewesen war; er stieß sofort zum Kern eines Problems vor und wusste, wie man es lösen konnte. Er war der Ruhepol in der Familie, der nicht schrie oder Hektik verbreitete, und er geriet nur selten wegen irgendetwas in Rage. Er hatte endlose Geduld, und er war niemals voreingenommen.
Robin war weit herzlicher als Peter, doch Peter wiederum war verlässlicher. Sie waren beide so anspruchslos und akzeptierten klaglos, wozu sich die Mehrheit der Familie entschieden hatte.
Und die liebe Patty! Fifi hätte alles dafür gegeben, ihrer Schwester sagen zu können, wie sehr sie sie liebte. All die Nächte, in denen sie kichernd im Bett gelegen hatten, und die vielen Male, da Patty sie gedeckt hatte, selbst als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Sie war die geborene Diplomatin, die bereitwillig akzeptierte, dass nicht jeder so unkompliziert und sanftmütig war wie sie selbst.
Aber es war vor allem ein Mitglied ihrer Familie, über das Fifi ihre Meinung geändert hatte: ihre Mutter. Je schwächer und hungriger sie wurde, desto deutlicher erinnerte sie sich an Claras gute Seiten. Außerdem dachte sie auch an all die Dinge, die sie selbst angestellt hatte – oft mit Vorsatz –, um ihre Mutter zu ärgern.
Wann hatte sie jemals eine ihrer Bitten erfüllt? Selbst gegen die Regel, beim Nachhausekommen ihre Schuhe in den Schrank im Flur zu stellen, hatte sie verstoßen. Was für ein Durcheinander hätte es gegeben, wenn sie alle sechs ihre Schuhe im Flur hätten stehen lassen? Wenn ihre Mutter Hühnchen kochte, wollte Fifi Schwein oder Lamm; sie erschien zu spät zu den Mahlzeiten, säuberte nach dem Baden nie die Wanne, und wenn sie gebeten wurde, sorgfältig gebügelte Kleider wegzuräumen, warf sie sie einfach nur auf den Stuhl im Schlafzimmer.
Einige dieser Dinge hatte sie begriffen, nachdem sie mit Dan zusammengezogen war, aber erst jetzt wurde ihr klar, dass sie ihre Mutter wie eine Haushälterin behandelt hatte. Sie hatte sich nie danach erkundigt, wie es ihr ging oder was sie tagsüber erlebt hatte. Sie bedankte sich nicht einmal dafür, dass sie ihre Kleider bügelte und flickte. Sie bot ihr nie ihre Hilfe im Haushalt an.
Ja, sie musste die Geduld ihrer Mutter auf eine harte Probe gestellt haben, das wurde Fifi rückblickend bewusst. Als Mädchen war sie nie zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen. Sie hatte sich ihrer Mutter niemals anvertraut, hatte nie vorgeschlagen, zusammen mit ihr ins Kino oder ins Theater zu gehen. Und Fifi war diejenige, die die meisten Streitigkeiten begann, weil sie in einem bloßen Vorschlag gleich einen Befehl oder eine Kritik sah.
Es war ihr nicht möglich, Clara ihr Verhalten Dan gegenüber ganz und gar zu verzeihen, aber Fifi verstand jetzt, dass sie ihrer Mutter all diese üblen Fantasien in den Kopf gesetzt hatte, indem sie anfangs ein solches Geheimnis aus ihrer Beziehung gemacht hatte. Wahrscheinlich hatte Clara Angst gehabt, Fifi könnte schwanger werden, und es wäre ihr ein Leichtes gewesen, ihrer Mutter diese Angst zu nehmen und ihr zu versichern, bis zur Hochzeit warten zu wollen. Aber sie hatte niemals wirklich versucht, mit ihrer Mutter zu reden; eine einzige scharfe Bemerkung, und sie war explodiert. Wenn sie sich nur der Unterstützung ihres Vaters versichert hätte, hätte er die Wogen vielleicht ein wenig glätten können.
Am Vortag hatte Fifi all diese Gedanken in das Notizbuch geschrieben, das sie in ihrer Handtasche aufbewahrte. Sie hatte auch dargelegt, wann und wie sie hierhergekommen war, und eine Beschreibung von Martin und Del hinzugefügt. Wenn sie hier sterben sollte, würde irgendjemand vielleicht eines Tages das Notizbuch finden, und sie hoffte, dass ihre Eintragungen zumindest zeigen würden, wie teuer ihre Familie und Dan ihr gewesen waren.
Aber sie war nicht bereit, so einfach zu sterben, ebenso wenig wie sie zulassen würde, dass Yvette aufgab.
»Es ist eine Sünde, sich das Leben zu nehmen«, sagte sie energisch. »Und es ist feige. Wenn du all diese schrecklichen Dinge während des Krieges überleben konntest, kannst du auch dies hier überleben.«
»Du verstehst nicht«, jammerte Yvette. »Ich ’abe nichts, wofür es sich zu leben lohnte. In meinem Leben gibt es nichts als Kummer und Schmerz.«
»Aber so muss es nicht sein«, beharrte Fifi. »Du könntest dir wieder eine Stellung in einem Modehaus suchen, jedes dieser Häuser würde eine so talentierte Schneiderin mit offenen Armen willkommen heißen. Du wärst glücklicher, wenn du wieder Menschen um dich herum hättest, und du könntest dir eine hübschere Wohnung suchen. Du bist noch jung.«
»Nein!« Yvette unterbrach sie. »Wag es nicht zu sagen, ich könnte einen Mann kennen lernen und mich verlieben. Das könnte niemals gesche’en.«
Fifi hatte überhaupt nicht die Absicht gehabt, dies vorzuschlagen. Eigentlich hatte sie Yvette raten wollen, sich eine andere Frisur zuzulegen, sich einige modische Kleider zu nähen und mehr auszugehen.
»Das Leben ist kostbar«, erklärte sie stattdessen. »Wenn wir hier herauskommen, wirst du es begreifen.«
Yvette seufzte tief, und Fifi dachte, sie versuche, wieder einzuschlafen. Aber plötzlich richtete die Französin sich auf, und die Decke rutschte von der Matratze.
»Was ist los?«, fragte Fifi in der Annahme, Yvette habe vielleicht ein Geräusch von draußen gehört.
»Es hat keinen Sinn, ich denke, ich muss es dir sagen«, erwiderte Yvette.
»Was?« Fifi zog die Decke wieder hoch.
»Dass ich Angela getötet habe.«