Kapitel 4
Fifi ging langsam die Treppe der Dale Street Nummer vier hinauf und betrachtete voller böser Vorahnungen die grässliche, orangebraune Farbe der Türen und die Tapete, die so alt war, dass man unmöglich ein Muster erkennen konnte. Dan lief vor ihr her und listete begeistert die Vorzüge von Kennington auf. Diese schienen im Wesentlichen darin zu bestehen, dass das Viertel so zentral lag, nur wenige U-Bahn-Haltestellen vom West End entfernt.
Die vielen imposanten, großen Häuser auf der Hauptstraße hatten Fifi gezeigt, dass dies früher einmal eine sehr gute Wohngegend gewesen sein musste. Aber es schien geradeso wie in St. Paul’s in Bristol zu sein: St. Paul’s war eine gute Adresse gewesen – bis die Mittelschicht es nach und nach verlassen hatte. Die großen Häuser waren nun heruntergekommen und die Vorgärten voller Müll, und nach der Anzahl von Leuten zu schließen, die auf der Treppe herumlungerten, mussten die Häuser in winzige Wohnungen und möblierte Zimmer aufgeteilt worden sein.
In anderen Stadtvierteln hatte Fifi klaffende Lücken wahrgenommen, wo während des Krieges Häuser Bombentreffer abbekommen hatten, doch statt neue Gebäude zu errichten, hatten diese Bereiche sich in Müllhalden für alte Möbel und Matratzen verwandelt. Außerdem gab es dort zwar viele Geschäfte, aber sie wirkten alle schmutzig und heruntergewirtschaftet. Ihrer Meinung nach hätte der Stadtrat ebenso gut ein Schild mit der Aufschrift Hier leben nur die Armen aufstellen lassen können, denn es gab keine halbwegs anständigen Läden, nur eine niederschmetternd große Anzahl von Fischbuden, Pubs und Secondhandläden.
Aber selbst wenn einige Straßen von Kennington offenkundig eine elegantere Vergangenheit gehabt hatten, ließ sich dieses von der Dale Street nicht behaupten. Sie sah aus, als wäre sie in viktorianischen Zeiten entworfen worden, um dort möglichst viele Menschen auf kleinstem Raum unterzubringen. Die Häuser hatten nicht einmal Vorgärten.
»Da wären wir!«, sagte Dan unnötigerweise, als er die letzte Treppenflucht erreichte. »Ich glaube, die anderen Mieter sind mäuschenstill, denn ich habe von keinem bisher auch nur einen einzigen Laut gehört.«
Fifi hatte auf den abgetretenen Sisalläufer auf der Treppe hinabgeblickt und sich gefragt, wie lange er dort schon liegen mochte. Das Haus war sauber, zumindest insofern, als nirgendwo Staub oder Müll zu sehen war, und es war, wie Dan gesagt hatte, sehr still, doch in ihren Augen war es kaum mehr als eine Absteige.
Bei seinen Worten schaute sie auf und entdeckte im Hausflur auf dem Absatz über der obersten Treppe einen altertümlichen Herd und eine gleichermaßen alte Spüle mit einem kleinen Durchlauferhitzer darüber. Dies war offenbar ihre neue Küche.
»Ich kann einen Schrank für all unsere Töpfe und Pfannen an die Wand stellen«, meinte Dan glücklich. »Und vielleicht könnte ich auch einen Klapptisch als Arbeitsfläche anbringen. Dann brauchten wir nur noch einen Handtuchhalter und ein kleines Regal für unsere Waschutensilien.«
Fifi ging die letzten Stufen hinauf und fasste ihn am Arm. »Ich werde mich nicht in einer Küchenspüle waschen«, rief sie entrüstet.
»Außer uns wird niemand hier heraufkommen, und ich könnte dir von hier bis dort einen Wandschirm aufstellen«, erwiderte er und legte eine Hand auf das Treppengeländer und die andere auf die Wand. »Dann wären wir hier vollkommen ungestört.«
»Und es wäre immer noch eine Küchenspüle. Die ist für schmutziges Geschirr gedacht und um Kohl zu putzen«, gab sie zurück. »Es tut mir leid, Dan, aber hier kann ich unmöglich leben.«
Ein niedergeschmetterter Ausdruck trat in Dans Züge. »Ich weiß, es ist nicht das, was du gewohnt bist, Felicity, doch es war das Beste, was ich finden konnte.«
Er benutzte ihren richtigen Namen nur dann, wenn er fand, dass sie sich wie ein Snob gebärdete, und meistens hatte seine Stimme dann einen neckenden Unterton. Aber diesmal klang echter Tadel aus ihr.
»Oh, ich bitte dich, Dan«, schmeichelte sie. »Ich weiß, es ist billig, und ich weiß auch, dass Wohnungen in London wie Goldstaub sind, aber sieh dich doch um! Du kannst wirklich nicht von mir erwarten, dass ich in solchem Schmutz lebe.«
Sie wollte sich die beiden Zimmer nicht einmal anschauen. Was sie bereits gesehen hatte, war mehr als genug, um in ihr den Wunsch zu wecken, aus dem Haus zu rennen.
»Bitte, versuch doch einfach, sie mit Zauberaugen zu betrachten«, flehte Dan und streckte die Hand aus, um ihr über die Wange zu streichen, wie er es immer tat, wenn er sie zu etwas zu überreden versuchte.
Fifis Laune sank noch tiefer, denn sie wusste jetzt, was solche Bemerkungen zu bedeuten hatten: Wenn etwas Dans Zauberaugen benötigte, konnte man davon ausgehen, dass die meisten Leute es rundheraus ablehnen würden.
»Ich versuche es ja«, murmelte sie erschöpft. Da die Wohnung im obersten Stockwerk lag, würde außer ihnen wahrscheinlich wirklich niemand dort hinaufgehen. »Aber wage es ja nicht, mir zu erzählen, dass wir eine Messingwanne kaufen müssen und dass sich die Toilette draußen befindet.«
»Natürlich haben wir ein Badezimmer«, erwiderte Dan mit jungenhaftem Grinsen. »Würde ich Prinzessin Felicity denn zumuten, auf so etwas zu verzichten? Das Bad ist unten, und ich habe nur deshalb vorgeschlagen, dass wir uns hier oben waschen könnten, weil wir es uns mit den anderen Mietern teilen müssen.«
»Nun, ich hoffe nur, dass es nicht dutzende von ihnen gibt«, seufzte Fifi, denn sie hatte auf dem Weg durch das dreistöckige Haus mindestens sechs Türen gesehen.
Dan war während der letzten Februarwoche nach London aufgebrochen, um die Arbeit in einem großen Neubaugebiet in Stockwell aufzunehmen. Das Wetter hatte sich seither nicht gebessert; das ganze Land befand sich noch immer im Würgegriff von Eis und Schnee, aber anscheinend erkannte der Vorarbeiter einen guten Maurer, wenn er einen vor sich hatte. Er hatte Dan andere Arbeiten in den fast fertig gestellten Häusern zugewiesen, weil er ihn nicht verlieren wollte. Der Vorarbeiter hatte ihm sogar ein Zimmer in der Nähe der Baustelle vermittelt und seine Zugfahrkarten bezahlt, damit er am Wochenende nach Hause fahren konnte.
Zuerst hatte es Fifi nichts ausgemacht, während der Woche allein zu sein. An einem Abend hatte sie sich mit Patty getroffen, an einem anderen war sie mit den Mädchen aus der Kanzlei ins Kino gegangen, und die restliche Zeit hatte sie damit verbracht, zu lesen, Essen für das Wochenende zu kochen und Hausarbeiten zu erledigen. Sie fand die Aussicht, nach London zu ziehen, so aufregend, dass sie sich immer wieder all die Dinge ausmalte, die sie dort erwarteten, und an jedem Wochenende rechnete sie damit, dass Dan eine Wohnung für sie gefunden hatte.
Aber als eine Woche um die andere verstrich und Dan noch immer keine Wohnung in Aussicht hatte, befürchtete sie langsam, für immer getrennt von ihm leben zu müssen. Es war nicht so, als hätte Dan sich keine Mühe gegeben. Er kaufte jeden Tag den Evening Standard und sah sich noch am selben Tag alle Wohnungen an, die ihren finanziellen Möglichkeiten entsprachen. Aber allzu oft war die Wohnung bereits vergeben, bevor er dort ankam, und die Vermieter der übrigen wollten entweder keine Ehepaare nehmen oder waren so schrecklich, dass Dan sie nicht in Erwägung zog.
Außerdem hatte er sich bei ungezählten Makleragenturen eingetragen, gewann aber bald den Eindruck, dass viele Vermieter Vorurteile gegen einfache Handwerker vom Bau hatten. Vielleicht glaubten sie auch nicht wirklich, dass er verheiratet war, und dachten, er würde ständig wechselnde Frauen mit nach Hause bringen. Im Laufe der Wochen litt er immer mehr an seinem Unvermögen, ein Zuhause für sie zu finden.
Jetzt war es Anfang Mai. Der Frühling war endlich mit dem lang ersehnten Sonnenschein ins Land gezogen, und als Dan sie früher in der Woche angerufen und voller Jubel erklärt hatte, endlich eine Wohnung gefunden zu haben und am Wochenende einen Umzugswagen leihen zu können, um sie und ihre Habe nachzuholen, war Fifi überglücklich. Sie sprach gleich am nächsten Tag mit ihrem Vermieter und mit ihrem Chef in der Kanzlei, und während der Vermieter noch auf eine Wochenmiete bestand, weil sie die Kündigungsfrist nicht eingehalten hatte, war ihr Chef ausgesprochen entgegenkommend. Fifi brauchte nur noch bis zum Ende der Woche zu arbeiten.
»Kennington ist nicht gerade das beste Viertel, und die Wohnung ist ziemlich lausig«, hatte Dan zugegeben, aber Optimistin, die sie war, hatte Fifi angenommen, Letzteres ließe sich mit einigen hübschen Bildern und vielleicht einem neuen Anstrich bessern.
Doch indem sie die alte Wohnung gekündigt und ihren Job aufgegeben hatte, hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen, daher wusste sie, dass sie im Grunde keine Wahl hatte. Sie musste es akzeptieren: Dies war ihr neues Zuhause.
Dan öffnete die Tür des Wohnzimmers. »Nach Ihnen, Prinzessin«, sagte er mit einer komischen, tiefen Verbeugung.
Fifi sog entsetzt die Luft ein und suchte den Raum verzweifelt nach irgendetwas Positivem ab, das sie loben konnte. Aber da war nichts. Einige Quadratmeter schäbiges, gemustertes Linoleum, eine abscheuliche alte Blumentapete und die Art abgenutzter Möbel, die die Leute, die sie früher gekannt hatte, für den Müllmann auf die Straße stellten.
»Ich weiß, es ist ziemlich scheußlich«, meinte Dan, und seine Stimme klang gedämpft und besorgt. »Doch ich wollte nicht, dass wir noch länger getrennt leben. Wir können es uns hübsch einrichten. Nicht wahr?«
Fifis Herz schmolz wie jedes Mal, wenn er sie mit diesen flehentlichen Spanielaugen ansah. »Schau mal, wir haben hier nachmittags Sonne«, stellte sie fest und gab sich alle Mühe, Zauberaugen zu machen. Die verblichenen, orangefarbenen Gardinen reichten nicht einmal bis zum Sims des schmutzigen Fensters hinunter, aber die konnte sie durch andere ersetzen. »Sobald wir unsere Sachen hier hereingestellt haben, wird es ganz anders aussehen.«
Dan lächelte erleichtert und kam auf sie zu, um sie zu küssen. Aber gerade als er die Arme um sie legte, zog ein wütender Aufschrei von der Straße sie beide zum Fenster hinüber.
Ein Mädchen von etwa sieben Jahren rannte die Straße hinauf, dicht gefolgt von einer übergewichtigen Frau mit Lockenwicklern in ihrem blond gefärbten Haar.
»Komm zurück, du kleines Miststück!«, zeterte sie wütend.
Das Mädchen blieb stehen. Es weinte und wirkte vollkommen verängstigt. Als die Frau die Kleine erreichte, packte sie sie bei den Schultern und schlug ihr so heftig ins Gesicht, dass Fifi zusammenzuckte.
»Wie oft muss ich es dir noch sagen?«, wütete die Frau, während sie das Mädchen am Ohr die Straße hinunterzog. »Du tust, was ich dir sage, oder es setzt was.«
Als sie das Haus auf der gegenüberliegenden Seite erreichten, versetzte die Frau der Kleinen noch eine Ohrfeige, dann stieß sie sie durch die Tür und gab ihr obendrein noch einen Tritt.
Die Tür schlug hinter den beiden zu, und Fifi sah Dan fragend an, zutiefst schockiert von ihren Beobachtungen.
»Ich nehme an, sie ist ein kleiner Teufel«, meinte Dan nachdenklich. »Aber ich hasse es, wenn Leute sich an Kindern vergreifen.«
Fifi fand, dass so offenkundige Brutalität angezeigt werden sollte, doch sie war zu benommen, um eine Bemerkung darüber zu machen. Ihre Eltern hatten weder sie noch ihre Geschwister je geschlagen. Gelegentlich hatten sie sie zur Strafe ins Bett geschickt oder ihnen das Taschengeld gestrichen, doch sie hatten ihren Kindern niemals Gewalt angetan.
»Ich hoffe, dies ist kein Hinweis auf das, was wir hier erwarten dürfen«, bemerkte Fifi leise, während sie immer noch aus dem Fenster blickte. Dan hatte oft gesagt, sie habe nicht die blasseste Ahnung, wie das Leben für Menschen sei, die von niedrigen Löhnen und in erbärmlichen Unterkünften lebten. Aber wenn das die Realität war, wollte sie sich ihre Unwissenheit lieber bewahren.
Der Blick aus dem Fenster konnte sie auch nicht aufmuntern. Man schaute auf eine Sackgasse hinab, die in einen Kohlenhof hinter großen Toren mündete, zu beiden Seiten umrahmt von sieben dreistöckigen Reihenhäusern. Obwohl es ein sonniger Tag war, waren die Häuser zu hoch, und die Straße war zu schmal, um viel Sonnenschein einzulassen. Gerade eben war ein Mann hinter den Toren damit beschäftigt, Kohle in Säcke zu schaufeln, die ein kleiner Junge für ihn festhielt. Es war beinahe ein Dickens’sches Bild, denn die beiden waren so schmutzig wie Schornsteinfeger, und sämtliche Mauern in der Straße waren im Laufe der Jahre schwarz von Ruß geworden.
Sie sah kein Haus, das nicht vernachlässigt gewirkt hätte. Das Haus, in dem die Frau und das Kind verschwunden waren, hatte nicht einmal richtige Gardinen, sondern nur eine Decke oder etwas in der Art, das über ein Stück Draht gehängt war. Es gab nirgendwo Blumenkübel oder auch nur einen Baum; tatsächlich strahlte die Straße etwas Finsteres, beinahe Bösartiges aus. Konnte sie es wirklich ertragen, hier zu leben?
»Vergiss, was dort draußen ist«, bat Dan hinter ihr, während er die Arme um sie legte und das Kinn an ihre Schulter drückte. »Sieh dir lieber das Schlafzimmer an. Wir könnten es sofort einweihen!«
Als Dan ihren Nacken küsste und mit den Händen ihre Brüste umfasste, überlief Fifi ein wohliger Schauder. Seit Dan nach London gegangen war, hatten sie sich am Wochenende wie Flitterwöchner gefühlt und waren oft den ganzen Samstag im Bett geblieben. Er war erst an diesem Morgen nach Bristol gekommen, um sie und all ihre Sachen abzuholen, und auf dem Weg nach London hatte er die ganze Zeit über von all den unanständigen Dingen gesprochen, die er mit ihr vorhatte, sobald sie allein in der Wohnung waren. Es hatte sie so sehr erregt, dass sie sich nur mit Mühe daran hatte hindern können, ihm vorzuschlagen, in einen stillen Feldweg einzubiegen und sie gleich an Ort und Stelle zu lieben.
»Die Betten sind nicht bezogen«, protestierte sie schwach, als er sie in das Nebenzimmer schob. Dieser Raum war genauso jämmerlich wie das Wohnzimmer, aber zumindest wirkte die Matratze auf dem alten Bett brandneu. »Wir sollten zuerst runtergehen und unsere Sachen holen.«
Aber er öffnete bereits den Reißverschluss ihrer Jeans, und sie konnte seine Erektion fühlen. Wenn sie sich einfach in die Wonne ihrer Liebe fallen ließ, würde sie vielleicht anfangen können, diese grässliche Wohnung als Zuhause zu empfinden.
»Du bist so schön«, flüsterte Dan, als er in sie eindrang. »Ich wünschte, ich könnte dir alles geben, was du verdienst.«
Welche Enttäuschungen ihnen auch seit ihrer Heirat widerfahren waren, der Sex entschädigte sie immer für alles. Dan konnte sie jederzeit auf einem fliegenden Zauberteppich in eine andere Welt entführen. Sie liebte seinen schlanken, aber muskulösen Körper, seine seidenweiche Haut, die Empfindsamkeit seiner Berührungen.
Fifi zog ihn dicht an sich und bedeckte sein Gesicht mit hungrigen Küssen. »Ich habe alles, was ich will, ich habe dich«, antwortete sie leise. Und es war ihr voller Ernst. Vielleicht war diese Wohnung nicht das, was sie erwartet hatte, doch sie war endlich in London, und Dan und sie konnten noch einmal von vorn anfangen.
Seit sie denken konnte, hatten ihre Besuche im Kino Fifi ein verlockendes Bild von Amerika vermittelt, mit ultramodernen Häusern, protzigen Autos und einem Lebensstandard, der sich krass von der strengen Nachkriegswirklichkeit unterschied, die sie kannte. 1960, als sie zwanzig gewesen war, hatte sie aus den Nachrichten und Zeitschriften den Eindruck gewonnen, dass auch London sich in diese Richtung entwickelte. Es verbitterte sie, dass neue Modetrends, Filme und sogar Musik so lange brauchten, um bis in den Westen Englands vorzudringen, und damals hatte sie den Entschluss getroffen, nach London zu ziehen, um am Puls des Geschehens zu sein.
Es war jedoch anders gekommen. Ein sicherer Job und verschiedene Männer waren schließlich wichtiger gewesen als ihr Wunsch, in die Hauptstadt zu gehen. Aber jetzt hatte sie es endlich geschafft, und sie wusste einfach, dass auf Dan und sie ungeahnte Möglichkeiten warteten. Hier waren die Löhne höher, und es gab bessere Aussichten auf Beförderung.
Doch am meisten gefiel ihr die Vorstellung, hier, frei von Klassensnobismus, noch einmal ganz neu anfangen zu können. In London kannte sie niemand, ebenso wenig wie ihre Eltern. Es gab niemanden, der hinter vorgehaltener Hand darüber tuschelte, dass sie, die Tochter eines Professors, einen Maurer geheiratet hatte. Sie konnten leben, wie sie wollten, hingehen, wo sie wollten, und niemand würde beobachten, ob ihnen ein Fehler unterlief.
Natürlich hoffte sie nach wie vor, dass ihre Eltern sich eines Tages mit Dan aussöhnen würden. Aber aus dem sicheren Abstand von einhundertfünfzig Kilometern zum Elternhaus würde sie nicht mehr mit angehaltenem Atem auf ein Einlenken warten. London würde ein riesiges Abenteuer sein, und sie würde ihrer Familie beweisen, aus welchem Holz Dan und sie geschnitzt waren.
Später am selben Nachmittag wurden Dan und Fifi von drei verschiedenen Fenstern aus beobachtet, während sie den geborgten Umzugswagen ausluden.
Yvette Dupré in der Erdgeschosswohnung von Nummer zwölf auf der anderen Straßenseite war Schneiderin. Da ihre Nähmaschine vor ihrem Fenster stand, konnte sie das Kommen und Gehen auf der Straße meistens mitverfolgen.
Es war ein echtes Ereignis, ein hübsches junges Paar einziehen zu sehen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen oder sich Sorgen machen sollte. Die blonde Frau war so schlank und elegant in ihrer Jeans und dem handgestrickten Pullover. Ihr Mann war teuflisch attraktiv und erinnerte sie mit seinem dunklen Haar und den kantigen Wangenknochen an einen Zigeuner. An der Art, wie die beiden miteinander lachten und sich berührten, konnte sie erkennen, dass sie bis über beide Ohren verliebt waren. Es entlockte ihr ein Lächeln, sie nur zu beobachten.
Yvette hatte in ihrem Leben sonst wenig Grund zum Lächeln. Sie war siebenunddreißig, sah aber weit älter aus. Ihr einst volles, dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und sie kämmte es sich straff zu einem strengen Nackenknoten zurück. Sie trug altmodische, triste Kleider und lebte ein sehr abgeschiedenes, einsames Leben. Ihre einzige Freude war ihre Arbeit, auf die sie sehr stolz war.
Wie die meisten ihrer Nachbarn war sie aus Verzweiflung in die Dale Street gezogen. Die alte Mrs. Jarvis, die in Nummer eins wohnte, seit die Straße 1890 angelegt worden war, hatte ihr erzählt, dass in jenen Tagen jeder ein Dienstmädchen beschäftigt hatte. Trotzdem fiel es Yvette schwer zu glauben, dass dies jemals eine feine Adresse gewesen war.
Das junge Paar lachte über eine Tasche, deren Inhalt sich auf den Gehsteig ergossen hatte, und der Anblick erinnerte Yvette schmerzlich an ähnliche Szenen in ihrer Geburtsstadt Paris, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war. Sie hatte auch dort häufig am Fenster gesessen, um die Leute zu beobachten, die in die Appartements auf der Rue du Jardin gezogen waren. Wenn sie lederne Gepäckstücke, Pelzmäntel oder schöne Hüte sah, erstattete sie ihrer Mutter darüber Bericht, denn dies waren Anzeichen dafür, dass ihre Besitzer vielleicht eine erstklassige Schneiderin benötigen würden. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit war Mama dann mit einem Blumenstrauß oder einem selbst gebackenen Kuchen zu ihnen gegangen, um sie willkommen zu heißen, und immer hatte sie eine ihrer goldumrandeten Visitenkarten hinterlassen.
Zumindest von außen betrachtet, ähnelten die Dale Street und die Rue du Jardin einander vermutlich in manchen Punkten. Beide Straßen waren schmale, düstere Sackgassen mit hohen, vernachlässigten alten Häusern. Doch hinter der abgeblätterten Farbe von Fensterläden und Türen in der Rue du Jardin hatten sich einige wirklich schöne Wohnungen verborgen. Yvette erinnerte sich an Kronleuchter, an üppige Gardinen, schöne Läufer und an Silber und Alabaster, wenn sie mit ihrer Mama zu einer Kleideranprobe gegangen war. Einmal hatte sie sie gefragt, warum ihre Wohnung nicht genauso hübsch sei, was ihr eine Ohrfeige statt einer Erklärung eingetragen hatte.
Hinter den Türen der Dale Street warteten keine erfreulichen Überraschungen; eine Ausnahme stellte vielleicht die Wohnung links neben der ihren dar, die den Boltons gehörte und die recht luxuriös war. Aber andererseits war John Bolton ein Schurke, und die dicken Teppiche, die goldgerahmten Spiegel und die Brokatvorhänge passten zu seinen maßgeschneiderten Anzügen, der goldenen Armbanduhr und den vielen Besuchen, die er von der Polizei erhielt.
Die Gerüche und Geräusche, die hier aus den Häusern drangen, zeugten von Feuchtigkeit, Gebratenem, weinenden Kindern, streitenden Erwachsenen und dem Dauerkonsum der Radiosendung Workers’ Playtime. Daheim in Paris waren es frisch gebackenes Brot, Knoblauch, Mozart oder Edith Piaf gewesen, und wenn die Erwachsenen die Stimme erhoben hatten, dann nicht im Zorn, sondern zum Gruß.
Wenn sie an Paris dachte, fühlte Yvette sich immer elend, und der heutige Tag stellte keine Ausnahme dar. Sie wandte sich vom Fenster ab und ging zu ihrer Schneiderpuppe mit dem türkisfarbenen Cocktailkleid hinüber. Sie musste noch die Ärmel einnähen und das Kleid bis Montag für die letzte Anprobe bei Mrs. Silverman in Chelsea herrichten.
Der siebenundvierzig Jahre alte Ryszard Stanislav, den die Bewohner der Dale Street als »Stan den Polen« kannten, beobachtete von seinem möblierten Zimmer im obersten Stockwerk von Nummer zwei ebenfalls den Einzug von Fifi und Dan. Er wäre gern hinuntergegangen, um seine Hilfe anzubieten, aber er wusste aus Erfahrung, dass man ihm unverzüglich finstere Beweggründe unterstellen würde.
Nach fünfzehn Jahren hier war sein Englisch hervorragend, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte seinen polnischen Akzent nicht abschütteln. Das Ganze wurde nicht besser dadurch, dass er als Müllmann arbeitete und allein lebte; diese Umstände weckten in den Menschen die Vorstellung, er müsse schmutzig und darüber hinaus ein Sonderling sein.
Vor etwa zehn Jahren war er einmal aus dem Haus geeilt, um einer alten Dame zu helfen, die auf der Straße zusammengebrochen war. Nachdem ein Krankenwagen sie abgeholt hatte, war die Polizei gekommen und hatte ihn bezichtigt, ihre Geldbörse gestohlen zu haben. Er würde niemals vergessen, wie sie mit ihm gesprochen hatten, so heuchlerisch, so voller Hass, als wären sie beinahe bereit, ihn aufzuknüpfen, ohne auch nur den geringsten Beweis gegen ihn in der Hand zu haben. Zu guter Letzt hatte sich herausgestellt, dass die alte Dame ihre Börse zu Hause gelassen hatte – sie hatte sie gleich nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus gefunden. Aber der Polizeibeamte, der Stan mitgeteilt hatte, dass die Anklagen gegen ihn fallen gelassen worden seien, hatte sich nicht einmal entschuldigt. Er schien zu glauben, ein Einwanderer mit einem komischen Akzent hätte keine Gefühle.
Stan hatte gelernt, Kränkungen und Ignoranz nicht weiter zu beachten; ferner wusste er inzwischen, dass er dumm sein musste, weil er Müllmann war, dass er niemals eine bessere Gegend als die Dale Street kennen gelernt hatte und dass es ihm gefiel, wenn man ihn »Stan den Polen« nannte. Manchmal fühlte er sich versucht, die Leute an den Schultern zu packen und dazu zu zwingen, sich seine Geschichte anzuhören, bevor sie ihn verurteilten. Aber ihm war nur allzu deutlich bewusst, dass die meisten Menschen hier keine Ahnung hatten, was in Polen während des Krieges geschehen war.
In Wahrheit war er bis zur Invasion der Deutschen ein tüchtiger Zimmermann mit einer Frau und zwei schönen Töchtern gewesen. Während er im Krieg sein Land verteidigt hatte, waren seine Frau und die Kinder in den Straßen von Warschau erschossen und sein Haus zerstört worden. Stan wünschte sich manchmal, ebenfalls getötet worden zu sein, denn ohne seine Familie war er nichts.
Aber die Engländer verstanden das nicht, wie hätten sie auch? Ihr Land war niemals überfallen worden. London mochte das Opfer von Bombardierungen gewesen sein, doch die Engländer hatten niemals miterlebt, wie Soldaten mitten in der Nacht in ihre Häuser gestürzt kamen oder wie unschuldige Zivilisten auf der Straße niedergeschossen wurden, nur weil sie nach der Sperrstunde noch unterwegs waren. Er war einfach nur Stan der Pole, der Mann mit dem komischen Akzent, einer von vielen Einwanderern, die England den Engländern hätten überlassen sollen.
Während er nun auf das lachende junge Paar auf der Straße hinabblickte, wurde ihm bewusst, dass seine Töchter jetzt etwa im selben Alter gewesen wären wie das blonde Mädchen. Sabine war nach ihrer Mutter geschlagen und hatte dunkles Haar gehabt, während Sofia mit ihrem blonden Haar eher ihm selbst geähnelt hatte. Bei der Erinnerung an die beiden Mädchen rann ihm eine Träne die Wange hinunter.
Alfie Muckle von Nummer elf, dem Haus direkt gegenüber von Nummer vier und neben dem von Yvette Dupré, beobachtete Fifi durch ein Loch in der Decke, mit der sein Schlafzimmerfenster verhängt war. Als sie sich bückte, um einen Karton vom Gehsteig aufzuheben, versteifte sich sein Glied beim Anblick ihres straffen Pos in den engen Jeans.
Alfie war genauso alt wie Stan der Pole, aber davon abgesehen hatten sie nichts gemeinsam. Stan war hochgewachsen und dünn, und sein Gesicht mit dem traurigen Ausdruck und der schlaffen Haut ähnelte dem eines Bluthunds. Alfie dagegen war klein und untersetzt und hatte ein rundes, leuchtendes Gesicht und sandfarbenes, dünn gewordenes Haar. Stan war ein intelligenter, ehrenhafter Mann, während Alfie ein Lügner und Dieb war, und was ihm an Verstand mangelte, machte er mit Hinterhältigkeit und Schläue wett.
Alfies Schlafzimmer war typisch für sein ganzes Haus. Die mit Leimfarben gestrichenen Wände waren übersät mit Flecken, die die verschiedensten Ursachen hatten, angefangen von an die Wand geworfenem Essen, Blut und Fett, und die Möbel waren gleichermaßen ungepflegt. Das Doppelbett, das er mit Molly, seiner Frau, teilte, war nicht gemacht, und die Laken waren seit Wochen nicht mehr gewaschen worden. In der Luft hing ein säuerlicher Geruch von Schweiß und Zigarettenrauch, und der nackte Holzboden war übersät mit schmutzigen Kleidern. Alfie und seine Familie nahmen weder die Unordnung noch den Gestank wahr, denn sie hatten niemals etwas anderes kennen gelernt.
»Was machst du da?«
Beim Klang der Stimme seiner Frau hinter ihm zuckte Alfie zusammen.
Molly war fünfundvierzig, zwei Jahre jünger als Alfie, eine übergewichtige Frau mit wasserstoffblondiertem Haar, die auf eine grelle Weise noch immer recht attraktiv war – wenn es ihr gelang, die Lockenwickler aus den Haaren zu nehmen, ein wenig Make-up aufzulegen und sich anständig anzuziehen.
»Ich schau mir die Leute an, die in Nummer vier einziehen«, sagte er.
Molly trat neben ihn und zog die Decke zurück, um zuerst aus dem Fenster zu sehen und dann wieder zu Alfie, wobei ihren scharfen Augen die Wölbung in seiner Hose nicht entging. »Du schmutziger Bastard«, rief sie. »Wenn ich nicht gekommen wäre, hättest du dir einen runtergeholt, wie?«
In ihrer Stimme lag kein Tadel; ihre Worte waren lediglich die Feststellung einer Tatsache.
Molly war siebzehn gewesen, als sie Alfie geheiratet hatte, und bereits im sechsten Monat schwanger mit ihrem ersten Kind. Ihre Hochzeitsnacht im Jahr 1935 hatten sie im selben Zimmer mit zweien seiner vier Brüder verbracht, denn damals hatten nicht nur Alfies Großeltern hier gelebt, sondern auch seine Eltern, ihre vier Söhne und die zwei Töchter. Die Wehen hatten bei Molly vor der Zeit eingesetzt, nachdem Alfie sie die Treppe hinuntergestoßen hatte, weil sie sich über Fred beklagt hatte, einen seiner Brüder. Fred hatte sie ständig belästigt und von ihr verlangt, dass sie mit ihm schlief. Nach achtundzwanzig Ehejahren hatte Molly lange vergessen, dass ihr ein solches Betragen früher einmal unerträglich erschienen war; sie wusste jetzt, dass alle Muckles sexbesessen und gewalttätig waren. Inzwischen war sie sogar selbst so geworden.
»Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß«, gab Alfie zurück.
Molly stolzierte ohne ein weiteres Wort davon. Es kümmerte sie nicht, was er im Schilde führte, aber sie ließ ihn gern wissen, dass er sie nicht zum Narren halten konnte.
Während sie ihre Habe ins Haus trugen, hatten Fifi und Dan zum Glück keine Ahnung davon, dass sie beobachtet wurden.
»Wir sollten zu dem Laden an der Ecke gehen und etwas zu essen kaufen, bevor wir auspacken«, sagte Fifi, während sie mit ihrem Dansette-Plattenspieler die Treppe hinauftaumelte. »Ich lechze nach einer Tasse Tee, und der Laden wird vielleicht bald schließen.«
»Ich gehe rüber, sobald wir all unsere Sachen nach oben gebracht haben«, erwiderte Dan. »Hast du dich inzwischen mit der Wohnung ausgesöhnt? Vielleicht hätte ich ein Weilchen länger suchen sollen, bevor ich den Mietvertrag unterschrieben habe, aber ich habe mich so sehr danach gesehnt, dich hier bei mir zu haben.«
Fifi konnte es nicht ertragen, wenn er so unglücklich dreinschaute. »Es ist schon in Ordnung«, log sie. »Nun, das wird es zumindest sein, sobald wir uns hier eingerichtet haben.«
Eine halbe Stunde später stand Fifi am Fenster und beobachtete, wie Dan zu dem Laden an der Ecke hinüberging. Er war glücklich, das wusste sie, weil sein Gang etwas Tänzelndes hatte.
In den acht Monaten seit ihrer Heirat hatte sie erfahren, dass er nur eines brauchte, um glücklich zu sein. Er konnte ohne Geld zurechtkommen, war beim Essen nicht anspruchsvoll, und er arbeitete ohne Klage härter und länger als jeder Mann, den sie je gekannt hatte, solange er das Gefühl hatte, geliebt zu werden.
Das weckte einige Demut in einem Menschen wie ihr, für den Liebe immer etwas Selbstverständliches gewesen war. Und hier stand sie nun, betrachtete ihre neue Umgebung voller Abscheu und fragte sich, wie sie hier auch nur wenige Wochen überstehen sollte, bis sie etwas fanden, wo es ihr gefiel. Sie konnte nicht mit den grässlichen, orangefarbenen Gardinen leben, und es stieß sie ab, keinen Teppich auf dem Boden zu haben, während Dan sich hier niederlassen würde, als wäre dies ein Palast, nur weil sie ihn liebte und die Wohnung mit ihm teilen würde.
Es war ihr unbegreiflich, dass er sich trotz seiner trostlosen Kindheit so entwickelt hatte. Mussten nicht die meisten Menschen, die so aufgewachsen waren wie er, zu harten, kalten Menschen werden, die stets auf ihren Vorteil bedacht waren?, überlegte sie. Wenn alles, was er sich auf der ganzen Welt wünschte, ein Leben mit ihr war, dann konnte sie zumindest die Anstrengungen anerkennen, die er unternommen hatte, um ein Zuhause für sie zu finden.
Und sie würde damit anfangen, indem sie vorschlug, in den »Rifleman« hinüberzugehen, den Pub gegenüber dem Laden an der Ecke. Doch zuerst mussten sie den Wagen zurückbringen. Mit ihrem Vorschlag würde sie Dan zeigen, dass sie es nicht für unter ihrer Würde hielt, hier zu leben.
Aber gefallen würde es ihr in dieser Gegend und dieser Wohnung wahrscheinlich nie, das spürte sie, während sie weiter auf die erbärmliche, graue Straße hinabblickte. Auch wenn sie sich immer wieder einredete, auf die Meinung ihrer Eltern keinen Wert mehr zu legen, wusste sie doch, dass sie lieber gestorben wäre, als sie diese Lebensumstände sehen zu lassen.
Sobald Fifi von der Wohnung in London erfahren hatte, hatte sie ihren Eltern geschrieben, dass sie ihre Stellung gekündigt habe und zu ihm ziehen werde. Am vergangenen Abend hatte sie auf einen Besuch von ihnen gehofft, um ihr Lebewohl zu sagen, und sie hätte sich nicht geschämt, ihnen die Wohnung in Kingsdown zu zeigen.
Aber diese Unterkunft würde sie schockieren, und ihre neuen Lebensumstände würden in den Augen ihrer Eltern nur ein weiteres Argument gegen Dan darstellen.
Doch wenn sie sich nicht einmal hatten überwinden können, ihre Tochter in einem Haus zu besuchen, das nur wenige Meilen von ihrem entfernt lag, würden sie wahrscheinlich erst recht nicht hierher nach London kommen, daher brauchte sie sich darüber im Grunde keine Sorgen zu machen.
Gerade als Fifi sich wieder ihrer Arbeit zuwenden wollte, trat das kleine Mädchen, das sie kurz zuvor hatte weinen sehen, aus dem Haus gegenüber. Obwohl es jetzt nicht mehr weinte, verrieten seine trägen Bewegungen und die Art, wie es den Kopf hängen ließ, dass es immer noch sehr unglücklich sein musste. Fifi hatte der äußeren Erscheinung des Kindes zuvor keine allzu große Aufmerksamkeit gewidmet, aber jetzt konnte sie erkennen, dass die Kleine genauso vernachlässigt war wie das Haus, in dem sie lebte. Ihr Kleid sah so aus, als hätte sie es von einem weit älteren Kind geerbt, ihr braunes Haar war am Hinterkopf verfilzt, als wäre es lange nicht gebürstet worden, und ihre schlecht sitzenden Schuhe schlackerten bei jedem Schritt. Sie war genau so, wie Fifi sich Kinder aus den Elendsvierteln immer vorgestellt hatte, unterernährt, schmutzig, blass und kränklich.
Sie blickte zu Nummer elf hinüber, dem Zuhause des Kindes, und bemerkte abermals den Mangel an richtigen Gardinen und die Tatsache, dass eine der Glasscheiben in dem Fenster im Erdgeschoss zerbrochen war. Es war das bei weitem schäbigste Haus in der Straße, und als sie noch einmal genauer hinsah, bemerkte sie einen Mann im obersten Stockwerk, der direkt zu ihr hinüberschaute.
Fifi zog sich erschrocken zurück. Sie konnte ihn nicht deutlich erkennen, da sein Haus im Schatten lag, außerdem war er hinter dem Tuch, das das Fenster bedeckte, nur teilweise zu sehen. Aber sie spürte dennoch, dass etwas Unangenehmes von ihm ausging.
Um acht Uhr am selben Abend hatten sie den Möbelwagen zurückgebracht und waren mit dem Auspacken fertig. Nachdem sie ihre eigenen Tischlampen, eine Decke und eine Vase mit Blumen auf den hässlichen Tisch gestellt und ihr Bild von dem Hyazinthenwald über den Gaskamin gehängt hatten, sah das Wohnzimmer schon viel besser aus.
Dan saß in einem der Kaminsessel, rauchte eine Zigarette und schaute sich nachdenklich um. »Wir haben genug Geld gespart, um ein Stück Teppich, etwas Farbe und neue Gardinen kaufen zu können. Ich schätze, das würde die Wohnung in einen kleinen Palast verwandeln.«
Fifi lächelte schwach. Ein kleiner Palast würde diese Wohnung niemals sein, aber ihr gefiel der Gedanke, sie zu verschönern. »Ich denke, wir werden auch einige neue Gardinen anschaffen müssen«, antwortete sie, während sie auf einem Regal einige Bücher und Zierstücke aufstellte. Dann erzählte sie ihm von dem Mann, den sie im Haus gegenüber gesehen hatte. »Ich möchte nicht, dass jemand wie er uns anstarrt.«
»Du, die du für deine Neugier berüchtigt bist, beklagst dich darüber, dass jemand dich beobachtet!«, rief Dan. »Wenn ich im Haus gegenüber ein zauberhaftes Mädchen entdecken würde, würde ich mir auch die Nase am Fenster platt drücken.«
»Er ist mir unheimlich«, bekannte sie und warf das blonde Haar zurück. »Und du hast gesehen, wie diese Frau sich dem kleinen Mädchen gegenüber benommen hat. Ich habe die Kleine noch einmal gesehen, sie wirkt furchtbar vernachlässigt.«
Dan stand auf, trat neben sie und ließ sich eine Strähne ihres Haars durch die Finger gleiten. »Was weißt du über Vernachlässigung?«, fragte er neckend. »Ich wette, du hattest als Kind nicht mal ein schmutziges Gesicht.«
»Sie sieht halb verhungert aus, und Kleid und Schuhe waren ihr zu groß«, erwiderte Fifi entrüstet.
»Also ist ihre Familie arm, das ist alles. Und jetzt lass uns in den Pub hinuntergehen und den Rest unserer neuen Nachbarn in Augenschein nehmen.«
Als Dan und Fifi in den »Rifleman« kamen, herrschte dort bereits drangvolle Enge. Sie schoben sich durch die Menge zum Ende der Theke, wo ein wenig Platz war, und während Dan auf die Bedienung wartete, schaute Fifi sich eifrig um.
Ihr gefiel, was sie sah, denn genau das hatte sie von einem Londoner Pub erwartet. Er hatte Atmosphäre, Farbe und Frohsinn, und es waren alle Altersgruppen vertreten.
Da waren zum einen junge Männer in geschniegelten Anzügen und Mädchen mit turmhoch toupiertem Haar und so engen Röcken, dass sie kaum laufen konnten. Dann waren da alte, gebeugte Männer mit trüben Augen, die von ihren Plätzen in der Ecke aus das Geschehen beobachteten. Aufdringlich aufgemachte Frauen saßen neben grauen Mäusen und zwischen Männern, die noch ihre Arbeitskleidung trugen, und solchen, die so aussahen, als hätten sie kein anderes Zuhause.
Ein untersetzter Mann um die sechzig lächelte Fifi zu. »Haben Sie sich schon ein wenig eingelebt?«, fragte er. »Ich bin Frank Ubley. Ich wohne unter Ihnen im Erdgeschoss, und ich habe Sie einziehen sehen. Eigentlich hätte ich Ihnen gern angeboten, Ihnen zu helfen, aber ich hatte gerade ein Bad genommen und war noch nicht angezogen.«
»Ich bin Fifi Reynolds, und das ist Dan, mein Mann«, sagte Fifi und zeigte auf Dan, der soeben ihre Drinks bezahlte. »Wir haben das Schlimmste geschafft, vielen Dank. Obwohl wir die Wohnung gern neu streichen würden. Ist Ihre Frau heute Abend bei Ihnen?«
»Ich bin Witwer«, erklärte er. »Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid«, erwiderte Fifi ein wenig verlegen. »Ich habe einfach angenommen, dass im Erdgeschoss ein Ehepaar leben müsse, weil die Gardinen so weiß sind.«
»Ein allein lebender Mann braucht nicht unbedingt schmutzig zu sein«, meinte er und lächelte. Fifi fiel auf, dass er hübsche Augen hatte, grau und mit sehr langen, dunklen Wimpern. »Ich habe es gern sauber. Meine June war da sehr eigen, sie hat die Gardinen alle zwei Wochen gewaschen, komme, was da wolle. Es hätte ihr nicht gefallen, wenn ich die Dinge schleifen ließe.«
Dan kam mit ihren Drinks herbei, und sie machte ihn mit Frank bekannt. »Wer wohnt eigentlich im ersten Stock?«, erkundigte sie sich dann.
»Miss Diamond«, erklärte Frank. »Sie arbeitet für die Telefongesellschaft, und sie führt das Regiment im Haus.«
»Sie ist ein ziemliches Ungeheuer, wie?«, fragte Dan mit einem Grinsen.
Frank kicherte. »Sie kann jedenfalls eins sein, wenn sie jemanden nicht mag. Sie ist nämlich ziemlich eigen, genau wie meine June es war. Wenn Sie einen Schmutzrand in der Badewanne hinterlassen, zu viel Lärm machen oder vergessen, die Treppen zu wischen, wenn Sie an der Reihe sind, dann ist die Hölle los.«
Jetzt begriff Fifi auch, warum das Badezimmer so unerwartet sauber gewesen war, die einzige angenehme Überraschung des Tages. Auch der Pub gefiel ihr, und es freute sie noch mehr, Frank kennen zu lernen, da er den Eindruck eines anständigen, recht väterlichen Typs machte. Es war tröstlich, jemanden wie ihn zum Nachbarn zu haben.
Sie machte eine Bemerkung darüber, wie dankbar sie sei, sich das Bad nicht mit unordentlichen Menschen teilen zu müssen, dann brachte sie das Gespräch auf das Haus auf der anderen Straßenseite.
»Ich habe ein kleines Mädchen dort herauskommen sehen. Es wirkte so traurig.«
»Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, aus was für einer Familie die Kleine kommt«, sagte Frank und verzog das Gesicht. »Die Muckles sind eine Schande. Sie sind schmutzig, sie lügen, und sie betrügen.«
»Sie mögen sie nicht?«, witzelte Dan.
»Sie mögen?« Franks Stimme schwoll um einige Oktaven an. »Diese Leute gehören ausgerottet!«
»Ich kann nicht fassen, dass jemand tatsächlich Muckle heißt«, lachte Fifi. »Vielleicht sind sie ja wegen ihres Namens so geworden.«
»Ihr Name ist das Einzige, worüber man lachen kann«, antwortete Frank angewidert. »Wenn ich Katholik wäre, würde ich mich bekreuzigen, wann immer ich diesen Namen höre.«
In diesem Moment gesellte sich ein Pole zu ihnen; Frank stellte ihn als seinen Freund Stan vor und sagte, er lebe im übernächsten Haus. Trotz Stans ausgeprägtem polnischen Akzent hatte er das Benehmen eines englischen Gentlemans, sehr korrekt, ein wenig steif, aber auch recht charmant, und sein männliches, trauriges Gesicht erinnerte Fifi an einen streunenden Hund, den sie einmal mit nach Hause genommen hatte.
»Sie haben so hübsches Haar«, bemerkte er anerkennend. »Es ist schön zu sehen, dass Sie es offen tragen, statt es zu so einer Vogelnestfrisur zu kämmen.«
»Vielen Dank.« Fifi errötete bei dem unerwarteten Kompliment. »Aber ich glaube, die Frisur, von der Sie sprechen, wird Bienenstock genannt.«
»Für mich sieht sie aus wie ein Vogelnest, und dann kleben die Frauen sie auch noch mit diesem Lack fest.« Er verzog das Gesicht. »Kein Mann würde so etwas anfassen wollen.«
Dan strich mit Besitzerstolz über eine Locke von Fifis Haar und vermittelte Frank und Stan damit überdeutlich, dass sein Frau zwar bewundert werden dürfe, dass aber niemand außer ihm sie zu berühren habe. »Kommen Sie, ich gebe Ihnen beiden einen Drink aus, um unseren ersten gemeinsamen Abend in London zu feiern. Wir hatten schon langsam befürchtet, hier niemals eine Wohnung zu finden.«
Frank und Stan bestellten noch ein Bier.
»Ich hoffe, Sie werden in London glücklich sein«, bemerkte Frank und sah Fifi und Dan dabei beinahe liebevoll an. »Ich freue mich jedenfalls, wieder junge Leute im Haus zu haben. Als meine Tochter noch in der Nähe lebte, war sie ständig mit ihren Kindern bei mir. Ich vermisse all das Gelächter und Geplapper.«
»Wo lebt sie denn jetzt?«, fragte Fifi, die wie immer alles über ihre Nachbarn wissen wollte.
»In Brisbane in Australien«, erwiderte Frank traurig. »June und ich wollten eigentlich zu ihnen rübergehen, aber nach ihrem Tod hatte ich das Gefühl, so eine Entwurzelung sei zu spät für mich.«
Als sie bei ihren zweiten Drinks waren, hatten Frank und Stan ihnen von verschiedenen anderen Nachbarn erzählt und Fifi und Dan eine grobe Geschichte der jeweiligen Leute geliefert. Da waren zum einen Cecil und Ivy Helass in Nummer sechs, solide, verlässliche Leute, die das einzige eigene Telefon in der Straße besaßen und vier Kinder im Alter zwischen sechzehn und zweiundzwanzig hatten. John und Vera Bolton wohnten in Nummer dreizehn und wurden ihnen als protzig beschrieben. Die Namen der anderen Nachbarn und die Erklärung, in welchen Häusern sie lebten, gingen in Fifis Kopf durcheinander, aber die Familie, auf die Frank immer wieder zurückkam, waren die Muckles. Es war offenkundig, dass der Mann einen ausgeprägten Groll gegen die Familie hegte, denn als er ihnen erzählte, dass das Kind, das Fifi früher am Tag gesehen hatte, Angela hieß, schien er drauf und dran zu sein, noch mehr zu erzählen.
Wie immer, wenn Fifi einen Skandal oder eine Intrige witterte, brannte sie darauf, die ganze Geschichte zu erfahren. Stück um Stück zog sie Frank und Stan weitere Einzelheiten aus der Nase.
Angela war offenkundig das Jüngste von acht Kindern, von denen vier noch immer bei ihren Eltern lebten, und ihre Mutter Molly war das, was Frank »eine Frau mit loser Moral« nannte.
»Dann sind da noch zwei geistig zurückgebliebene Verwandte, die in einem Zimmer eingepfercht leben«, zischte er. »Gott steh uns allen bei, wenn die auch Kinder hervorbringen!«
Fifi wandte sich zu Dan um und sah, dass seine Lippen zuckten.
Stan schaltete sich ein und bemerkte beinahe entschuldigend: »Wir alle in der Dale Street haben guten Grund, die Muckles zu hassen. In dieser Straße könnte man recht gut leben, wenn diese Familie nicht wäre.«
»Warum hat man sie nicht längst hinausgeworfen?«, erkundigte sich Dan.
»Man kann niemanden aus seinem eigenen Haus hinauswerfen.« Frank schüttelte bekümmert den Kopf. »Das ist das eigentliche Problem. Alfie kommandiert uns herum und spielt sich uns gegenüber reichlich auf. Er weiß, dass wir nichts gegen ihn unternehmen können. Dieser Pub ist der einzige Ort, zu dem er keinen Zutritt hat, Gott sei Dank. Er hat vor Jahren hier Hausverbot bekommen, und daran wird sich niemals etwas ändern.«
»Wie schafft es jemand wie er, ein Haus zu kaufen?«, wollte Fifi wissen.
»Man erzählt sich, sein Großvater habe es beim Kartenspiel von dem Mann gewonnen, der die Straße gebaut hat«, sagte Frank. »Mrs. Jarvis ist die Einzige, die schon so lange hier lebt, und sie war damals noch ein Kind, daher muss diese Geschichte nicht unbedingt wahr sein. Aber das Haus wurde an Alfies Vater vererbt und danach an Alfie. Allerdings ist es nicht das Einzige, was durch die Generationen weitergegeben wurde.«
»Was denn noch?«, fragte Dan, und auf seinem schmalen Gesicht leuchtete Interesse auf.
»Keiner der Männer dieser Familie hat jemals einen Tag mit ehrlicher Arbeit verbracht; sie haben sich Frauen gesucht, die zu ihren Prügelknaben wurden, und sie produzieren Kinder in einem geradezu unanständigen Tempo«, berichtete Frank voller Entrüstung.
»Sie sind nicht das, was Sie sich unter einer Familie vorstellen«, warf Stan ein. »Ich würde sie eher als Clan bezeichnen. Im Augenblick sind da nur Alfie, Molly und ihre vier jüngeren Kinder, sowie Dora und Alfies Neffe, Mike.«
»Dora ist Mollys zurückgebliebene Schwester«, unterbrach Frank ihn. »Vollkommen gaga und sieht aus wie ein wandelnder Flohmarkt. Einmal habe ich sie mit zwei verschiedenen Schuhen gesehen und nur mit einem Petticoat bekleidet!«
Dan zwinkerte Fifi zu. Ihm machte das Gespräch großen Spaß, und sie hatte keinen Zweifel daran, dass er sowohl Frank als auch Stan gekonnt imitieren würde, sobald sie nach Hause kamen.
»Aber wir haben es nicht nur mit der eigentlichen Familie zu tun«, fuhr Stan fort, der sich inzwischen ein wenig in Rage geredet hatte. »Es können nämlich jederzeit Verwandte bei Alfie auftauchen und unterkriechen. Außerdem gibt es da noch diese Kartenpartien.«
Fifi war sich nicht sicher, doch sie glaubte zu sehen, dass Frank seinem Freund Stan einen warnenden Blick zuwarf.
»Kartenpartien!«, wiederholte sie strahlend. »Wie Bridge zum Beispiel?«
»Schau mal, Stan, da drüben ist Ted«, sagte Frank plötzlich und deutete auf einen Mann mit einem breiten, roten Gesicht am anderen Ende der Theke. »Wir müssen ihn fragen, wann das nächste Darts-Turnier stattfindet.« Er wandte sich wieder zu Fifi und Dan um und entschuldigte sich dafür, dass sie sich verabschieden müssten. »Wenn Sie Hilfe brauchen oder sich Werkzeug leihen möchten, können Sie mich jederzeit ansprechen«, fügte er hinzu.
»Der Mann, der zu viel sagte«, bemerkte Dan mit gespielt bedrohlichem Tonfall, als die beiden älteren Männer sie verließen. »Vielleicht spielen die Muckles ja Karten und lassen Frank und Stan nicht mitspielen?«
»Es klingt ganz so, als wäre es eine ziemlich abscheuliche Familie«, erwiderte Fifi. »Doch du glaubst wahrscheinlich, die beiden hätten sich das alles nur ausgedacht?«
»Ich habe den Verdacht, dass sie ein wenig übertrieben haben«, gab er mit einem Grinsen zu. »Besonders gut hat mir die Geschichte von der dösigen Dora gefallen.«
Als der Pub schloss, hatten Dan und Fifi einige weitere Nachbarn kennen gelernt, Cecil und Ivy Helass, Mrs. Witherspoon vom Laden an der Ecke und einen Mann namens Wally, der erst vor kurzem in ein Zimmer unter Stans Wohnung eingezogen war, und sie alle hatten weitere Einzelheiten über die Muckles beigesteuert.
Mrs. Witherspoon war eine rundliche, anscheinend recht freundliche Frau in mittleren Jahren, und sie behauptete, dass die Muckles allen neuen Leuten in der Straße auf die Pelle rückten, indem sie sich irgendwelche Dinge ausborgten und ihnen bei dieser Gelegenheit gleich auch Jammergeschichten auftischten. Sie riet Fifi und Dan, sie niemals in ihre Wohnung zu lassen, da die Muckles bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zurückkommen und sie bestehlen würden.
Ivy Helass erzählte, dass Stan eines Nachmittags mitten in einem bitterkalten Winter beobachtet habe, wie die beiden älteren Kinder aus dem Haus ausgesperrt worden waren. Er hatte sie in seine Wohnung geholt, damit sie sich aufwärmen konnten. Als er zwei Tage später nach Hause zurückgekommen war, war jemand in seine Wohnung eingebrochen und hatte zwei Bilderrahmen aus massivem Silber gestohlen.
»Es war schändlich«, sagte Ivy entrüstet. »Der arme Mann hat während des Aufstands in Warschau seine Frau und seine beiden Töchter verloren, und alles, was ihm geblieben war, waren die beiden Fotografien von seiner Familie. Sie haben ihm alles bedeutet, und diese Kinder müssen die Fotos weggeworfen haben, bevor sie die Rahmen verkauft haben.«
Wally ergänzte das Charakterbild durch die Bemerkung, Alfie sei ein Spanner.
Auf den ersten Blick mochte Fifi Wally überhaupt nicht. Er hatte einen Bierbauch, der ihm über die Hose hing, und Essensflecken auf dem Hemd. Obwohl er erst etwa dreißig war, hätte es sie nicht überrascht festzustellen, dass er selbst ein Exhibitionist war.
Aber er behauptete, Alfie habe die Angewohnheit, sich an der Rückseite der Häuser entlangzuschleichen und in erhellte Räume zu spähen. Er legte ihr dringend nahe, abends die Vorhänge geschlossen zu halten.
Trotz der recht ermüdenden Wiederholungen, was die Muckles betraf, war die Herzlichkeit, mit der ihre neuen Nachbarn sie willkommen hießen, dennoch ausgesprochen wohltuend. Nach einer Weile gewann Fifi den tröstlichen Eindruck, dass Kennington wohl doch keine gar so grimmige Gegend sein müsse. Als sie später am Abend mit einer Tüte Pommes frites nach Hause kamen, war sie deutlich glücklicher als zuvor und auch ein wenig betrunken.
»Langsam fühle ich mich schon wohler hier«, meinte sie, während sie sich hinsetzte und im Wohnzimmer umsah. Nachdem sie all ihre Sachen eingeräumt hatten, wirkte der Raum im Licht der Tischlampen recht gemütlich.
»Trotz der Ungeheuer auf der anderen Seite der Straße?«, fragte Dan und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Oder ist das ein Teil des Reizes?«
Fifi kicherte. Dan zog sie ständig wegen ihrer Neugier auf. »Sie klingen sogar für mich zu grässlich«, sagte sie. »Die Frau mit dem schwarzen Haar, die neben dem Kohlenhof wohnt, meinte, ihr Haus sei durch und durch verdreckt, und die Eltern hätten keinem der Kinder beigebracht, die Toilette zu benutzen. Angeblich machen sie einfach auf den Boden! Außerdem behauptet sie, die Leute von der Stadt seien mehrmals da gewesen, um das Haus auszuräuchern. Offenbar gibt es innerhalb der Familie schreckliche Auseinandersetzungen, und alle möglichen zwielichtigen Leute gehen dort ein und aus.«
»Nimm diese Dinge nicht zu ernst«, erwiderte Dan gelassen. »Die Menschen neigen zu boshaften Bemerkungen über jeden, der anders ist als sie selbst.«
Er hatte Recht, das wusste Fifi. Ihre eigenen Eltern waren das beste Beispiel dafür, so abscheulich wie sie sich Dan gegenüber benommen hatten.
»Vielleicht werde ich sie einer strengen Beobachtung unterziehen«, witzelte sie. »Ich könnte eine Studie über sie verfassen. Genau aufzeichnen, was sie wann tun. Wenn sie wirklich für alle Verbrechen hier in der Gegend verantwortlich sind, könnte das für die Polizei sehr nützlich sein.«
»Dann verabredest du am besten ein Plauderstündchen mit der französischen Schneiderin«, sagte Dan mit einem breiten Grinsen.
Mehr als die Berichte über die Muckles hatte ihn die Frau aus Paris fasziniert, die den ganzen Tag an ihrer Nähmaschine vor dem Fenster saß. Anscheinend ging sie nur für Kleiderproben bei ihren wohlhabenden Kunden aus dem Haus, aber man nahm gemeinhin an, dass sie alles wusste, was in der Straße geschah. »Sie könnte einige Extraschichten für dich einlegen. Oder vielleicht sollte ich eine Studie über sie in Angriff nehmen!«
»Wir könnten uns die ›Superschnüffler‹ nennen«, kicherte Fifi.
Dan lachte. Er war so erleichtert, dass Fifi jetzt glücklicher zu sein schien. Am Nachmittag hatte er ein oder zwei Minuten befürchtet, sie könne den nächsten Zug zurück nach Bristol nehmen.
Er liebte sie über alle Maßen, und allein der Anblick ihres zauberhaften Gesichts brachte sein Herz zum Schmelzen, und er konnte noch immer nicht recht fassen, dass ein Mädchen wie sie ihn lieben konnte. Aber es gab Zeiten, da benahm sie sich wie ein verwöhntes Kind und erwartete, dass das Leben ein einziges langes Picknick in der Sonne sein würde. Er hatte sie endlich aus dem Einflussbereich ihrer Eltern befreit, und obwohl der Umzug nach London sich wahrscheinlich als ein weiterer Nagel in seinem Sarg erweisen würde, brauchte Fifi dringend eine Dosis Realität.